GeisterGeisteskrankheitLangePsychologischer HorrorTraum

Dysphorie 2

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

(Thorsten:) „Hallo, ich heiße Thorsten und habe eine Depression.“

(Stuhlkreis:) „Hallo Thorsten!“

Unsere Therapeutin begrüßt Thorsten, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. Okay, wir sind hier in der Psychatrie, nicht mehr richtig im Kopf sind wir wohl alle. Aber kein Grund mit uns zu reden wie mit einer Gruppe Kleinkinder.

(Therapeutin, süßlich:) „Und warum bist du depressiv lieber Thorsten?“

Thorsten schluckt und schweigt. Peinliche Stille. Die Therapeutin starrt ihn einfach nur weiter mit steinernem falschen Psychogrinsen an. In meinem Hals wächst ein Kloß.

(Thorsten:) „Ich – ich weiß es nicht?“

Thorstens Stimme wird leiser und bricht ab.

Thorsten ist 52, schütteres Haar, ich vermute Alkoholiker. Soll seine Frau und ihr Kind angegriffen haben. Laut anderer Geschichte eine fremde Frau mit Baby auf der Straße. Keine Ahnung welche Version stimmt. Wenn überhaupt.

„Nagut, dann machen wir eben weiter“ sagt die Therapeutin, ein paar Ticken überdreht. „na was ist denn dein Problem?“

Die Frau die zwischen mir und Thorsten sitzt rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum.

„I-ich heiße Annika.“ – „Und?“ – „U-u-und ich hatte eine schwere Kindheit“ – „Hach ja – Hatten wir die nicht alle? Du musst auch mal mit der Vergangenheit abschließen Annika, sonst wird das mit dir nie was!“

Ich schnaube verächtlich aus. „Frau Schnarrenberger, darf ich kurz aufs Klo?“. Rede ich rein und hebe den Arm als wäre das hier eine Schulklasse. Frau Schnarrenberger funkelt mich an, lässt aber zumindest von Annika ab. Diese sackt auf ihrem Stuhl zusammen.

„Aber natürlich dürfen Sie auf die To-a-lette – sobald Sie sich allen hier vorgestellt haben! Dies ist ihre erste Gruppensitzung hier bei uns und wir alle wollen Sie ganz dringend kennen lernen – stimmts?“ Schnarrenberger schwenkt den Blick in die Runde aus der aber niemand antwortet. Fein. Augen zu und durch.

„Also, mein Name ist Nath, ich bin noch Schüler, bin 14 und seit Sonntag hier Insasse.“ Ein paar Leute grinsen. Ich sehe wie sich Schnarrenbergers Pupillen zu Punkten verengen und ihr Haifischgrinsen steinern wird. Ich lasse ihr keine Zeit zum Gegenangriff.

“Meine Mom hat mich hier her gebracht und der Herr Doktor meint, ich hab wohl ne Shizophrenie” setze ich nach und wedle mit dem Finger an meiner Schläfe herum. “hab mich gefragt was er meint aber mein anderes Ich hat mir noch nicht geantwortet.”

Betretenes Schweigen. Den dämlichen Spruch hättest du dir schenken können Nathan!

Ein Räuspern: “Nun – Fräulein Na-tha-lie Selinger” (sie betont jede Silbe so, dass selbst ein Tauber es hört) “ich denke Sie wissen ganz genau warum Sie hier sind!” Ihr Blick fährt einmal verächtlich von meinem übergroßen Hoodie zu meinen Stahlkappenstiefeln und zurück. “Ihre Mutter hat berechtigten Grund zur Sorge, dass Sie sich nicht genug Mühe geben, in die Ihnen vorbestimmte Rolle als Frau hinein zu wachsen. Sie flüchten sich in irgendwelche Wunschwelten und integrieren sich nicht mehr bei Ihren Mitschülern. Wäre es denn so schwer, sich etwas damenhafter anzuziehen? Dabei könnten Sie so hübsch aussehen wenn sie nur ein bisschen mehr aus sich machen würden – und einfach auch mal lächeln!”

Ich starre die Therapeutin an. Die legt den Kopf schief, setzt wieder ihr überzuckertes Lächeln auf und erwidert meinem Blick “dann fragen dich die Jungs auch mal nach einem Date!”

Ich schaudere.

Der Kloß im Hals ist riesig und er brennt. “Darf ich jetzt aufs Klo?”

“Wenn es denn sein muss” – die blutrote Zuckerfee entlässt mich mit viel zu hohem Singsang aus ihrem Diabetesgriff. Ich haste auf die Toilette – die Männertoilette wohlgemerkt – und breche in Tränen und einen Wutanfall aus. Einfach mal mehr lächeln! Schlimm genug dass man das jetzt schon in der Antidepressionsgruppe hören muss, jetzt soll ich mich auch noch hübsch machen – für wen? Für die Vollhonks und Assis in meiner Schule, die mich auslachen weil ich ein Metalhead bin? Für die Püppchen die mich mobben weil ich keinen Bock auf ihre StylingVlogs und Influencerinnenscheiße hab? Für die Klassenlehrerin die uns fragte was wir mal werden wollen und mir dann erklärt hat, ich könnte nicht Gitarrist in einer Metalband werden weil ja nur Männer E-Gitarren spielen aber vielleicht sucht ja jemand eine Sängerin? Oder den MINT-Lehrer der sich sicher ist dass ich in seinen Tests abschreibe, weil meine Mathezensuren zu gut im Vergleich zu anderen Mädchen sind?!

Es kostet mich alle Kraft nicht in Geschrei auszubrechen denn ich habe gesehen was sie hier mit dir machen und wo sie dich hinbringen wenn du dich nicht zusammen reißen lernst. Scheiße mann, DAS HIER soll ne Therapie sein? Seit ich hier gegen meinen Willen eingeliefert wurde bin ich wirklich kurz vorm durchdrehen!

Ich spüre eine warme Hand auf meiner Schulter. Ein paar tiefe Schluchzer brechen sich ihre Bahn und es fühlt sich befreiend an während die heißen Tränen meine Wangen herunterstürzen. Im Spiegel vor mir sehe ich nur mein eigenes verheultes, jämmerliches Spiegelbild. Hinter mir ist niemand.

“Danke Dad” wispere ich.

