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Zeus

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Schon zahlreiche Begegnungen liegen in der Vergangenheit zwischen Ryan und seinem Therapeuten. Es ging um Ängste, um Depressionen, um Panik. Aber bei diesem Treffen möchte sich Ryan etwas von der Seele reden. Es ist viel Zeit vergangen, seit dem einen Sommer, der alles veränderte. Der Sommer, der den Beginn von Ryans Krankheit darstellte. Schon seit Jahren ist Ryan bei Dr. Ben in Behandlung. Die Therapie scheint Erfolge zu erzielen, denn Ryan redet inzwischen offen über sein Trauma. Noch vor 2 Jahren zitterte er, als er von dem Erlebten berichtete. „Ryan, wie geht es dir heute?“, fragt Dr. Ben zu Beginn der Therapiestunde. „Eigentlich ganz gut, ich hatte eine schöne Woche und habe heute das Bedürfnis, mich wirklich mitzuteilen“, antwortet er dem Therapeuten. Ryan hat über seine Erlebnisse immer nur schwammig erzählt, Er hat nie wirklich ins Detail gegangen, was damals tatsächlich passiert ist. „Heute werde ich alles erzählen“, sagt er mit einem entschlossenen Ton. Sein Therapeut lehnt sich zurück, macht es sich in seinem Sessel bequem und hört aufmerksam zu. Auf seinem Schoß liegt ein Notizblock, auf dem er während der Erzählung immer wieder hastig Notizen macht. Ryan liegt auf der Couch, seine Augen sind geschlossen. Er lässt die Vergangenheit wieder aufleben, taucht tief in die Erinnerungen des damaligen Sommers ein. Die Zeit scheint stillzustehen, als er sich bemüht, die Ereignisse von damals erneut zu erfassen. Seine Stimme ist ruhig, fast sanft, als er beginnt, von seinen frühesten Eindrücken zu berichten. Es ist der Sommer 2013, der erste Sommer, der ihm für immer im Gedächtnis bleiben wird:

Es war das letzte Schuljahr vor dem Abschluss. Die Sonne brannte vom Himmel, wir waren voller Energie und unbeschwert. Wir waren jung, voller Lebenslust, und das ganze Leben lag noch vor uns. Ich blicke gerne auf diese Zeit zurück, auf die Jahre der Jugend, bis zu dem Moment, als die Dunkelheit einbrach. Ich war voller Tatendrang, kam bei den Mädels gut an und hatte eine enge Clique von Jungs an meiner Seite. München war unsere Stadt, und wir eroberten sie mit jeder Menge Abenteuer. Meine Leidenschaft war der Hip Hop – ich träumte davon, Rapper zu werden, und ehrlich gesagt, ich hatte das Gefühl, dass ich das Zeug dazu hatte. Ich hatte ein paar Videos auf YouTube, die bei Freunden, Mitschülern und auch Fremden ziemlich gut ankamen. In der Schule war ich beliebt – vielleicht sogar der beliebteste Junge. Aber ich war auch viel anderes: ein Arschloch. Ich war ein Mobber, der andere schikanierte. Meine Arroganz war völlig außer Kontrolle geraten. Doch als junger Mensch hatte ich noch nicht die Fähigkeit zur Selbstreflexion – ich wollte einfach nur Abenteuer erleben, und genau das taten wir. Wir alle befanden uns noch in der Entwicklung, versuchten, unsere Identität zu finden, ohne zu wissen, dass diese Zeit uns in unvorhersehbare Richtungen führen würde.

Da war dieser eine Junge. Er hieß Lukas Neumann. Er war uncool, schwach, langsam, ein Streber, ein Nerd. Er hatte keinerlei Selbstbewusstsein und für mich war er ein leichtes Opfer. Ich denke, er hatte Angst vor mir. Lukas hatte das Pech, dass ich auch sein Klassenkamerad war. In unserer gemeinsamen Schulzeit habe ich ihn oft gequält. Es kam nicht selten vor, dass ich ihn runtermachte, dass ich ihn schlug und ihn vor anderen vorführte. Meine besten Kumpels Sebastian und Maik haben sich an diesem Mobbing gerne beteiligt. Es war für uns ein wahres Vergnügen, Lukas‘ Kopf in die Toilettenschüssel zu drücken. Was für eine Freude hatten wir daran, ihm Schimpfwörter wie „Spasti“ oder „Schwachkopf“ an den Kopf zu werfen! Rückblickend kann ich kaum fassen, wie viel Spaß wir daran fanden, ihn zu quälen. Ich glaube, Lukas war bisexuell, aber genau wusste ich es nie. Er wirkte auf mich ziemlich feminin, fast schon unmännlich, aber vielleicht waren es auch nur die Vorurteile, die damals in mir steckten. Lukas hatte nie wirklich Chancen bei den Mädchen und es schien, als ob er allgemein wenig Freunde hatte, wenn überhaupt. Ich habe ihn nie mit anderen Jungs zusammen gesehen, immer war er allein. Sein Kleidungsstil war für einen Jugendlichen ungewöhnlich – er trug fast ausschließlich schicke Hemden, manchmal sogar einen Anzug. Es war, als ob er versuchte, viel älter zu wirken als er war. Er hörte auch Musik, die für uns völlig fremd war – alte Stücke aus den 40ern. Und dann gab es noch seine merkwürdigen Hobbys: Er sammelte wertvolle Puppen, was wir alles andere als normal fanden. Lukas war ein ständiges Ziel für uns, eine leicht angreifbare Figur, die uns immer wieder zu Streichen einlud. Wegen ihm mussten meine Kumpels und ich oft nachsitzen, doch die Lehrer begannen irgendwann, wegzusehen. Sie taten nur noch ihre Pflicht, und Lukas war auf sich allein gestellt. Wir gaben ihm den Spitznamen „Zeus“, aber nicht, weil wir ihn bewunderten – ganz im Gegenteil. Wir taten es aus Spott, aus Ironie. Zeus war der mächtige Gott der griechischen Mythologie, und Lukas, nun ja, war alles andere als mächtig.

Kurz nach unseren Abschlussprüfungen für das Abitur organisierten Sebastian, Maik und ich eine Hausparty. Fast die ganze Schule war da. Meine Eltern waren wohlhabend, man kann sagen, sie waren Bonzen. Sie fuhren an dem Abend der Party zu einer beruflichen Weiterbildung. Wir lebten in einem ziemlich großen Haus mit einem weitläufigen Garten und einem Swimming-Pool – der perfekte Ort für ausgelassene Partys. Unsere Feiern waren legendär, berüchtigt unter meinen Mitschülern, und sie fanden immer wieder ihren Weg in die Gespräche. Drogen, Alkohol und jede Menge Spaß gehörten zum festen Bestandteil dieser Nächte. Lukas war bei diesen Partys nie wirklich ein Thema, und wir hatten auch nicht wirklich damit gerechnet, ihn dabei zu haben. Die Party begann gegen 19:00 Uhr, der DJ legte auf, und die Musik brachte die Stimmung schnell zum Kochen. Alle hatten gute Laune, und ich glaube, schon nach einer Stunde waren die ersten ordentlich betrunken. Wir tranken auf eine Art, die alles andere als normal war – aber damals interessierte uns das nicht. Wir wussten es einfach nicht besser.

