Klassische PastaKrankheitenMicroMysteriePsychologischer HorrorSchockierendes EndeSehr LangTod

ECHO

Was bleibt, wenn alles verstummt?

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Manchmal frage ich mich, wie lange ich diese Tage als „die gute alte Zeit“ ansehen werde. So wie jetzt. Das Surren der Kaffeemaschine, das Quietschen der Stühle am Küchentisch und das Durcheinander von Stimmen am frühen Morgen. Alles war so… normal. Die kleine Routine unserer Familie – chaotisch und gleichzeitig ein fester Anker in meinem Leben.

Mein Name ist Lena. Ich bin seit kurzem 18 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in dieser kleinen Stadt, die ich genauso sehr liebe wie hasse. Meine Eltern kamen vor über zwanzig Jahren hierher, als mein Vater einen Job bei einem mittelständischen Unternehmen in der Nähe annahm. Sie erzählten immer wieder von ihrem „neuen Anfang“ hier, von der Hoffnung, die sie hatten, sich etwas Eigenes aufzubauen. Aber manchmal, wenn ich sie ansah, fragte ich mich, ob diese Hoffnung nicht längst verblasst war.

Meine Eltern liebten sich – zumindest denke ich das. Doch es gab da diese Momente, in denen ich die Spannung spürte. Die kurzen, scharfen Bemerkungen, wenn sie dachten, Max und ich hörten nicht zu. Die Art, wie mein Vater oft länger arbeitete, als es nötig war, oder wie meine Mutter sich manchmal in ihrer Gartenarbeit vergrub, als würde sie etwas verdrängen. Es waren keine großen, dramatischen Konflikte, sondern kleine Risse, die nur auffielen, wenn man genau hinsah.

Max, mein Zwillingsbruder, war in vielerlei Hinsicht mein Gegenstück. Während ich noch überlegte, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, hatte er schon einen klaren Plan: eine Ausbildung zum Industriemechaniker bei einem lokalen Betrieb nach der zehnten Klasse. Max war pragmatisch, ehrgeizig und immer ein bisschen besser darin, mit den Erwartungen unserer Eltern umzugehen. Aber glücklich? Ich glaube, das war er nicht wirklich. Er sprach nie über seine Träume – wenn er überhaupt welche hatte – und oft hatte ich das Gefühl, dass er einfach einen Weg suchte, aus diesem Ort rauszukommen.

Und ich? Ich war das genaue Gegenteil. Mein Leben war eine Sammlung von halbfertigen Plänen und Tagträumen. Ich wollte Kunst studieren, aber gleichzeitig wusste ich nicht, ob ich den Mut hatte, meine Heimat zu verlassen. Es gab da diesen einen Jungen, Jakob, der in der Stadtbibliothek arbeitete und den ich schon seit Jahren heimlich anhimmelte. Aber selbst bei ihm traute ich mich nie, den ersten Schritt zu machen. Wir hatten uns ein paar Mal unterhalten, über Bücher, Filme, belanglose Dinge – aber ich blieb immer in dieser sicheren Distanz.

 

An diesem Morgen war es wie immer hektisch. Ich saß am Küchentisch, mein Handy in der Hand, und scrollte durch TikTok, während der Rest meiner Familie den Frühstückstisch deckte. Max klirrte mit den Tellern, stellte sie etwas zu laut auf den Tisch und warf mir einen Blick zu, der alles sagte.

„Lena, ernsthaft? Willst du vielleicht mal helfen? Oder bist du zu beschäftigt damit, irgendwelche bescheuerten Videos zu gucken?“ Er klang gereizt, und ich konnte den Vorwurf nicht ignorieren.

„Ich helfe gleich, chill mal“, murmelte ich, ohne von meinem Handy aufzusehen.

„Gleich? Du sitzt da seit zehn Minuten! Ich hab die Gläser geholt, die Teller aufgestellt, den Saft eingegossen… Was genau machst du nochmal?“

„Max“, sagte meine Mutter in einem beschwichtigenden Ton, „es ist noch früh. Reg dich nicht auf.“

„Das sagt die, die hier alles macht“, gab Max zurück und stellte die Marmelade mit einem dumpfen Schlag auf den Tisch. „Aber okay, Lena, scroll ruhig weiter, während wir den Tisch decken.“

„Max, hör auf, so zu tun, als wärst du der Märtyrer des Frühstücks!“, fauchte ich, endlich aufsehend.

Meine Mutter seufzte. „Ihr zwei macht mich wahnsinnig.“

In der Ecke des Raumes schnappte sich mein Vater seine Aktentasche. „Ich hab heute ein wichtiges Meeting“, sagte er und warf meiner Mutter einen kurzen Blick zu. „Es wird spät, vielleicht komme ich erst gegen neun nach Hause.“

„Schon wieder so ein langer Tag?“ Meine Mutter hielt inne und wischte ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie klang weder verärgert noch traurig – nur müde.

„Ja, tut mir leid. Aber wir müssen das Projekt abschließen. Ich ruf dich später an, okay?“

Sie nickte nur, während er zur Tür ging. Max rollte mit den Augen, ich kehrte zu meinem Handy zurück, und meine Mutter sagte nichts mehr.

Es war ein Morgen wie jeder andere. Normal. Doch hinter dieser Normalität brodelte etwas, das ich damals noch nicht wahrhaben wollte.

Max und ich saßen uns gegenüber, während unsere Mutter ruhig die Butter und einen Teller mit Aufschnitt zwischen uns stellte. Mein Handy lag weiterhin in meiner Hand, der Bildschirm flackerte leise, während ich durch TikTok scrollte.

„In ein paar Wochen sind endlich Sommerferien“, sagte Max plötzlich und biss in seinen Toast. Seine Stimme hatte etwas Nachdenkliches. „Mein letztes Schuljahr… In ein paar Tagen hab ich meinen Realschulabschluss.“

Unsere Mutter hob den Kopf, sichtlich interessiert. „Und wie sieht es mit deinen Bewerbungen aus? Hast du schon Rückmeldungen?“

„Ja“, antwortete Max und wischte sich die Krümel von den Händen. „Ich hab ein Vorstellungsgespräch. Am Freitag. Bei diesem Herrn Müller von der Werkstatt im Osten der Stadt.“

„Müller? Ist das die kleine Werkstatt an der Hauptstraße?“ fragte sie, ihre Stirn leicht gerunzelt.

„Ja, genau die.“ Er sprach ruhig, fast beiläufig, aber es klang so etwas wie Stolz mit.

Ihre Unterhaltung lief für mich wie ein Hintergrundrauschen, während ich weiter durch mein Handy scrollte. Ich hatte noch drei Jahre auf dem Gymnasium vor mir, bevor ich mein Abitur machen würde. Drei Jahre Zeit, mir zu überlegen, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen wollte. Es fühlte sich weit weg an, wie ein Problem, das ich irgendwann einmal lösen musste.

Die TikTok-Videos, die ich durchwischte, waren die übliche Mischung aus Tänzen, Witzen und belanglosen Challenges. Doch ab und zu tauchten andere Videos auf, die mich innehalten ließen.

Ein kurzes Video zeigte eine weiße, karge Landschaft mit aufgebrochenem Boden. Im Hintergrund sprach ein monotoner Erzähler über das Auftauen von Permafrost. Ich übersprang es schnell, nur um auf ein weiteres Video zu stoßen, das beiläufig von einem seltsamen Grippeausbruch in den baltischen Ländern sprach.

Es war nichts Konkretes, nur Bruchstücke, die sich wie ein schwebendes Unbehagen anfühlten. Ein Video zeigte schemenhafte Animationen von Viren, ein anderes sprach leise über mögliche Folgen des Klimawandels, ohne je wirklich ins Detail zu gehen. Es war, als würde sich ein Muster abzeichnen, das ich nicht richtig greifen konnte – flüchtige, unzusammenhängende Fragmente, die mich trotzdem für einen Moment innehalten ließen.

Ich schüttelte den Kopf, blinzelte und versuchte, das dumpfe Gefühl abzuschütteln. Mein Magen knurrte, und ich legte das Handy zur Seite, griff stattdessen nach meinem Toast und schob die Gedanken beiseite.

„Was machst du denn in den Ferien?“ fragte ich Max beiläufig, während ich mich endlich meinem Frühstück zuwandte. „..also bevor der Ernst des Lebens losgeht.“

Er sah mich an, sichtlich überrascht, dass ich überhaupt etwas gesagt hatte. Dann zuckte er mit den Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht machen Lukas und ich ´ne Tour mit dem Bike, vielleicht rauf zur Nordsee. Mal sehen.“

Ich nickte stumm, während ich einen großen Bissen von meinem mit Erdbeermarmelade bestrichenen Toast nahm.

⚜⚜⚜

Nach dem Frühstück war die Routine wieder in vollem Gange. Max schnappte sich seine Tasche und zog seine schwarze Lederjacke über, bevor er den Helm griff, den Lukas ihm extra besorgt hatte. „Vergiss deinen Helm nicht, Max“, rief unsere Mutter ihm noch nach, als er zur Tür hinaustrat.

„Ist doch schon dabei!“, rief er zurück, mit einem typischen Max-Grinsen, bevor er die Tür hinter sich zuzog. Draußen wartete Lukas, sein bester Freund, mit dem knatternden Motorrad. Die beiden gaben sich einen lockeren Handschlag, bevor Max aufstieg. Ein kurzes Aufheulen des Motors, und sie verschwanden die Straße hinunter.

Ich zog mir meine Jacke über und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Noch während ich mir meine Tasche umhängte, klingelte das Telefon im Wohnzimmer. Meine Mutter ging ran, und ihre Stimme nahm diesen freundlichen, aber auch leicht ernsten Ton an, den sie immer benutzte, wenn sie mit Sabine sprach.

„Sabine! Hallo! Wie geht’s dir?“ Sie sprach mit ihrer besten Freundin, Sabine Weber, die im Krankenhaus der Stadt als Ärztin arbeitete – und zwar nicht irgendeine Ärztin, sondern eine von denen, die für alle komplizierten Fälle gerufen wurde. Sabine war oft Thema bei uns zu Hause. Meine Mutter schätzte sie sehr, aber es gab Momente, da merkte man auch, dass sie sich manchmal Sorgen um Sabines ruheloses Leben machte.

Ich hörte nur Bruchstücke des Gesprächs, während ich die Tür hinter mir schloss. „Ja, ich habe den Artikel gelesen… Klingt wirklich beunruhigend…“ und später: „Nein, das glaub ich nicht… Aber die Leute hier machen sich immer schnell verrückt.“

Ich zuckte mit den Schultern und machte mich auf den Weg zur Haltestelle.

 

Der Bus war halb voll, als ich mich an meinen üblichen Platz am Fenster setzte und die Kopfhörer aufsetzte. Die Welt draußen glitt an mir vorbei, und ich versuchte, mich auf die Musik zu konzentrieren. Doch die Gedanken an die Videos, die ich am Morgen gesehen hatte, ließen mich nicht los. Das unbehagliche Muster, das sich durch diese Clips zog – das Schmelzen von Eis, die Viren, die mysteriöse Grippewelle im Baltikum. Es war nichts Konkretes, aber es fühlte sich an, als würde ein dunkler Schatten über allem schweben.

Dann kam Emma.

Sie war meine beste Freundin, und ich liebte sie wirklich, aber es gab Tage – wie heute –, an denen ich sie auch ein bisschen anstrengend fand. Noch bevor sie sich richtig gesetzt hatte, begann sie zu reden.

„Oh mein Gott, Lena, rate mal, was gestern passiert ist!“ Sie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und strahlte mich an, ihre Augen funkelten vor Aufregung.

Ich drehte mich zu ihr und zog einen Kopfhörer aus dem Ohr. „Was denn?“

„Also, Jan hat mir gestern dieses süße Armband geschenkt. Schau mal!“ Sie hielt ihr Handgelenk in die Höhe, auf dem ein silbernes Kettchen mit einem kleinen Herz baumelte. „Ist es nicht wunderschön? Und dann hat er mich zum Essen eingeladen. Wir waren in diesem kleinen Bistro, und er hat extra meine Lieblingsvorspeise bestellt!“

Ich nickte, lächelte gezwungen und hörte zu, wie sie von Jan schwärmte. Jan hier, Jan da. Sie war wirklich verliebt, und ich freute mich für sie – ehrlich –, aber es war schwer, sich so viel Enthusiasmus jeden Tag anzuhören, ohne irgendwann das Interesse zu verlieren.

„Lena, hörst du mir überhaupt zu?“ fragte sie plötzlich, als ich gedankenverloren aus dem Fenster sah.

„Ja, klar“, log ich und zwang mich zu einem breiteren Lächeln.

Emma plapperte weiter, und ich nickte ab und zu, während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Die Videos, die ich gesehen hatte, die Worte meiner Mutter am Telefon, all das schien wie ein unterschwelliger Ton, der sich nicht ganz abschalten ließ. Aber ich drängte es beiseite und konzentrierte mich auf Emmas Erzählungen – oder zumindest tat ich so.

Der Bus hielt an der nächsten Station, und ich bereitete mich darauf vor, mich in die immer gleiche Routine des Schultages zu stürzen.

⚜⚜⚜

Die Schule war, wie immer, ein langer, monotoner Tag. Mathe, Deutsch, Geschichte – alles zog an mir vorbei, ohne dass irgendetwas Besonderes passierte. Ich war zu müde, um wirklich aufmerksam zu sein, und die Stunden schleppten sich dahin. Irgendwann in der letzten Stunde erwischte ich mich dabei, wie ich nur noch auf die Uhr starrte und die Minuten zählte, bis ich endlich nach Hause konnte.

