
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
»Wird Großvater eines Tages zurückkehren?«, fragte der eine Zwilling von rechts, »wird er sich von dort wieder ausgraben können?«, fragte der andere von links. Im Hintergrund hatte der Geistliche seine Worte der Trauerzeremonie beigetragen, nachdem der mit wenig Blumen dekorierte Sarg langsam und vorsichtig in die ausgehobene Grube gelassen wurde.
»Euer Großvater befindet sich jetzt an einem anderen Ort. An einem besseren Ort. So ist nun mal der Lauf der Dinge.«, erklärte die Mutter.
Während sich ihr eine einsame Träne den Weg von der Wange suchte, legte sie ihren Arm um die Zwillinge. Verträumt, und mit dem Tod noch nicht ganz vertraut, beobachteten die beiden nur den kleinen Bagger, wie er mit dem gezackten, beeindruckenden Maul große Erdklumpen auf den Sarg regnen ließ.
Als die Beerdigung vorüber war, schlug das trübe Wetter in prasselnden Regen über, fast schon in symbolischer Weise. Sofort öffnete die Mutter den Regenschirm und schob die beiden darunter, wobei sie es letztlich den Anderen gleichtaten und sich auf den Rückweg begaben. Einer der Zwillinge warf noch einen letzten Blick in die trübe Ferne. Dabei fing er an, innerlich zu begreifen, dass soeben der dem Regen lauschende Grabstein zu einem Teil diesen Ortes geworden war.
Mach es gut, Großvater.
»Autsch!«, gab ich von mir, nachdem ich versehentlich auf eines von Leons unzähligen Spielfiguren getreten war, von denen er überall welche im Treppenhaus verteilt und sorglos liegenlassen hatte. Diesmal war es der Robotersoldat. Und wie sooft räumte ich ihm alles hinterher. Wenn ihn wohl keiner daran erinnerte, würde er eines Tages seinen eigenen dusseligen Holzkopf vergessen. Wie im Galopp stieg ich den grau-tristen Treppenflur immer weiter hinab, wobei ich eine Spielzeugfigur nach der anderen zu mir nahm. Nach der damaligen Beerdigung, die inzwischen fünf Jahre zurücklag, hatten verschiedene Gründe dazu beigetragen, dass wir unseren Wohnungsort wechseln mussten; ein Wohnkomplex mit günstiger Miete in diesem Fall. Da unser naheliegendes Umfeld erwartungsgemäß nichts Kindgerechtes zu bieten hatte, verbrachten wir den größten Teil unserer Freizeit überwiegend viel mit Kinderspielzeug. Spielfiguren und bekannte Puppen aus Kinderserien, die im Fernsehen liefen, waren es, die uns begeisterten, – aber auch mit Gameboy oder Brettspielen beschäftigen wir uns. Was eine alleinstehende Mutter für uns erübrigen konnte, erübrigte sie auch für uns.
Gerade als ich das Erdgeschoss erreicht hatte, zuletzt auf die Plüschfigur eines Schlumpfes gestoßen war, da bemerkte ich auf einmal, wie mein Bruder sich mit einem fragwürdigen Mann im Eingangsbereich unterhielt. Seine bloße Anwesenheit vermittelten mir sofort ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, sodass ich Leon am liebsten von ihm weg wissen wollte. Er roch nach Alkohol, hatte schulterlange, ungepflegte Haare und ein fahles Gesicht. Sein Kleidungsstil war der gescheiterte Versuch, das Beste aus Verwahrlosung herauszuholen. Beispielsweise wirkte sein offenes Jackett zwar modisch, doch das siffige Hemd, das er nur unbeholfen darunter zu kaschieren versuchte, war kaum zu übersehen. Weiter trug er eine löchrige Melone, und Schuhe trug er überhaupt keine.
Was bei ihm allerdings am meisten hervorstach, war eine übergestreifte Handpuppe.
Die stellte er uns als Mr. Dingels vor. Sie hatte diesen dümmlichen Gesichtsausdruck und ein breites Grinsen. Leon war wie fasziniert von diesem hundeartigen Ding, dem nebenbei angemerkt, beide Ohren fehlten. Unterschwellig hatte er deswegen bereits den Ansatz, als sei er halb Hund und halb Reptil. Aber das wirklich nur auf den ersten Blick.
»Wie gefällt dir mein guter Freund, Johann?«, fragte mich der Mann.
