Die drei Weihnachtsgeister – Teil 2 – Adventskalender 2019
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Türchen 22
Autor: BlackRose16
Die drei Weihnachtsgeister
Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht: Prolog
„Schwarz. Um mich herum ist alles Schwarz“, flüsterte ich zitternd, während die verschwommene Sicht meiner Augen nur langsam wahrnahm, wie die einzelnen Schneeflocken immer noch auf den Boden herabfielen, als wäre ich nur einige Minuten weggetreten gewesen. Doch entgegen meiner Erwartungen war nicht ein winziger Haufen des puren Weiß zurückgeblieben; nicht mal zu dem Zeitpunkt, bevor ich mein Bewusstsein verloren hatte und diese eindringliche Stimme anfing, in meinem verkorksten Schädel herumzugeistern. Herumgeistern, lachte ich innerlich über diesen lächerlichen Wortwitz, welcher das dazugehörige Pendant besaß, dass sich tatsächlich ein Geist vor mir offenbart hatte, welcher (zu allem Übel) auch noch meinte, er sei ich selbst und der erste Geist; der Geist der vergangenen Weihnacht, war der konkrete Wortlaut gewesen, mit welchem er sich schimpfte. Mir entkam ein stumpfes „Hmpf“, als ich an ihn (Pardon, ich meine natürlich: MICH) zurückdachte und sein vergangener Satz in meinem Kopf widerhallte, als wäre es ein heiliges Mantra, welches ich immer und immer wieder im Geiste rekapitulierte: Du bist dabei, deine eigene Geschichte zu schreiben. Die Begierde ist deine Idee, deine Waffe ist die Feder und das vergossene Blut die Tinte.
„Meine Begierde ist die Idee, meine Waffe die Feder und das vergossene Blut die Tinte“, revolvierte ich nun im murmelnden Ton die drei einschneidenden Wörter, welche mein eigenes Instrument zur Vollendung meiner Geschichte darstellen sollten. Doch… eine Frage blieb nach wie vor im Raum des Ungewissen stehen: Mit welcher Waffe soll ich meine Frau umgebracht haben? Alles, was ich zur Herbeiführung ihres Todes genutzt hatte, waren meine bloßen Fäuste gewesen. Mag es also dennoch sein, dass die Reflektion meiner eigenen Seele nur eine Illusion durch meine Arbeit und der sich in früheren Zeiten aufgebauten Frustration und hereingerasselten Enttäuschungen meiner zerstörten Psyche war?
Nein, mein Liebster, vernahm ich die Stimme einer Frau in meiner Nähe. In jeder anderen Lage wäre ich sicherlich erschrocken zusammengezuckt, hätte mir die Ohren zugehalten und meine zerrissene Seele in den existierenden Überresten meiner selbst verkommen lassen. So lange, bis das letzte Fünkchen Reinheit überschattet worden wäre von der Dunkelheit, welche sich vom visuellen, bloßen Anblick meiner jetzigen Umgebung in meinen Verstand gefressen hätte. Jedoch reagierte weder meine Psyche noch mein Körper so, als würden sie mich den Weg entlang in den Wahnsinn begleiten wollen. Alles, was ich tat, war, in mich zusammenzusacken und mit meinen glasigen, verweinten Sehorganen in die Ferne zu blicken, derweil ein eiskaltes Gefühl mich erschaudern ließ. „NEIN!“, schrie ich und war versucht, dieser Kälte mit Schlägen und Tritten zu entkommen – so als würde ich mich gegen die Fänge zweier Menschen wehren, die mich mit allen Mitteln festhalten, um ihre verdammte Folter weiter fortführen zu können. „Hör auf! Hör verfickt nochmal auf! Du bekommst mich nicht! DU.BEKOMMST.MICH.NICHT!“, kreischte ich nun mehr. Ich schrie mir meine verrottete Seele aus dem Leib. Mein Hals schmerzte, ich zitterte. Mir war kalt. So unendlich kalt. „Bitte…“, wimmerte ich hilflos in die Ferne hinein, in der inständigen Hoffnung, irgendjemand vermöge mich zu hören und aus dieser eisigen Hölle zu befreien. „Helft mir…“, meine Stimme klang rau, die Wörter verließen nahezu tonlos meinen Mund.