Gegen 22:00 Uhr klingelte es plötzlich an der Tür, und zu unserer Überraschung stand Vanessa davor. Und sie hatte Lukas im Schlepptau. Natürlich waren wir überrascht – ich wusste, dass Lukas eine Schwäche für Vanessa hatte, aber das war noch nie so offensichtlich gewesen. Alle Jungs fanden sie damals unglaublich attraktiv, und jeder wollte irgendwie ihre Aufmerksamkeit. Es schien, als hätten Vanessa und Lukas eine Art Verbindung. Sie sprachen freundlich miteinander, fast schon zärtlich. Maik und Sebastian konnten ihre Blicke nicht von den beiden abwenden. Es war für alle eine Sensation – Lukas und ein Mädchen, das hatten wir so noch nie gesehen! Er trank sogar ein bisschen Alkohol, was für ihn ungewöhnlich war, und schien endlich etwas lockerer zu werden. Lukas lachte viel, was wir von ihm nicht gewohnt waren.

Als der DJ sein Set beendete und die Party langsam an Schwung verlor, entschlossen wir uns, aus Neugier ein paar Videokassetten in den Recorder zu legen. Mein Vater hatte in seiner Jugendzeit ein merkwürdiges Hobby entwickelt – er besaß sogenannte Gore-Tapes, auf denen echte Gewalt dokumentiert war. Diese Tapes waren auf seinem Schulhof kursiert. Sie waren voll von grausigen Szenen: ein Mann, der zu Tode geprügelt wurde, oder eine Frau, die gesteinigt wurde. Es war nichts für jeden, aber ich fand es irgendwie faszinierend.

Doch unter all diesen verstörenden Aufnahmen gab es eine, die völlig unspektakulär wirkte. Es zeigte einfach einen Tisch in einem dunklen Raum. Auf dem Tisch stand ein leeres Glas. Dann, ganz langsam und ohne ersichtliche Erklärung, begann das Glas zu schweben – es erhob sich in die Luft, ohne dass jemand es berührte. Nach einer halben Minute ließ es sich wieder sanft auf den Tisch zurückfallen. Und das war es. Keine Musik, keine dramatischen Schnitte. Das Tape war plötzlich zu Ende, als wäre nichts gewesen. Ich fragte mich, warum jemand so etwas langweiliges filmen würde, da sah ich Vanessa wie sie Lukas auf den Mund küsste. Mich überkam in diesem Moment die Eifersucht und sehr böse Gedanken setzten ein: “Wie konnte ein Loser wie er an ein so schönes Mädchen kommen?” Für mich war das eine verkehrte Welt. Ich betrachtete Lukas als ein dummes Mobbingopfer, ich verachtete seine Art und Weise und jetzt landete er auf einmal bei Vanessa, bei der ich schon immer landen wollte. Das musste ich verhindern, das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Ich nahm das Tape aus dem Recorder und knipste den Fernseher aus. Im Anschluss machte ich die große Musik-Anlage im Wohnzimmer an, woraufhin die Party wieder ins Laufen gebracht wurde. Die Stimmung war wieder ausgelassen und die Drinks flossen in Strömen, als mir eine ziemlich fiese Idee kam. Ich ging zu Sabrina, einer guten Freundin aus meiner Clique. Sie mochte mich, das wusste ich, und irgendwie hatte ich das Gefühl, sie hatte ein Auge auf mich geworfen. In diesem Moment wurde mir ein Plan klar. Ich wollte, dass sie zu Lukas ging und ihm vorgaukelte, sie hätten eine Beziehung gehab und er habe sie betrogen.

Sabrina schien das Spiel mitzumachen und stimmte ein, sich auf meine Idee einzulassen. Sie machte sich auf den Weg zu den beiden, und schon bald begann sie, Lukas eine Szene zu machen, die ihn sichtlich aus der Fassung brachte. Sie brüllte ihn an, beschuldigte ihn und behauptete, sie hätten eine tiefgehende Beziehung gehabt, die er jetzt einfach zerstört hatte. Sie warf ihm vor, mit anderen Mädchen geschlafen zu haben, und dass seine Gefühle für sie bedeutungslos gewesen seien. Natürlich war all das gelogen, aber in diesem Moment interessierte mich nur, wie Lukas reagieren würde. Sabrina, die Lukas kaum kannte und während unserer Schulzeit kein Wort mit ihm gewechselt hatte, spielte ihre Rolle überzeugend.

Vanessa, die sich in der Nähe aufhielt, konnte es kaum fassen. Ihr Gesicht zeigte eindeutig Schock. Sabrina setzte noch einen drauf, indem sie Lukas vor den Augen aller eine gewaltige Ohrfeige verpasste. Es war die perfekte Inszenierung, ein dramatisches Ende für eine Szene, die uns allen irgendwie ein Gefühl von Macht verschaffte. Doch im Nachhinein fragte ich mich, was wir damit eigentlich wirklich erreichen wollten. Währenddessen kamen Maik und Sebastian gar nicht mehr aus dem Lachen raus. Vanessa rannte fluchtartig in einen anderen Raum des Hauses. Lukas konnte es nicht mehr unterdrücken und musste anfangen, zu weinen. Er befand sich in einem Schockzustand. Er sah zu mir und meinen Kumpels rüber. Lukas schrie uns direkt an: „Warum seid ihr ständig so grausam zu mir? Was habe ich euch je getan?“. So habe ich ihn noch nie gesehen. Heulend rannte er aus meinem Haus, begleitet von dem Gelächter meiner Kumpels und der Partygäste. Es muss schrecklich für ihn gewesen sein. Wir haben ihn lächerlich gemacht. Wir klatschten uns dann auch noch ab, als hätten wir gerade eine starke Leistung vollbracht. In Wirklichkeit, waren wir einfach nur dumme Arschlöcher. Die Party ging dann noch bis 4 Uhr morgens. Ich versuchte mich an Vanessa ranzumachen, doch das klappte nicht. Ich denke, sie erkannte, dass ich hinter dieser Aktion steckte. Sie war nicht dumm.

Wenige Tage nach der Feier standen plötzlich zwei Polizisten vor unserer Haustür. Meine Eltern dachten zuerst, ich hätte wieder irgendeinen Mist gebaut, aber diesmal war es anders. Sie fragten nach Lukas. Seit der Party hatte ihn niemand mehr gesehen, und er war nicht nach Hause zurückgekehrt. Mein Herz schlug schneller, während ich den Beamten erzählte, wann Lukas bei uns war und wann er das Haus verlassen hatte. Natürlich verschwieg ich, wie wir ihn gemobbt hatten. Das war mir zu peinlich und unangenehm. Ich war mir sicher, dass Lukas einfach abgehauen war, um eine Pause von allem zu nehmen. Er brauchte vermutlich Zeit, um sich wieder zu fangen.

Doch nach einer Woche gab es immer noch keine Spur von ihm. Die Suche wurde intensiver. Die Polizei, seine Eltern, unsere Mitschüler, die Nachbarn – alle suchten verzweifelt nach Lukas. Plötzlich war er das Gesprächsthema der gesamten Stadt. Sein Gesicht war in den Nachrichten, überall hingen Vermisstenplakate, und sein Name war in aller Munde. Wir machten uns große Sorgen, aber ich kämpfte gleichzeitig mit der Angst, dass herauskommen könnte, wie wir ihn behandelt hatten.

Es dauerte nicht lange, bis das Unvermeidliche geschah. Vanessa ging zur Polizei und erzählte, was in der Nacht der Party vorgefallen war. Sie berichtete von den Mobbing-Attacken, von den Demütigungen und der Szene, die wir ihm inszeniert hatten. Damit wurde unser Verhalten öffentlich. Die Menschen begannen, mich und meine Freunde mit anderen Augen zu sehen. Unser Ruf, den wir uns mühsam aufgebaut hatten, zerbröckelte Stück für Stück. Überall sprachen die Leute über uns – und nicht im Guten. Sie wussten nun, wie wir Lukas während der Schulzeit behandelt hatten. Alles kam ans Licht.