»Was wollen Sie und woher kennen Sie meinen Namen?« Er begutachtete mich bemessen, antwortete dann: »Na, dein Bruder hat mir bereits einiges über dich erzählt.«
Der Fremde ließ das Maul auf und zuschnappen; machte dabei irgendwelche peinlichen Geräusche. Leons Augen brachte dies mit einem »Wow!« zum Leuchten. Was es war, dass ihn an der Handpuppe so faszinierte, war mir völlig schleierhaft. Ich fand das Teil einfach nur super hässlich.
»Wir dürfen nicht mit Fremden reden, tut uns leid.«, sagte ich. Gleichzeitig versuchte ich Leon irgendwie fortzubewegen, doch dieser hielt wie ein bockiges Kind dagegen.
»Oh. Das macht überhaupt nichts!« Der Mann trat noch weiter hervor: »Im Prinzip ist das hier überhaupt kein Gespräch. Ich bin eigentlich nur auf der Suche nach einem neuen Zuhause für meinen Kameraden. Ich möchte Mr. Dingels in guten Händen wissen. Versteht ihr?«
Abschätzend schaute er zwischen Leon und mir hin und her, nur um dann zu verkünde: »Also gut. Ich entscheide nun, dass Mr. Dingels an dich übergehen soll, lieber Leon. Du scheinst mir genau der Richtige zu sein, der sich fortan als würdigen Träger erweist. Bei dir liegt er in guten Händen. Bei deinem Bruder hingegen…« Er warf Johann einen geringschätzenden Blick zu: »Wer in so jungem Alter schon so viel Missgunst im Herzen trägt, bei dem wird sich wohl der Kreis erst noch schließen müssen…«
Auch wenn ich wünschte, ich hätte es irgendwie verhindern können, somit war Mr. Dingels in unser Leben getreten.
Am nächsten Tag saßen wir bei Sonnenschein und mit Tellern voll Gemüsesuppe am Mittagstisch. Leon trug seine Handpuppe und alberte damit herum. Nach dem gestrigen Gequengel und hin und her hatte ihm unsere Mutter das Behalten dieses Dinges letztlich doch noch erlaubt – zumindest nach einem Durchgang in der Waschmaschine. »Wenn die Handpuppe schon von einem Landstreicher stamme, der so schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war, dann solle sie wenigstens sauber sein«, so Mama. Natürlich hatte sie zuerst die Besorgnis ergriffen. Welcher Mutter war schon wohl bei dem Gedanken, wenn sich draußen ein dubioser Mann in der Nähe ihrer Söhne herumtrieb? Aber all die Skepsis unbeachtet, mussten wir ebenso anerkennen, dass sich unter den bereits hier lebenden Bewohnern ohnehin mehr als genug skurrile Leute befanden und es auf einen mehr oder weniger auch nicht mehr ankäme.
Zum Beispiel wohnte eine schon ältere Dame einen Stock tiefer, die nahezu täglich für eine nach gekochtem Kohl stinkende Luft im ganzen Gebäude gesorgt hatte sowie sich ausschließlich davon zu ernähren schien.
Oder der Bewohner zwei Zimmer vor uns, dessen ständiges und nächtliches Talkshow-Gebrabbel und Fernsehflimmern aus seiner alten Kiste bereits beim Vorbeigehen von unter der Türe im Flur hindurchdrang.
Zwei Stockwerke tiefer nisteten Studenten, die sich dem oftmals lärmenden Geräuschpegel nach zu urteilen, für die ganz speziellen Studiengänge „Saufpartys“ oder „Vandalismus“ entschieden haben mussten. Die Menge an Schuhen zusätzlicher Gäste, die sich vor deren Wohnungstüren nahezu täglich stapelten, verdeutlichten dies nur noch mehr.
Dann war da noch ein Bewunderer des Diktators Josef Stalin, der dessen politischen Leitfaden als Lösung für alle Probleme in der Welt unter die Bewohner bringen wollte, wobei er in den meisten Fällen auf Ablehnung stieß, da die meisten Bewohner jene totalitäre Weltsicht ablehnten oder einfach ihre Ruhe haben wollten.
Zum Schluss war da noch die Dame mit ihrem bissigen Yorkshire-Terrier von Nebenan. Die hat immer Blümchen oder Bienchen bemalte und kunterbunte Extrahinweise an ihr Postfach gepinnt. »Eselsohren möglichst vermeiden«, »Post ganz einwerfen«, waren die Aufschriften. Der Postbote musste sich bei der Zustellung sicherlich wie ein Dreijähriger vorkommen.