“Ich bin für dich da” antwortet die Stimme in meinem Kopf.

Ich möchte die Therapeutin umbringen. Ich möchte sie wirklich umbringen. Aber das denke ich hier besser nicht zu laut. Am Ende zeichnen sie hier noch Gedanken auf. Moment, das sollte ich nicht denken. Sonst denken sie, ich bin paranoid und setzen mich auf Meds. Fuck, was laber ich da?

Ich sitze mit 2 anderen am Frühstückstisch und schmiere mir ein Gummibrötchen mit drei mal durch den Wolf gedrehter Wurst. Mein einziges Stück Glibberkäse habe ich Wiebke geschenkt, die Vegetarierin ist, aber die gleichen Portionen wie alle andere bekommt. Sie jammert bei jedem Biss, dass sie das Fleisch und den Mord von meiner Mortadella schmeckt, die eben noch am Käse war. Mein Hirn denkt sich einen Wortwitz auf “Mord-tadella”. Währenddessen sitzt neben uns Malte, beißt tonlos in sein veganes gesalzenes Magarinebrot und schweigt.

Um uns herum frühstücken Menschen in allen Lebensstadien und diversen Stufen inneren und äußeren Verfalls. Da sitzt der Wohnungslose, der seit Monaten bei Freunden auf der Couch geschlafen hat, weil er ohne Arbeit keine Wohnung findet und ohne Anschrift keinen neuen Job. Da ist die neurotische Hausfrau, die immer für Mann und Kinder alles macht und mit der nie jemand zufrieden ist. Die Rentnerin, deren Tochter den Kontakt abbrach, aus Gründen die sie sich nicht eingesteht. Eine ausgebrannte Studentin. Ein Taxi fahrender verarmter Germanist. Ein Herr Doktor med Irgendwas. Und dazwischen ich. Die Rentnerin beginnt gerade ihre ewig gleiche Leier von der verlorenen Vergangenheit. Während Wiebke wieder anfängt von dem Leid auf ihrer Zunge zu schwadronieren und Veganer-Malte eisern schweigt, gleite ich in eine Geistreise ab. Weiße Strände. Blaues Meer. Eine Hängematte und ein Cocktailglas. Meer rauscht, Palmen rauschen ebenfalls, all das weiße Rauschen übertönt die Tristess im Frühstückssaal. Der kalte Kaffee in meiner Hand wird zu einem mehrfarbigen Drink mit einer Scheibe Ananas und einem kleinen Schirm. Und ich sitze nicht mehr in meinem viel zu großen Amon Amarth Shirt an einem schiefen Tisch, ich schaukle in der warmen Morgensonne mit nichts an als einer Badehose. Meine nackten Zehen vergraben sich im Sand. Meine behaarten Beine unter der schwarzen Totenkopf Shorts werden knusprig braun während ein leichter Wind durch die feinen weißen Haare auf meinem flachen Oberkörper weht.

Ich will mich gerade fragen ob die dünne Linie unter meiner Brust eine alte Narbe ist und ob ein Piercing in der rechten Brustwarze zu mir passen könnte, doch meine Reise endet jäh, als Frau Oberst Oberschwester einmarschiert und das baldige Ende der Essenszeit befiehlt.

Niemand darf den Raum verlassen ohne an der Medikamentenausgabe gewesen zu sein. Ein Glück dass ich nur die Vitamin D Tabletten bekomme denke ich. Will garnicht wissen, auf was die anderen hier sind. Als ich meinen Becher kriege, liegen dort mehr Pillen drin als gestern. Erst glaube ich an einen Fehler. Es ist keiner.

“Müssen die Ärzte hier nicht vorher mit ihren Patienten reden, ehe sie uns was verabreichen? Ich könnte allergisch sein! Ich weiß ja nicht mal was das ist!” – “machen Sie sich keine Sorgen Frau Selinger, alles ist in bester Ordnung, alles geschieht ganz zu ihrem Besten!”

Ich schlucke. Hinter mir warten die anderen. Die Tabletten mit aufs Zimmer nehmen? Nicht erlaubt. Der Arzt? Kommt erst in einer Stunde. Draußen vor der Ausgangstür sehe ich Mucki, unseren großen glatzköpfigen Klischeepatientenbändiger. Wenn der dich im Schraubstock hat vergisst du wer du bist. Ohne die seltsame Pille zu nehmen komm ich hier nicht raus!

Mir bleibt nur eine Möglichkeit. Tapfer kippe ich den Pillenbecher hinter und trinke ein paar Schlucke Wasser nach. Die Schwestern sind zufrieden, der bebrillte Stiernacken an der Tür schaut kritisch hinterher während ich in höchster Alarmbereitschaft an ihm vorbei schleiche. Er lässt mich ziehen. Ich verschwinde in den Gang und spucke eilig die Tablette aus, die ich mir in die Backe geschoben hatte.

Wieder auf dem Zimmer falle ich auf mein Bett. Ich stöpsele das Handy vom Ladegerät und scrolle durch meine Messenger. Die letzten Nachricht ist von 2 Uhr nachts, vorher konnte ich nicht schlafen. Ich wäre immernoch im Bett aber das Frühstück ist hier Zwang. Ein neuer Ping von 4 Uhr 10 ploppt auf.

@Nathaniel666 Wo steckst du, versuche dich seit Tagen zu erreichen was ist mit unsrem Raid? Greez 1337Hellra1Z0r

Das ist Olli, mein Zockkumpan. Ich kann ihn von hier nicht am Server erreichen, das Netz ist zu schlecht. Was soll ich ihm schreiben? “Hy Olli, bin in der Klapse, meine Mom ist durchgedreht und will mich loswerden” ? Müde tippe ich “bin zwangs-afk :'(“.

Ich stelle fest dass ich stinke und mache mich für die Dusche bereit. Das Zimmer hat immerhin ein integriertes Bad, aber die Tür ist nicht abschließbar. Ich schnappe mir ein frisches Shirt – Mom war so nett mir extra nur Kleidung zu bringen die ich hasse, damit ich “mal ordentlich angezogen bin” und sie hat mir aus der Drogerie das widerlichst blumigste Deo mitgebracht, das man kaufen kann. Ich ziehe mein altes Shirt aus (sorry Amon Amarth – noch einen Tag länger kann ich dich nicht tragen!) und schaue auf das Sammelsurium auf dem Waschbecken. Alles ist pink, sogar die Zahnbürste.