Nach zwei Wochen kam dann die Nachricht, die unsere Welt stillstehen ließ. Lukas wurde in einem abgelegenen Waldgebiet, in einem tiefen See, gefunden. Es war für uns damals klar: Er hatte sich das Leben genommen. Dieser Moment war wie ein Donnerschlag. Alles in mir brach zusammen – meine Coolness, mein Stolz, mein Ruf. Alles, was ich glaubte zu sein, zerfiel zu Staub. Ich wurde mir plötzlich der vollen Tragweite meines Handelns bewusst. Ich hatte dazu beigetragen, dass ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr sah.

Die ganze Stadt war erschüttert. Es herrschte kollektive Trauer, und Lukas‘ Tod überschattete alles. Für mich begann eine düstere Zeit. Meine Eltern sprachen kaum noch ein Wort mit mir. Sie waren enttäuscht und wussten nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Meine Freunde Maik und Sebastian zogen sich immer mehr zurück. Wir konnten uns nicht mehr in die Augen sehen, denn die Schuld lastete auf uns allen wie ein riesiger Schatten. Die einst unzertrennliche Clique zerbrach daran.

Auch in der Schule war ich nicht mehr der Gleiche. Die Leute mieden mich, wechselten die Straßenseite, wenn sie mich sahen. Einige beschimpften mich lautstark, andere spuckten mir ins Gesicht. Die einstige Bewunderung, die ich genossen hatte, hatte sich in Verachtung verwandelt. Und ganz ehrlich: Ich wusste, dass ich es verdient hatte. Die Schuldgefühle fraßen mich von innen auf. Jeder Tag war ein Kampf gegen die Erkenntnis, dass ich einen Menschen auf dem Gewissen hatte.

An unserer Schule wurde einige Zeit später eine Trauerfeier für Lukas abgehalten. Sie fand am Abend in der Turnhalle statt, und fast alle waren gekommen: Lehrer, Schüler, Nachbarn und sogar Menschen aus den umliegenden Orten. Getrieben von meinen Schuldgefühlen beschloss ich, ebenfalls hinzugehen. Rückblickend war das ein großer Fehler. Jeder dort wusste, wer wir waren – wer ich war. Sie wussten, dass meine Freunde und ich die Mobber waren, die Lukas ins Verderben getrieben hatten.

Sebastian und Maik blieben an diesem Abend fern. Sie hatten nicht den Mut, sich der Wahrheit zu stellen. In der Turnhalle war ein Schrein für Lukas aufgebaut, geschmückt mit Kerzen und Blumen, die von der Schulleitung verteilt wurden. In der Mitte stand ein gerahmtes Bild von ihm, ein Foto, das ihn vor drei Jahren zeigte – jung, unschuldig und voller Leben. Ich konnte den Anblick kaum ertragen. Es fühlte sich an, als würde sein Blick mich durchbohren, als würde er mich stumm fragen, warum ich ihm das angetan hatte. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich kämpfte verzweifelt gegen das aufsteigende Gefühl der Schuld an.

Ich überlegte kurz, ob ich eine der Blumen an seinen Schrein legen sollte, doch dann sah ich seine Eltern. Ihre Gesichter waren von Trauer gezeichnet, ihre Augen rot und verheult. Die Verzweiflung und der Schmerz in ihren Blicken trafen mich wie ein Schlag. In diesem Moment begriff ich die volle Tragweite meines Handelns. Ich hatte nicht nur Lukas zerstört, sondern auch das Leben seiner Familie. Ihre Trauer spiegelte meine Schuld wider, und ich fühlte mich wie das Monster, das ich tatsächlich geworden war.

Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ohne ein Wort verließ ich die Trauerhalle und flüchtete auf die Jungen-Toilette. Dort sperrte ich mich in einer der Kabinen ein und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Tränen strömten über mein Gesicht, während ich in der engen Kabine saß – nicht nur um zu weinen, sondern zu schluchzen, wie ein kleines Kind. Der Schmerz kam mit voller Wucht. Alles, was ich so lange verdrängt hatte, brach in diesem Moment aus mir heraus.

Zum ersten Mal erkannte ich, was ich angerichtet hatte. Ich hatte einen jungen Menschen in den Tod getrieben, weil ich eifersüchtig war, weil ich arrogant und rücksichtslos war. Meine Selbstsucht hatte Lukas zerstört. Ich hasste mich dafür, mehr als je zuvor. Jede Erinnerung an die Qualen, die wir ihm zugefügt hatten, bohrte sich wie ein Dolch in mein Herz. Ich bereute jede Sekunde, jede gemeine Tat, jedes spöttische Wort. Aber Reue konnte nichts mehr ändern. Lukas war tot – für immer.

Ich sank auf den kalten Boden der Kabine und schrie meinen Schmerz hinaus. Zum Glück war ich allein. Niemand sah mich in diesem Moment der völligen Zerrissenheit. Aber genauso fühlte ich mich auch: alleine. Alleine mit meiner Schuld, alleine mit dem Wissen, dass ich ein Menschenleben zerstört hatte. Lukas war fort, und ich musste mit dieser Last weiterleben – ein Leben, das sich von diesem Moment an nie wieder wie das gleiche anfühlen sollte.

Als ich mich wieder beruhigt hatte, entschied ich mich, die Kabine zu verlassen. Meine Beine fühlten sich schwer an, als wären sie aus Blei. Kaum hatte ich den Riegel der Tür gelöst, hörte ich plötzlich ein Geräusch. Es war ein leises, rhythmisches Tippen, das direkt aus der Kabine neben mir zu kommen schien. Es klang so, als würde jemand mit den Fingern sanft gegen die dünne Zwischenwand klopfen. Ich hielt den Atem an. Mein Herz begann schneller zu schlagen.

Wie konnte das sein? Ich war doch alleine. Das wusste ich sicher. Ich hatte die Toiletten betretet, als niemand sonst da war. Langsam drückte ich die Tür wieder zu, als ob sie mich vor dem, was draußen war, schützen könnte. Doch das Tippen wurde lauter. Es klang jetzt hektischer, aggressiver, wie das nervöse Trommeln eines ungeduldigen Menschen. Ich schluckte schwer. Mein Kopf spielte Szenarien durch: War jemand hereingekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte? War es ein Mitschüler? Oder vielleicht… jemand, der Rache wollte? Ein Angehöriger von Lukas, der mich zur Rechenschaft ziehen wollte? Der Gedanke war beängstigend.

Ich atmete flach, die Luft schien in der engen Kabine noch stickiger zu werden. Das Tippen steigerte sich zu einem lauten Poltern, das mich vor Schreck fast aufspringen ließ. Es klang, als würde jemand mit der Faust gegen die Zwischenwand schlagen. Mit jedem Knall vibrierte die Wand stark. Ich konnte spüren, wie die dünne Wand mit jedem Schlag bebte. Das war kein einfacher Streich mehr. Das war… Wut. Aber wer war da? Wer tat das? Die Panik kroch in mir hoch, heiß und lähmend. Mein Verstand raste, ich wollte nicht herausgehen, doch gleichzeitig hielt ich es keine Sekunde länger in der Kabine aus. Mit einem Ruck riss ich die Tür auf und stürzte ins Freie. Meine Augen huschten zur Kabine nebenan. Sie war leer…. Kein Mensch war darin. Die Tür stand angelehnt, genauso, wie ich sie zuvor gesehen hatte.

Das Poltern hörte abrupt auf. Stille legte sich über den Raum, eine Stille, die so erdrückend war, dass sie mir in den Ohren schmerzte. Ich starrte auf die Zwischenwand. Gerade noch hatte sie unter den Schlägen gebebt, jetzt wirkte sie unberührt, als wäre nichts geschehen. Mein Kopf drehte sich. Hatte ich das gerade… geträumt? War das alles nur eine Einbildung gewesen? Aber es hatte sich so echt angefühlt. Ich konnte noch immer das Vibrieren der Wand in meinen Fingerspitzen spüren.