»Mr. Dingles möchte von der Suppe!«, brach Leon hervor. Sein Gefuchtel wurde immer ulkiger, sein Gautschen mit dem Stuhl immer ungestümer. Zusätzlich erzeugte das ein unangenehm-metallisches Quietschen am Boden. Und in Verbundenheit mit dem fortwährenden Aufschnappen des Puppenmauls drückte dies jeden Puls zähneknirschend nach oben. »Leon! Hör jetzt mit den Faxen auf und iss!« Zwar verlor Mama beinahe die Geduld, doch wenn mein Bruder erst einmal aus Trotz die Ohren verschlossen hielt, dann blieben diese zumeist verschlossen. »Nein! Ich will nicht! Mr. Dingles und ich wollen nicht!« Er dachte gar nicht erst daran, seine kindischen Laute zu unterbrechen. Er trieb es schließlich so weit, bis er den vollen Suppenteller – Schwupps – vom Tisch fegte. Der Suppenteller zerbrach in seine Einzelteile; der komplette Inhalt verteilte sich über den Boden. Mutter brüllte: »Leon! Jetzt reicht es endgültig!«
Letztlich entwendete sie ihm die Hundehandpuppe und verdonnerte ihn zum Nachdenken auf unser Zimmer. Selbst schuld, könnte man meinen. Doch es folgten noch ganz andere Dinge. Dinge, bei denen ich mir sooft einfach nur gewünscht hatte, dass Mutter das verdammte Teil gleich an diesem Tag verbrannt hätte und dessen Asche möglichst weit weg verstreut.
Egal ob Wohnzimmer, Badezimmer, Esszimmer, Dachboden oder dem Kinderzimmer: die Nachtruhe war längst eingekehrt. Einzig das Ticken der Uhr im Flur war zu hören. Das hielt sich jedoch nicht sonderlich lange. Sondern nur solange bis… »Tolle Idee! Okay… tun wir… eines für jeden Nachbarsonkel…«, mich eine Stimme wach werden ließ.
Was ich in der schraffierten Dunkelheit erblickte, war Leon, wie er am anderen Ende seines Bettes saß. Mit dem Rücken mir zugewandt, und er murmelte dabei irgendwas vor sich hin. Was mich dabei leicht mulmig zumute werden ließ, lag nicht an seinem Flüstern oder dass er wach war. Es lag an seiner Körperhaltung. Nicht, dass sie irgendwie krumm oder verdreht wäre. Sie war normal. Es war diese Ruhe. Diese innere Gefasstheit. Wie das geduldige Warten auf einen womöglichen Sturm war, was mich beunruhigte. In solchen Fällen fiel mir immer ein, was ich tat, wenn mir als Kind etwas Angst gemacht hatte und ich eine spezielle Bewertung aufstellte: Es handelte sich um eine Skala von bis zu drei Monstergesichtern. Sinn und Zweck war es, mit meinen aufkommenden Ängsten besser umgehen zu können. Der damalige Fremde, der meinem Bruder die Puppe im Eingangsbereich vermacht hatte und für den ich durchaus Argwohn empfand, käme beispielsweise nur auf ein Monstergesicht, da dessen unmittelbare Bedrohungen doch ausgeblieben war.
Dem nun folgenden verlieh ich hingegen zwei Monstergesichter.
Als ich die eindeutigen Umrisse wiedererkannte, zu denen er flüsterte, stieg in mir eine Frage auf: Wie bewerkstelligte es Leon, die von Mutter weggesperrte Handpuppe so schnell in dessen Besitz zurückzubringen? Hatte er ihn sich zurückgeholt, als keiner auch nur eine Minute hinsah? Ich verstand es nicht. Da unsere Jalousien immer eine Lücke am Fenster bildeten, sodass die Räumlichkeit stets einigermaßen sichtbar blieb, war eine Puppenverwechslung ebenso auszuschließen. Sicher war dieser Umstand seltsam, aber nicht das war, dem ich damals zwei Monstergesichter verliehen hatte.