Ich greife also den pinken Ladyshaver um mir nun doch mal die Achselhaare zu schneiden (was ich seit Wochen soll) da höre ich wie hinter mir die Zimmertür aufgeht. Fuck!!! Ich greife das Shirt und verstecke meinen Oberkörper eh noch irgendjemand meine Brüste sieht. Wie ein Reh im Scheinwerfer stehe ich vor der Badezimmertür und bete dass sie sich nicht bewegt.

“Frau Selinger, sind Sie hier drin?” höre ich die Pflegerin. Draußen fährt irgendwas vom Gang herein. “Äh, ich bin hier.”

“Frau Selinger sind Sie im Bad? Brauchen Sie Hilfe?”

“Nein nein, es geht schon” murmele ich. Draußen poltern schwere Schritte und etwas Metallisches scheppert auf quietschenden Rädern an der Tür vorbei.

“Wenn ich nach Ihnen sehen soll dann sagen Sie Bescheid” – Scheiße man ich will doch nur in Ruhe duschen!

“Kommt nicht rein, ich bin auf Klo!”

“Ist gut. Dann beeilen Sie sich, gleich kommt ihre neue Mitbewohnerin”

Mitbewoh-was?!

Big News: Ich teile jetzt das Zimmer mit der Rentnerin! Und other-Big-News: Die Schwestern von der Frühschicht machen sich jetzt Sorgen, ob ich ne Essstörung hab. Ich wäre so auffällig knochig und hätte nicht so starke “Kurven” wie es für eine Frau in meinem Alter richtig sei. Habe nichts dazu gesagt. Auch nicht als die Frage kam, warum ich wohl sonst meinen Körper unter so übergroßen Kleidungsstücken verstecke und mich doch auch mal figurbetonter anziehen kann. Ich wäre doch so hübsch! Würde mir ganz sicher gut tun, so ab und zu ein Lob von einem jungen Mann.

Hab jetzt jedenfalls ein Verbot, Wiebke mein Essen zu geben. Wenn ich in Zukunft nicht aufesse werde ich ermahnt.

In mir ist gerade irgendwas gestorben.

„Frau Rosenstätt, Sie sind als nächste dran!“

Wieder Therapie bei Frau von Zuckerschock. Ich könnte sie auch Umbridge nennen denn sie trägt heute einen besonders hässlichen rosa Pulli mit einer glubschäugigen Katze drauf.

Mein Blick klebt an der Uhr. Die Rentnerin mit ihrem Selbstmitleid hatte sie heute viel schneller abgewürgt als sonst. Jetzt kommt die Rosenstätt dran, die an schlechten Tagen meistens garnichts sagt. Dann käme ich.

„Frau Rosenstätt, hören Sie zu?“

Die Therapeutin bohrt. Ich wünsche mir so sehr dass Rosi spricht. Nur dieses eine Mal. Muss sie denn grade heute ihren Rappel haben? Sag wie du heißt Rosi, meinetwegen sag uns dass dein Mann dich schlägt oder mit der Sekretärin fremdgeht oder deinem Bruder, was weiß ich. Dann kannst du meinetwegen auch denn Rest des Tags die Schnauze halten, mir egal.

„Frau Rosenstätt, wir hatten eigentlich gehofft, dass es mal langsam besser wird!“ Ein Grundkurs gewaltfreie Kommunikation wäre hier ganz bitter notwendig.

Noch 5 Minuten. Komm! Mach du blöde Kuh! Ich balle die Fäuste hinter meinem Sitz und möchte ausrasten. Frau Rosenstätt schweigt. Ich schaue sie grimmig an. Plötzlich weint sie. Der ganze Kurs sieht ihr starr und schweigend dabei zu, bis sie vor Weinen und vor Schluchzen kaum mehr atmen kann und mit letzter Kraft den Raum verlässt.

„Nun… das war ja mal wieder eine Enttäuschung.“ meint Schnarrenberger und ich male mir tausend Tode für sie aus. „Was solls, dann machen wir halt weiter – wer ist als nächstes dran?“

Ich hasse sie… Ich hasse sie so sehr!

Der Kurs schaut jetzt auf mich. Ich starre kalt und feindselig zurück, hab heut auf gute Miene keinen Bock.

„Mein Name ist Nathan Selinger, ich gehe in die 9. Klasse und ich – “

„Tzzzzzz“ atmet Frau Therapeut scharf aus. „Das hatten wir doch schon geklärt dachte ich? Ich möchte bitte, dass sie sich mit ihrem richtigen Namen vorstellen, Frau Selinger!”

„Das ist mein richtiger Name“.

“Nun” – sie miemt ein schlecht gespieltes triumphales Grinsen, “in meiner Akte steht das aber nicht!”

„Das ist nicht mein Problem…“ knurre ich.

„Frau Selinger, Sie wissen, warum Sie bei uns in Behandlung sind?“

Schrappnella von Schnarrenberger hat mich zur Standpauke zum Bereitschaftsarzt geschickt. Es ist der nette Arzt von meiner Einlieferung, wir sitzen uns gegenüber in bequemen Lehnsesseln und er reicht mir eine Tasse Tee.

„Ich bin hier, weil mich meine Mutter satt hatte und mich erst wieder mitnehmen wird, wenn ich repariert wurde.“

„Denken Sie das wirklich, Frau Selinger“

„HERR Selinger“ betone ich.

“Nun, Herr Selinger. Wie sie ja selber klar stellen, liegt bei Ihnen eine Störung der Geschlechtsidentitätswahrnehmung vor. Unsere Aufgabe ist es Ihnen zu helfen dass Sie wieder mit sich ins Reine finden und sich so akzeptieren können, wie Sie sind.”

“Aber was ist, wenn ich das garnicht will? Ich will mich nicht so akzeptieren müssen, wie ich bin. Jeder Halbblinde bekommt eine Laserbehandlung, jeder Beinlose eine Prothese verpasst. Warum soll ich lernen müssen, mit dem zu leben was ich nicht will?!”

“Weil Sie nicht krank sind, Nathalie.”

Schweigen. Ich nippe an meinem Tee.

