KonversationenMittel

Furcht und Schrecken – Das kleine Delirium

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Hier geht es zum vorherigen Teil:

14. Akt – Eine schrecklich nette Familie

Tatsächlich
bin ich weit weniger verblüfft, als es, angesichts des Grades an
Unwahrscheinlichkeit, in dieser Situation zu erwarten wäre.

Die
Zwangsjacke ist beinahe gemütlich und kneift in den Achseln nicht
halb so stark, wie ich sie in Erinnerung hatte, meine Augen haben
aufgehört zu tränen und zu guter Letzt bin ich endlich mal wieder
etwas unter Leuten. Diese selbstauferlegte Isolationshaft mit meinem
beknackten Bruder und der kleinen Göre war ja kaum noch auszuhalten!

Gegen
die Gesellschaft eines der am meisten verabscheuten Männer der Welt
habe ich eigentlich nichts einzuwenden. Gut, wie mir bereits
aufgefallen ist, beobachtet mein Gastgeber seit knapp einem
halben Jahrhundert offiziell die Radieschen von unten, aber sind wir mal
ehrlich: In einer Welt, voll von Regelmäßigkeiten, Gesetzen die
niemals gebrochen werden und einer unwiderruflichen Logik, wären
Leute wie ich doch ziemlich fehl am Platz, oder?

Ach,
was soll’s. Zugegeben, ich bin verblüfft. Sehr sogar. Meine Gedanken
überschlagen sich und spielen miteinander haschen, ein sehr sicheres
Zeichen für meine tiefsitzende Verunsicherung. Gegen die sollte ich
schleunigst etwas unternehmen, wenn ich nicht als Verlierer aus
diesem kruden, undurchschaubaren Spiel hervorgehen will. Bewegungslos
hocke ich am Boden und starre in das Gesicht meines Gegenübers, dass
mir so schrecklich vertraut vorkommt, obwohl ich den Kerl persönlich
niemals gesehen habe.

„Ich
kenne sie doch aus der Fachzeitschrift, die ich damals einer
Schwester… entliehen habe!“ Ungewollt kommen nostalgische Gefühle
in mir hoch. Es ist eine kalte, hasserfüllte Nostalgie. Ich habe mir
geschworen nie wieder in den Klauen dieser armseligen Quacksalber zu
laden, offensichtlich war dieses Ziel etwas zu hoch gestochen. Ich
dämlicher, dämlicher Kretin!

Der
alte Mann mit dem Krückstock blickt mir tief in die Augen und
sondiert dann mein komplettes Gesicht, jeden Zentimeter, jede Falte,
jede Pore so scheint es mir. Hinter den runden Brillengläsern
erkenne ich ein aufgeregtes Funkeln, einen Blick den man eigentlich
nur dann aufsetzt, wenn man in seinem Garten einen besonders seltenen
Käfer gefunden hat. Ich fühle mich auf einmal sehr nackt und ein
beschämtes Kribbeln macht sich unter meiner Haut breit.

Wenn der
alte Sack nicht gleich wegguckt, dann spucke ich ihm ins Gesicht!

Mehr oder weniger gefasst atme ich ein, so tief wie es die beengende
Jacke zulässt und wende meinen Blick demonstrativ von ihm ab. Zum
ersten mal unterziehe ich den restlichen Raum einer eingehenden
Untersuchung. Ein Menschenpulk steht in einiger Entfernung um uns
herum, Männer und Frauen, junge Leute, alte Leute, medizinisches
Personal, Anzugträger, Schutzleute… Sind das etwa Journalisten?
Diese Anzugmenschen? Trotz der unpassenden Situation und
erniedrigenden Haltung in der ich mich befinde, bin ich irgendwie
geschmeichelt. Ein wenig Aufmerksamkeit habe ich meiner Meinung nach
schon lange verdient, also warum nicht jetzt die Chance nutzen? Ich
grinse gewinnend in Menge bevor ich mich wieder dem greisen
Wiederauferstandenen zuwende.