„Seit wann habe ich Halluzinationen?“, dachte ich, während ich unsicher einige Schritte zurücktrat. Mein Blick fiel auf den Spiegel über dem Waschbecken. Mechanisch ging ich darauf zu, wie jemand, der sich davon überzeugen muss, noch real zu sein. Im Spiegel sah ich mein eigenes Gesicht: blass, verschwitzt, die Augen rot und glasig. Ich drehte den Wasserhahn auf und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Das Gefühl war angenehm, aber es half nicht gegen das Dröhnen in meinem Kopf. Meine Hände zitterten, als ich sie unter dem Wasser hielt. Ich zwang mich, ruhig zu atmen. „Es ist nur der Stress“, murmelte ich leise zu mir selbst, als ob ich die Worte glauben könnte. Ich verließ das Jungen-WC. Ich wollte hier nur noch weg und verließ auch unauffällig das Schulgelände.

Die erste Nacht, in der die Angst mich wirklich zu greifen bekam, werde ich nie vergessen. Es war, als hätte sich das Gewicht meiner Schuld in etwas Lebendiges verwandelt, das mich heimsuchte. Schlaf war unmöglich. Mein Kopf war ein Labyrinth aus quälenden Gedanken und endlosen Fragen. Wie konnte ich so tief sinken? Wie konnte ich das jemals wieder gutmachen? Ich lag da, regungslos, und starrte die Decke an, während meine Emotionen wie ein wütendes Meer in mir tobten. Das blaue Licht meiner Lampe war meine einzige Begleitung. Es tauchte mein Zimmer in ein fahles, geisterhaftes Leuchten und ließ die Schatten an den Wänden tanzen. Ich hielt es für beruhigend, wenigstens alles im Blick zu haben. Doch in dieser Nacht hatte das Licht etwas Beklemmendes. Es war, als würden die Schatten nicht nur durch das Licht entstehen, sondern durch etwas, das sie lenkte.

Während ich in meinen quälenden Gedanken versank, hörte ich plötzlich ein Geräusch. Es war leise, kaum wahrnehmbar, doch es schnitt wie ein scharfer Windstoß durch die Stille. Zunächst klang es wie ein Hauch, wie das Rascheln von Blättern, das sich unmerklich durch den Raum zog. Ich hielt die Luft an und lauschte. Da war es wieder – und dann hörte ich es klar und deutlich: eine Stimme. Es war ein Flüstern, kaum mehr als ein Hauchen, doch ich konnte die Worte verstehen. Es sprach meinen Namen:

„Ryan… Ryan… Ryan…“

Die Stimme war so leise, dass ich nicht sagen konnte, woher sie kam. Sie schien direkt neben meinem Bett zu sein, und doch… war da niemand. Sie rief meinen Namen erneut, beharrlich, wie ein Summen, das sich in meinen Kopf fraß.

„Ryan… Ryan… Ryan…“

Mein Körper verkrampfte sich, mein Herzschlag raste, und meine Kehle wurde trocken. „Hallo?“ brachte ich mit brüchiger Stimme hervor. „Ist da jemand?“ Meine Worte verschwanden im Raum, ohne Antwort. Nur das Flüstern blieb, stetig und endlos. Ich konnte es nicht ertragen. Ich schob die Decke zur Seite und stand auf, meine Füße berührten den kalten Boden. Das Zimmer war still, doch die Stimme war da – immer da. Ich ging um mein Bett herum, sah unter den Rahmen, doch da war nichts außer Dunkelheit. Ich öffnete meinen Schrank und zog die Türen auf, als erwartete ich, dort jemanden zu finden. Nichts. Vor der Zimmertür blieb ich stehen und lauschte. Aber alles, was ich hörte, war mein eigener Atem – und das Flüstern.

„Ryan… Ryan… Ryan…“

Ich öffnete das Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Die Straße war leer, die Häuser dunkel. Die Welt schien zu schlafen, doch ich fühlte mich beobachtet, als würde jemand aus der Dunkelheit heraus direkt in meine Seele starren. „Ist hier jemand?“ rief ich in die Stille. Meine Stimme hallte in der leeren Straße wider. Keine Antwort. Ich schloss das Fenster wieder und lehnte mich schwer dagegen. Mein Kopf drehte sich, und ich spürte, wie sich eine kalte Schweißschicht auf meiner Stirn bildete. Wieder legte ich mich hin, doch kaum berührte mein Kopf das Kissen, begann es von Neuem: „Ryan… Ryan… Ryan…“

Ich sprang erneut aus dem Bett und durchsuchte mein Zimmer wie ein Wahnsinniger. Ich öffnete jede Schublade, schaute hinter jedes Möbelstück, rüttelte an der Tür. Nichts. Absolut nichts. Das Zimmer war leer, und doch füllte das Flüstern den Raum. Es schien, als würde die Luft selbst meinen Namen formen.

Die Stunden vergingen, doch ich konnte das Geräusch nicht abschütteln. Irgendwann ließ ich mich wieder ins Bett sinken, völlig erschöpft. Das Flüstern hörte nicht auf, aber meine Kräfte verließen mich. Mit jedem Atemzug spürte ich, wie ich in den Schlaf hinabglitt, während die Stimme weiter meinen Namen rief. Sie begleitete mich in meine Träume – oder besser gesagt, in einen ruhelosen, alptraumhaften Zustand, der wie ein Echo dieser unheimlichen Nacht war.

Am nächsten Morgen musste ich mich mit einem unangenehmen Tinnitus rumärgern. Das musste wohl von dem ganzen Stress gekommen sein. Ich versuchte Sebastian und Maik zu erreichen. Ein Gefühl von Erleichterung kam auf, als Sebastian endlich an sein Handy ging. Maik war nicht erreichbar. „Hey Bro, ich will mich mit dir treffen. Ich brauche jemanden zum Reden. Du weißt, über was“, sagte ich zu meinem Kumpel. Sebastian erklärte mir, dass er mich sowieso an diesem Tag anrufen wollte, denn er musste mir dringend etwas erzählen. Wir verabredeten uns beim Bäcker um die Ecke. Dort angekommen, musste ich meinen Kumpel lange umarmen, was ihm guttat. Für uns beide war es auch eine schwere Zeit. In der Filiale erlebten wir eine ziemlich unangenehme Situation. „Für euch gibt es hier nichts!“, maulte die Verkäuferin an der Theke uns an. Sie hatte einen wütenden Blick und war gar nicht darüber erfreut, uns hier zu sehen. Sebastian und mir blieb die Spucke weg. Wir fanden keine passenden Worte in dieser Situation. Erst als ihr Vorgesetzter sie mehrfach ermahnte, uns zu bedienen, bekamen wir ein paar Brötchen und etwas Kaffee. Natürlich war uns beiden verständlich, warum die Verkäuferin so unfreundlich zu uns war.