“Verstehen Sie das nicht falsch. Als Ärzte leisten wir einen Eid, Patienten nicht zu schaden und nur dann zu Operationen zu greifen, wenn es medizinisch wirklich nötig ist.”

“Ja aber es ist doch psychologisch nötig oder nicht?”

“Nun Nathal… Nathan. Deine Mitpatienten hast du ja bereits kennen gelernt. Es ist nicht immer einfach abzuwägen, wann der Wunsch eines Patienten ihm hilft und wann er schädlich ist. Wenn mich eine Patientin nachts um drei nach einer Kanne Kaffee fragt, glaubst du ihren Wunsch zu erfüllen täte ihr gut? Manchmal ist es wichtig, Menschen Entscheidungen abzunehmen, damit sie später nicht bereuen was sie getan haben.”

“Sie meinen also, ich würde es irgendwann bereuen, wenn ich jetzt umoperiert werde?”

“Ich sage nur was wissenschaftlich richtig ist. Und richtig ist, dass man so einen Einschnitt nicht zurück nehmen kann. Und Sie haben noch Ihr ganzes Leben vor sich in dem Sie mit den Folgen Ihrer Entscheidung leben müssen.”

“Was wenn ich so wie ich jetzt bin gar kein Leben leben kann?!”

“Nun, das ist eine sehr absolute Wahrnehmung. Ich will Sie weder bestärken noch davon abhalten, bedenken Sie aber bitte, wieviele Mädchen in Ihrem Alter mit ihrem Körper unglücklich sind und eine Schönheitsoperation wollen. Der einen gefällt die Größe ihrer Brüste nicht, der anderen die Form ihrer Nase. Und stellen Sie sich vor wir entnehmen Ihnen mit 15 ihren Eierstock und mit 25 wünschen Sie sich eine Familie? Auch Unfruchtbarkeit verursacht psychisches Leid.”

“Ja aber – mann, Doc, hier gehts doch nicht drum dass ich Germanys Next Toptusse gekuckt habe und jetzt ne Fettabsaugung will. Ich steck im falschen Körper und meine Mutter will, dass ich ihre brave perfekte Vorzeigetochter werde, damit sie allen zeigen kann, wie perfekt sie angeblich ist! Ich lass mir doch kein Leben aufzwingen das ich garnicht will!”

“Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum Ihre Mutter das für Sie möchte?”

“Wieso – was meinst du?”

Der Doktor erhob sich. “Nun, ich denke Nathan, deine Mutter möchte nur dein Bestes. Du kannst dir darüber ja ein paar Gedanken machen und dann reden wir nochmal über dich. Bis dahin denk auch einfach daran dass du eines Tages achtzehn bist und dann allein entscheiden kannst. Klingt das nach einer derart langen Wartezeit?”

Der Doktor schiebt mich sanft aber bestimmt zur Tür hinaus. Bevor ich weitere Widerworte geben kann ist die Tür bereits zu. Vier Jahre klingen nach einer Ewigkeit. Und ich konnte ihn nicht fragen was in der Tablette war!

Wieder auf meinem Zimmer schreibe ich mit Olli. Das heißt, ich versuche es, während mir meine “neue Mitbewohnerin” ihre Lebensgeschichte vorjammert. Zum dritten Mal.

Nathaniel666 schrieb um 13:17Uhr:

Echt sorry Olli, bin hier im Horrorkabinett!!

1337Hellra1Z0r:

Jo kein Ding, sag einfach sobald du wieder kannst

Nathaniel666:

kann dauern – meine Mom hat mich in die Klapse gesteckt weil sie mich nicht mehr ausgehalten hat

1337Hellra1Z0r:

omfg D: – komme vorbei!!!

Noch 2 Stunden dann hat Olli Schluss. Ich und Wiebke liegen auf dem Rasen und schauen Wolken an. Malte hat seine Gitarre mitgebracht. Der Moment ist irgendwo zwischen traurig, melancholisch und schön. Vor der hohen Hecke (die den 3 Meter Anti-Ausbruchszaun verbirgt) summen ein paar Insekten im Wind. Die Klänge von Maltes Gitarre treiben mich weit weg, an einen Ort irgendwo dort wo die Wolken hin wandern.

Wiebke hat man in der Therapie erzählt, dass sie mit ihrem Vegetarismus selbstverletzendes Verhalten praktiziert. Sie findet das sehr lächerlich. Dann erzählt sie mir von den verschiedenen Wiesenkräutern die man essen kann und welche man besonders gut auf Käse oder in Salate streuen kann. Ich höre ihr kaum zu aber der Klang ihrer Stimme ist melodisch und angenehm. Malte summt etwas. Irgendwann erzählt er uns von seinem Dad und dessen Sicht auf Männlichkeit. Wiebke und ich müssen lachen, als Malte beschreibt wie sein Vater beim Sport und bei Egoshootern ausrastet und peinliche Wutanfälle hat. Maltes Lächeln sieht traurig aus. Und mit einem Mal fühle ich mich ertappt, wie ähnlich mein Bild vom “männlichen Verhalten” dem von Maltes Vater ist. Raste ich beim zocken auch so aus? Übertreib ich es?

Dann erzählt Malte wie sein Vater ihn verprügeln wollte, als er vegan geworden ist. “Die Linken” hätten ihn verweichlicht, daran wären nur die Feministen schuld und die Welt würde zu Grunde gehen, weil echte Männer wie er es ist, ihre Söhne nicht mehr beschützen dürften davor dass man sie alle “verschwult”. Ich finde nicht das Malte schwul aussieht. Aber ich kenne auch keinen der schwul ist. Nur aus dem Fernsehen. Malte zeigt mir ein Bild von seiner Freundin und fragt mich was daran schwul sei, wenn er fair produzierte Mate trinkt und Biogemüse kauft. Seine Freundin sieht ziemlich intelligent aus und ganz anders als meine überschminkten Mitschüler. Und mit seinen langen struppigen Haaren, seinem breiten Oberkörper und dem dichten Bart sieht Malte weder wie die Schwulen im TV, noch wie die Assis in meiner Schule aus. Er ist auch viel netter als die. Nicht so arschlochhaft.