Als ich ihn mit »Warum bist du noch wach? Geh wieder schlafen!«, fragte und aufforderte, da meinte ich, mir eingebildet zu haben und die verschlafenen Augen reibend, als er sich zu mir drehte, für eine Millisekunde auf zwei wie Diamanten funkelnde Punkte geblickt zu haben, die sich exakt dort befanden, wo das Gesicht der Puppe zugegen sein sollte.
–
An einem Samstagnachmittag beschäftigten wir uns mit dem Zusammensetzen eines Dinosaurier-Puzzles, während im Hintergrund irgendein Cartoon über den Fernseher flimmerte. Seine geliebte Handpuppe trug mein Bruder natürlich auch wieder bei sich. Da sie auf rätselhafte Weiße immer wieder zu ihm zurückkehrte, egal wie oft man sie konfiszierte, gab Mutter es irgendwann auf, die beiden voneinander trennen zu wollen. Zeit für Diskussionen hatte sie heute ohnehin nicht, da sie heute noch zur Spätschicht musste. Das war auch der Grund, weshalb es an der Tür klingelte.
Es war Katja. Unsere Babysitterin. Sie trat sozusagen immer dann zwischenzeitlich zur Stelle, wenn Mama noch in einer Bar aushelfen musste – meistens von Samstagabend auf Sonntag. »Das ist aber eine gruselige Puppe«, gab Katja von sich, und »wieso hat der Hund denn keine Ohren?« Leon schwieg. Katja und ich begrüßten uns mit einem High-Five. Wir mochten es immer sehr, wenn sie da war. Zwar hing sie oftmals am Hörer, da (wie sie es nannte) sie etwas mit ihrem Freund zu besprechen hätte – doch dies störte uns keineswegs. Ganz im Gegenteil: denn dafür erlaubte sie uns so gut wie alles. Manchmal brachte sie sogar Videospiele mit oder ließ uns Filme schauen, wie wir wollten. Mit ihr konnte man quasi die Seele baumeln lassen. Nachdem wir uns im Anschluss einiger Partien UNO die Pizza einverleibt hatten, versuchten wir aus belustigender Manier heraus, immer wieder die Handpuppe vom Arm meines Bruders zu stehlen. Doch dieser reagierte darauf immer empfindlicher. Teilweise wurde er sogar richtig gereizt. Davon auch nur kurzzeitig gelöst zu sein, wurde für ihn wohl zum ernsthaften Problem. Selbst beim Zähneputzen schaffte Katja es nicht, ihn von Mr. Dingels zu trennen. Dabei blieb sie selbst von Handbissspuren seitens meines bescheuerten Zwillings nicht verschont.
»Verdammt Leon! Bist du heute eigentlich nicht mehr ganz dicht?«, echauffierte sie sich. Die nächste Situation überrumpelte Sie völlig: Sie erwischte Leon kurzfristig dabei, sich gefährlich weit aus dem Fenster zu lehnen, nur um spielerisch mit der Handpuppe nach Regentropfen zu schnappen. Wir befanden uns im vierten Stock. Sofort zog sie ihn wieder herein, um ihn zurechtzuweisen. Katjas Herz war für den Moment fast stehengeblieben.
Dann entwischte er abermals und rief: »Fang mich doch!«
Nachdem er auf dem Sofa geturnt war, mit Stofftieren und Kissen um sich schmiss, war er letztlich doch müde geworden. Zum Glück. Es folgte die Schlafenszeit. Nein, das mit zum Glück muss ich an dieser Stelle leider noch einmal streichen. Denn von da an wusste ich noch nicht, welchen gravierenden Einschnitt diese Nacht noch sorgen würde… Es war zirka 01:00 Uhr, als ich schon wieder leises Gemurmel vernehmen konnte. Nicht dasselbe wie beim letzten Mal. Diesmal klang es so… knurrend? War es wieder Leon? Mein Blick schweifte durch den Raum. Doch weder erkannte ich die mir vertraute Körperwölbung in seinem Bett, noch war er irgendwo anders im Zimmer ersichtlich. „Leon? Wo bist du…?“ Da eine Antwort ausblieb, setzte ich mich also ganz auf.