Als ich schließlich zuhause war und die Tür unseres Hauses aufschloss, war es still. Kein Stimmgewirr, keine Musik, nichts. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel von meiner Mutter:

„Bin mit Sabine in der Stadt. Max ist wahrscheinlich bei Lukas. Essen ist im Kühlschrank. Kuss, Mama.“

Natürlich war Max bei Lukas. Die beiden hingen so oft zusammen, dass es schon fast auf eine romantische Art und Weise komisch war. Manchmal stellte ich mir vor, wie die beiden wirklich ein Paar wären. Sie wären eigentlich ganz süß zusammen – Lukas war ein guter Typ, und ich wollte einfach, dass Max glücklich war. Aber das hielt mich nicht davon ab, ihn zu ärgern. „Ihr zwei seid ja unzertrennlich“, hatte ich erst letzte Woche gesagt. „Soll ich schon mal nach einer Hochzeitstorte suchen?“ Seine genervten Blicke waren es jedes Mal wert. Geschwisterliebe eben.

Ich schmiss meine Tasche in die Ecke, zog meine Schuhe aus und machte mir einen Tee, bevor ich mich auf die Couch warf. Der Nachmittag verging schnell. Ein bisschen TikTok, ein bisschen zielloses Surfen im Internet, nichts Weltbewegendes. Irgendwann, als es draußen zu dämmern begann, zog ich mich in mein Zimmer zurück, legte mich aufs Bett und schnappte mir erneut mein Handy.

Der TikTok-Feed war voller Videos, die mich diesmal nicht so leicht losließen. Die Krankheit – oder was auch immer es war – schien sich auszubreiten. Russland, Skandinavien, Dänemark. Ein Video zeigte eine Überwachungskamera in einer dänischen Kleinstadt: Menschen, die erst ganz normal durch die Straßen liefen, nur um dann plötzlich auszubrechen. Sie schrien, warfen Dinge um sich, schlugen gegen Wände. Doch fast so schnell, wie diese Ausbrüche kamen, standen sie dann bewegungslos da, als wäre nichts gewesen.

Ein weiteres Video zeigte einen Mann in einer russischen U-Bahn, der schreiend auf die Fenster einschlug, während die anderen Passagiere in Panik flohen. Eine andere Aufnahme stammte aus einem Supermarkt in Schweden: Eine Frau hatte plötzlich begonnen, alles aus den Regalen zu reißen, bevor sie wie in Trance am Boden kauerte.

Ich schluckte schwer und legte mein Handy kurz beiseite. Es fühlte sich anders an als die Videos von heute Morgen.

Weniger abstrakt.

Realer.

Näher.

Dänemark war nicht weit weg von hier. Eine kurze Fahrt über die Grenze, und man war da. Es war eine Sache, über Epidemien am anderen Ende der Welt zu hören, aber jetzt… Jetzt war es nah. Zu nah.

Ich setzte mich auf, klappte meinen Laptop auf und öffnete YouTube. Die Algorithmen hatten sich längst angepasst, und mein Startbildschirm war voller neuer Videos über „mysteriöse Wutausbrüche“ und „unbekannte Krankheit in Finnland und Schweden“. Die Kommentare waren ein wilder Mix aus Panik, Verschwörungstheorien und Leuten, die versuchten, das Ganze herunterzuspielen.

Auf Reddit war es nicht besser. Ich las Berichte von Leuten, die ähnliche Ausbrüche gesehen hatten – in Städten, Dörfern, sogar in ländlichen Gegenden. Manche beschrieben Symptome wie „plötzliche Wut“, andere sprachen von „unheimlich ruhigem Verhalten“ direkt danach.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, und ich schaltete den Laptop wieder aus. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich die Bilder und Berichte dadurch vertreiben, doch das Unbehagen blieb.

Ich ließ mich wieder ins Bett fallen, zog die Decke bis zum Kinn und griff erneut nach meinem Handy. Vielleicht würde ein paar belanglose Videos durchscrollen helfen, die Gedanken zu verdrängen. Ich hatte mich gerade in die Decke gekuschelt und meinen Blick auf das Handy gerichtet, als ich hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Die Schritte meiner Mutter waren unverkennbar – leicht und zügig, begleitet von dem leisen Klirren ihres Schlüsselbunds.

„Ich bin zurück!“ rief sie in die Stille des Hauses, aber niemand antwortete. Ich hörte, wie sie die Küche betrat und etwas in den Kühlschrank stellte. Es war beruhigend, ihren gewohnten Rhythmus zu hören, diese kleinen Geräusche, die unser Zuhause ausmachten.

Ich blieb ruhig in meinem Zimmer liegen, meine Zimmertür stand einen Spalt weit offen. Ich hatte keine Lust, aufzustehen oder sie zu begrüßen. Nicht, dass sie das von mir erwartet hätte.

Eine halbe Stunde später hörte ich erneut die Tür. Die schwereren Schritte meines Vaters hallten durch den Flur, und kurz darauf begann ein leises Gespräch zwischen meinen Eltern. Zuerst war es nur ein unverständliches Gemurmel, aber hin und wieder drangen Fetzen durch die leicht geöffnete Tür zu mir.

„Sabine sagt…“ Der Tonfall meiner Mutter war gedämpft, aber ich konnte die Anspannung darin hören.

„…Dänemark… und die Berichte heute Morgen…“ Mein Vater klang ruhiger, wie immer, aber ich konnte nicht genau verstehen, was er sagte.

Dann wurde es etwas lauter. „Aber was, wenn es sich weiter ausbreitet? Es ist doch jetzt schon so nah!“ Die Stimme meiner Mutter war jetzt klarer, fast wie ein Flüstern.

„Wir dürfen uns nicht verrückt machen“, erwiderte mein Vater. „Noch gibt es hier keine Berichte. Wir müssen abwarten und ruhig bleiben.“

Ich hörte, wie meine Mutter etwas Unverständliches murmelte, und dann war das Gespräch wieder zu leise, um es weiter zu verfolgen. Es klang wie ein vertrauter, aber strenger Austausch – etwas, das sie nicht mit uns Kindern teilen wollten.

Max war immer noch nicht zu Hause. Ich dachte kurz darüber nach, ob ich ihn anrufen sollte, ließ es dann aber bleiben. Wahrscheinlich war er bei Lukas geblieben, wie so oft. Es würde mich nicht wundern, wenn die beiden am Computer saßen oder sich anderweitig miteinander beschäftigten. Max war alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, und er war nicht der Typ, der sich leicht in Schwierigkeiten brachte.

Ich legte mein Handy weg und drehte mich auf die Seite, während ich versuchte, die Gedanken an die Diskussion meiner Eltern zu verdrängen. Doch die Worte „Dänemark“ und „Sabine“ hallten noch immer in meinem Kopf nach. Irgendwann schlief ich dennoch ein.

⚜⚜⚜

Ich weiß nicht genau, was mich weckte. Vielleicht war es ein Geräusch draußen, vielleicht ein unruhiger Traum. Als ich die Augen öffnete, war mein Zimmer in Dunkelheit gehüllt, und die digitale Uhr auf meinem Nachttisch zeigte 02:47 an.

Das Haus war totenstill, so still, dass ich für einen Moment dachte, ich wäre allein. Aber ich wusste, dass meine Eltern im Schlafzimmer nebenan schliefen. Und Max… Tja, wahrscheinlich war er immer noch bei Lukas.

Mein Handy lag neben mir, der Bildschirm leuchtete schwach auf, als ich es in die Hand nahm. Mehrere entgangene Anrufe blinkten mir entgegen.

Emma.

Sie hatte mindestens fünfmal angerufen, dazu drei neue Sprachnachrichten und ein paar Nachrichten im Chat.

Ich seufzte. Warum rief sie mitten in der Nacht an? Streit mit Jan, das war klar. Es war ja doch immer das Gleiche: Sie stritten, sie heulte sich bei mir aus, und am nächsten Tag war wieder alles in Ordnung. Die Vorstellung, jetzt ihre Stimme zu hören, wie sie mir zwischen Schluchzern alles erzählte, war mehr, als ich ertragen konnte.

„Nicht heute“, murmelte ich und legte das Handy wieder beiseite, ohne die Nachrichten abzuhören.

Ich schob die Decke zur Seite und setzte mich auf. Ein seltsames Gefühl nagte an mir, eine Unruhe, die ich nicht erklären konnte. Ohne wirklich darüber nachzudenken, stand ich auf und ging zum Fenster.

Die Straße vor unserem Haus lag ruhig da. Keine Autos, keine Menschen. Nur das kalte, gelbliche Licht der Straßenlaternen, das die Pflastersteine beleuchtete. Ich lehnte mich ein Stück vor, die Stirn gegen die kühle Scheibe gedrückt, und lauschte.

Es war… zu ruhig.

Selbst für diese Uhrzeit.

Normalerweise hörte man irgendwo ein Auto vorbeifahren oder entfernte Gespräche von Nachbarn, die noch spät draußen waren. Aber jetzt war da nichts, nur ein seltsames Fehlen sämtlicher Geräusche, das die Stadt wie eine dünne Decke zu umhüllen schien.

Plötzlich hörte ich ein leises Klirren. Es war so dezent, dass ich nicht sicher war, ob ich es mir nur eingebildet hatte. Dann kam ein weiteres Geräusch, etwas, das wie eine über die Straße rollende Glasflasche klang.

Ich runzelte die Stirn und spähte in die Dunkelheit. Ein Hund begann hektisch zu bellen, irgendwo in der Ferne. Es war ein aggressives, fast panisches Bellen, das plötzlich verstummte.

Mein Blick wanderte die Straße hinunter. Ein dumpfes Geräusch drang an mein Ohr, als würde jemand gegen Metall schlagen. Dann ein weiteres Geräusch, das wie das Brechen von Glas klang.

Ich schluckte und zog die Vorhänge ein Stück zu. Es waren keine lauten, drängenden Geräusche, nichts, was unmittelbar bedrohlich wirkte. Es war mehr wie ein Flüstern, ein Hauch von Chaos, der sich nur knapp unter der Oberfläche der Nacht hielt. Vielleicht war es der normale Geräuschpegel einer Stadt bei Nacht, und ich war einfach zu angespannt, um es so wahrzunehmen.

Ich schüttelte den Kopf, um die Unruhe loszuwerden, und ging zurück ins Bett. Mit etwas Glück würde ich morgen aufwachen, und alles würde wieder normal erscheinen.

 

 

Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Mal geschlafen hatte, als mich ein lautes Geräusch erneut aus meinen Träumen riss. Es war das Aufheulen eines Motors, viel zu nah und viel zu laut. Gleich darauf folgte das hektische Läuten unserer Türklingel, welches mein Herz einen Schlag aussetzen ließ.

Ich sprang aus dem Bett, das Adrenalin schoss mir durch die Adern. Im Nachthemd und mit nackten Füßen rannte ich die Treppe hinunter. Als ich die Haustür öffnete, traf mich ein Schock.

Lukas stand da, den Arm meines Bruders um seine Schulter geschlungen. Max war blass, Schweiß glänzte auf seiner Stirn, und sein linkes Bein war blutig. Außerdem schien er eine große Platzwunde am Hinterkopf zu haben, denn sein struppiges blondes Haar war Blutverklebt. Er humpelte kaum noch, weil Lukas fast sein ganzes Gewicht hielt.

„Was… was ist passiert?“ stammelte ich, die Augen auf Max gerichtet.

„Ein Unfall“, murmelte Lukas, ruhig, aber angespannt. „Ich wusste nicht wohin mit ihm… Kannst du helfen? Ich muss ihn reinbringen.“

Ich nickte und schlang meinen Arm um Max’ andere Seite. Gemeinsam schleppten wir ihn ins Wohnzimmer und legten ihn vorsichtig auf die Couch. Max stöhnte leise, als wir ihn hinlegten, und sein Gesicht verzog sich vor Schmerz.

Lukas hockte sich neben ihn auf den Boden, zog eine Decke vom Sofa und legte sie über Max. Seine Hand blieb einen Moment länger als nötig auf Max’ Stirn, und er sah ihn an, mit einem Blick, der so viel sagte, ohne dass Worte nötig waren. „Es tut mir leid“, flüsterte er, kaum hörbar.

Etwas an der Art, wie Lukas ihn ansah, ließ mich innehalten. Da war eine Vertrautheit, fast eine Zärtlichkeit, die ich nicht erwartet hatte. Ich verwarf diese Gedanken jedoch in der nächsten Sekunde wieder, ohne sie wirklich einzuordnen.

„Ich hole Mama und Papa“, sagte ich schließlich und drehte mich zur Treppe um.

Oben war es ruhig, nur das leise Ticken der Wanduhr war zu hören. Es war erst sechs Uhr, viel zu früh für meine Eltern, die normalerweise bis acht schliefen. Doch heute blieb mir keine Wahl.

„Mama! Papa!“ Ich hämmerte an die Tür des Schlafzimmers, bis ich endlich das Rascheln von Decken und ein müdes Murmeln hörte. „Kommt schnell, es ist was mit Max!“

Die Tür öffnete sich abrupt, und meine Mutter stand da, im Morgenmantel, ihre Augen vor Schreck geweitet. Mein Vater trat hinter ihr hervor, noch halb im Schlaf, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde schlagartig ernst.