Vorm Eingang sehe ich die Schwestern aus der Nachmittagsschicht. Die meisten von ihnen sind nett, viel netter als die Frühdienstler. Am Parkplatz steht grinsend die Schnarrenberger und freut sich dass sie jetzt nach Hause darf. Wir hocken im Garten und werden überwacht. Verrückte Welt in der sie Malte einsperren und so jemand frei rumläuft.

Wiebke fängt wieder mit ihrer Anti-Fleisch Geschichte an und dass alle Menschen Vegetarier werden müssen. Würden wir kein Fleisch essen, wäre aus ihrer Sicht auch keiner aggressiv. Ich habe keine Ahnung also schweige ich und hoff dass Malte etwas Schlaues sagt. Aber Malte spielt weiter Gitarre und Wiebke redet und redet, als wäre der Klinikgarten der Campus einer Universität. Irgendwann bin ich das Thema leid und gehe rein.

Am Ende des Tages bin ich zum ersten Mal entspannt.

Olli ist vorbei gekommen, hat mir Gummibärchen und Energydrinks gebracht (die ich verstecken musste weil ich sie hier nicht trinken darf) und sich die ganze Story angehört. Nach einem fragenden Blick auf mein viel zu feminines Oberteil bringt er mir morgen paar von seinen Bandshirts mit. Der Kerl ist meine Rettung!

Ich sitze im Gemeinschaftszimmer in dem es das einzige Fernsehgerät gibt. Lieber hätte ich mich auf mein Zimmer verkrochen aber dort drehe ich wegen Frau “früher-war-alles-viel-besser” durch.

Die Studentin mit dem Burnout hat ein paar Erwachsenenmalbücher mitgebracht, die ich, auch wenn ich sie erst zu unmännlich fand, mit ihr ausmale. Ich kann wohl gut zeichnen meint sie. Dann wollte der ganze Gemeinschaftssaal mein Bild sehen und plötzlich wurde ich gelobt, was mir erst unangenehm war dann aber eigentlich ganz cool gewesen ist. Der Doktor med Sowieso und der Germanist haben einen langweiligen Kultursender angemacht und spielen Schach. Dort läuft eine Reportage über Urwaldstämme und son Zeug. Es interessiert mich erst nicht und ich konzentriere mich weiter aufs Ausmalen, aber dann geht es um ihren Schamanen und um halluzinogene Zustände und Traumreisen und das fuckt mich erstmal ab. Ich will die alten Säcke fragen ob ich ausschalten kann wenn sie da eh nicht zusehen, werde aber aufgehalten als mich Dads Stimme in meinem Kopf fragt ob mir das nicht bekannt vorkommt. Kurzes Schweigen. Der Schamane erzählt von seinen Ahnen mit denen er im Traum kommunizieren und an ferne Orte fliegen kann. Ich schaue mich um ob mich jemand bemerkt, dann rücke ich näher ran und passe die Lautstärke an. Neben mir spüre ich Dad, zwar ohne ihn zu sehen, aber durch seine Präsenz die sich als starkes Kribbeln an meinem ganzen linken Arm bemerkbar macht. Der Reporter erzählt irgendwas dass dieser primitive Stamm sich seine überholten Riten bewahrt hat während unser aufgeklärtes Land längst aus solchem Aberglauben rausgewachsen ist. Ich schlucke kurz. Vater legt seinen unsichtbaren Arm um mich und ich bin froh dass ich ihn hab.

Am nächsten Morgen komme ich noch schlechter aus dem Bett.

Das liegt nicht mal an dem Energydrink den ich kurz nach 11 in meinem Bett getrunken hab und auch nicht an den Nachrichten die ich und Olli uns bis kurz vor 3 noch schrieben, sondern an dem Geschnarche meiner Mitbewohnerin!

Als ich es dann endlich schaffte doch noch einzupennen bin ich mit Vater auf das Klinikdach geklettert und habe wieder den Sternen zugeschaut. Ohne dass ich dafür körperlich aus meinem Bett gegangen bin. Die Astralreise wurde leider immer wieder gestört weil meine Bettnachbarin im Schlaf Schreianfälle hat aber ich hab das beste draus gemacht. Bettle bei Olli den nächsten Früh um Ohrstöpsel.

Wiebke hat vorm Frühstück Löwenzahn und Kleeblätter gepflückt und dann Malte auf sein Brot gelegt. Jetzt ist sie im Stationszimmer und darf sich anhören warum sie Dreck und Unkraut auf anderer Leute essen wirft und warum sie sich so in allem was sie tut so unnormal benehmen muss. Glaube nicht dass die dicke Oberschwester viel von Ernährung versteht.

Die Therapie verläuft ereignislos, dafür kommt überraschender Besuch. Nicht etwa von Olli (der erst später kommt) sondern von Mom. Ich bin stinkmüde und tierisch abgewrackt und sie ist die letzte Person für die ich geistige Ressourcen hab, but here we are!

Natürlich spielt sie das perfekte Mütterlein und flötet jedem vor wie sie sich sorgt und wie sehr sie mich vermisst hat, ich wäre doch ihr kleines Engelchen! Privat in meinem Zimmer hinter verschlossener Tür geht wieder die Hölle ab. Ich hänge lethargisch da, habe dröhnende Kopfschmerzen und hoffe dass sie bald die Fliege macht. Als sie entnervt weil ich ihr nichts zu sagen hab den Raum verlässt werf ich mich einfach nur aufs Bett. Dann drücke ich mir das Kissen auf den Kopf und fange einfach nur zu weinen an. Eine Schwester die durch Zufall nach mir schaut bringt mir ein Kopfschmerzmedikament.

Ich sitze am Abend wieder im Gruppensaal. Ich fühl mich taub und leer und stehe neben mir, während der Nachbartisch Dame spielt und die Gruppe hinter mir den Fernseher an macht. Sogar die Rentnerin ist mir egal. Wiebke rutscht zu mir auf und legt den Arm um mich. Auf dem Kultursender kommt wieder das Regenwaldprogramm. Bin mir nicht sicher ob das eine Themenwoche ist oder die Klinik für die Kranken ein nervenschonendes Spezialprogramm aufgezeichnet hat. Wobei, so wie das hier läuft würde das noch auf VHS-Kasetten sein!

Die Schwester kommt rein und verteilt eine Runde Abendmedikamente an alle Bedürftigen. Auch mir gibt sie etwas. Ich hinterfrage es nicht. Ich hinterfrage heute garnichts. Nie wieder. Mir ist alles egal.