Dann bemerkte ich es. Ein dümmliches Hundegesicht kam langsam von unter dem Bett hervorgekrochen. Oder besser gesagt; tat es das so lange, bis diesem der Arm, der Kopf sowie der kriechende Rest meines Bruders nachgezogen war. Wie er sich fortbewegte, war definitiv nicht normal. Es hatte was von einem alten Stummfilm, der nur in Intervallen fortläuft. Ich fragte ihn mit zittriger Stimme, was hier vor sich ginge. Doch statt einer Antwort zu erhalten, starrten auf einmal zwei verzerrte Gesichter, die ich bloß als ein Gespann des Grauens einordnen konnte, direkt zu mir hoch. Leons Mund bildete ein sichelförmiges Lächeln, während Mr. Dingels ein noch viel makaberes Grinsen entblößte, worin sich messerscharfe Zähne aneinanderreihten. Ein Anblick dazu imstande, in meinem Schädel dröhnenden Bombenalarm auszulösen.
Leon bewegte sich unserer Spielzeugkiste entgegen, die er mit einem Tritt umstieß – sie war komplett leer. Indessen wechselte sein eiskalter Blick zwischen der Kiste und mir hin und her. »Was ist los, Johann? Warum so ängstlich?«, sprach er höhnisch, »sag bloß, du erkennst mich nicht mehr?« Dann lächelte er noch breiter und fügte an: »Ich möchte nur etwas spielen! Aber nicht nur mit dir. Ich möchte mit allen Bewohnern im Haus lustige Spiele spielen!«
Leon begab sich langsam aus dem Zimmer, wobei ein eindringender Lichtspalt das unbehagliche Erscheinungsbild des Duos nur noch mehr hervorhob, sich langsam wieder schließend. Drei Monstergesichter für all das Geschehene bis hier hin – hunderte Monstergesichter für alles unheilvolle Leid, das noch von diesem verfluchten Ding ausgehen würde, welches inzwischen vollständig mit dem Arm meines Zwillingsbruders verschmolzen war.
»Leon«, sagte Katja, »habe ich dir nicht gesagt, dass du ins Bett gehen…-« Gerade als sie ihn zur Rede stellen wollte, konnte sie nicht mal mit der Wimper zucken. Ein schwungvoller Stoß beförderte sie über das Sofa. Sie fiel zusammen mit einer zerspringenden Vase zu Boden. »Komm uns nicht in die Quere!«, raunte es hinterher.
–
Die trippelnden Regentropfen von außerhalb des Gebäudes verblassten im Hall sich nähernder und umherwandernder Schritte. Das rastlose Licht der Taschenlampe strahlte kreuz und quer durch die dunklen Wohnungsflure, hinter deren meisten Türen es mucksmäuschenstill gewesen war. Zwar war Katja durch den Angriff ziemlich angeschlagen, doch hatte sie sich wieder aufrappeln können. Prellungen kümmerten sie vorerst am wenigsten. Niemals könne sie der Mutter der beiden wieder gegenübertreten, wenn einem der beiden etwas zustieße. Deshalb mussten wir Leon um jeden Preis wiederfinden. Ich spreche deshalb von wir, weil ich ihr bei der Suche aushalf. Auch wenn sie es mir eigentlich zuerst verboten hatte. Somit überwand ich meine Angst vor der Dunkelheit und begab mich mit ihr ins Ungewisse.
Irgendwann fanden wir Leon und standen ihm gegenüber…
Etwa 30 Meter Entfernung lag zwischen uns. So wie er da am Ende des Abschnitts regungslos verweilte, schien er uns wohl bereits erwartet zu haben, und auch wenn er sich vor uns im Zwielicht verbarg; sein bösartiger Widerwillens füllte beinahe den kompletten Gang aus.
»Ich wusste, dass ihr vorbeikommen würdet«, fing er an.
»Es reicht jetzt Leon«, keifte Katja, »das hier ist längst kein Spaß mehr!« Und: »Du hast Johann Angst eingejagt und bist einfach so auf mich losgegangen. Das Spiel ist vorbei.«
»Oh nein. Die lustigen Spiele starten jetzt gleich!«
»Mr. Dingels und ich haben da letztens etwas ganz Tolles vorbereitet! Etwas, womit wir den Bewohnern im Haus ganz viel Spaß bescheren werden! In wenigen Momenten werden sie die Augen aufschlagen.«, verkündete er noch.
Das gewittrige Rumoren wandelte sich kurzweilig zu nieder krachenden Schlägen. Indessen war unklar, ob die Donnerschläge innerhalb oder außerhalb des Gebäudes entsprangen, da plötzlich grelle Lichter unter jeder einzelnen Wohnungstür anfingen zu flackern. Als es wieder nachzulassen schien, folgte entsetzliches Geschrei. Dumpf, doch deutlich hörbar. Aus jeder Wohnung entrinnend. Untermalt von beginnendem, kreischenden Flehen. Aus jedem Stockwerk. In jeder Stimmlage.