„Was ist passiert?“ fragte er, während meine Mutter an mir vorbeistürmte und die Treppe hinunterlief.

Als wir das Wohnzimmer erreichten, sah ich, wie meine Mutter auf die Knie fiel, direkt neben Max, der immer noch auf der Couch lag. Sein Gesicht war schweißnass, und sein Bein sah schlimm aus.

„Oh mein Gott, Max!“ Meine Mutter presste die Hand vor den Mund, ihre Stimmbänder zitterten. Sie sah hilfesuchend zu meinem Vater auf.

„Was ist hier passiert?“ fragte mein Vater laut, seine Unterlippe bebte, seine Worte hart und eindringlich. Sein Blick fiel auf Lukas, der immer noch neben Max kniete, seine Hände zitterten leicht.

„Es… es war ein Unfall“, stammelte Lukas, seine Augen rot und glasig vor Tränen.

„Was für ein Unfall? Was habt ihr gemacht?“ Mein Vater trat einen Schritt näher und wurde noch lauter.

„Ich… ich wollte ihn nicht verletzen! Es war nicht meine Schuld!“ Lukas’ Stimme brach, und er schüttelte verzweifelt den Kopf.

„Das bringt uns jetzt nichts!“ schrie meine Mutter, die versuchte, den Druck auf Max’ Bein zu erhöhen, um die Blutung zu stoppen. „Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen!“

Die Situation wurde chaotisch. Meine Eltern begannen, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, die Verzweiflung wurde immer lauter. Ich versuchte vergeblich einen Krankenwagen zu rufen und Lukas sackte schließlich weinend auf den Boden zusammen, völlig aufgelöst.

„Hört auf!“

Mein Aufschrei schnitt durch das Chaos wie ein Messer. Ich stand mit verschränkten Armen da und sah sie alle an, mein Herz raste, aber ich zwang mich zur Ruhe. „Das bringt uns jetzt nicht weiter.“

Alle verstummten, auch Lukas hob den Kopf und sah mich mit verweinten Augen an.

„Mama“, sagte ich, so ruhig ich konnte, „ruf Sabine an. Sie weiß, was zu tun ist. Sie kann uns helfen, Max ins Krankenhaus zu bringen.“

Meine Mutter nickte hektisch, griff nach ihrem Handy und begann, die Nummer zu wählen.

Ich ließ mich vor Lukas auf die Knie sinken und legte eine Hand auf seine Schulter. „Hey“, sagte ich leise, „es ist okay. Wir kümmern uns darum. Du hast getan, was du konntest.“

Er nickte schwach, schniefte und wischte sich über die Augen.

„Sabine ist unterwegs“, sagte meine Mutter schließlich, das Telefon immer noch in der Hand. „Sie ist in zehn Minuten da.“

„Gut.“ sagte ich und ließ Lukas los, bevor ich mich zu Max umdrehte. „Du schaffst das, okay?“ flüsterte ich meinem Bruder zu, auch wenn er kaum mehr bei Bewusstsein war.

Ich atmete tief durch. Es war immer chaotisch bei uns zu Hause – ständig gab es Streit oder Durcheinander. Aber diesmal war es anders. Diesmal lag es in meiner Hand, endlich etwas richtig zu machen.

 

Es vergingen keine zehn Minuten, da klopfte es energisch an der Tür. Meine Mutter sprang auf, eilte zur Tür und öffnete sie, bevor ich überhaupt reagieren konnte. Sabine trat ein, die schwere Arzttasche in der Hand, und warf einen schnellen Blick auf die Szenerie.

„Es ist überall das Gleiche“, sagte sie, noch bevor meine Mutter etwas sagen konnte. Ihre Stimmfarbe war ruhig, aber ihre Augen verrieten, dass sie längst an ihre Grenzen gestoßen war. „Die ganze Stadt steht Kopf. Überall Verletzte, die Leute drehen durch. Das Krankenhaus ist überrannt, keine Rettungswagen mehr verfügbar. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt herkommen konnte. Es scheint sich um ein Virus zu handeln. Ein Unbekanntes Virus, dass ich noch nie zuvor gesehen habe. Es breitet sich wie ein Lauffeuer aus. Infizierte Menschen werden zu Bestien, und greifen andere an, wie… Zombies.“ Sabine hielt inne und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

„Ich habe Kollegen, die gesagt haben, dass es vielleicht aus dem Permafrost kommt, alte Viren, die durch den Klimawandel freigesetzt wurden. Wie auch immer, die Lage ist verdammt ernst!“

Sie ließ sich auf die Knie neben Max sinken und öffnete ihre Tasche. „Ich muss ihn hier versorgen. Wir haben keine andere Wahl.“

Sabine arbeitete mit schnellen, präzisen Bewegungen, während sie Max’ Bein und seine Verletzung am Hinterkopf untersuchte, sichtlich erleichtert darüber, keine Bisswunde zu entdecken.

Lukas wich keinen Schritt von seiner Seite, seine Augen waren noch immer gerötet, aber er sagte nichts, nur seine zitternden Hände verrieten, wie angespannt er war.

„Das ist ein komplizierter offener Bruch“, murmelte Sabine und zog eine Spritze aus ihrer Tasche. „Das wird jetzt wehtun.“

Sie gab Max eine Injektion, vermutlich ein Schmerzmittel, bevor sie das Bein ergriff. Meine Mutter hielt sich die Hand vor den Mund, als Sabine den Bruch mit einer gekonnten, ruckartigen Bewegung einrenkte. Max schrie auf, ein markerschütternder Laut, der mir durch Mark und Bein ging, bevor er bewusstlos wurde.

„Das musste sein“, sagte Sabine knapp, während sie weitermachte. Sie schiente das Bein mit Material, das sie aus ihrer Tasche zog, und verband die Wunde so fest wie möglich. Auch Max‘ Kopf versorgte sie mit Verbandsmaterial, welches jedoch augenblicklich von Blut durchtränkt wurde. Sabines Stirn war von Schweißperlen bedeckt, aber ihre Hände blieben ruhig.

„Er hat sehr viel Blut verloren“, sagte sie schließlich, als sie aufstand und sich die Hände an einem Tuch abwischte. „Er ist noch nicht über den Berg. Wir müssen ihn im Auge behalten. Wenn er Fieber bekommt oder die Blutung wieder schlimmer wird, müssen wir improvisieren.“

Diese Worte schienen den Damm bei meiner Mutter zu brechen. Sie begann leise zu weinen, ihre Schultern bebten, während mein Vater einen Arm um sie legte und sie tröstete.

Ich war wie erstarrt. Die ganze Szene kam mir vor wie in einem Traum – oder besser gesagt, wie im Nebel. Sabine, die so professionell arbeitete, wie es ihr in dieser Umgebung eben möglich war, meine Eltern, die verzweifelt wirkten, Lukas, der immer noch neben Max hoffte. Er hielt Max’ Hand, führte sie an seine Wange und schloss für einen Moment die Augen, Tränen liefen ihm leise über das Gesicht.

Ich wollte etwas sagen, wollte die Kontrolle über die Situation übernehmen, doch meine Gedanken schienen zu rasen. Und dann fiel mir plötzlich etwas ein.

Emma! Ihre Anrufe.

Ich griff instinktiv nach meinem Handy und sah die verpassten Anrufe und Sprachnachrichten, die ich in der Nacht ignoriert hatte. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich daran dachte, was sie mir wohl mitzuteilen versucht hatte.

Meine Hände zitterten leicht, als ich mein Handy entsperrte und WhatsApp öffnete. Emmas Chat war ganz oben, mit mehreren verpassten Anrufen und drei ungelesenen Sprachnachrichten. Ich atmete tief durch und öffnete die erste.

Emmas klang wie gewohnt ein bisschen hektisch, aber noch ruhig. „Lena, ich weiß, es ist spät, aber… Irgendwas stimmt nicht mit Jan. Er hatte gerade so einen Ausraster – hat unseren Schrank im Wohnzimmer umgeworfen und ist dann in die Küche gestürmt. Jetzt steht er seit drei Minuten da und starrt einfach nur in eine Ecke. Ohne sich zu bewegen. Ich hab ihn angesprochen, aber er reagiert nicht. Kannst du mir sagen, was ich machen soll?“

Die Nachricht endete, und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Mein Finger schwebte kurz über der nächsten Nachricht, bevor ich sie öffnete.

„Lena!“ Diesmal war sie panisch, ihre Worte überschlugen sich. „Jan dreht völlig durch! Er hat gerade den Esstisch umgeworfen und schreit einfach nur rum! Ich hab versucht, ihn zu beruhigen, aber er… er hört nicht auf! Was soll ich machen? Bitte, sag mir, was ich tun soll!“

Mein Magen zog sich zusammen. Ich spürte, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief, als ich die dritte Nachricht öffnete.

Emmas Stimme war jetzt gebrochen, leise, und ich konnte hören, dass sie weinte. „Er… er hat mich angegriffen, Lena. Er hat mich… er hat mich in die Schulter gebissen! Ich hab versucht, ihn wegzustoßen, aber er… er ist dann einfach durch die Haustür gerannt. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Bitte… bitte komm her. Ich brauch dich.“

Die Nachricht endete, und mein Handy fiel mir beinahe aus der Hand. Ich starrte auf den Bildschirm, unfähig, mich zu bewegen. Die Worte „Er hat mich gebissen“ hallten in meinem Kopf wider, und mein Herz raste, als ich versuchte, zu begreifen, was das bedeutete.

Ich schluckte schwer und stand auf. Meine Beine fühlten sich wie Blei an, aber irgendetwas in mir wusste, dass ich reagieren musste – auch wenn ich noch nicht ganz genau wusste, wie.

Ich ließ das Handy sinken und schaute mich im Raum um. Für einen Moment schien alles wie eingefroren, als würde die Zeit langsamer vergehen.

Meine Eltern standen beieinander, die Arme umeinander geschlungen. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen, die Spuren des Weinens waren deutlich zu erkennen. Mein Vater hielt sie fest, sein Blick streng, aber voller Besorgnis. Es war selten, dass ich sie so sah – einander haltend, ohne Worte, nur diese stumme Verbindung, die ihnen jetzt offenbar Trost spendete.

Sabine befand sich weiterhin neben Max auf den Knien und tastete seinen Puls am Hals. Ihr Gesicht war angespannt, konzentriert. Sie murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte, während ihre Finger nach weiteren Anzeichen suchten, dass er stabil blieb.

Mein Blick wanderte zu Lukas. Er saß auf dem Boden neben Max, sein Gesicht halb verborgen. Doch ich konnte sehen, dass seine Augen gerötet waren, seine Haltung schlaff und erschöpft. Seine Stirn lehnte gegen Max’ Schulter, während er die Nähe suchte, die ihm wohl Trost gab – oder vielleicht Schuldgefühle besänftigen sollte.

Ich wusste, dass ich etwas tun musste. Emma war meine beste Freundin, und sie brauchte mich jetzt. Sechs Straßen – das war alles, was uns trennte. Es war nicht weit, aber ich musste mich beeilen.

„Ich gehe zu Emma“, dachte ich, ohne die Worte auszusprechen.

Ich griff nach meiner Jacke, die an der Garderobe hing, und schnappte mir die Schlüssel. Niemand schien zu bemerken, was ich tat. Erst als ich zur Tür ging, vernahm ich den Klang meiner Mutter.

„Lena? Wohin gehst du?“

Ich hielt inne, aber nur für einen kurzen Moment. Mein Herz hämmerte, während ich die Haustür öffnete. „Ich bin gleich zurück“, sagte ich, ohne mich umzudrehen.

„Warte! Bleib hier! Lena!“ Sie war panisch, aber ich hatte die Tür bereits hinter mir geschlossen.

 

Die kühle Morgenluft schlug mir ins Gesicht, während ich die Straße hinunterblickte. Es war seltsam ruhig, wie zuvor, aber das hielt mich nicht auf. Mit schnellen Schritten machte ich mich auf den Weg zu meiner besten Freundin. In der Umgebung vernahm ich kein Geräusch, keine Bewegung, nichts. Nur das Echo meiner Schuhe auf dem Asphalt begleitete mich.

Ich war bereits drei Straßen weit gekommen, als ich plötzlich etwas am Boden bemerkte. Zuerst sah ich nur leichte Blutspuren. Sie waren wie dünne, rote Fäden, die sich über den Asphalt zogen, immer dichter werdend, bis sie zu einer großen Lache wurden. Neben der Lache lag ein Motorradhelm. Max‘ Helm.

Mein Atem stockte und ich blieb kurz stehen. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, während ich langsam näher trat.

Das musste der Unfallort sein. Ich konnte es mir direkt vorstellen: Lukas und Max, auf dem Motorrad, das plötzlich außer Kontrolle geriet. Aber warum?

Die Blutspuren führten vom Helm weg, und daneben war eine schmale Bremsspur auf dem Asphalt zu sehen. Sie war kurz und abrupt, als hätte Lukas versucht, im letzten Moment zu bremsen.

Die große Blutlache ließ mich schaudern. Es war so viel Blut. Zu viel. Ich schluckte schwer, und für einen Moment schossen die Bilder von Max, wie er blass und verletzt auf unserer Couch lag, wieder durch meinen Kopf. Das Unbehagen wuchs, als ich meinen Blick über den Straßenrand schweifen ließ und dann sah ich es…

Am Rande der Straße lag jemand. Oder besser gesagt… etwas.