Irgendwann beginnen die Pillen zu wirken.

Der Obdachlose faselt unsinniges Zeug. Die Rentnerin neben mir beginnt hin und her zu wippen und ist wie in einem Rausch. Im Fernsehen schlägt der Medizinmann seine Trommel und seine Brüder hüpfen und tanzen neben ihm. Einige schreien oder fallen auf die Knie und verletzen sich mit langen Stöcken selbst. Auch bei mir im Raum beginnen die Leute die Kontrolle zu verlieren. Die Studentin weint. Die Rentnerin singt in einer fremden Sprache wiegend vor sich hin. Der Germanist erzählt von Prophezeiungen und der Doktor kauert unterm Tisch und sucht vermutlich einen Damestein. Irgendwer verkrampft auf seinem Sitz und lacht manisch. Ich denke darüber nach dass jemand eine Kamera auf unsre Gruppe halten muss aber da kommen schon die Pfleger, nehmen sich ein paar Leute in den Klammergriff und zerren sie weg. Der Obdachlose spuckt die Pfleger an und wird von Mucki irgendwann an seinem Bett fixiert. Ich denke drüber nach dass ich um keinen Preis fixiert werden wöllte und merke nur am Rand wie Wiebke schluchzend von der Zerstörung des Regenwaldes und der Ermordung und Erniedrigung der Eingeborenen erzählt. Irgendwann bricht meine Erinnerung einfach ab, ich liege wieder dämmerig in meinem Bett, davon geweckt dass der ganze Raum vom Sägen und Schnarchen einer Armee aus regenwald-abholzenden Sägeblättern im Rachen der Rentnerin bebt.

“Frau Selinger, ich möchte heute mit Ihnen über ihre Geschlechtsidentitätsstörung reden und über ihre Neigung zur Halluzination.” Ich kann dem neuen Arzt kaum folgen weil ich an Wiebke denken muss die man heut morgen mit angeritzten Pulsadern gefunden und von unserer Station genommen hat. Der Mann mir gegenüber ist diplomierter Psychologe und wirkt auf seine glatzköpfige, rasierte Art steril und puppenhaft. Ich hasse Puppen.

“Was meinen Sie mit Halluzination?” zwinge ich mich ins Gespräch zurück.

“Ihre Mutter erwähnte bei ihrem gestrigen Besuch dass Sie sehr lebhafte Träume hätten und trotz Ihres Alters immernoch mit unsichtbaren Freunden sprechen.”

Natürlich, sie hatte Dad ins Spiel gebracht! Meine Hoffnung, dass niemand von ihm weiß ist hin. Schätze, sie hat es allen erzählt.

“Das ist nicht wie Sie denken”

“Natürlich nicht.” der Psychologe sieht mich wächsern an. Ihm fehlt im Verhalten jede Ähnlichkeit zu unserem Bereitschaftsarzt. Wieviel lieber würd ich jetzt bei ihm sitzen.

“Ihre Mutter klagt auch über Ihre generelle Aggression und sorgt sich wegem Ihrem Selbstverletzungswunsch!”

Ich habe kaum Zeit meine Gedanken zu sortieren. Wie gerne will ich ihm erzählen was meine Mutter so an Aggressionen von sich gibt aber das andere ist wichtiger.

“Ihre Mutter spricht davon Sie hätten sich die Brüste mit Bandagen abschnüren wollen und gedroht, sich selbst zu amputieren.” Er nimmt mir die Antwort vorweg. Vergeblich will ich ihm erklären dass wir uns gestritten hatten weil sie darauf bestand dass ich einen BH tragen muss. Und dass ich damals auch nicht “mit einem scharfen Messer rumgefuchtelt hätte” wie sie es wieder und wieder allen Leuten nacherzählt, sondern irgendwo neben mir ein Kuchenmesser lag das zufällig vom Abwasch übrig war und ich wollte es in dem Moment nur wegräumen.

Ich will ihm sagen wie sehr sich meine Mutter die Realität verbiegt und selber schuld an meiner Wut ist wenn sie mich andauernd provoziert. Natürlich unterbricht er mich. “Hier geht es nicht darum wer schuldig ist. Ihrer Mutter geht es hier um Ihren Schutz. Selbstverletzende Gedanken haben viele Teenager aber wir müssen darüber reden, das ist ein ernstzunehmendes Problem.” “Aber ich hab doch überhaupt nicht vor mich selber zu verletzen!” – “Das hat ihre Freundin Fräulein Wiebke auch versprochen. Sie können mir übrigens gerne mitteilen, falls Sie mit Ihnen vor der Tat davon gesprochen hat. Oder wie sie an die einzelne Rasierklinge gekommen ist.”

Ich schweige mich aus. Der Psychologe glaubt wohl meiner Unschuld und fährt fort.

“Lassen Sie uns über die Figur Ihres unsichtbaren Freundes sprechen.

Ist dieser jetzt gerade hier im Raum?”

– “Was? Nein! …”

Ich betone das Nein viel zu fragend und blicke, beziehungsweise fühle mich im Raum kurz um, falls er nicht doch da ist. Der Doktor scheint es leider zu bemerken.

„Und gibt er Ihnen hin und wieder Ratschläge?“

„Nun, ja. Sehr oft sogar.“

„Verstehe“ der Arzt schreibt sich etwas auf ein Papier.

Es macht mich instant nervös.

“Und dieser Freund – hat er Ihnen vorgeschlagen, dass sie sich die Brüste abschneiden sollen?”

– “Was, warte, wiebitte?!” jetzt fühle ich mich richtig in die Ecke gedrängt.

„Hat er Ihnen schon einmal geraten, andere Menschen zu verletzen? Sie zu töten oder etwas in Brand zu stecken?“ – “Nein, nein natürlich nicht, er spricht immer nur gut zu mir, tröstet mich, er ist der einzige der mich versteht und sich für mich interessiert!” platzt es aus mir heraus. Der Doktor schweigt und schreibt.

“Sie stimmen ihrer Mutter also zu, dass Sie eine ungesund starke Bindung zu ihm haben, ja?”

Ich schweige. Fühle mich in eine Falle manövriert. Vielleicht auch ertappt.