Im separaten Raum des Ladens nahmen wir an einem Tisch Platz. Es waren keine anderen Kunden zu sehen. Gegessen und Getrunken haben wir an diesem Morgen aber nicht wirklich. Ich trank ein klein wenig von dem Kaffee und ich glaube, ich biss einmal ins Salami-Brötchen rein. Wir hatten einfach keinen Appetit. „Ich kann dir nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Manchmal habe ich Angst, manchmal bin ich traurig und manchmal möchte ich mir selbst ins Gesicht schlagen“, sagte ich zu Sebastian. Darauf ging er aber gar nicht ein. Er stelle mir sofort eine Frage: „Erlebst du auch diese Dinge?“ Interessiert neigte ich mich nach vorne und blickte Sebastian ernst in seine Augen: „Du meinst die Stimmen, die Geräusche?“ Sebastian antwortete verängstigt: „Ja“. „Aber hast du auch diesen Schatten gesehen und dieses Gesicht im Fenster? Hast du auch nachts auf der Straße das Gefühl, dass du verfolgt wirst? Und bekommst du manchmal Luftprobleme, als wenn dich jemand würgt?“ Diese Fragen von meinem Kumpel machten mir Angst. Das, was ich erlebte, schien auch ihn zu betreffen. „Sebastian, ich habe Schuldgefühle, ich halte es kaum noch aus, ich glaube, dass wir einfach verrückt werden“, erzählte ich ihm verzweifelt. Mein Kumpel lehnte sich zurück: „Maik hat es auch gesehen!“ In dieser Situation tränten meine Augen. Sebastian erklärte mir, dass er seit Tagen keinen Kontakt mehr zu Maik herstellen konnte. Unser Kumpel ging nicht mehr ans Handy. Er beschrieb auch derartige Phänomene, die ihn tyrannisierten. Aber bei ihm schien es noch heftiger gewesen zu sein. Maik hatte nicht nur Verfolgungsängste und sah Schatten oder hörte Geräusche. Er berichtete auch davon, dass er von einer unsichtbaren Person angegriffen wurde. Maik hatte Kratzspuren im Gesicht. Er hatte oft das Gefühl, dass ihn jemand in den Magen treten würde. Aber nie war jemand zu sehen. So, als würde eine unsichtbare fremde Kraft ihn verletzen wollen. „Ich mache mir große Sorgen um ihn“, sagte Sebastian.

„Bitte begleite mich zu seinem Haus. Ich habe Angst“, sprach Sebastian weiter. Natürlich wollte ich ihm helfen und begleiten. Wir beide waren mit der Situation völlig überfordert. Noch vor wenigen Wochen waren wir die coolen Jungs von der Schule, jetzt fühlten wir uns wie ein Häufchen Elend. Kurz bevor wir uns auf den Weg machen wollten, vernahm man im Verkaufsraum eine laute Frauenstimme. „Habt ihr auch schon gehört, was passiert ist?“, schrie eine Frau. Sebastian und ich gingen zur Theke rüber und trafen dort auf eine hysterische ältere Dame. Ihre Nachricht schockierte uns: „Da wurde ein Junge in unserer Nachbarschaft getötet!“ Vor Schreck verschluckte ich mich sogar. Wir hatten die böse Vorahnung, dass es sich vielleicht um Maik handeln könnte. Darum nahmen Sebastian und ich unsere Fahrräder in die Hand und radelten sofort los. Bei Maik am Haus angekommen, sahen wir unzählige Polizisten und auch die Presse am Straßenrand stehen. Maiks Mutter weinte laut. Es waren leider alle Anzeichen vorzufinden, dass es sich bei dem getöteten Jungen um unseren Kumpel Maik handelte. Wir standen mit unseren Fahrrädern vor seinem Haus und wussten nicht mehr, wohin mit uns. Sebastian schrie: „Nein, nein, lass es nicht wahr sein!“ Als Maiks Vater uns dadurch bemerkte, rannte er sofort zu uns: „Wisst ihr etwas? Wisst ihr, wer es auf unseren Sohn abgesehen hat?“ Wir schüttelten nur den Kopf. Ein Beamter nahm Maiks Vater zu Seite und versuchte ihn zu beruhigen, was verständlicherweise ein schwieriges Unterfangen war. Wir durften den Tatort nicht betreten, aber noch am selben Tag wurden wir von der Polizei auf der Dienststelle befragt. Einzeln hat man uns ins Verhörzimmer hereingerufen.

Ein Albtraum, es war wie ein Albtraum! Jetzt war nicht nur Lukas unseretwegen tot, nun ist auch Maik von uns gegangen. Als ich vor einer Beamtin saß, bemerkte sie schnell, dass ich verstört war. Sie bot mir ein Glas Wasser an, was ich dankend annahm. Es kamen erst die typischen Fragen: „Hattet ihr in den letzten Tagen Kontakt zu Maik, was wolltet ihr vorhin bei seinem Haus?“ Ich beantwortete alles wahrheitsgemäß und erzählte von Lukas, von unseren Schuldgefühlen, von den Phänomenen. Dann fragte mich die Beamtin etwas, wobei mir fast das Herz stehen geblieben ist: „Sagt dir der Name „Zeus“ etwas?“ Ich riss meine Augen weit auf und konnte kaum glauben, was die Polizistin mich da gerade fragte. „Wieso“, antwortete ich damals mit zittriger Stimme. „Weil jemand diesen Namen auf Maiks Stirn geritzt hat“…….

Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, was dann geschah. Ich habe wohl diesbezüglich einen Blackout. Diese Information hatte mich so verschreckt, dass ich diese grauenhafte Situation verdrängt haben muss. Ein erster gruseliger Gedanke kam auf: Hat sich Lukas gerächt? Ist er der Mörder? Verfolgt sein Geist uns? Denn sein Spitzname war „Zeus!“ Vielleicht hatte sich Maik auch umgebracht und diesen Namen selbst auf die Stirn geritzt. Aber die Polizei sprach klar von einem Mord, nicht von einem Suizid. Die Beamten nahmen mir und Sebastian noch Fingerabdrücke ab.

Als wir beide das Polizeirevier wieder verließen, setzten wir uns erstmal auf eine Bank in der Nähe. Fünf Minuten blickten wir in die Leere…. bis Sebastian den Namen „Zeus“ aussprach. Ich sah ihn mit Grauen an und fragte: „Kann es sein…. Nein, das ist nicht möglich. Lukas ist tot! Lukas ist tot! Er hat sich umgebracht!“ Mein Kumpel fasste mich an die Schulter und sagte: „Ich glaube nicht an Geister, aber wir können nicht leugnen, was passiert ist“. Ratlosigkeit kam auf. Wir waren noch fast Kinder und doch war ein Gefühl eines baldigen Todes da. Wir beschäftigten uns nicht mehr mit der Frage, ob Lukas uns wirklich heimsuchte. Für uns wurde das zu einer Realität und zu einer bitteren Tatsache.

Schlagstöcke, Baseball-Schläger und Messer gaben uns Sicherheit. Wir bereiteten uns darauf vor, dass Lukas wieder zuschlägt. Als Sebastian und ich in meinem Zimmer ruhten, bekamen wir unerwartet einen Anruf. Es war Sabrina, die weinend am Handy fragte, ob ich es denn sei. Sie bekam von einer Mitschülerin, mit der ich mal was hatte, meine Nummer. Auch Sabrina war Opfer von diesen merkwürdigen Phänomenen. Ich lud sie zu mir ein und nach weniger als einer Stunde kam sie bei mir schon an. Nun waren wir zu dritt, zu dritt mit den gleichen Problemen. Wie aus einem Horrorfilm klang ihre Erzählung. Bei ihr fing es ebenso mit Geräuschen und Schatten an. Dann aber kamen Angriffe dazu. Irgendetwas oder irgendjemand kratze ihr ins Gesicht und zog ihr am Haar. Manchmal wachte sie nachts mit einem Schrecken auf, weil jemand ihr ins Ohr schrie. Doch, so wie bei Maik, Sebastian und mir, war niemand zu sehen!