Die Gestalt war merkwürdig verdreht, die Gliedmaßen wirkten unnatürlich gebogen, als hätten sie nicht in diese Position gebracht werden dürfen. Es gab keine Bewegung außer einem unheimlichen, keuchenden Geräusch, das in der kalten Morgenluft widerhallte.

Mein Körper wurde starr. Ein Teil von mir wollte sofort wegrennen, aber ein anderer Teil zwang mich, stehen zu bleiben. Meine Füße bewegten sich fast wie von selbst, als ich einen Schritt näher trat, die Augen fest auf die Gestalt gerichtet.

Und dann sah ich das Gesicht.

Die Haut war fahl, fast leichenblass, und die Augen… sie waren schrecklich. Blutunterlaufen, die Adern zogen sich wie ein Netz über die Augäpfel. Es war ein Anblick, der mich fassungslos erstarren ließ. Am Hals klaffte eine tiefe Wunde, die sich dunkel und unheilvoll abzeichnete.

Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, und plötzlich war es, als würde die Zeit aufhören, voranzuschreiten. Das war kein normaler Mensch. Nicht mehr.

Meine Gedanken rasten. Das musste der Grund für den Unfall sein. Dieses Ding – was auch immer es war – musste Lukas und Max in Gefahr gebracht haben. Es war der einzige Grund, der mir einfiel.

Ich wich zurück, mein Herz hämmerte so laut, dass ich dachte, es würde meinen Brustkorb durchbrechen. Der keuchende Laut wurde lauter, und ich zwang mich, den Blick abzuwenden. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Alles in mir schrie, dass ich weglaufen musste.

Mit zitternden Beinen rannte ich durch die menschenleeren Straßen, immer schneller, immer entschlossener. Drei Straßen trennten mich noch von Emma. Doch es fühlte sich an, als würde sich die Distanz mit jedem Schritt ausdehnen.

Als ich endlich vor ihrem Haus ankam, blieb ich abrupt stehen. Die Haustür stand offen, einen Spalt weit, und schwankte leicht im Wind. Meine Atmung beschleunigte sich, und ein Knoten bildete sich in meinem Magen.

„Emma?“ rief ich vorsichtig, als ich über die Schwelle trat. Keine Antwort.

Das Haus sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Möbel lagen umgeworfen da, der Couchtisch war in zwei Teile gebrochen, und Scherben bedeckten den Boden. Es war ein Chaos, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ein Gefühl von Panik überkam mich, doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben.

„Emma?“ rief ich erneut, diesmal lauter. Doch das Einzige, was ich hörte, war das Klirren einer zerbrochenen Vase unter meinen Schuhen.

Ich suchte das Wohnzimmer ab, dann die Küche und dann das Schlafzimmer. Nichts. Von Emma keine Spur. Mein Herz schlug immer schneller, als ich den Flur entlangging. Und dann sah ich es – eine schmale Blutspur, die sich über den Boden zog. Sie führte zum Badezimmer.

Ich blieb vor der verschlossenen Tür stehen. „Emma?“ Meine Stimme zitterte, als ich gegen die Tür klopfte. Keine Antwort.

Ich klopfte erneut, diesmal etwas fester. „Emma, bist du da drin?“

Die Stille dahinter war unerträglich, und doch wusste ich instinktiv, dass sie dort war. Ich wusste es einfach.

„Emma, bitte! Sag was!“

Endlich hörte ich, wie sie etwas sagte, leise und schwach, flüsternd. „Lena… verschwinde hier. Bitte… geh weg.“

Ich bekam eine Gänsehaut, aber ich schüttelte den Kopf, auch wenn sie es nicht sehen konnte. „Nein, ich gehe nicht. Was ist los? Lass mich rein!“

„Bitte, Lena“, flehte sie, „Hau ab. Du kannst mir nicht helfen.“

„Emma, ich gehe nicht! Lass mich rein, rede mit mir!“

Plötzlich änderte sich etwas. Ihre Stimmfarbe wurde tiefer, rauer, und dann schrie sie. Ein unverständliches Brüllen, das durch die Tür schnitt und mich einen Schritt zurückweichen ließ. Ich hörte, wie etwas gegen die Wände schlug, als würde sie wüten.

Ich wollte wegrennen, doch meine Beine blieben wie angewurzelt. Und dann – mit einem einzigen Krachen – brach die Tür auf.

Vor mir stand Emma. Oder das, was von ihr übrig war.

Ihre Augen waren blutunterlaufen, die Adern zogen sich dunkel und bedrohlich über die Haut. Ihr Gesicht war fahl, wie aus Stein gemeißelt, und ihre Bewegungen waren ruckartig, unnatürlich. Ihr Atem kam keuchend, und ihre Haltung war aggressiv.

„Emma…“ flüsterte ich, unfähig, mich zu bewegen.

Sie starrte mich an, als würde sie mich erkennen, doch ihre Augen waren voller Zorn. Ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte, und ich machte langsam einen Schritt zurück.

Ich konnte nicht einmal schreien, bevor Emma mit einer unnatürlichen Geschwindigkeit auf mich zustürmte. Es war kein normaler Sprint, sondern eine ruckartige, unmenschliche Bewegung, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Bevor ich reagieren konnte, hatte sie mich zu Boden gestoßen.

Mein Rücken schlug hart auf den Boden, und die Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Panisch versuchte ich, mich aufzurichten, doch Emma war bereits über mir, ihre Hände drückten mich herunter. Ihr Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt, und ihre Augen, diese furchtbaren, blutunterlaufenen Augen, starrten mich an.

Ihre Zähne klapperten hektisch aufeinander, wie ein Raubtier, das nach seiner Beute schnappte. Sie versuchte, meinen Hals zu erreichen, doch ich schaffte es, meine Arme hochzureißen und sie auf Distanz zu halten. Mein Herz raste. und meine Gedanken schossen in alle Richtungen.

„Das ist Emma… das ist Emma… das ist Emma!“ Der Satz hämmerte in meinem Kopf, immer wieder, während ich versuchte, zu verstehen, wie meine beste Freundin zu diesem Ding geworden war. Wie konnte das passieren? Was war das? Warum?

Ihre Zähne schnappten gefährlich nahe an meinem Gesicht, und ich fühlte ihren heißen, keuchenden Atem auf meiner Haut. Meine Arme zitterten vor Anstrengung, doch ich wusste, dass ich sie nicht loslassen durfte.

„Emma, hör auf!“ schrie ich, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war. Es war nicht mehr Emma

Plötzlich vibrierte mein Handy. Das dumpfe Brummen durchbrach für einen winzigen Moment das Chaos in meinem Kopf. Ich spürte das Vibrieren in meiner Tasche und sah kurz zur Seite, als würde ich mich in diesem Moment daran klammern können, dass irgendetwas normal war.

Dieser kurze Moment der Unachtsamkeit war alles, was Emma brauchte. Ehe ich reagieren konnte, spürte ich den Schmerz. Ein scharfer, brennender Schmerz in meinem Arm, als ihre Zähne sich tief in meine Haut gruben.

Ich schrie. Es war ein instinktiver, roher Schrei, der aus tiefster Angst kam. Emma biss zu, ihre Zähne rissen durch meine Haut, und der Schmerz brachte Tränen in meine Augen.

Dann, so plötzlich wie sie mich angegriffen hatte, sprang sie auf. Sie riss ihren Kopf zurück, ließ meinen Arm los, und ruckartig, wie ferngesteuert, rannte sie davon. Ihre keuchenden Laute hallte noch kurz in der Luft nach, bevor sie in der Ferne verschwand.

Ich blieb auf dem Boden liegen, den schmerzenden Arm an meine Brust gepresst. Mein Kopf drehte sich, und alles fühlte sich unwirklich an. Mein Atem kam stoßweise, und ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Langsam hob ich meinen Arm, und erst da realisierte ich es wirklich. Blut lief in dünnen Linien meinen Unterarm hinunter. Die Wunde war tief. die Ränder unregelmäßig und blutig.

„Nein… nein, nein, nein…“ flüsterte ich, während ich das Blut anstarrte. Meine Gedanken überschlugen sich. Was bedeutete das? Was sollte ich jetzt tun?

Ich blieb liegen, unfähig, mich zu bewegen, während die Realität mich wie eine Welle überrollte.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag. Die Kälte des Bodens hatte sich in meinen Körper geschlichen, doch das war nicht der Grund, warum ich nicht aufstehen konnte. Es war, als hätte etwas in mir beschlossen, stillzuhalten, als könnte ich dadurch dem entkommen, was gerade passiert war.

Der Schmerz in meinem Arm pochte, heiß und pulsierend. Ich hielt die Wunde mit meiner anderen Hand bedeckt, doch das Blut ließ sich nicht aufhalten. Es rann in kleinen Strömen meine Finger hinunter und sammelte sich auf dem Boden.

Doch es war nicht nur der Arm. Etwas stimmte nicht mit meinem ganzen Körper. Meine Haut fühlte sich an, als würde sie brennen, und ein dumpfer, tiefer Schmerz zog sich durch meine Augen. Es war, als würde etwas hinter meinen Augäpfeln drücken, und ich musste sie fest schließen, um nicht wahnsinnig zu werden.

Mein Hals kratzte, ein schrecklicher, beißender Schmerz, der bei jedem Atemzug stärker wurde. Als ich versuchte zu schlucken, fühlte es sich an, als hätte ich Scherben hinuntergeschluckt. Ich öffnete den Mund, um zu sprechen, um irgendeinen Laut von mir zu geben, aber was herauskam, war nur ein kehlendes Geräusch, tief und fremd.

Doch das Schlimmste war die Wut. Sie stieg langsam in mir auf, wie eine Flut, die alles andere überdeckte. Es war keine normale Wut – es war etwas Dunkleres, Rohes, ein Drang, den ich nicht kontrollieren konnte. Gleichzeitig blieb ein Teil von mir klar. Ich verstand, was geschah, auch wenn ich es nicht begreifen wollte.

„Ich… bin ich…?“ Der Gedanke formte sich in meinem Kopf, aber ich wagte nicht, ihn zu Ende zu denken.

Mein Körper fühlte sich schwer an, aber irgendwann zwang ich mich, meine Arme unter mich zu schieben und mich langsam hochzustemmen. Es war, als hätte ich das Laufen verlernt. Meine Beine waren wie Blei, mein Kopf drehte sich, und alles in mir schrie, ich solle liegen bleiben.

Doch ich hatte keine Wahl.

Langsam stand ich auf, jeder Schritt war eine Qual. Mein Körper schwankte, und ich hielt mich an der Wand des Flures fest, um nicht zu stützen. Meine Knie zitterten, und die Schmerzen in meinem Hals und meinen Augen ließen nicht nach.

Die Straße nach Hause schien unendlich lang. Jeder Meter fühlte sich an, als würde er mich weiter in einen Abgrund ziehen, den ich nicht benennen konnte. Aber ich musste nach Hause. Sabine wusste sicher, was zu tun ist. Ich musste wissen, was mit mir geschah, bevor es zu spät war.

⚜⚜⚜

Die Haustür schloss sich hinter mir mit einem dumpfen Knall. Meine Beine zitterten, meine Atmung war flach und keuchend, aber ich hatte es geschafft. Ich war zu Hause.

Die Geräusche aus dem Wohnzimmer zogen mich zurück in die Realität. Gedämpfte Stimmen, das leise Tröpfeln einer von Sabine rudimentär zusammenimprovisierten Apparatur, um Max künstlich intravenös mit Flüssigkeit zu versorgen, hin und wieder ein Schluchzen meiner Mutter. Alles war genauso, wie ich es verlassen hatte – und doch völlig anders.

Ich trat langsam ins Wohnzimmer, und sofort richteten sich alle Augen auf mich. Meine Mutter schnappte nach Luft, mein Vater erstarrte, und Sabine legte die Spritze, die sie gerade vorbereitet hatte, beiseite. Lukas hingegen hob nicht einmal den Kopf. Er saß neben Max, hielt seine Hand und schien völlig in seine Gedanken versunken zu sein.

„Lena…?“ Die Stimme meiner Mutter war kaum mehr als ein Flüstern. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie machte einen Schritt zurück.

Ich hob meine Hände, die Bewegung war schwerfällig, und ich spürte die Anspannung in jedem Muskel. „Es ist… okay…“, sagte ich, doch meine Stimmfarbe war tief und kehlig, kaum wiederzuerkennen.

Mein Vater trat zwischen meine Mutter und mich, als würde er sie schützen wollen. Seine Augen waren streng, doch ich konnte die Angst darin erkennen. „Lena, was ist passiert?“

„Ich… ich bin okay“, brachte ich mühsam hervor. Jedes Wort fühlte sich an, als würde es meinen Hals zerreißen. „Es…geht mir gut.“

Sabine trat einen Schritt näher, ihre Stirn in tiefen Falten. „Du siehst aber nicht okay aus, Lena.“ Ihr Blick wanderte über mein Gesicht, meinen Arm, die noch offene Wunde. „Du bist infiziert, das ist alles andere als okay.“

„Es geht mir gut!“, wiederholte ich und zwang mich, meine Stimme so ruhig wie möglich zu halten. Ich wollte sie nicht erschrecken, wollte ihnen zeigen, dass ich noch ich war – trotz allem.

Sabine warf meinem Vater einen Blick zu, dann meiner Mutter. „Es ist nicht auszuschließen“, begann sie, mehr zu sich selbst als zu uns, „dass der Virus bei manchen Menschen anders reagiert. Weniger stark ausbricht… vielleicht sogar eine Art Teilimmunität hervorruft.“

„Was heißt das?“ fragte meine Mutter zitternd.