„Also?“,
frage ich angriffslustig, „Was soll der ganze Zirkus hier? Was soll
dieses ‚Willkommen zuhause‘? Und vor allem; Warum in drei Teufels
Namen spazieren ausgerechnet Sie, quietschfidel und lebendig im
Keller dieser verrottenden Anstalt herum?“

Der
bärtige Mann scheint aus einer Trance zu erwachen und schüttelt
kurz den Kopf. „Du hast mich also erkannt?“, fragt er und gibt
einem der Umstehenden ein Handzeichen. Ein Stuhl wird gebracht, auf
den sich der Alte mit knirschenden Knien niederlässt. „Wie du dann
wahrscheinlich auch weißt, bin ich nicht mehr der Jüngste, du
gestattest also?“ Eine beinahe unsichtbare Geste und die gaffende
Menge entfernt sich murmelnd und flüsternd aus dem Raum. Nur der
Mann der ihm den Stuhl gebracht hatte, ein weiterer im Anzug und eine
junge Frau bleiben zurück, die sich in stoischem Schweigen zu üben
scheinen.

Ich werfe ihnen betont gelangweilte Blicke zu obwohl in
meinem Inneren die gemischten Gefühle geradezu überkochen.

„Walter
Freeman!“, zische ich genüsslich und lasse die folgenden Worte wie
Honig von meiner Zunge tropfen. „Erfinder der nach ihm benannten
‚Freeman-Methode‘, praktizierender Psychiater und überzeugter
Verfechter der Lobotomie. Geboren 1895, gestorben 1972 in Schimpf und
Schande. Mörder vieler Menschen, unter anderem der kleinen Schwester
des guten John F. Kennedy… Tz tz tz, was haben sie sich nur dabei
gedacht? Dabei hatten sie doch so viel Potential…“

Ich harpuniere
den untoten Doktor mit einem giftigen Blick, der meinen ganzen Hass,
meine ganze kranke Dankbarkeit zu einem schneidenden Speer bündelt
und sogar die drei Menschen hinter ihm einen Schritt zurücktreten
lässt. Der Adressat dieses Blickes zuckt jedoch nur leicht zusammen
und unterdrückt ein gequältes Stöhnen. „Mein lieber Deimos.“,
sagt er gedehnt und fixiert mich mit seinen kalten Augen. „Ich habe
meinen alten Namen zusammen mit meiner ganzen Identität zu Grabe
getragen und hinter mir gelassen. Ja, mein erstes Leben war eine
einzige Farce…“ Ein leichter Schatten der Kränkung und Wut legt
sich über seine Züge, verschwindet jedoch innerhalb eines
Wimpernschlags wieder und macht dem anfänglichen Interesse platz.
„Du darfst mich gerne Professor Dr. Aloisius Schönbrunn nennen.
Ich habe diesen Namen nach
meinem Erwachen gewählt, obwohl er doch letztendlich über keinerlei
Bedeutung verfügt und nur ein Attribut dieser sogenannten
Menschlichkeit ist. Ich habe mich
entschieden als Mensch weiterzuleben und mein Werk in verbesserter
Form zu vollenden.“

Seine spröden Lippen teilen sich und
präsentieren eine Reihe porzellanfarbener Zähne, die genauso
gekünstelt und surreal
wirken, wie der Rest seiner Erscheinung. Ein flirrender Glanz legt sich
verschleiernd über die geweiteten Augen und mir wird schlagartig
klar, dass der Doktor letztendlich selbst ein Opfer des Wahnsinns
geworden sein muss. Kaum verwunderlich. Der alte Mann scheint in
seinem kranken Hirn verloren gegangen zu sein und starrt verzückt
durch mich hindurch, während ich verzweifelt versuche die
Zwangsjacke zu lockern, die sich mittlerweile doch recht schmerzhaft
um meinen Körper schlingt. Ich habe das unangenehme Gefühl im
Würgegriff eines Riesenpythons gefangen zu sein, der seine
Muskelringe mit jedem meiner Atemzüge kräftiger zusammenzieht und
mir die Luft abschnürt. Mit dem Rücken an der Wand übe ich Druck
auf die hinteren Verschlüsse aus, in der Hoffnung dass das raue
Gestein sie möglicherweise etwas lösen könnte.