Wir entschieden uns dazu, zusammenzubleiben. Diese Nacht wollte niemand alleine verbringen. Ich musste meinen Eltern nicht Bescheid sagen, es war ihnen inzwischen auch egal, was ich machte. Sie hörten mir nicht mehr zu, wahrscheinlich wollten sie mich auch schnellstmöglich aus dem Haus haben. Wenn ich ihnen erzählt hätte, dass Lukas mich als Geist verfolgen würde, hätten sie mir wahrscheinlich eine reingehauen. Sie hätten gedacht, dass ich mich jetzt in die Opferrolle begeben möchte.

Ich ließ Sabrina und Sebastian in meinem Bett schlafen. Der Fußboden mit einem Kissen unter meinem Kopf wurde mein Schlafplatz in dieser Nacht. So wirklich schlafen konnte ich aber sowieso nicht. Wir ließen den Fernseher laufen, der uns ein bisschen Ablenkung verschaffen sollte. Das klappte auch ganz gut. Die Nacht hatte eine unheimliche Stille, die sich wie ein schwerer Schleier über das Haus legte. Meine Freunde waren längst eingeschlafen, ihr gleichmäßiges Atmen erfüllte den Raum. Doch ich konnte nicht zur Ruhe kommen. Ich musste pinkeln und mein Körper verlangte dringend nach Erleichterung. Ich musste auf die Toilette.

Das Bad lag nicht weit von meinem Zimmer entfernt, und ich beschloss, den kurzen Gang dorthin schnell hinter mich zu bringen. Der Flur war dunkel, nur ein schwaches Licht aus einer Straßenlaterne draußen fiel durch die halb geschlossenen Rollläden.

Ich trat ins Badezimmer und schloss die Tür hinter mir, ließ sie jedoch einen Spalt offen – warum, wusste ich nicht genau. Vielleicht wollte ich mich weniger allein fühlen. Das kalte Licht der Deckenlampe flackerte kurz, bevor es den Raum in ein steriles, unwirkliches Licht tauchte. Ich stellte mich ans Pissoir und versuchte, mich zu entspannen. Mein Kopf lehnte an der Wand, meine Augen geschlossen. Doch dieses Gefühl… Es kroch mir wie ein kalter Hauch den Nacken hinauf. Ein unbestimmter Drang zwang mich, meinen Blick auf den Spiegel zu richten, der schräg über dem Waschbecken angebracht war. Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Da war etwas im Spiegel. Etwas, das nur im Spiegel zu sehen war – und was auch immer es war, es gehörte nicht in diese Welt. Mein Atem stockte, meine Beine wurden weich, doch ich konnte nicht wegsehen. Im Spiegel stand Maik. Aber es war nicht Maik, wie ich ihn kannte. Sein Gesicht war blutüberströmt, seine Kehle weit aufgerissen, als hätte jemand sie brutal aufgeschlitzt. Dunkles, dickes Blut quoll aus der Wunde und tropfte über seine Brust. Sein Mund stand weit offen, als würde er vor Schmerzen schreien, doch kein Ton war zu hören. Seine Augen – weit aufgerissen, voller Panik und Schmerz – starrten direkt in meine.

Dann sah ich es. Es war eingeritzt in seine Stirn, tief und grob, als hätte jemand es mit einem rostigen Messer hineingekratzt: ZEUS. Der Name war rot und geschwollen, die Wunden noch frisch. Das Blut sickerte langsam an den Buchstaben entlang, und es wirkte, als ob die Schrift pulsierte. Zeus. Lukas‘ Spitzname.

Ein keuchender Schrei brach aus meiner Kehle, und ich stolperte rückwärts. Meine Beine gaben nach, und ich fiel mit heruntergelassener Hose zu Boden. Mein Kopf schlug hart auf die kalten Fliesen, und ich spürte einen brennenden Schmerz. Blut lief warm und klebrig von einer Platzwunde an meiner Stirn, doch in diesem Moment war mir das völlig egal. Ich rappelte mich hoch, die Panik in mir wie ein reißender Sturm. Als ich in den Spiegel blickte, war Maik verschwunden. Aber der Schrecken war nicht vorbei. Ich zog hastig meine Hose hoch, meine Hände zitterten so sehr, dass es fast unmöglich war, und ich stolperte aus dem Badezimmer.

Kaum war ich draußen, fiel mein Blick auf das Ende des Flurs. Dort, in der Dunkelheit, stand eine Gestalt. Sie war kaum mehr als ein Schatten, schemenhaft und unklar, doch es war eindeutig jemand da. Die Figur war reglos, außer einer einzigen Bewegung: Sie winkte mir. Langsam, es war ein stummes Zeichen. Es war keine freundliche Geste. Es war eine Einladung – oder eine Warnung.

Meine Gedanken rasten. Es konnte nicht meine Mutter oder mein Vater sein. Diese Gestalt war zu groß, zu düster, und sie wirkte… falsch. Etwas an ihr war unnatürlich, und mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich bemerkte, dass ihre Bewegungen nicht ganz menschlich wirkten. Die Hand, die mir zuwinkte, schien aus einem seltsamen Winkel zu kommen, fast so, als hätte sie mehrere Gelenke, die sich in unheimlichen Winkeln bogen.

Ich wich einen Schritt zurück, meine Kehle war trocken, und ich konnte keinen Laut herausbringen. Die Gestalt bewegte sich nicht, sie stand einfach nur da, winkte weiter, und ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief. Dann, ganz langsam, begann sie auf mich zuzukommen. Schritte hörte ich nicht, nur ein seltsames, schleifendes Geräusch, als würde sie sich über den Boden ziehen. Die Dunkelheit schien mit ihr zu kommen, als ob sie das Licht verschluckte, das den Flur sonst erhellte.

In diesem Moment wusste ich nur eins: Ich musste weg. Mit einem letzten, panischen Blick auf die dunkle Gestalt drehte ich mich um und rannte. Doch ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas hinter mir war.

Ich lief gehetzt in mein Schlafzimmer zurück und weckte Sebastian und Sabrina auf. Mein Erlebnis versetze sie in Panik. „Ich glaube, Lukas ist hier!“, sagte mein Kumpel aufgeregt. Plötzlich ging die Tür hinter uns auf, die ich vorher geschlossen hatte, aber niemand kam in den Raum. Wir drei schauten verängstigt und verstört in der Vorahnung dorthin, dass gleich etwas schreckliches passieren wird. Als ich versuchte aus dem Raum zu rennen, knallte plötzlich die Tür zu und jemand verschloss sie mit dem Schlüssel auf der anderen Seite, die ungewöhnlicherweise dort angebracht war. Vor lauter Grauen liefen wir in die Ecke meines Raumes und hielten unsere Waffen in den Händen. „Lukas, bitte, es tut uns leid. Wir wollten nicht, dass du dich umbringst. Wir haben einen Fehler gemacht, einen dummen Fehler!“, weinte Sabrina. Geräusche und Schritte waren im Raum zu vernehmen. Nur noch mein kleines blaues Licht war an. Ich wollte den Lichtschalter betätigen, aber die Furcht war in diesem Moment zu groß, um auf die andere Raumseite zu gehen. Dann wurde es laut! Es polterte an der Tür, die Schränke wurden aufgerissen. Irgendetwas tobte hier in meinem Zimmer rum! Es wurde still und wir dachten erst, es wäre vorbei, doch vernahmen wir dann eine Stimme, diesmal kein leises Flüstern, sondern eine klare Stimme, die uns unmissverständlich etwas mitteilen wollte: „Habt ihr Angst? Habt ihr Angst vor mir? Ich werde euch in Stücke reißen und eure Seelen fressen“. Wir konnten nicht glauben, was wir da hörten. Mein Kopf wurde schwer. Vor purer Angst und unerträglichem Stress überkam mich fast eine Ohnmacht. „Bitte, bitte, verzeih uns, Lukas! Bitte!“, flehte Sabrina das unsichtbare Wesen an. Sebastian sprang nach vorne und schwang seinen Schlagstock wie ein Wahnsinniger durch die Luft. Doch er schlug ins Leere, traf nichts – oder niemanden, der sichtbar war. Plötzlich wurde er von etwas Unsichtbarem zurückgeschleudert. Der Schlagstock flog wie von Geisterhand aus seinen Händen, krachte gegen die Wand und landete krachend auf dem Boden. Ein Schrei entfuhr ihm, als tiefe, blutige Kratzer wie aus dem Nichts auf seinem Hals auftauchten