„Es heißt, dass sie vielleicht nicht gefährlich ist“, antwortete Sabine vorsichtig. „Aber das kann ich nicht garantieren. Wir müssen sie im Auge behalten.“

Meine Mutter sah mich an, Tränen in den Augen. „Lena…“

„Ich tue niemandem weh!“, sagte ich, so deutlich, wie ich konnte. Meine Kehle schmerzte, aber ich zwang die Worte heraus. „Ich… bin noch ich.“

Es war ein Kampf, sie davon zu überzeugen, aber schließlich nickten meine Eltern, wenn auch zögerlich. Sabine blieb skeptisch, ihre Augen beobachteten jede meiner Bewegungen genau, als würde sie nach Anzeichen dafür suchen, dass sie falsch lag.

 

Die Tage vergingen quälend langsam. Lukas wich nicht von Max’ Seite. Er sprach kaum, saß einfach nur da, hielt Max’ Hand und schien die Welt um sich herum nicht mehr wahrzunehmen.

In der Zwischenzeit kämpfte ich darum, mich wieder zu bewegen, zu sprechen, zu funktionieren. Das Laufen wurde leichter, mein Körper schien sich an die Veränderungen zu gewöhnen. Doch mein Aussehen… Meine Haut wurde noch blasser, meine Augen dunkler, und die Wunde an meinem Arm heilte nicht so, wie sie sollte.

Trotzdem blieb ich klar im Kopf. Meine Gedanken, meine Gefühle – sie waren immer noch dieselben. Ich liebte meine Familie, und ich wollte sie beschützen. Das war alles, was zählte.

Die Welt, wie wir sie kannten, war inzwischen verschwunden. Fernseher und Radios verstummten zuerst, dann fiel der Strom aus – anfangs nur für ein paar Stunden, dann für Tage, bis er schließlich für immer wegblieb.

Schließlich brach auch das Handynetz zusammen. Sabine hatte noch verzweifelt versucht, das Krankenhaus zu erreichen, um Informationen oder Hilfe zu bekommen, doch jedes Mal war die Leitung tot. Am Ende war sie geblieben. Sie hatte niemanden, zu dem sie hätte gehen können, keine Familie, die auf sie wartete. Unsere Gruppe war zu ihrem neuen Zuhause geworden.

Lukas… über Lukas’ Familie wusste ich nichts. Er hatte nie versucht, sie zu kontaktieren, und ich hatte nie gefragt. Es schien, als wäre Max alles, was ihm wichtig war. Und vielleicht war es das wirklich. Lukas war inzwischen ein Teil unserer Familie geworden, ob bewusst oder nicht. Es gab keine Grenzen mehr zwischen uns, kein „wir“ und „sie“ – nur noch die, die geblieben waren.

Max’ Zustand hatte sich nach wie vor nicht verändert. Das hohe Fieber hielt ihn in einem erbarmungslosen Griff, und Sabine hatte ihn provisorisch mit starken Mitteln in eine Art Koma versetzt. Sie sagte, es sei seine einzige Chance, zu überleben.

Manchmal blickte ich auf seinen schweigsamen, schweißnassen Körper und fragte mich, ob er überhaupt wieder aufwachen würde. Ein Teil von mir beneidete ihn. Er bekam nichts von alledem mit, nichts von dieser düsteren, verlorenen Welt, die uns umgab.

Wir hatten Kerzen genug, und auch die Vorräte an haltbaren Lebensmitteln waren überraschend gut. Meine Mutter war schon immer jemand, der für alle Fälle gerüstet sein wollte. Aber nichts hielt ewig. Irgendwann würden wir uns der Frage stellen müssen, was dann kommen sollte.

Die Stille draußen war erdrückend, als hätte die Welt die Luft angehalten. Keine Autos, keine Flugzeuge, keine Menschen. Es war, als wäre die Welt leer geworden, zurückgelassen und vergessen. Selbst Tiere schienen verschwunden zu sein. Kein Vogelgezwitscher, kein Rascheln im Gebüsch – nur diese unnatürliche Leere, die sich wie eine Decke über die Straßen legte. Seit Tagen vernahm ich von der Straße vor unserem Haus, die sonst immer so von Leben gefüllt und in Verkehrslärm getaucht war nichts weiter als ein Schweigen, das so friedlich und unheilvoll zugleich war. Wir hatten ernsthafte Überlegungen angestrebt, unser Zuhause zu sichern, irgendwie vor den Gefahren außerhalb abzuriegeln. Aber, und das war das Merkwürdige, es schien keine Gefahr mehr zu geben. Keine Horden Infizierter, keine verzweifelten Menschen, die plündernd ihr Leben sichern wollten, nichts. Sie alle waren verschwunden, als hätte sie irgendetwas fortgezogen, oder fortgerissen. Wir waren allein. Allein in einer verstummten Welt.

 

Ich schloß die Tür hinter mir, lehnte mich dagegen und atmete schwer aus. Das Badezimmer war in gedämpftes Kerzenlicht getaucht und mein Spiegelbild wirkte verzerrt, als würde es nicht mehr wirklich zu mir gehören.

Langsam trat ich näher an den großen Spiegel über dem Waschbecken heran.

Meine Hände zitterten, als ich den Verband um meinen Arm löste. Sabine hatte ihn mir in angelegt, nachdem ich Emma entkommen war. Dabei hatte ich nicht hinsehen wollen. Doch Jetzt… jetzt musste ich es.

Die Mullbinden klebten an meiner Haut. Als ich sie vorsichtig abwickelte, zuckte ich zusammen. Die Wunde sah furchtbar aus.

Der Biss war nicht verheilt, sondern schien sich weiter ausgedehnt zu haben. Die Haut darum war gräulich, an manchen Stellen schwarz, so, als würde sich das Fleisch selbst zersetzen. Doch es war frei von Eiter und Blut – lediglich diese unnatürliche Verfärbung, die sich langsam über meinen gesamten Unterarm ausbreitete.

Ich berührte die Wunde mit den Fingerspitzen.

Sofort durchzog ein stechender Schmerz meinen gesamten Arm, gefolgt von einer unangenehmen Wärme, die durch meinen Körper kroch. Es war, als würde sich etwas in mir bewegen – als würden tausend kleine Flammen ein Lauffeuer tief in meinem Inneren entfachen.

Mein Herz schlug schneller.

„Wie lange noch, bis ich nicht mehr ich selbst war?“

Ich starrte in den Spiegel. Mein Gesicht war schmaler geworden, meine Augen dunkler, fast wie schwarze Schatten in der Dämmerung. Meine Lippen waren spröde, meine Wangen eingefallen.

Ich sah nicht mehr aus wie ich.

Ich sah aus wie… nun ja, wie etwas anderes.

Ein Schluchzen entkam mir. Ich presste eine Hand auf meinen Mund, doch ich konnte es nicht unterdrücken.

Ich würde mich weiter verändern. Ich wusste es. Und wenn es soweit war… was passiert dann?

Max lag im Nebenzimmer zwischen Leben und Tod, Lukas wachte über ihn, als gäbe es nicht anderes mehr auf der Welt. Sabine behielt mich im Auge, misstrauisch, mit diesem analytischen Blick, als wäre ich eine Versuchsperson in ihrer ganz persönlichen Studie.

Und meine Eltern?

Meine Mutter hatte mich in den letzten Tagen so oft in die Arme genommen, mir durch die Haare gestrichen, mir versichert, dass alles gut werden würde. Aber stimmte das? Glaubte sie das wirklich?

Oder hatte sie Angst vor mir?

Ich presste meine Stirn gegen den Spiegel und ließ die Tränen kommen.

Sollte ich vielleicht gehen?

Es wäre einfacher. Für sie alle. Ich könnte einfach verschwinden, bevor ich zur Gefahr wurde. Bevor ich… bevor ich sie verletzte.

Ein leises Klopfen riss mich auch meinen Gedanken.

„Lena?“

Die Stimme meiner Mutter. Sanft, aber besorgt.

„Ich… ich bin hier“, brachte ich hervor.

Die Tür öffnete sich, und sie trat ein. Ihre Augen waren müde, Schatten lagen unter ihren Lidern, aber sie lächelte, als sie mich ansah.

„Alles in Ordnung, Lena?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

Ihre Stirn legte sich in Falten. Sie trat näher, sah auf den Verband, der nun lose zwischen meinen Fingern hing. Ihr Blick wanderte weiter zu meiner Wunde, und für einen Moment erkannte ich es.

Die Angst.

Doch dann – ganz langsam – wich sie der Fürsorge.

Meine Mutter schloss die Tür hinter sich und kam näher.

„Es macht dir Angst, oder?“ fragte sie leise.

Ich konnte nur nicken.

„Ich weiß nicht, was mit mir passiert“, flüsterte ich. „Ich spüre, dass sich etwas verändert. Ich habe Angst, dass ich irgendwann nicht mehr ich bin. Dass ich…“

„…zur Gefahr wirst…“, vollendete sie meinen Satz.

Ich schluckte hart. „Ja.“

Für einen Moment sagte sie nichts. Ich sah, wie sie überlegte. Dann griff sie sanft nach meiner Hand. Ihre Berührung war warm, beruhigend – fast so, als könmnte sie mich allein damit davor bewahren, mich zu verlieren.

„Lena…“, begann sie, „ich wäre eine schlechte Mutter, wenn ich behaupten würde, dass ich keine Angst habe. Ich bin mir bewusst, was passiert ist, und dass wir nicht wissen, was noch passieren wird.“

Ich senkte den Blick.

„Aber weißt du, was stärker ist als Angst?“

Ich schüttelte langsam den Kopf.

Sie hob meine Hand und drückte sie an ihr Herz. „Liebe.“

Ich blinzelte verwirrt zu ihr auf.

„Du bist meine Tochter. Und Max ist mein Sohn. Ich liebe euch beide so sehr, und nichts auf dieser Welt kann das ändern. Eltern machen sich immer Sorgen. Das ist normal.“ Sie lächelte schwach. „Aber egal, was passiert, wir schaffen das. Hörst du? Wir schaffen das. Zusammen. Als Familie.“

Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ich wusste nicht, ob es die Infektion war oder einfach nur die pure Erleichterung.

„Glaubst du das wirklich?“ fragte ich leise.

Sie nickte. „Ja. Daran glaube ich ganz fest.“

Ich konnte mich nicht zurückhalten – ich fiel ihr einfach in die Arme. Sie umschloss mich, hielt mich, bewahrte mich in diesem zerbrechlichen Moment davor, weiter zu fallen.

Zum ersten Mal seit Tagen fühlte ich mich nicht allein.

⚜⚜⚜

Das Knirschen der Cornflakes zwischen meinen Zähnen war das einzige Geräusch im Raum, als sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages zaghaft in den Fensterscheiben des Wohnzimmers brachen. Ich kaute langsam, zwang mich dazu, den Bissen herunterzuwürgen, obwohl es sich falsch anfühlte.

Cornflakes mit Wasser.

Es schmeckte nach nichts. Oder besser gesagt, es schmeckte nach aufgeweichtem Pappkarton mit einer Prise Staub.

Ich erinnerte mich an früher – als ich mich manchmal über die falsche Cornflakes-Marke beschwert hatte, weil die, die Mama gekauft hatte, nicht „knusprig genug“ waren.

Jetzt war ich froh, dass überhaupt noch etwas da war.

Mein Blick wanderte durch das Wohnzimmer, während ich den Löffel in der Schale drehte.

Lukas wachte, wie jeden Tag über Max. Ich hatte Lukas ebenfalls eine Schalte Cornflakes angeboten, doch er schüttelte nur wortlos mit dem Kopf, ohne den Blick von Max abzuwenden.

Am anderen Ende des Wohnzimmers stand mein Vater am Kamin. Er hielt ein Glas Whiskey in der Hand, drehte es langsam, ließ die Flüssigkeit kreisen, als würde sie ihm eine Antwort auf eine Frage geben, die er nicht auszusprechen wagte. Seine Augen ruhten auf der Wand über dem Kamin – Familienfotos aus längst vergangenen, glücklicheren Tagen.

Max als Kleinkind auf Papas Schultern. Ich, als ich noch lachen konnte, meine Arme um Mamas Beine geschlungen.

Ein Weihnachtsfoto aus einer Zeit, in der wir noch alle zusammen waren.

Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog.

Aus dem Flur hörte ich schwere Schritte. Meine Mutter kam die Treppe herunter, einen großen Karton voller Kerzen in den Armen. Sie trug ihn so vorsichtig, als wäre er wertvoller als alles andere.

Wahrscheinlich war er das auch.

Ich sah zurück auf meine Schale. Zwang mich dazu, mir noch einen Löffel in den Mund zu schieben.

Doch dann spürte ich es.

Einen Blick.

Ich hob den Kopf und traf Sabines Augen.

Sie saß mir gegenüber, ihr Blick unverwandt auf mich gerichtet. Ihr Gesicht war neutral, aber ihre Finger klopften unmerklich auf die Tischplatte.

Sie beobachtete mich.

Ich versuchte es zu ignorieren, aß weiter, als wäre nichts. Doch ihre Augen ließen mich nicht los.

Ich seufzte, legte den Löffel ab. „Wenn du was sagen willst, dann sag’s einfach, statt mich anzustarren!“

Sabine blinzelte kurz, lehnte sich dann zurück. Ihre Finger verschränkten sich vor ihr.

„Wie fühlst du dich, Lena?“ fragte sie schließlich.