Plötzlich habe ich
den kühlen Lauf einer Pistole an der Schläfe. „Ich an deiner
Stelle würde das lassen, Freundchen.“, sagt die junge Frau ruhig,
verstärkt den Druck etwas und legt ihren Zeigefinger auf den Abzug.

Ihre Hand zittert. Das spüre
ich sogar durch die Pistole hindurch! Von wegen ruhig…
Ich schiele aus meiner erniedrigenden Position zu
ihr hoch. Sie ist hübsch.
Schulterlanges, blondes
Haar legt sich um ihr schmales Gesicht in dem, zwei Saphiren gleich,
ein Paar
blauer Augen funkelt.
Irgendwie kommt sie mir
bekannt vor. Nicht dass mich
das auch nur ansatzweise interessieren
würde, es belustigt mich eher.

Mit der wenigen Luft die meine
eingequetschten Lungenflügel aufnehmen können stoße ich ein
kurzes, heiseres Lachen aus und werfe den Kopf in den Nacken. „Was
seit ihr denn für Reporter?
Wetten deine zwei Freunde haben unter ihren schneidigen Jacketts eine
ganze Batterie von diesen hässlichen Maschinchen? Himmel, diese
ganze Inszenierung entfaltet sich ja langsam als der
klischeeüberladenste Streifen
den ich mir jemals antun
musste…“ Ich spucke
verächtlich aus. „Wenn ich den Regisseur in die Finger kriege…“

„Halt’s Maul!“, brüllt die Frau, holt mit der Rechten aus und im
nächsten Moment tropft Blut aus meiner Nase. Ich ignoriere den
Schmerz, öffne den Mund und lecke die Tropfen auf. „Musste das
sein? Was für eine Verschwendung…“, stöhne ich und werfe ihr
einen strafenden Blick zu.

„Fräulein Stanley!“, unterbricht uns
der alte Doktor entsetzt, der offensichtlich wieder im Hier und Jetzt
angekommen ist. „Wie behandeln sie den unseren Gast? Bitte, halten
sie sich zurück und bewahren sie ihren Anstand!“ Die Frau schnaubt
verächtlich und wirft mir einen hasserfüllten Blick zu. „Diesen
Abschaum… nennen wir nun also unseren Gast.“, murmelt
sie bitter und geht langsam wieder zurück zu ihren Kollegen. Ich
erwidere ihren Blick freundlich und studiere dieses Gesicht nun
eingehender. Fräulein Stanley? Stanley?

„Das glaub ich jetzt aber nicht!“, bricht es plötzlich aus mir
heraus und mein Körper schüttelt sich unter einem monumentalen
Lachkrampf. „Du bist seine Tochter?!
Das wird ja immer besser!“ Tränen treten aufgrund des
Sauerstoffmangels in meine Augen und mein Lachen verkommt zu einem
krächzenden Gekicher. „F… Fräulein Stanley… Ich krieg‘ mich
nicht mehr…“ Der verfluchte Arzt hat also auch auf legalem Wege
Nachkommen in die Welt gesetzt… Ich muss an Luna denken, die
hoffentlich noch irgendwo da draußen ihr Unwesen treibt und schon
wieder überkommt mich dieses seltsame Gefühl. Wie es ihr wohl geht?

„Du
verdammtes Monster!“, brüllt die junge Frau mit zornesrotem
Gesicht, welches
sie weit weniger hübsch aussehen lässt. „Warum? Warum hast du ihn
getötet?? Er war ein guter Mensch! Er wollte dir helfen und du
verfickter Mistkerl…!“

Ein
guter Mensch, also…? Ein Blick in ihre Augen verrät mir, dass sie
tatsächlich überzeugt ist von dem was sie sagt. So naiv… bei dem
Gedanken daran, dem Mädchen
von den Machenschaften ihres geliebten Vaters, ihrer kleinen, in
Schande gezeugten Schwester
zu erzählen, erfüllt mich eine diebische Freude. Die
bissigen Hunde der Lüge und Unzucht über sie herfallen zu lasse…
es wäre zu köstlich.