„Es beißt mich! Es beißt mir ins Gesicht!“ brüllte er und schlug verzweifelt in die Leere, während er sich das blutende Gesicht hielt. Ich konnte die blanke Panik in seinen Augen sehen. Es war wie ein Albtraum, aus dem man nicht aufwachen konnte. Sabrina, die im Raum war, begann zu schreien, rannte zur Fensterbank und zögerte keinen Moment. Sie sprang durch das Fenster. Ich hörte ihren Aufprall, wie sie schmerzhaft auf dem Boden aufkam, aber sie humpelte sofort weiter, verschwand in die schwarze Nacht. Sie war fort.

Ich blieb zurück, unfähig mich zu bewegen, unfähig zu denken. Mein Körper fühlte sich an, als wäre er eingefroren, meine Augen klebten an dem unvorstellbaren Szenario vor mir. Etwas – etwas, das ich nicht sehen konnte – packte Sebastian und riss ihn zu Boden. Tiefe Kratzspuren zeichneten sich auf seiner Haut ab, als ob scharfe Klauen ihn zerfetzten. Sein Schreien erfüllte den Raum, durchdrang jede Ecke, jede Faser meines Seins.

Dann passierte etwas noch Schlimmeres, etwas, das den Rest meines Verstandes zu brechen drohte. Der Schlagstock, den Sebastian fallen gelassen hatte, hob sich plötzlich vom Boden. Er schwebte in der Luft, wie von einer unsichtbaren Hand geführt. Und dann – mit unvorstellbarer Kraft – begann er auf Sebastians Kopf niederzufahren.

Der erste Schlag ließ ihn verstummen. Doch das war nur der Anfang. Der Stock krachte immer wieder auf ihn herab, mit einer unmenschlichen Wut und Präzision. Blut spritzte in alle Richtungen, als Sebastians Schädel unter den wuchtigen Schlägen zertrümmert wurde. Das Geräusch – dieses dumpfe, widerliche Knacken von Knochen und das nasse Klatschen von Blut – ließ meine Ohren dröhnen. Meine Augen brannten, aber ich konnte nicht wegsehen. Sebastian wurde vor meinen Augen hingerichtet, auf brutalste Art und Weise. Als er schließlich still war, reglos in einer immer größer werdenden Lache aus Blut lag, fiel der Schlagstock lautlos zu Boden. Alles war plötzlich still. Die Luft war kalt und schwer. Ich glaubte, es sei vorbei. Doch dann spürte ich es – einen Atem, warm und feucht, direkt in meinem Gesicht. Etwas, das ich nicht sehen konnte, war nah. Sehr nah.

Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich wagte nicht zu atmen. Dann hörte ich es wieder. Dieses Flüstern. Mein Name. „Ryan… Ryan… Ryan…“ Es war leise, fast zärtlich, aber mit einer bedrohlichen Schwere, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Ich wusste, wer es war. Ich wusste es einfach. Die Schuld wog wie ein Berg auf meiner Brust, und in diesem Moment brach alles aus mir heraus. „Bitte…“, sagte ich mit zitternder Stimme, die kaum mehr als ein Krächzen war. „Bitte töte mich. Ich kann das nicht mehr ertragen. Ich verdiene es. Es ist alles meine Schuld! Alles! Aber bitte, lass Sabrina in Ruhe. Nimm nur noch mich! Ich bin derjenige, der dafür zahlen muss!“

Ich kniff die Augen zusammen, erwartete den Tod, den Schlag, die endgültige Bestrafung. Doch stattdessen fühlte ich etwas anderes – ein eiskaltes, unsichtbares Gewicht, das sich auf meine Schultern legte. Es war, als würde etwas über mir stehen, mich begutachten. Ich zitterte so stark, dass ich kaum noch atmen konnte. Und dann… war da nur noch Stille.

Ich schrie erneut: “Lukas, bitte!“ Da antwortete das Wesen mir mit einer Frage: “Wieso denkst du, dass ich Lukas bin?” Ich hörte daraufhin ein verstörendes tiefes Lachen, kein Lachen wie von einem Menschen. In diesem Gelächter hörte ich einen Wahnsinn, einen tödlichen Wahnsinn. Die Stimme wurde noch klarer und ich vernahm ein paar Sätze: “Ich bin nicht Lukas, aber seine Schreie waren Musik in meinen Ohren”. Erst saß ich wie ein Eisblock da. Denn ich realisierte, dass es sich bei diesem Wesen nicht um Lukas handelte, sondern um seinen Mörder. Umso mehr ich darüber nachdachte, umso wütender wurde ich. Mit einem Schrei aus meiner Kehle und einem Gefühl der Verzweiflung warf ich alle möglichen Gegenstände an die Stelle, wo ich diesen Dämon vermutete. Es waren Flaschen, Messer, ein Stuhl. Dann warf ich mit meiner Fernbedienung, meinem Ventilator und den Video-Kassetten von der Hausparty. Dabei wurden die Kassetten stark beschädigt. Plötzlich schrie das Wesen, als hätte es Schmerzen. Das verwunderte mich, bis ich erkannte, dass es vielleicht einen Zusammenhang mit den Tapes geben könnte. Ich nahm ein Feuerzeug aus einer Schublade und zündete alle zerbrochenen Kassetten auf dem Boden an.

Ein unmenschlicher Schrei durchbrach die Stille, so ohrenbetäubend, dass er in meinen Knochen vibrieren und mich wie ein Schlag ins Gesicht traf. Das Geräusch hallte immer und immer wieder in meinem Kopf wider, wie das Rauschen eines stürzenden Wasserfalls, der mich mit sich riss. Während die Tapes im Feuer verschmorten, wurde das Brüllen immer verzweifelter, verzerrter – als würde etwas, das nie sterben sollte, seine letzte, schreckliche Qual schreien. Doch es wurde schwächer, immer schwächer, bis es in einem letzten, quälenden Aufschrei erstickte. Dann, als wäre der Raum selbst den Atem angehalten, trat eine unheimliche Stille ein.

Ich saß da, auf meinen Knien, völlig erstarrt, das Gesicht von Tränen überflutet. Mein Herz raste, als ich das Flackern der Videokassetten betrachtete, die nun wie verdrehte, schmelzende Leichname im Feuer versanken. Die Asche stieg empor, und ich konnte nichts anderes tun, als zuzusehen, wie das letzte Fragment dieser verhängnisvollen Tapes in den Flammen verschwand – als wäre alles, was jemals existierte, nun endgültig ausgelöscht.

Da hörte ich plötzlich, dass jemand die Tür aufschloss. Es waren meine Eltern. „Oh mein Gott, was ist hier passiert!!?,“ brüllten sie, als sie Sebastians Leiche und das ganze Blut vorfanden. Sein Gehirn war teilweise auf meinen Teppich verteilt. Ich konnte weder weinen, noch schreien, noch sonst irgendwas. Es war alles unwirklich, unmöglich und doch war es geschehen.