Ich zuckte mit den Schultern. „Gut.“

„Wirklich?“

„Ja.“

Sie schien über meine Antwort nachzudenken, als würde sie jedes Wort sorgfältig auf einer inneren Waage abwägen.

„Ich habe dir vorhin den Verband gewechselt“, sagte sie dann. „Deine Wunde sieht… sagen wir mal… nicht gut aus.“

Ich zuckte leicht, aber versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

Sabine musterte mich weiter. „Du weißt, dass das, was mit dir passiert, nicht normal ist.“

Ich schwieg.

„Dein Körper müsste längst Probleme mit der Infektion haben. Fieber, Organversagen, oder schlimmeres. Irgendetwas. Aber stattdessen… hälst du erstaunlich gut durch…“

Ich sah auf meine Hände. Die Haut erschien mir noch etwas blasser als gestern.

Sabine sprach weiter, sachlich, wie eine Ärztin, die einem Patienten eine ernste Diagnose überbringt.

„Ich weiß nicht, wie lange du dich noch so halten kannst. Aber es ist eine Frage der Zeit, Lena. Dein Körper… dein Geist… werden irgendwann nicht mehr funktionieren. Und dann?“

Ich ballte die Hände zusammen. „Dann was?“

„Dann könntest du zur Gefahr werden.“

Das Wort traf mich härter, als es sollte.

Sabine schaute mir tief in die Augen. Sie erwartete eine Reaktion. Einen Wutausbruch. Eine Lüge, irgendetwas.

Ich sah ihr ebenfalls tief in die Augen. „Ich bin keine Gefahr.“

Sabine sagte nichts.

Das Schweigen dehnte sich aus zwischen uns, schwer wie Blei.

Dann seufzte sie leise, strich sich über die Stirn. „Ich hoffe, dass du Recht hast.“

Und damit stand sie auf und verließ den Tisch.

Ich sah ihr nach, spürte, wie sich etwas Unangenehmes in meiner Brust zusammenzog.

Hoffnung.

Sie hatte nicht gesagt, dass sie mir glaubte.

Nur, dass sie hoffte.

⚜⚜⚜

Weitere Tage vergingen, in denen ich einfach nur funktionierte. Ich spürte ein dunkles Flüstern unter meiner Haut, ein leises Pulsieren, dass jede Zelle meines Körpers im Griff zu haben schien und lauter wurde, je mehr ich versuchte es zu ignorieren. Mein Kopf dröhnte und meine Gedanken wirkten fremd, doch ich kämpfte dagegen an. Kontinuierlich bemühte ich mich, mich nicht zu verlieren. Ich musste ich bleiben. Darauf kam es an.

Doch an diesem Tag änderte sich etwas in mir. Es war nicht sofort erkennbar, nicht wie ein Blitzschlag, der alles verändert, sondern eher wie ein schleichendes Gefühl, das sich langsam in den Vordergrund drängte und nicht von mir bekämpft werden konnte. So sehr ich es mir auch wünschte.

Ich hatte Hunger!

Es war nicht der übliche Hunger, den man mit einer Dose Ravioli, einem Teller Kartoffeln oder Cornflakes mit Wasser stillen konnte. Nein, es war etwas anderes, etwas Tieferes, Dunkleres. Zunächst versuchte ich, es zu ignorieren, wie all die beängstigenden Veränderungen, die ich tief in meinem Inneren spürte, schob es beiseite wie einen lästigen Gedanken, der einfach nicht verschwinden wollte. Doch je länger der Tag dauerte, desto stärker wurde es.

Und dann war da Max.

Ich hatte schon oft an seiner Seite gesessen, ihn beobachtet, wie er in diesem künstlichen Schlaf lag, den Sabine ihm verabreicht hatte. Doch an diesem Tag war es anders. Als ich ihn ansah, spürte ich, wie sich etwas in mir regte – etwas, das ich nicht benennen wollte.

Ich sah, wie sein Brustkorb sich schwach hob und senkte, hörte den leisen, kaum wahrnehmbaren Klang seines Atems. Es war nicht nur das. Ich konnte seinen Herzschlag spüren, sanft, schwach, und doch so deutlich, als stünde ich direkt neben ihm. Selbst aus mehreren Metern Entfernung war er da, wie ein leises Klopfen, das mich nicht losließ.

Mein Mund wurde trocken, und ich spürte ein unangenehmes Kribbeln in meinem Körper. Ich schloss die Augen, versuchte, das Gefühl zu unterdrücken, doch es half nichts. Der Hunger war da. Und er wuchs.

Ich hasste mich dafür. Dieser Gedanke, dieses Verlangen – es machte mir Angst. Ich war ich selbst, ich hatte es die ganze Zeit geschafft, klar zu bleiben, normal zu bleiben. Aber jetzt? Jetzt war da dieses innere Verlangen, dieses Drängen, das ich nicht ignorieren konnte. Sollten sich die Sorgen, die Sabine geäußert hatte, bewahrheiten? Hatte ich mich soweit von mir selbst entfernt, dass ich zur Gefahr wurde? Nein. Das konnte nicht sein – Das durfte nicht sein.

Ich stand abrupt auf, ging ein paar Schritte zurück und zwang mich, von Max wegzusehen.

Doch der Hunger blieb.

 

Der weitere Abend war harmonisch ruhig, nur das Flackern der Kerzen im Wohnzimmer warf schemenhafte Schatten an die Wände. Lukas saß wie immer an Max’ Seite, seine Hand hielt die von Max, während er mit leerem Blick auf den schlafenden Körper starrte. Die dunklen Ringe unter seinen Augen sprachen Bände – er war erschöpft, am Ende seiner Kräfte. Wochenlang hatte er an Max’ Seite gewacht, kaum geschlafen, kaum gegessen.

„Lukas.“ Sabines klang sanft, aber bestimmt. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er zuckte leicht zusammen. „Du musst dich ausruhen. So kannst du nicht weitermachen.“

Lukas schüttelte den Kopf, seine Finger umklammerten Max’ Hand noch fester. „Ich bleibe hier. Was, wenn er aufwacht und mich braucht?“

„Lukas“, sagte nun unsere Mutter, die sich zu ihm hinunterbeugte. Ihre Stimme war leise, doch mit einem ungewohnten Nachdruck. „Sabine hat recht. Max braucht dich – aber nicht so. Du musst schlafen, essen. Du kannst ihm nur helfen, wenn du bei Kräften bleibst.“

Lukas hob den Kopf, seine Augen glitzerten vor Müdigkeit und zurückgehaltenen Tränen. Er wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Schließlich nickte er langsam.

„Komm“, sagte unsere Mutter und half ihm auf die Beine. „Ich richte dir Max’ Bett her. Es ist sauber, frisch bezogen, und du kannst dich dort ausruhen.

Lukas schwankte leicht, als er aufstand, seine Knie schienen unter seinem Gewicht nachzugeben. Ich beobachtete ihn vom meinem Platz auf der Couch gegenüber, wo ich mich gegen die Armlehne gelehnt hatte.

Er drehte sich kurz zu mir um, sein Blick verschleiert von Erschöpfung, aber darin lag noch etwas anderes – ein letzter Rest Wachsamkeit, eine leise Bitte.

„Pass auf ihn auf, ja?“ Die Worte kamen rau, fast geflüstert aus seinem Mund.

Unsere Blicke trafen sich, und für einen Moment war da ein stilles Verständnis zwischen uns – das Verständnis zweier Menschen, die beide Max auf ihre eigene Weise liebten.

Ich nickte knapp.

Lukas wirkte erleichtert, als hätte er zumindest für diesen Moment die Verantwortung abgeben können. Dann ließ er sich von unserer Mutter aus dem Zimmer führen, sein Blick ruhte bis zum letzten Moment auf Max.

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, lag wieder diese omnipräsente Ruhe im Raum.

 

Max’ Zimmer war aufgeräumt, fast unangetastet, als würde es nur auf seine Rückkehr warten. Unsere Mutter holte frische Bettwäsche aus dem Schrank, während Lukas schweigend daneben stand.

„Hier“, sagte sie schließlich, während sie das Kissen aufschüttelte und die Decke glatt zog. „Machs dir bequem und ruh dich aus. Mach dir keine Sorgen.“

Lukas sah sie an, und für einen Moment schien es, als wollte er widersprechen. Doch stattdessen brach er das Schweigen mit einem leisen, fast unsicherem „Frau Bergmann…?“ Unsere Mutter sah ihn an und wartete geduldig.

„Ich… ich weiß nicht, ob das der richtige Moment ist… oder ob es überhaupt wichtig ist, aber… ich kann nicht länger schweigen.“ Seine Stimme bebte, und er blickte zu Boden. „Ich liebe Max. Nicht nur als Freund. Es war immer mehr. Und… er wusste es. Er hat immer genauso gefühlt.“

Unsere Mutter erstarrte für einen Moment, sah Lukas an und schien die Worte zu verarbeiten. Doch dann lächelte sie leicht, traurig, aber sanft. „Ich weiß“, sagte sie schließlich. „Ihr beide wart immer so… verbunden. Und ehrlich gesagt, ich habe mich gefragt, warum ihr es uns nie gesagt habt.“

Lukas fuhr sich nervös durch die Haare und lachte kurz, bitter. „Max wollte es irgendwann erzählen. Er meinte, wir sollten uns Zeit lassen. Und jetzt… Jetzt ist alles kaputt!“ er wischte sich mit einer zitternden Hand über die Augen. „Ich habe solche Angst, Frau Bergmann. Was, wenn er… wenn er nicht mehr aufwacht? Was, wenn ich nie die Chance bekomme, ihn noch einmal zu halten, ihm noch einmal zu sagen, dass ich ihn liebe?“

Meine Mutter trat auf ihn zu, Ihre Augen voller Mitgefühl. „Lukas… Max weiß es. Auch ohne Worte. Liebe braucht keine Erklärungen, und bei euch konnte man sie in jedem Blick sehen.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Er hat sich für dich entschieden. Ihr wart füreinander da, und nur das zählt.“

Lukas sah sie an, seine Augen gerötet, voller Verzweiflung. „Es tut mir leid, dass wir es euch nicht früher gesagt haben. Vielleicht… vielleicht hätte ich dann mehr für ihn tun können. Vielleicht hätte ich ihn besser schützen können.“

„Das ist nicht deine Schuld,“ sagte sie entschieden. „Niemand hätte das vorhersehen können. Was zählt ist, dass du jetzt da bist. Und ich bin so froh, dass Max jemanden wie dich hat – jemanden, der ihn so sehr liebt.“

Sie zog ihn plötzlich in eine feste, mütterliche Umarmung, die ihm den letzten Halt zu geben schien. Lukas ließ die Tränen schließlich laufen, klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender. „Ich wollte nur, dass er glücklich ist,“ flüsterte er.

„Das war er, Lukas,“ sagte sie leise. Das war er.“

Nach einer Weile löste sie sich sanft von ihm führte ihn zum Bett. „Du musst dich jetzt ausruhen. Max braucht dich, und du kannst ihm nur helfen, wenn du deine Kraft zurückgewinnst.“

Lukas nickte schwach und ließ sich auf das frisch bezogene Bett sinken. Zum ersten Mal seit Tagen schien die Last auf seinen Schultern etwas leichter zu sein. Als er die Augen schloss, hörte er sie noch leise sagen: „Du bist jetzt ein Teil dieser Familie, Lukas. Du gehörst zu uns, egal was passiert.“

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und ging die Treppen herunter zurück in das vom Kerzenschein erleuchtete Wohnzimmer. Sie setzte sich zu ihrem Sohn, streichelte dessen Wange und ließ ihren Blick auf ihm ruhen. Sie dachte an das Gespräch mit Lukas, an seine verzweifelten Worte, an die Art, wie er von Max sprach – so voller Liebe, so voller Angst, ihn zu verlieren. Es ließ sie nicht los.

Mit einem tiefen Atemzug wandte sie sich an Sabine, die mit verschränkten Armen auf einem Sessel saß, die Augen schwer, aber immer noch wachsam.

„Sabine… ruh dich aus. Ich werde heute Nacht bei ihm bleiben.“

Sabine hob den Kopf, musterte sie einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Nein. Ich bin nicht müde.“

„Du bist völlig erschöpft“, korrigierte unsere Mutter sanft. „Seit Tagen bist du nonstop auf den Beinen. Ich weck‘ dich, falls sich irgendetwas verändert.“

Sabine wollte protestieren, doch in ihrer Haltung lag keine Kraft mehr. Sie rieb sich müde die Schläfen, bevor sie schließlich langsam nickte. „In Ordnung. Aber wenn irgendetwas passiert…“

„…weck ich dich. Versprochen“, ergänzte meine Mutter leise den Satz ihrer Freundin.

Sabine erhob sich, griff nach ihrer Tasche und verließ das Wohnzimmer. Sie ging die dunkle Treppe hinauf, das Holz knarzte unter ihren Schritten, während sie durch den Flur in eines unserer Gästezimmer trat.

Als Sabine die Tür hinter sich schloss, lehnte sie sich für einen Moment dagegen, ihre Schultern sanken herab. Die Erschöpfung, die sie seit Tagen bekämpfte, fiel plötzlich mit voller Wucht über sie her.

Sie ließ sich auf die Bettkante sinken und starrte ins Leere. Der Raum war in Dunkelheit gehüllt. Nur das dezente Mondlicht, welches durch das kleine Fenster schien, ließ schemenhaft die Umgebung erahnen.