Schhhh… machte jemand hinter mir. Meine Frau. Es war ihre Stimme für ein wiederholtes Mal. Ich hasste sie. Ich hasste sie so sehr. Jason, raunte sie mir nun vielmehr in mein Ohr. Wie kannst du nur so von mir, deiner Frau, denken? Kaum war jene Phrase in ihrem lieblichen, engelsgleichen Klang ausgesprochen, übermannte die Kälte nun vollkommen meinen Oberkörper und ein unsichtbarer Ruck zog mich nach hinten; zwang mich, meinen Körper aufzubäumen, so als hätte ich unermessliche Schmerzen – einzelne Nadeln stachen erbarmungslos in das Innere meines Körpers ein. Das widerwärtige Gefühl der Kälte hatte sich binnen weniger Sekunden in puren Gefrierbrand verwandelt. Meine Augen weiteten sich bei dem gottgleichen Anblick, der sich mir gegenüber bot. Weniger vor Pein als vor Erstaunen:
Ihre Haut so perlweiß, dass ihr die eines Geistes in keinster Weise hätte gleichkommen können, ihr langes, schwarzes Haar lag wellig bis zu ihren Brüsten hinab. Ihren Kopf krönte ein kleiner Kranz aus weißen Blumen und ihr durchsichtiges, aus feinster Seide gefertigtes Spitzenkleid offenbarte im vollkommenen die unaussprechliche Schönheit ihres überaus schlanken Körpers. Sie war kein Geist. Sie war eine Nymphe. Ein Wesen aus der griechischen Mythologie! Das anfängliche Zittern bestand nach wie vor, dennoch kam es ferner daher, dass mich ihre anmutige Schönheit mehr erzittern ließ, als dass es die Kälte noch vor wenigen Augenblicken getan hatte.
Komm mit, sang sie mehr, als dass sie es sprach, lass mich dir zeigen, was dich in deiner jetzigen Zeit erwartet. Mit diesen Worten legte sie sanft ihre beiden Hände um meinen Mund. Sie wollte, dass ich schweige, dachte ich beiläufig, während nur die seichten Bewegungen ihres Kopfes darauf rückschließen ließen, dass sie genickt haben musste. Zeitgleich überkam meinem Blickfeld ein viel zu grelles Weiß, welches in einem schnellen Rhythmus zunächst das Gesicht meiner Göttin, wenige Minuten später ihren gesamten Körper einhüllte. Hab keine Angst, versuchte sie meine innere Anspannung zu vertreiben. Angst ist der Vorbote allen Grauens. Vergebens bemühte ich mich, stark zu sein. Ihr zu zeigen, dass ich keine Angst hatte. Nicht so lange sie bei mir war, dennoch war es die stetig anhaltende Pein, welche zunächst immer tiefer in das gesunde, körperliche Empfinden aller Temperaturen einstach und meine Nervenbahnen Mal für Mal ertauben ließ. „Es tut weh“, wimmerte ich ein erneutes Mal. Zu meiner eigenen Überraschung hatte mein Wimmern mittlerweile den Klang eines kleinen, hilflosen Kindes angenommen, welches am liebsten in jenem Moment in Tränen ausgebrochen wäre. „Es tut so unendlich weh!“, rief ich meine Wehklage aus, jedoch war alles, was meine Geliebte als Reaktion darauf tat, mir einen Kuss auf die Stirn zu geben, so wie eine Mutter ihr Kind bei einer Verletzung trösten würde. Es ist gleich vorbei, versprach sie mir. Gleich ist alles vorbei.
Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht: Jasons Sicht
Und tatsächlich: Im selbem Moment, in dem das grelle Licht mit einer einzigen Implosion verschwand, hörten ebenso die Schmerzen auf, die meinen Körper und Geist gequält hatten. Anstelle des dunklen Raums, dessen Kontrast samt den perlweißen Schneeflocken vollkommen unnatürlich und surreal wirkte, befand ich mich nun in einem kleineren Zimmer, dessen spärliche Einrichtung aus nichts weiter als einem krankenhausähnlichem Bett, einem daneben stehenden Nachttisch mit Lampe und einem weiteren Raum (der offensichtlich das Badezimmer sein musste), bestand. „Wo sind wir hier?“, fragte ich meine Frau, doch entgegen meiner Erwartungen, sie könnte mir eine Antwort schenken, deutete sie mit einem Finger auf die Tür, welche wie aufs Stichwort aufsprang und zwei Pfleger, die jeweils von der rechten und linken Seite einen Mann mit gesenktem Kopf hineintrugen, hereinkamen.
Erst als einer der Pfleger dem Fremden vor mir an seinen Haaren zog und so mir das Gesicht des abartigen Häufchen Elends präsentierte, welches sich nur noch schwer auf den Beinen halten konnte, realisierte ich, dass ich selbst es war, der sich von diesen muskulösen Männern hatte hierher bringen lassen. Meine Augen waren glasig, meine Haut so bleich, als wäre ich ein nicht länger existierendes Lebewesen, sondern eine Leiche, die ihr letztes Lebenselixier ausgehaucht hatte und nun das endgültige Produkt in Form einer leeren Hülle war. Das Gericht hat dich aufgrund eines psychiatrischen Befundes für ‚nicht zurechnungsfähig‘ erklärt und dich in diese Anstalt einweisen lassen, so lange, bis du ‚wieder klar im Kopf bist‘, um die Geschworenen zu zitieren, die diese Hölle für dich ausgesucht haben, hauchte meine ehemalige Geliebte in meinen Nacken, sodass sich meine Nackenhaare aufstellten. Ihr Atem war so kalt. Und das alles nur, flüsterte sie nunmehr, weil mein Ehemann, von dem ich ein Kind erwartete, so verdammt selbstsüchtig und eingebildet war, dass er nichts anderes als seine blöden Bücher im Kopf hatte! Mit jedem Wort, das aus ihrem verdammten Maul kam, wurde sie lauter. Sie war wütend. Sie war verdammt nochmal wütend, dass ich meine Leidenschaft vor sie gestellt hatte? Ernsthaft? Ohne mich würde sie sich wohl kaum um unser Baby kümmern können!
Doch auch wenn ich insgeheim wusste, dass sie irgendwie die Fähigkeit besaß, meine Gedanken zu hören (so war es auch beim ersten Geist der Fall gewesen), und somit ganz genau wusste, was ich über diese Unterstellung dachte, ließ sie es sich nicht nehmen, einfach weiterzumachen: Gib es zu!, schrie sie. Gib zu, dass du immer, wenn wir miteinander geschlafen hatten, an eine deiner weiblichen Figuren gedacht hast, dir vorgestellt hast, ich wäre sie, nur um es mit mir irgendwie auszuhalten. Herzlichen Glückwunsch, du gottverficktes Arschloch! Du hast es geschafft, mich zu schwängern. Na los, sag schon! Kommt das in einem deiner verdammten Bücher auch vor? Wie du, als eigener Protagonist, eine fantasiebehaftete Frau durchnagelst und (oh Wunder!) sie schwängerst? Aber du bist zu besessen, zu gierig von der Idee, berühmt und anerkannt zu werden, sodass du sie am Ende tötest. Denn du hast Angst, nicht wahr? Angst davor, dass ein Baby, das Verantwortung und Fürsorge benötigt, deinen Traum zerstört. Hab ich recht, mein Schatz? Wolltest du unser Kind absichtlich eigenhändig abtreiben, nachdem du mich in die vollkommene Bewusstlosigkeit geschlagen hast, damit du keine Verantwortung tragen musst? Meine Hände waren zu Fäusten geballt, ich zitterte am ganzen Körper.