Den Blitzgewittern von unter den Türspalten folgten lange Blutlachen, die sich langsam zu den Gängen ausdehnten, fast jede Wohnungstür miteinbezogen. Dahinter folgte ebenso das Scharren von etwas Bösen. All die Laute zu einem Brei vermengt, verkamen diese zum puren Pandämonium einer jeden Kakofonie. Dann klang alles wieder ab und Stille kehrte ein.
Das dachten zumindest unsere längst ramponierten und von der Situation überforderten Gehirne.
Hinter uns hörten wir plötzlich ein Krachen. Dann bemerkten wir, wie eine Pranke aus dem nun klaffenden Loch einer der nebeneinanderliegenden Wohnungstüren ragte und mit hervorstehenden Klauen wild um sich griff. Ich war wie versteinert. Gleichzeitig stieg mein Herzschlag ordentlich in die Höhe. Als Nächstes folgte die Tür direkt gegenüber. Und ich scherze nicht, wenn ich sage, es war ein verdammter Astronaut, der die halbe Wohnungstür mit roher Kraft zum Bersten gebrachte und halb eingerissen hatte. Er versuchte nach uns zu greifen; wenn auch völlig unbeholfen. Als sein Helm zurückfuhr, sich dabei eine sabbernd-knurrende sowie glotzende Fratze entblößte, mit Löchern statt Nase und freigelegtem Zahnfleisch, legte das in uns einen roten Schalter um. Wie die aufgeschreckten Affen rannten wir los.
Noch immer völlig ahnungslos, was hier vor sich ging, wollten wir einfach nur, dass der Abstand zwischen denen und uns so schnell wie möglich anwuchs. Was uns zum Glück vergönnt war, da sie der etwas robustere Teil des noch nicht zerstörten Türmaterials noch ein wenig in Schach hielt; auch wenn nicht allzu lange.
Wieder ein erschütternder, krachender Schlag. Diesmal von vor uns. Was dann aus dem Winkel trat, war ein recht großer Soldat in mechanischer Kampfmontur. Er hatte ein roboterartiges Gesicht mit im Schädel integrierten Nachtsichtgerät. In seiner inneren Bio-Mechanik flimmerte ein grünliches Herz, das deutlich sichtbar pulsierte. Während der Soldat eine per Kopfschuss getötete, ältere Frau wie eine Jagdtrophäe auf der Schulter schleppte, duckten wir uns rasch an ihm vorbei.
Was sich hinter den nächsten zersplitternden Türen verbarg, waren der uns nur um Haaresbreite verfehlende Stachel eines Riesenskorpions, einen kichernden und mit den Überresten einer Leiche jonglierenden Zirkusclown als auch ein mit Drehschlüssel im Rücken versehenes, krummes Dackelungetüm. Dieses blickte uns bloß auf eine unheimliche Weise und völlig regungslos mit seinen gelben Augen nach.
Es war wie das von Level zu Level springen eines Videospiels auf die Realität übertragen oder wie ein Hindernislauf aus der Hölle.
Aus einer wieder anderen Türe krachte eine verstörende Version des Krümelmonsters, dessen Fell wie lange Nadeln abgestanden hatte. Seine alptraumhaften und in verschiedene Richtungen blickenden Augen waren verstörend und fraßen sich einem bis ins Mark. Um das bis zur Stirn grinsende Maul war es mit Blut beschmiert, sodass es an ein Raubtier nach dem Fressen erinnerte. Es stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, nachdem wir es Gott sei Dank hinter uns gelassen hatten.
Die letzte Tür barg einen verstörenden Teddybären, der an eine im Drogenrausch ausgebrütete Version von Winnie Pooh erinnerte. Jener teils von Wulsten und Vernarbungen überzogene Bär schien erst so massiv, als käme er ohnehin nicht vollständig bis über den toten Winkel an der Türschwelle hinaus. Doch dann zwängte sich sein breites Maul voller grauenhafter Krokodilzähne durchs Zwielicht. Genauso seine krankhafte Muskelmasse, die beinah aus allen Nähten zu platzen drohte. Zwar knurrte er apokalyptisch tief, doch schien das gelbe Bärenungetüm zu langsam, als dass es uns mit seinen Pranken rechtzeitig zu fassen bekam.