Wie viele Stunden war es her, dass sie das letzte Mal geschlafen hatte? Wie viele Tage, seitdem sie sich eingestanden hatte, dass die Welt, wie sie sie kannte, am Ende war? Sie wusste es nicht, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit, wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte.

Ihr Leben lang hatte sie einen klaren Weg vor sich gesehen. Sie wollte die Beste sein, wollte sich einen Namen machen. In der Notaufnahme hatte sie gelernt, unter Druck zu funktionieren, ruhig zu bleiben, Lösungen zu finden, während um sie herum das Chaos tobte. Sie wollte beweisen, dass sie es verdient hatte, dort zu sein – Unter den Besten.

Und jetzt?

Jetzt gab es keine Notaufnahme mehr. Keine Karriere, die es zu verfolgen galt. Keine Forschung, die neue Heilmethoden hervorbringen würde. Die Welt, auf die sie sich jahrelang vorbereitet hatte, existierte nicht mehr.

Was hatte sie denn noch, wenn all das bedeutungslos geworden war?

Sie dachte an Max, an seine fiebernde Stirn, an Lukas, der ihn so sehr liebte, dass es ihm den Boden unter den Füßen wegzog. Sie dachte an unsere Mutter, die sich entschlossen hatte, die Nacht über ihren Sohn zu wachen, als wäre das noch eine Wahl.

Und dann dachte sie an sich selbst.

Wer war sie, wenn sie nicht die Ärztin war, die alles im Griff hatte? Wer war sie, wenn es keine Struktur mehr gab, keine Regeln, keine Medizinbücher, die ihr sagten, was zu tun war?

Langsam atmete sie aus und legte sich auf das Bett. Die Matratze war hart, aber das war ihr egal.

Vielleicht, dachte sie, war sie jetzt einfach nur jemand, der sich weigerte aufzugeben.

Vielleicht war das das Einzige, was noch zählte.

Mit diesen Gedanken schloss sie die Augen – nicht als Ärztin, nicht als Wissenschaftlerin, sondern als ein Mensch, der einfach nur durchhalten wollte.

⚜⚜⚜

Das Wohnzimmer lag in flackerndem Kerzenschein. Das Licht war warm, beruhigend, doch ich wusste, dass es eine trügerische Ruhe war – ein stiller Moment vor dem Sturm. Ich saß zwischen meinen Eltern auf der Couch, spürte die Wärme meiner Mutter an meiner Seite, das Schweigen meines Vaters auf der anderen.

Max schlief weiterhin auf der gegenüberliegenden Couch, sein Atem flach, sein Körper reglos.

Es war einer der wenigen Augenblicke, in denen niemand sprach.

Ich ließ meinen Blick auf meiner Mutter ruhen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, doch in ihrer Haltung lag noch immer diese unerschütterliche Stärke. Sie war diejenige, die Lukas in unserer Familie aufgenommen hatte, ohne zu zögern. Diejenige, die Sabine vollkommen vertraute. Diejenige, die immer noch hoffte.

Und dann war da mein Vater.

Er saß mit verschränkten Armen auf der anderen Seite, sein Blick auf eine unbestimmte Stelle im Raum gerichtet. Er war die letzten Wochen stark in sich gekehrt. Hatte kaum mehr ein Wort gesprochen, seit seine Welt unterging. Er war immer ein Mann gewesen, der wusste, was zu tun war – in der Arbeit, in seinen Projekten, in allem, was irgendwie berechenbar war. Doch jetzt? Jetzt gab es keine Pläne mehr, keine To-Do-Listen, keine Strategien.

Und das wurde ihm bewusst.

Er hatte sich all die Jahre eingebildet, dass er wichtig war – dass seine Arbeit der Kitt war, der alles zusammenhielt. Doch der Weltuntergang interessierte sich nicht für Abschlüsse oder Meetings oder Entscheidungsprozesse. Die Welt hatte ihn einfach von einem Tag auf den anderen irrelevant gemacht.

Ich spürte, wie sich eine seltsame Traurigkeit in mir breit machte. Mein Vater hatte immer ein wenig distanziert gewirkt, aber jetzt war es, als hätte sich entgültig aus allem zurückgezogen. Nicht, weil er nicht mehr liebte, sondern weil er nicht wusste, wie.

Er konnte mit meiner Infektion nicht umgehen. Mit Max‘ Koma. Mit der Trauer meiner Mutter. Mit Lukas‘ bedingungsloser Liebe zu Max.

Es war zu viel. Zu viele Emotionen. Zu viele Dinge, die er nie gelernt hatte zu verstehen.

Sein Blick war nicht kalt, nicht gefühllos – sondern resigniert. Als hätte er akzeptiert, dass er nicht mehr wichtig war.

Ich wollte etwas sagen. Irgendetwas. Doch mir war klar, dass es keinen Unterschied mehr machen würde. Also saßen wir einfach da, in einem Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte.

Der Kerzenschein flackerte weiter ruhig vor sich hin, und die Anspannung, die uns seit Tagen begleitet hatte, schien für einen Moment nachzulassen. Meine Eltern lehnten sich zurück, ihre Köpfe sanken langsam zur Seite, und schließlich fielen ihre Augen zu. Ihre Atemzüge wurden gleichmäßig und ruhig, und ich wusste, dass sie eingeschlafen waren.

 

Ich blieb sitzen, starrte in das sanfte Licht und fühlte die Dunkelheit in mir wachsen. Es war ein eigenartiger Zustand – die Ruhe im Raum stand im krassen Gegensatz zu dem Sturm, der in mir tobte. Ich wollte das alles nicht, wollte es nicht spüren, doch es war da.

Und dann kam er wieder. Der Hunger.

Er kroch in mir hoch, ein heißer, unerbittlicher Drang, der alle anderen Gedanken verdrängte. Mein Blick wanderte unwillkürlich zu Max. Er lag da, so verletzlich. Sein Brustkorb hob und senkte sich schwach, sein Atem war kaum mehr wahrnehmbar.

Langsam stand ich auf. Meine Bewegungen waren mechanisch, fast unbewusst, als ich zu ihm schlich. Ich wusste, dass es falsch war, wusste, dass ich aufhören musste – aber ich konnte nicht. Mein Herz pochte in meinen Ohren, doch es war Max‘ Pulsschlag, der mich wirklich hypnotisierte. Dieses leise, rhythmische Klopfen, das wie eine Melodie war, die ich nicht ignorieren konnte.

„Hör auf… hör auf…“, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf, doch sie war schwach, verschluckt von dem Drang, der mich immer näher zog.

Dann geschah es.

Ein heißer, roter Schleier legte sich über meine Sicht. Meine Zähne schlossen sich in seine Schulter, und der Geschmack von Blut erfüllte meinen Mund. Es war warm, metallisch, und es brachte ein primitives, unkontrollierbares Gefühl in mir hervor. Ich biss zu, riss ein großes Stück Fleisch heraus, verschlang es ehe ich erneut zubiss. Es war ein unheimliches, befriedigendes Gefühl und alles andere verschwand.

Max‘ Körper zuckte kurz, dann wurde er still. Sein schwacher Puls, den ich so deutlich gespürt hatte, erlosch. Das Leben war aus ihm gewichen.

Ich starrte auf ihn hinunter, meine Brust hob und senkte sich schnell. Mein Gesicht war mit Blut verschmiert, meine Hände zitterten, und erst jetzt begriff ich, was ich getan hatte.

 

Ein Schrei durchbrach die schweigsame Ruhe. „Nein! Max!“ Die Stimme meiner Mutter war voller Schmerz, und sie ließ mich zusammenzucken. Ich drehte mich um und sah sie an. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen weit aufgerissen, als sie zu mir starrte.

„Was… was hast du getan?“ flüsterte sie, unfähig zu verstehen, was vor ihr lag.

Der Schrei weckte auch meinen Vater, Lukas und Sabine. Sie stürmten ins Wohnzimmer, ihre Schritte hallten wie Donnerschläge in meinem Kopf.

Ich wich zurück, das Blut tropfte von meinem Kinn, meine Hände waren noch immer zitternd erhoben. Ein rasendes Gefühl von Wut und Verwirrung durchflutete mich, und ich konnte nur hilflos zusehen, wie sich ihre Blicke auf mich richteten.

Die Welt um mich herum schien zu verschwimmen.

„Max!“ Lukas‘ Ausruf war ein einziger Schrei, roh und verzweifelt, als er sich plötzlich auf mich stürzte. Mit einer Kraft, die ich ihm nicht zugetraut hätte, schubste er mich zur Seite. Ich stolperte zurück und fiel gegen die Wand, während Lukas sich auf Max warf.

„Wach auf! Bitte, Max, wach auf!“ Er schüttelte ihn an den Schultern, seine Tränen tropften auf Max‘ reglosen Körper. „Du kannst mich nicht allein lassen! Hörst du? Du darfst mich nicht allein lassen!“

Seine Schreie hallten wie ein Echo durch den Raum, vermischten sich mit dem Schluchzen, das seine Worte unterbrach. ,Ich liebe dich, Max…“ flüsterte er schließlich und beugte sich über ihn, seine Stirn gegen Max‘ kalte Wange gedrückt. „Ich liebe dich… bitte lass mich nicht allein.“

Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Blick war auf Lukas geheftet, der wie ein zerbrochenes Wrack über meinem Bruder lag, seine Liebe und Verzweiflung in jeder Bewegung, in jedem Laut spürbar

Aus dem Augenwinkel sah ich Sabine. Sie beweqte sich langsam, die Hände erhoben, und ging auf meine Eltern zu, die immer noch wie gelähmt da standen. Ihre Augen waren auf mich gerichtet, voller Angst und Fassungslosigkeit. Meine Mutter weinte leise, während mein Vater nur dastand, die Hände zu Fäusten geballt, sein Blick schwer und enttäuscht.

„Lena“, begann Sabine mit ruhiger Stimme, als würde sie versuchen, mich zu erreichen, doch ich hörte sie kaum.

Meine Gedanken drehten sich im Kreis, chaotisch und unerträglich. Ich hatte Max getötet. Meinen Bruder. Niemand würde mir das je verzeihen, schon gar nicht meine Mutter.

„Was habe ich getan?“ Die Worte hallten in meinem Kopf, wieder und wieder.

Ich sah Lukas an, der immer noch Max‘ Namen flüsterte, immer noch weinte. Was hatte ich ihm nur angetan? Wie konnte ich ihm so etwas antun?

Der Blick meines Vaters traf mich wie ein Schlag. Diese Enttäuschung, diese Stille, die so viel lauter war als Worte. Es fühlte sich an, als würde sie mich erdrücken

Ich wollte es nicht“, flüsterte ich, mehr zu mir selbst als zu ihnen. „Es tut mir leid… es tut mir so leid.“

Doch es gab kein Zurück. Kein Wort konnte ungeschehen machen, was ich getan hatte.

 

Die Minuten verstrichen wie Stunden. Sabine saß neben meiner Mutter, die unter Tränen leise vor sich hin murmelte, ihre Hände zitternd an ihre Brust gepresst. Sabine hielt sie an den Schultern, sprach ruhig auf sie ein, versuchte, sie zu beruhigen. Doch es schien nicht zu helfen.

Mein Vater stand reglos da, die Hände zu Fäusten geballt, sein Blick leer auf Max gerichtet. Lukas war neben Max zusammengebrochen, seine Stirn an Max‘ Brust gelehnt, während er weiter weinte. Er war heiser von all dem Schreien, und er flüsterte Max‘ Namen immer wieder, als wollte er ihn zurückholen.

Ich stand an der Wand, unfähig, mich zu bewegen. Die Welt um mich herum war ein Chaos, und doch fühlte sich alles wie in Zeitlupe an. Ich wusste nicht mehr, was ich tun oder denken sollte. Alles in mir war leer.

Plötzlich wurde es leise, nur Lukas‘ unterdrücktes Schluchzen und das leise Weinen meiner Mutter erfüllte den Raum.

Dann geschah es.

Max‘ Körper zuckte. Es war nur ein leichtes Zittern, kaum wahrnehmbar. Doch Lukas erstarrte sofort. „Max?“ flüsterte er, sein Gesicht nun direkt vor Max‘.

Max schlug die Augen auf.

Ich erschauderte. Seine Haut war jetzt fahl, fast wie Wachs, und seine Augen… Sie waren blutunterlaufen, dunkel und leer. Das war nicht mehr Max.

Doch Lukas lächelte, Tränen liefen über sein Gesicht, als er sich zu Max‘ Lippen beugte. „Du bist zurück… Ich wusste es.“

Doch was als Liebesbeweis begann, verwandelte sich in einen Albtraum. Ein furchtbares, reißendes Geräusch durchbrach die Stille. Max hatte sich mit einer unmenschlichen Kraft nach vorne gestürzt und sich in Lukas‘ Gesicht verbissen. Blut spritzte, und ein großer Teil von Lukas‘ Gesicht wurde regelrecht abgerissen. Lukas‘ Körper zuckte für den Bruchteil einer Sekunde, dann sank er reglos zu Boden.

Lukas!“ schrie meine Mutter, ihre Stimme überschlug sich, doch Max drehte sich bereits um. Er knurrte tief, dann bewegte er sich. Trotz seines gebrochenen Beins stand er auf, als könnte ihn nichts davon abhalten.

„Max…?“ hauchte sie zwischen Angst und Hoffnung.