Noch ein falsches Wort, drohte ich ihr in Gedanken. Dennoch schien sie von meiner unausgesprochenen Drohung wenig beeindruckt. Dann was?, fragte sie achselzuckend in den Raum hinein. Bringst du mich ein weiteres Mal um? Stichst du mir mit dem Messer nochmal und nochmal in meinen Bauch hinein und ziehst es langsam weiter runter, um dich an meinen qualvollen Schreien zu ergötzen, du geisteskranker Perverser? Oh, wie schade! Leider geht das nicht mehr! Ihr triefender Spott war nicht zu überhören, so wie sie sicher auch meine monströse Wut in meinen eisblauen Augen hat funkeln sehen.
Dennoch drehte sie mit ihren eisigen Händen mein Kopf nach vorne, wo mein Gegenwarts-Ich inzwischen nahezu reglos auf den Boden lag; die Pfleger waren derweil wieder verschwunden. Ich keuchte schwer und hustete bei jedem Atemzug, welchen ich einatmete. Sie geben dir in sehr unregelmäßigen Abständen Antipsychotika, ein starkes Medikament, das bei Psychosen helfen soll. Die anfänglich noch geringe Dosis haben sie weit über den in unserem Land zulässigen Wert erhöht. Sie begründen diese illegale Machenschaft damit, dass diese Form der Behandlung notwendig sei. Für alle Patienten, die an irgendeiner Form von Schizophrenie oder Psychosen leiden, erklärte Lia mir. Wie ich sagte: Dieser Ort ist die Hölle. Und du hast dich selbst in sie befördert – ganz ohne Selbstmord oder so einen Scheiß. „Dieser Traum ist eine einzige Hölle“, murmelte ich, während ich immer noch fassungslos auf mein eigenes Selbstbild starrte. Ich war in die grausamen Fänge einer Horrorklinik geraten. Jedoch… gab es irgendwo in meinem Hinterkopf den aufmunternden Gedanken, dass ich genau das erreicht hatte, was der erste Geist bereits gepriesen hatte: Ich war im Begriff, mein eigenes, kleines Erfolgserlebnis auf Papier zu bringen. Und ich… liebte es! Erschrocken blickte ich zu meinem Selbst auf, als ein hysterisch-kratziges Lachen aus dessen Kehle kam: So, als hätte nun auch er meinen Denkinhalten gelauscht, stimmte er mir zu.
„Diese verdammten Idioten!“, flüsterte er mit solch einer besorgniserregenden Euphorie in der Stimme, dass sie drohte zu brechen. Langsam richtete er sich auf, während er sich mit einem Arm abstützte und sein gesamtes Körpergewicht hochdrückte. Der Klinikaufenthalt und die Unmengen an „Medikamenten“ (für mich waren sie nicht mehr als Drogen) hatten ihre sichtbaren Spuren an mir hinterlassen: Ich hatte einen sichtbaren Bauch und wirkte insgesamt (neben meinem Gesicht) ungepflegter und verkommener. Ich war wirklich nichts mehr als eine leblose Hülle meiner selbst. Erneute Wut ergriff meinen Geist, während ich mit ansah, wie mein gegenwärtiges Ich sich schwach und träge die wenigen Schritte bis zum Bett schleppte und die Matratze hob, um nach einem kurzen Check mit einem abartig krankem Grinsen festzustellen, dass ich meine Waffe immer noch unterhalb jener befestigt hielt und diese lebende Verkörperung von Inkompetenz (liebevoll Direktor der Psychiatrie genannt) nicht einmal auf die Idee kam, bei einem ernsthaft geisteskranken Patienten wie mir mein Zimmer oder gar mich auf Waffen zu prüfen. „Bald…“, flüsterte mein Gegenwarts-Ich, derweil es die Pistole langsam (fast zaghaft) von der Matratze löste und ihren Lauf küsste. „Bald bin ich frei!“
Wieder umschlossen die Hände meiner Lia mich, jedoch wanderten sie anstelle von meinem Mund hinauf zu meinen Augen, so als wollte sie mich vor dem schützen, was sich in der nächsten Szenerie vor mir abspielte. Ich will, dass du fühlst, wie es ist zu leiden. Ich will, dass du hörst, wie sie schreien. Ich will, dass du schmeckst, wie das Blut auf deiner Zunge zergeht. Ich will, dass du riechst, wie die Verwesung entsteht, flüsterte Lia mir in einem viel zu banalen Reim in mein Ohr. Er war so banal, dass ich nicht anders konnte als zu lachen. Ich lachte so schrill und laut, dass ich mich beinahe selbst fragte, ob ich noch bei Verstand war. Viellicht war ich das. Vielleicht aber auch nicht. Wer konnte das schon sagen?
Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht: Epilog
Auch wenn meine Sicht von tiefster Schwärze bedeckt war, so konnte ich alles hören: Schüsse, Schreie, das vergebliche Flehen um Hilfe. Ich konnte alles fühlen: Angst, Verzweiflung, Schmerz. Konnte alles schmecken: Das Blut, den Schweiß, selbst die Angst. Und ich roch eben jene Elemente, welche ich auch geschmeckt hatte.
Doch anstatt dass es bei jenem einmaligen Ereignis verblieb, wiederholte sich die Szenerie immer und immer wieder aufs Neue, sodass mir nichts anders blieb, als meine Sinne mit eben jenen Eindrücken in den Wahnsinn treiben zu lassen. „Du verfickte Schlampe“, keuchte ich, während mir beim Reden ein langer, zähflüssiger Faden Blut aus dem Mund lief. „Du bist genauso asozial wie der erste Geist, der mich heimgesucht hatte. Ihr dreckigen Wichser wollt mich doch nur leiden sehen!“ Sie lachte. Meine einstige Frau lachte über meine bitter-süße Erkenntnis.
Oh, wie konnte ich nur so einen kleingeistigen Spinner wie dich lieben?, unterstrich sie ihr anhaltendes Gelächter. „Wie konntest du ungeschützten Sex mit mir haben und so ein Balg zeugen?“, konterte ich mit einem bitteren Grinsen. Ihr Gelächter erstarb in einem ungleichmäßigen Widerhall und anders als beim ersten Geist klang es alles andere als glasig und klar. Es klang schmerzhaft verzerrt. Selbst die letzten Töne kamen dem eines dämonischen Gelächters viel näher als der engelsgleiche Singsang ihres alleranfänglichen Klangs. Du verstehst es nicht, hauchte sie ins Nichts hinein und zum ersten Mal seit ihrem Aufenthalt schmeckte ich selbst ihre Kälte. Sie schmeckte so verbittert, so voller Trauer. Zeitgleich überkam meinem Gaumen ein heißer Beigeschmack voll Wut.
Ich werde dir zeigen, was es bedeutet zu leiden!, schrie sie nunmehr in einer Oktavenhöhe, welche für das menschliche Ohr nahezu unerreichbar war. So schrill, dass meine Ohren schmerzten. So voller wütender Trauer, dass mein Herz drohte, in tausend Einzelteile zu zerbrechen.
Erst, als sich die unbeschreibliche Pein in meinem Bauchraum hinzumischte, samt der Wärme des Blutes, sich ihren Weg hinab auf den mit Schnee bedeckten Boden suchte, waren meine Gehirnzellen in der Lage, im selben Moment (ja fast zeitgleich) zwei Dinge zu realisieren:
Das Erste: Die eisig-heiße Trauer, gepaart in Wut und sichtbaren Tränen; mein offener Bauchraum, dessen Blut ungehindert hinausfloss, und der schnelle, in regelmäßigen Abständen einstechende Schmerz war die Verkörperung ihres Empfindens gewesen, als ich in jener Nacht sie und unser Baby getötet hatte.
Das Zweite: Ungeachtet meiner vollkommenen Realisierung musste sie mich, als meine Augen durch ihre Hände verdeckt waren, zurück in jenen Raum gebracht haben, in welchem alles anfing. Zurück in jenen Raum, in welchem es immer schneite, doch der Schnee niemals liegenblieb – bis zum jetzigen Moment.
Und es war jener Raum, in welchem mich die Kälte mit einem langen, zärtlichen Kuss begrüßte: Mittlerweile war sie in einem liebkosenden Schritt hinauf zu meinem Bauch gewandert. Ich zitterte vor Kälte. Wie sehr ich sie nur hasste.