“Ja vielleicht schon, aber …” – “Könnte es sein, dass ihr Wunsch nach Verständnis und Fürsorge auch durch Ihren Mangel an Kontakten zu Gleichaltrigen geschieht?”

So langsam reißt es mir ab. Was soll ich ihm erzählen? Dass meine Mitschüler Idioten sind bei denen ich lieber zwischen einer Gruppe Paviane leben will statt mit ihnen in einem Raum zu sein? Oder dass die komplette Unfähigkeit meiner Mutter, mit ihr über meine Probleme reden zu können die vielen Gespräche mit meinem Vater überhaupt erst nötig macht? Selbst WENN ich ihn mir ausgedacht haben sollte, mit ihm zu reden hat mir mehr geholfen als sie es je gekonnt hatte!

“Was bringt mir das, mit Ihnen zu sprechen? Alles was ich sage drehen Sie ja doch wieder rum und nutzen es gegen mich Doc!” Ich grummle ihn an. Er schweigt, notiert dann kurz. “Nun, das ist natürlich schade wenn Sie das so sehen, aber wenn ich Ihnen im Moment nicht helfen kann dann steht Ihnen natürlich frei zu gehen.”

Ich warte kurz – prüfe ob da eine Falle kommt. Als ich merke dass er das Angebot ernst meint, nehme ich meinen Pulli und gehe raus.

Zigaretten schmecken ekelhaft.

Ich hab mich draußen in die Raucherecke verzogen weil ich da unbeobachtet von den Pflegern war und eine der anderen Stationspatientinnen hat mir einen Zug angeboten und dann eine gedreht. Es war echt widerlich aber ich wollte ihr gegenüber nicht schwach wirken also hab ich sie geraucht. Musste mir die ganze Zeit das husten verkneifen und jetzt ist mir schlecht. Olli ist da. Hoffe dass er nicht meinen Raucheratem riecht.

Olli hat mir seine Shirts vorbei gebracht. Ich bin heilfroh, dann erzähle ich von Wiebke und dem anderen Unsinn den ich schon erlebt habe. Ich denke nach. Olli ist mein bester Freund seit wir im Sandkasten saßen und er mir seine Actionfiguren zum Spielen angeboten hat. Später haben wir uns mit Nerf-Guns bei seinen Eltern über den Hof gejagt und seit ein paar Jahren zocken wir im Coopmodus Egoshooter wie Fortnite oder Counterstrike. Olli ist 16, klein, ziemlich rundlich und kämpft gegen die Akne an. Ich würde mir wünschen seine Eltern wären nie weggezogen, dann hätten wir beide in der Schule jemanden zum reden gehabt. Jetzt ist er mit der Schule durch und fängt ne Lehre an. Wenigstens wohnt er jetzt wieder in der Stadt.

Olli fragt mich warum ich nicht weg laufe. Ich sage ihm ich trau mich nicht. Ehrlich gesagt hab ich noch garnicht drüber nach gedacht. Er erzählt von der WG und dass seine Mitbewohner schräg aber echt witzig sind und dass ich ihn besuchen kommen soll sobald ich hier die Flatter mach. Wenns mit Mom mal wieder schief läuft kann ich auf seinem Sofa pennen hat er gesagt. Ich weiß nicht ob ich mir das zutraue, bin aber richtig dankbar dass er das sagt. Eh ichs gemerkt hab ist seine Besuchszeit schon wieder vorbei. Wir stehen uns kurz peinlich gegenüber an der Tür, dann umarmen wir uns unbeholfen und es fühlt sich mega weird und seltsam an.

Der Gemeinschaftsraum ist heute leerer als sonst. Nicht nur weil Wiebke fehlt.

Durch seine angelehnte Tür sehe ich den Obdachlosen der immer noch mit Kabelbindern an sein Bett gefesselt ist und an die Decke stiert. Nach einer Weile setze ich mich um denn sein Anblick ist echt gruselig. Die Jurastudentin hat wieder ihr Malbuch dabei, liest aber aber seit einer Stunde auf dem Handy. Ich habe erst heute erfahren dass im Gemeinschaftsraum Smartphoneverbot herrscht, damit Patienten sich miteinander unterhalten sollen, aber bisher hat das auch ohne Smartphones keiner gemacht. Irgendwann male ich weiter mein Mandala von vor zwei Tagen aus.

Ich versinke in das gleichförmige Muster aus Spiralen und Wiederholungen und werde nur kurz aus der Trance gerissen als die Schwester mit den Medis kommt. Irgendwer hat den Fernseher angemacht. Ich nehme meine Tablette und sinke wieder in den Strudel in meinem Bild…

Um mich bestand die Welt nur noch aus Farben. Der Medizinmann im Fernsehen sang in einer Sprache die wohlmöglich älter als die Menschheit war. Ich hatte die Filzstifte um mich herum verteilt und steckte tief in meiner Trance, dazu raunte und rauschte der guturale Gesang aus dem Fernseher, vermischt mit dem Lachen und Schreien aus den Zimmern meiner Stationsgruppe. Die Rentnerin hatte sich neben mich gesetzt und pries laut betend Gott. Dann begann sie ihre Beichte.

Sie hätte ihr Kind nie genug beachtet, schwor sie zu ihrem eigenen unsichtbaren Freund. Sie wäre ja selbst schuld, dass ihr niemand mehr geblieben war. Alle hätte sie vergrault, alle hätten sie sich von ihr abgewandt. Jetzt müsse sie alleine einsam sterben und wer wüsste, ob sie dann nicht in die Hölle kommt! Ich sah kurz die Pfleger neben der Tür aber sie schienen zu entscheiden, dass es ganz gut war wenn die alte Frau ihre Erkenntnis zuende verdaut. Das Mandala vor meinen Augen drehte sich. Ich sank zwischen die Bilder, immer schneller, immer bunter und heftiger, bis der ganze Raum sich im Trommelpuls zu drehen begann und in einem Wirbel voller Farben die Existenz wie nasse Farbe aus meinem Sichtfeld glitt.

Und dann stand dort nur noch mein Dad.

Dad stand weiß leuchtend in diesem erstarrten Strudel aus Farben und schaute mich an.