Max sprang nach vorne, direkt auf unsere Eltern zu. Die Geschwindigkeit, die Kraft – es war unmenschlich. In letzter Sekunde versperrte mein Vater Max den Weg zu unserer Mutter, schützend stellte er sich vor sie. Er riss die Arme hoch und wollte Max aufhalten, doch dieser war zu schnell, zu stark. Mit einer unnatürlichen Wucht rammte mein Bruder ihn gegen das Bücherregal, die Wucht ließ das Holz splittern. Bücher fielen zu Boden.

„MAX!“ schrie meine Mutter.

Mein Vater rang um Luft, als Max seine Zähne tief in seine Schultern schlug. Das Geräusch – das schmatzende, reißende Geräusch von Fleisch, das nachgab – war schlimmer als alles, was ich je gehört hatte.

Blut spritze. Mein Vater keuchte, stöhnte, fiel in sich zusammen, während Max‘ Finger sich in den Oberkörper meines Vaters gruben. Mit einem furchtbaren Geräusch wurde der Brustkorb meines Vaters auseinandergerissen.

Er war tot.

Wegen mir.

„MAX, BITTE! HÖR AUF!“ Die Stimme meiner Mutter war nun nicht mehr die einer starken Frau. Sie war nur noch Panik, nur noch unbändiger Schmerz.

Sie stürzte vor, riss an Max‘ Arm, flehte, bettelte – doch das, was einmal ihr Sohn war, reagierte nicht mehr auf sie.

Er riss sich von ihrem Griff los, drehte sich abrupt um – und dann war sie dran.

Ich sah es geschehen, als wäre ich nicht Teil dieser Realität. Als wäre ich ein Zuschauer in einem grausamen, nicht enden wollenden Alptraum. Sabine muss ähnlich gedacht haben, den auch sie stand mit Entsetzen im Gesicht reglos neben dem Toten Körper meines Vaters, unfähig sich zu bewegen, unfähig etwas zu sagen.

Meine Mutter taumelte rückwärts, versuchte zu fliehen, doch Max war schneller, seine Hände krallten sich in ihre Arme, seine Kiefer schnappten zu. Immer wieder.

Ich konnte nicht atmen.

Ich sah all das Blut. Meine Mutter versuchte, sich zu befreien, schlug auf Max ein, schrie seinen Namen. Doch Max reagierte nicht. Er war nicht mehr ihr Sohn.

„BITTE… MAX…“

Das waren ihre letzten Worte, bevor Max ihr mit einem furchtbaren schmatzenden Geräusch den Hals in Fetzen biss.

Ich war fassungslos, eingefroren im Schock.

Max ließ los. Meine Mutter leblos auf dem Boden zusammengesackt, das Gesicht in Tränen erstarrt.

Ich stand bloß da, Mein Körper bebte. Meine Hände zitterten. Meine Eltern… meine Eltern waren tot.

Wegen mir.

Mein Blick fiel auf Max, der schwer atmend über den Leichen unserer Eltern stand. Blut tropfte von seinen Fingern, sickerte in den Boden, mischte sich mit dem Chaos, das er hinterlassen hatte.

Er hob langsam den Kopf. Seine Augen trafen meine.

Ein Moment.

Ein einziger Moment, in dem ich glaubte, einen Hauch von etwas in ihm zu sehen. Einen Schatten dessen, was er einmal gewesen war.

Doch dann war es fort.

Er knurrte tief, und meine Welt zerbrach entgültig.

 

„Lauf!“ rief Sabine und sprang auf, doch ich konnte mich nicht bewegen.

Ich sah nur, wie sie sich hastig zur Treppe wandte und stolpernd nach oben flüchtete. Max, von unnatürlicher Stärke getrieben, folgte ihr mit rasender Geschwindigkeit

Ich blieb zurück.

Meine Mutter, mein Vater, Lukas – sie lagen alle tot auf dem Boden. Blut überzog den Raum, und die Kerzen warfen verzerrte Schatten auf die Wände.

Max war verschwunden, oben irgendwo mit Sabine. Ob er sie erwischt hatte, wusste ich nicht.

Doch eins war klar: Jetzt hatte ich nichts mehr. Niemanden.

 

Wie in Trance stürmte ich aus der Tür, ohne mich noch einmal umzudrehen. Meine Beine bewegten sich wie von selbst, mein Atem war flach, doch ich spürte nichts mehr. Kein Schmerz, keine Angst – nur eine dumpfe Leere.

Die kühle Brise der Sommernacht streifte mein Gesicht. Es war ein angenehmes Gefühl, fast beruhigend. Die Stille der Straße war ein merkwürdiger Kontrast zu dem Chaos, das ich hinter mir ließ.

Doch dann hörte ich es. Aus dem Haus, das einst mein Zuhause gewesen war, drangen Laute, die ich nie vergessen würde. Kehlige Schreie, dumpfes Poltern, das Splittern von Glas – und schließlich ein furchtbarer Schmerzensschrei. Sabine. Ihr Leid durchdrang die Nacht, und ich wusste, dass sie gerade von dem, was einst meine Familie gewesen war, bei lebendigem Leib verschlungen wurde. Sabines Wehklagen erstickte in einem Gurgeln. Es war nicht schnell. Nicht wie bei meinen Eltern, nicht wie bei Lukas.

Sabine kämpfte.

Ich hörte das Kratzen von Fingern auf Holz, das verzweifelte Winden, das Brechen von Knochen. Ich hörte, wie etwas auf den Boden klatschte – eine Hand? Ein Arm? Ich wusste es nicht. Wollte es nicht wissen.

Doch dann hörte ich nichts mehr.

Nur noch das feuchte, ekelerregende Geräusch von reißendem Fleisch. Von Schlucken, von mahlenden Zähnen.

Ich zitterte.

Mein Zuhause – das Haus, in dem ich aufgewachsen war, in dem ich Weihnachten gefeiert hatte, in dem ich mit Max gestritten hatte, in dem ich gedacht hatte, ich sei sicher – war nun eine Höhle des Grauens. Ein Schlachthaus.

Und alle, die ich liebte, waren darin gefangen.

Nein.

Nicht gefangen.

Tot.

Wegen mir.

Ich wankte rückwärts, meine Beine schwer wie Blei. Ich wollte zurück – zurück in das Chaos, mich Max gegenüberstellen, meine Eltern aufwecken, Lukas retten, Sabine aus diesem Albtraum befreien – doch ich wusste, dass es zu spät war.

 

Ich rannte.

Rannte und rannte, während das Haus hinter mir in der Dunkelheit verschwand. Während die Geräusche von Kauenden, Mahlenden, Schluckenden in der Nacht verhallten.

Ich rannte, ohne zurückzusehen.

Denn es gab nichts mehr, wohin ich hätte zurückkehren können.

 

Zuerst war es nur Panik. Reiner Überlebensinstinkt, mein Körper gehetzt von Adrenalin und Angst. Meine Beine schmerzten, meine Lunge brannte – doch ich konnte nicht stehen bleiben. Die Dunkelheit der Nacht umfing mich, die Straßen der Stadt verschwammen zu Schatten und flackernden Ruinen, zurückgelassene Autos, geborstene Fenster, leere Gebäude, in denen niemand mehr atmete.

⚜⚜⚜

Die ersten Stunden waren ein einziger, fiebriger Rausch. Ich spürte den Hunger, der in mir nagte, doch das war nichts gegen meine Angst. Ich raste durch verlassene Straßen, über Asphalt, durch schmale Gassen, an verbarrikadierten Häusern vorbei.

Die Stadt wurde kleiner hinter mir. Das Chaos verblasste.

Der Asphalt wich Erde, der Gestank von Rauch und Blut verschwand.

Ich lief weiter.

Es war still hier, kein Knurren aus der Ferne. Keine Schreie.

Nur das Geräusch meiner Füße, die über feuchte Erde trommelten, durch matschige Feldwege und über hohe Gräser. Die Stadt lag längst hinter mir, und die Wiesen waren endlos, eine weite, dunkle Fläche, durchzogen von sanften Hügeln.

Der Wind wehte über die Felder, ließ die Halme tanzen. Ich fühlte ihn auf meiner Haut. Kalt. Ich hatte keine Jacke, keinen Schutz gegen die Kälte, doch es störte mich nicht.

Mein Körper war heiß. Brennend heiß.

War das der Infektion geschuldet?

Ich rannte weiter.

Die Bäume ragten über mir auf, als ich endlich den Wald erreichte. Der Boden war feucht, bedeckt von Moos und Laub.

Ich wusste nicht mehr, wie lange ich unterwegs war. Stunden? Tage?

Die Zeit bedeutete nichts mehr.

Meine Beine gehorchten mir inzwischen nicht mehr aus Willenskraft, sondern aus einem animalischen Instinkt heraus. Die Infektion in mir war längst kein lähmender, langsamer Tod mehr – sie war Antrieb, Energie. Eine dunkle Kraft, die mich vorwärtstrieb.

Ich schlief nicht. Ich aß nicht. Ich war nur in Bewegung. Wie ein Geist, der durch die Nacht raste.

Ich dachte nicht nach. Ich konzentrierte mich nur auf den nächsten Schritt. Und den nächsten.

Dann, irgendwann, änderte sich die Luft um mich herum.

Sie wurde salzig. Schwer.

Der Wund wurde stärker, riss an meinen Haaren, trug den Klang von Wellen mit sich.

Ich stolperte aus dem Wald und meine Füße trafen Sand. Feucht und weich, nachgebend unter meinem Gewicht. Vor mir erstreckte sich die Nordsee, eine endlose, graue Fläche, die in der Ferne mit dem Himmel verschmolz.

Der Himmel war weit.

Das Meer war weit.

Kein Mensch. Kein Chaos. Keine Stimmen.

Nur das Rauschen des Wassers, das Kommen und Gehen der Wellen.

Ich blieb stehen. Meine Beine zitterten, mein Körper wollte weiterlaufen, weiterrennen, doch ich ließ mich in den Sand fallen.

Hier war keine Angst mehr. Kein Hunger.

Nur die Freiheit.

Und die Einsamkeit.

Ich war die letzte Überlebende.

 

Der Wind streifte sanft über die Wellen, trug das Salz des Meeres zu mir, ließ meine Haut brennen, als würde die Natur mir sagen wollen, dass ich hier nicht hingehöre.

Ich saß im Sand, meine Knie eng an die Brust gezogen, die Arme um sie geschlungen.

Ich fühlte mich leer.

Nicht müde, nicht erschöpft – Nur wie eine Hülle, ein Schatten dessen, was ich einmal war.

Und ich dachte nach.

Ich dachte an all die Stunden, die ich in meiner Welt verbracht hatte – eine Welt, die jetzt nicht mehr existierte. An die unzähligen Momente, in denen ich stupide durch TikTok gescrollt hatte, während meine Mutter in der Küche das Essen machte. Während Max mit mir reden wollte. Während mein Vater nach Hause kam und sich in sein Arbeitszimmer zurückzog. Während Emma voller Energie, voller Leben war.

Wie oft hatte ich sie ignoriert?

Wie oft hatte ich gedacht: Später. Morgen. Irgendwann.

Doch später kam nie.

Ich hatte immer geglaubt, dass das Leben sich um mich drehen würde, dass all diese Menschen immer da sein würden. Doch jetzt war keiner von ihnen mehr übrig.

Nur ich.

Und was hatte ich noch?

Eine tote Welt.

Die Menschen hatten sich so sehr mit Belanglosem beschäftigt – mit Trends, mit Likes, mit Streitigkeiten, die bedeutungslos waren. Sie hatten sich ablenken lassen, sich selbst betäubt mit Konsum und Hektik, anstatt die Dinge zu sehen, die wirklich zählten.

Familie.

Freundschaft.

Liebe.

Ich erinnerte mich an Max und Lukas. An ihre Liebe, die sie geheim hielten, als wäre sie etwas, das nicht für diese Welt bestimmt war. Doch was zählte die Welt jetzt noch? Was war ihr Stolz jetzt noch wert?

Ich erinnerte mich an Emma. An das letzte Mal, als sie mit mir gelacht hatte. An den Moment, indem ich ihre Anrufe ignorierte, weil ich glaubte, es sei nur wieder ein weiteres Jan-Drama.

Ich erinnerte mich an meine Eltern. An den letzten Morgen, an dem wir zusammen gefrühstückt hatten, als ich mich mehr für meinen Bildschirm als für meine eigene Familie interessierte.

Und jetzt?

Jetzt gab es nicht mehr außer dem Echo dieser Erinnerungen.

Ein Echo, dass immer leiser wurde.

Ich stand auf.

Das Meer war ruhig. Die Wellen kamen und gingen, als hätten sie niemals damit aufgehört, als hätte das Ende der Welt sie nicht im Geringsten berührt.

Ich trat ins Wasser.

Es war kalt, doch das machte mir nichts aus.

Jeder Schritt war leicht, als würde die Last auf meinen Schultern endlich verblassen.

Die Wellen umspielten meine Füße, dann meine Beine, dann meine Hüften. Der Sand wurde weicher unter meinen Füßen, zog mich tiefer in die Umarmung des Meeres.

Ich sah auf. Der Himmel war weit, unendlich. So wie das Wasser.

Und als das Meer über mir zusammenbrach und die Luft aus meinen Lungen entwich, war mein Gedanke nicht voller Reue.

Er war eine leise, fast sanfte Erkenntnis.

„Schätzt, was ihr habt, solange ihr es habt.“

Und dann war da nichts mehr.

Nur das Echo.

 

geschrieben von Chrizzwhatever Creepypasta

 

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