Damit waren wir durch. Wir konnten es nicht glauben. Doch gerade als wir so kurz davor standen, unsere Hände Leon entgegenzustrecken, geschah es…
Mr. Dingels wuchs auf die fünf –, sechs –, sieben -, achtfache Größe heran, und er biss ein riesiges Stück aus dem Brustkorb von Katja heraus. Warmes Blut schoss mir dabei entgegen, wo es an mir haften blieb. Ich sah, wie wenige ihrer Organe direkt aus dem nun klaffenden Loch im fortgerissenen Gerippe fielen und wie mit Blut vollgesogene Schwämme am Boden aufklatschten. Was folgte, war das Geräusch von knirschenden Knochen, zerreißenden Fleisch, abreißenden Sehnen und animalischen Schmatzen.
Es war eine ausgehungerte Bestie, die sich sämtliche Überreste mit größter Gier einverleibte. Absolut nichts mehr blieb von meiner geliebten Kumpanin übrig.
Ich musste in der Hölle gelandet sein.
Wie verarbeitet es ein Mensch, ein zwölfjähriger Junge, so viel Blut und Tot auf einen Schlag mitansehen zu müssen? Verfällt er einem ewigen Trauma? Springt er aus dem Fenster, um Selbstmord zu begehen? In meinem Fall bleibt er einfach in einer Fötus-Position auf dem kalten Boden liegen. In der Hoffnung, dass dies alles nur ein Albtraum sei und er doch bitte wieder aufwachen möge. Und so daliegend vernahm ich das Humpeln, Watscheln, Kriechen und Knurren der Monster aus der Dunkelheit hinter mir nur allzu deutlich. Wie sie immer näherkamen und wobei mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief, der von der Leibhaftigkeit nur eines verdeutlichte: dass dies leider kein Traum war; dass dies real war.
Leon kniete sich zu mir runter. Dabei streichelte er Mr. Dingels, der wieder klein geworden war, ehe er auch mich streichelte. Zeitgleich tummelten sich all die Kreaturen wie schwankende Schiffsmasten an mir vorbei. Sie rotteten sich allesamt hinter meinem Bruder zusammen, was auf makabre Weise an ein gemeinsames Gruppenfoto erinnerte.
Mein Zwilling erhob sich nun wieder. Dann reckte er den Arm nach oben und setzte den Mund der Handpuppe an seinem eigenen Scheitelpunkt an. Mr. Dingels weitete seinen Kiefer, und wie es sich auch anhören möchte… Leon begann sich selbst zu verschlingen.
–
Als ich irgendwann wieder zu mir kam, wiederfand ich mich zurück im Eingangsbereich. Alles kam mir so vor, als hätte ich es schon einmal durchlebt. Was wenig verwunderte, da mir als auch jener Mann plötzlich wieder gegenübertrat. Auch mein Bruder befand sich erneut bei ihm. Er schien wieder völlig normal. Als mir auffiel, dass keiner der beiden das stoffliche Wesen bei sich trug, ging mir die Erleichterung von Kopf bis zu den Zehnspitzen.
Dem wurde jedoch schnell wieder Einhalt geboten, da mein Zwillingsbruder mit einem traurigen Blick dreinschaute, den ich nur allzu gut kannte… Es war der Blick, der entstand, wenn er eine Sache (meistens waren es Spielsachen) nicht bekam und dieser nachtrauerte.
»Leon?! Geht’s dir gut?«, fing ich mit brüchiger Stimme an und »komm, lass uns endlich nach Hause gehen.«
»Hör auf deinen Bruder. Trete herüber. Nur so schließt sich der Kreis.«, sagte der Fremde.
»Was meinen Sie damit? Was ist hier bloß los?« Statt des Fremden, antwortete mir Leon, der mit kindlich-enttäuschter Stimme meinte: »Das ist ungerecht, dass du ihn jetzt bekommen hast. Du wolltest doch eh nicht mit ihm spielen.«
Dann folgte die Antwort des fremden Mannes: »Hast du denn mal einen Blick auf deinen Unterarm geworfen?«
Mit einem ungläubigen »Nein…«, sackte ich fassungslos auf die Knie, als ich das dümmliche Gesicht einer Hundehandpuppe mit breitem Lächeln und fehlenden Ohren anstelle meines Armes erblickte.