Ich betrachtete meine Hände, die wie alles über und über voll Farbe waren und ich wusste nicht, ob das nun ersponnen war oder ob ich in meinem plötzlichen Delirium mir die Hände angemalt hatte. Dann sah ich das was wirklich wichtig war. Ich blickte meine Arme auf und ab und bemerkte lange nicht dass meine sich heben und senkende Brust flach und männlich war. Ich schaute meine Arme, meine breiten Hände an, besah meine Brust, die schmalen Hüften auf denen der Oberkörper ruhte und stellte fest, dass alles an mir männlich war. Zu guterletzt fasste ich mit beiden bunten Händen mein Gesicht und fühlte das Kinn und die kurzen weichen Stoppeln von dünnem Bart.

Ohne weiter nach zu denken breitete ich meine Arme aus und lief zu Dad. Der schloss mich lächelnd in die seinigen und ein Paar große goldenen Schwingen entfaltete sich auf seinem Rücken und schloss uns beide schützend in sich ein.

“Ich freu mich dass du hier bist Nathan” hörte ich ihn. Seine Stimme war warm wie Samt.

“Ich freu mich auch Dad” seufzte ich und für einen Moment gab es nichts in der Welt das mir etwas tun konnte.

Dann kam langsam der Raum zurück.

Ich spürte den Anflug von Furcht und begann Dad fester zu greifen, Angst keimte auf er könnte mich allein lassen. Meine Finger wollten sich in die Federn seiner Engelsflügel graben aber fassten längst ins Leere. “Dad!” flehte ich. “Dad, mach dass es aufhört!” Ich löste mein Gesicht aus der Umarmung und sah ihn an. Er hatte wieder dieses fremdartige Gesicht, das ganz aus Licht bestand und kaum Konturen von Augen Mund oder Nase wiedergab. Sein Blick, oder viel eher seine Ausstrahlung war plötzlich distanziert. Zu gleichen Teilen abweisend, das Unvermeidliche hinnehmend und trotzdem liebe- und verständnisvoll. Sein Abbild entfernte sich von mir. Ich hastete auf, versuchte ihn zu packen, zu halten, bekam einen Arm zu fassen und rief ihm immernoch zu.

Ich merkte garnicht, dass es der Pfleger namens Mucki war, an dessen Brust ich mit meinen schmalen Fäusten hämmerte und den ich immer wieder meinen Vater nannte und flehte, dass er mich nicht verlässt. Ich merkte auch die Riemen an den Bettgestellen nicht, als meine Handgelenke fixiert wurden und ich spürte, noch immer weinend und kreischend, auch die Spritze nicht die man mir gab und die erlaubte, dass ich letztenendes in einen ruhigen und traumlosen Schlaf zersickerte.

Die Farben waren weg.

Alles was blieb war schwarz.

Sie haben ihn mir weg genommen.

Dad ist verschwunden und sie sind daran schuld.

Ich hocke lethargisch am Frühstückstisch und bekomme meinen Medikamentenbecher. Es sind jetzt viel mehr Pillen drin als vorher und sie beobachten nun auch ganz genau, dass ich keine davon wieder ausspucke. Den Trick mit der ersten Pille hatten sie an meinem Blutscan gemerkt. Danach haben sie den Mülleimer durchsucht und mich zur Rede gestellt. Es stellte sich heraus dass die kleine rote damals nur eine Eisentablette war, was mir zu erklären die Schwester einfach vergessen hatte. Nun wurde ich auf alle möglichen Antihysterika eingestellt, die mein Bewusstsein mal überdrehten und mal lahm legten und dank denen ich mal Zombie und mal Junkie war.

Meine kleine Schwester unterdessen hatte der ganzen Schule gepetzt wo ich jetzt steckte. Sie hatten mich besucht, Mom hatte auf Klo gemusst und Clarissa hatte mich gefilmt. Als Mom das Video fand hatte sie es längst im Internet verbreitet, Mom hatte ihr dafür Hausarrest gegeben aber ich glaube sie sorgt sich mehr um ihren guten Ruf.

Das Brötchen hatte keinen Geschmack. Ich durfte keinen Kaffee mehr trinken und keine Milch, weil sich irgendetwas dabei mit den Pillen nicht verträgt. Außerdem hatte man mein Versteck an Energydrinks gefunden und mich seit dem akut unter Beobachtung. Das schlimmste daran war Maltes mitleidiger Blick. Gleich dahinter kamen die nun peinlichen Befragungen mit dem Arzt.

Ich meine ich weiß auch nicht wie man es schaffen soll einen vernünftigen Eindruck zu machen wenn der Hormoncocktail dafür sorgt dass sich dein Hirn anfühlt wie das Fratzenkabinett eines Horrorclowns. Der Doktor stellt mir eine Frage. Ich lache kurz. Kein sehr guter Zeitpunkt.

Wie ich da so hocke, vornübergebeugt, grübelnd, murmelnd, übermüdet, die Arme um den Leib geschlungen und mit den Haaren vorm Gesicht, ist das so ziemlich der schlechteste Eindruck, den man abgeben kann wenn man vorm Irrenarzt sitzt. Leider könnte ich jetzt von dieser Erkenntnis und meiner so absurden Lage einen Lachflach kriegen weil ich auf einmal witzig finde wie ausweglos meine Situation ist und wieviel schlimmer sie mein momentaner Anblick macht. Das aber wäre wohl mein Todesurteil also bleibe ich besser stumm und kichere leise und misstrauenswürdig in mich hinein.

Die Stimme der Vernunft ist weit entfernt in meinem Hinterkopf. Sie versucht zu mir durchzudringen, mich anzuschreien, will mir befehlen mich gerade zu setzen, ernst zu werden, zu signalisieren dass ich eigentlich gesund bin und nicht weggesperrt gehöre, aber sie schreit zu mir wie hinter Glas und es kommt nicht bei mir an. Nichts kommt mehr bei mir an. Sie alle versuchen mich normal zu machen, aber wem helfen sie damit? Mir – oder allen anderen?

Ich breche das Normal sein ab. Ich breche einfach alles ab, denke ich mir in einem klaren Moment und klettere aus dem Fenster. In meinem durchgeschwitzten Nachthemd und ohne Schuhe klettere ich nachts um zwei über die Klinikzäune und stehe barfuß im Regen in der Mitte der Straße während weit entfernt eine Polizeisirene erklingt.

Dann laufe ich einfach weg.

[Ende Teil 2]

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