Ich wurde in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen, in der ich mit starken Medikamenten ruhiggestellt wurde. Denn meine Angstattacken kamen immer wieder hoch. Dort fingen in der Nacht die ersten Halluzinationen an. Ich sah Lukas. Er war immer bei mir, wenn es mir schlecht ging. Die Pfleger fixierten mich oft am Bett, da ich in meinen Attacken handgreiflich werden konnte. Lukas stand in solchen Momenten neben meinem Bett und hielt meine Hand. Er beobachtete mich im Schlaf, er hintere mich daran, mir das Leben zu nehmen und er flüsterte mir ins Ohr, immer wieder. Es waren warme und liebevolle Worte. Das Gegenteil von dem, was ich ihm jahrelang an den Kopf knallte. “Alles wird gut., du wirst geliebt, du wirst gebraucht”, waren einige dieser Worte. Oft hörte ich aber einen bestimmten Satz von ihm: “Ich vergebe dir”. Vor diesen schrecklichen Ereignissen hätte ich niemals an das Paranormale geglaubt, doch ich denke, dass Lukas zu meinem Schutzengel geworden ist. Er war ein besserer Mensch als ich. Sowohl im Leben, als auch im Tod. Die Psychiater versuchten mir diesen Glauben auszureden, doch er gab mir Kraft und Sicherheit. Lukas wurde nicht, wie wir vermutet hatten, zu einem Rachegeist. Denn auch er wurde Opfer dieses Dämons, dessen Herkunft ich immer noch nicht ganz verstehe. Andere Mit-Patienten mieden mich, weil jederzeit eine Panikattacke bei mir wieder einsetzen konnte. Da war die Befürchtung, dass dieses Wesen mich wieder tyrannisierte. Ich konnte aber in den Momenten Ruhe finden, wo Lukas mich besuchte. So vergingen Jahre. Die Angst wurde mit der Zeit milder und weniger.

Ein paar Mal besuchte mich Vanessa in der Psychiatrie. Schon ganz zu Anfang meiner Erkrankung. Sie erzählte mir, dass sie Lukas manchmal auch sehen würde, er würde sie freundlich anlächeln. Immerhin hat Lukas sie auch geliebt.

Ich bat Vanessa inständig, die verbliebenen Videokassetten, die immer noch auf dem Dachboden verstaubten, zu vernichten. Etwas in mir sagte mir, dass dieser ganze Horror untrennbar mit diesen Bändern verbunden war, auch wenn ich die genauen Zusammenhänge noch nicht verstand. Es war, als ob die Kassetten ein dunkles Geheimnis bargen, das ich um jeden Preis loswerden musste. Mein Vater jedoch schwieg bis heute darüber, woher diese Tapes stammten und was genau sie in sich verbargen. Es war, als ob er eine Mauer des Schweigens um sich errichtet hatte, und ich fühlte mich machtlos, an diese Wand heranzukommen. Ich weiß nicht, warum er so stur ist, warum er sich weigert, mir die Wahrheit zu sagen. Aber tief in mir hoffte ich, dass er eines Tages endlich den Mut fassen würde, sich zu öffnen. Ich wollte Antworten, ich brauchte sie. Denn ohne sie kann ich dieses ganze Geschehen nie wirklich begreifen. Ich hatte das Gefühl, dass die Kassetten mehr waren als nur Filme – sie waren ein Tor zu etwas, das sich meinem Verständnis entzog, und ich war davon überzeugt, dass sie der Schlüssel zu allem waren. Doch bis mein Vater sich irgendwann entschließen würde, über die Vergangenheit zu sprechen, würde ich mit meinen eigenen Gedanken und Ängsten kämpfen müssen. Ich erinnere mich noch daran, dass ich auf dem letzten VHS Tape, das wir auf der Hausparty abspielten, etwas gelesen habe. Es war schwer zu entziffern, aber ich glaube, folgendes gelesen zu haben: Bassum. Bassum ist eine Stadt in Niedersachen. Ich denke, ich werde eines Tages dort hinreisen und dort vielleicht Antworten finden.

Meine Gedankenwelt wurde wieder ruhiger. Da waren keine Albträume von Blut und Gewalt mehr. Natürlich wurde ich zum Hauptverdächtigen in den Mordfällen, aber man konnte mir nichts nachweisen. Meine Fingerabdrücke waren nicht aufzufinden. Weder am Tatort bei Maik, den ich nie bei sich zu Hause besuchte und auch nicht an dem Schlagstock, mit dem Sebastian getötet wurde. Bis heute bleiben die Vorfälle ungeklärt, über die viele noch spekulieren. Deswegen wurde ich nach einigen Jahren, vielen Medikamenten, dutzenden Therapiestunden aus der Psychiatrie entlassen. Ich hörte von Sabrina, die mit ihrer Familie nach Österreich zog. Für sie war das Ganze selbstverständlich auch ein Trauma. Schade, dass ich nach dem Erlebten keinen Kontakt mehr zu ihr hatte. Aber vermutlich will Sabrina keinen Kontakt, sie will mit dem Ganzen abschließen.

Nach meiner Entlassung verließ ich auch meine Heimat und schaute nie wieder zurück. Hier in Hamburg baute ich mir ein neues Leben auf. Dazu zählen ein guter Job, Freunde und die Bewältigung meiner Ängste…….

Zurück in die Gegenwart:

In diesem Moment fragt Dr. Ben Ryan: „Siehst du immer noch Dinge? Hörst du immer noch Stimmen?“

Ryan nickt und antwortet: „Ja, Lukas ist immer noch bei mir. Er passt auf mich auf. Manchmal spricht er mit mir, und wenn ich traurig bin, hält er meine Hand.“

Dr. Ben lächelt und sagt beruhigend: „Ryan, ich freue mich sehr, dass du so große Fortschritte gemacht hast! Aber du musst dir auch bewusst sein, dass er nicht wirklich da ist.“ Bevor die Sitzung zu Ende ist, fragt Dr. Ben noch etwas nachdenklich: „Sag mal, siehst du Lukas gerade?“

„Ja“, antwortet Ryan ohne zu zögern. „Wo genau?“, fragt Dr. Ben weiter und schaut aufmerksam.

„Da, in der Ecke, auf dem roten Sessel“, erklärt Ryan, während er mit dem Finger auf die betreffende Stelle zeigt.

Dr. Ben blickt in die Richtung, in der Ryan deutet, und fragt dann: „Was macht er da?“ „Er sitzt einfach da. Und er lächelt mich an“, antwortet Ryan ruhig.

„Was für ein Lächeln ist das?“, fragt Dr. Ben, jetzt noch neugieriger. „Es ist ein freundliches Lächeln. Wir sind jetzt Freunde. Lukas ist mein bester Freund geworden. Er ist immer für mich da, ganz egal, was passiert. Es hat lange gedauert, aber jetzt habe ich mir selbst vergeben. Heute unterstütze ich sogar eine Anti-Mobbing-Stiftung. Ich bin ein völlig anderer Mensch geworden.“ Dr. Ben beobachtet Ryan noch eine Weile. Als die Sitzung sich dem Ende zuneigt, bemerkt er etwas Unerklärliches: Ein seltsamer, frischer Eindruck auf dem roten Sessel, eine Vertiefung, als ob jemand tatsächlich darauf sitzt. Er sieht verwundert auf und blickt dann zurück zu Ryan, dessen Gesicht sich zu einem breiten Grinsen verzogen hat, während er weiterhin in Richtung des Sessels lächelt.

Bevor er sich vollständig von seinem Patienten verabschiedet, hört Dr. Ben eine letzte, ruhige Aussage von Ryan: „Ich hab dich lieb, Zeus.“

Geschrieben von Torge Meyer (Bitte immer erwähnen)

Diese Geschichte hat einen Zusammenhang mit folgender Creepypasta von mir:

DIE VIDEOSAMMLUNG

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