Aber
möglicherweise ist gerade
nicht der passende Zeitpunkt dazu.
Sie wirkt zu allem
entschlossen und mein Tod
käme mir in dieser Situation äußerst ungelegen… Einer ihrer
Kollegen schlägt ihr
die Waffe aus der
Hand, welche sie noch immer mit zitternden Fingern umklammert hält
und auf mich richtet. „Maria, ganz
ruhig.“, sagt er sanft und
nimmt sie in den Arm. „Wir brauchen ihn schließlich noch.“ „Lass
mich, Ben!“, faucht sie und reißt sich von ihm los. „Niemand
braucht dieses Ungeziefer! Die
Welt wäre ein besserer Ort wenn…“
Eine schnelle
Geste von Seiten Freemans bringt sie zum Schweigen. „Bitte
beruhigen sie sich!
Wenn sie
für das hier nicht stark genug sind,
dann haben
sie
in meinem privaten
Sicherheitspersonal
nichts
zu suchen.“ Die Kälte in seiner Stimme überrascht mich, ebenso
die Tatsache, dass sie seiner Anordnung unterwürfig und ohne zu
zögern Folge leistet.

Stumm, jedoch immer noch bebend vor
unterdrückter Wut, senkt sie ihren Blick und gesellt sich zu den
zwei Männern. „Schließlich
sind wir hier ja alle so etwas wie eine Familie!“, fügt der alte
Doktor abschließend hinzu, nun wieder mit einem milden Lächeln auf
den Lippen. Ich bin nicht die einzige Person, deren Blick daraufhin
das Äquivalent zu einem schwungvollen Erbrechen sein könnte. Im
imaginären Raum hinter meinen Augen wird ein Glas Milch sauer.

15. Akt – Identitätskrise

Nach
dieser kurzen, höchst aufschlussreichen Episode gilt mein Interesse
nun wieder dem Alten, der sich mühsam zu mir herunterbeugt und sein
Gesicht ganz nah ein meines heran
bringt. „Wo wir gerade von
Namen sprachen… du nennst dich selbst Deimos. Warum?“

Oh. Diese Frage erwischte mich nun tatsächlich kalt von hinten.
Damit habe ich nicht gerechnet. „Eine Mutter hat ihn dir
schließlich nicht gegeben.“ Ein boshaftes Lächeln kräuselt die
Mundwinkel des Doktors. „In der Hinsicht sind wir uns ganz ähnlich.
Ich wählte meinen Namen als Symbol des Neuanfangs und der
Anonymität. Und du…? Um deine Menschlichkeit zu beweisen? Um dir
selbst weiß zu machen, du seist mehr als eine einfache Krankheit,
die das Gehirn dieses schwächlichen Jungen, dieses David ausgebrütet
hat. Ein schnöder Tumor… Eine simple Stoffwechselstörung…“

Nun ist es an mir, wütend zu werden. „Halt die Klappe!“, krächze
ich und kämpfe gegen den Zweifel und die Angst an, die bereits seit
einer Weile an mir nagen. „Das kann nicht sein! Du hast Recht, ich
bin kein Mensch! Ich bin etwas besseres! Etwas größeres, stärkeres
und wertvolleres! Ich kann Dinge tun die…!“

„Aha?“,
der verrückte Arzt funkelt
mich grinsend an und ich habe das Bedürfnis ihm die verfluchten
Porzellanzähne einzuschlagen. „Woher willst du wissen, dass all
das nicht Teil dieser Krankheit ist? Eine Psychose, die dir Sachen
vorgaukelt, die gar nicht existieren. Soll ich dir etwas sagen? Du
bist nur die
Ausgeburt einer schweren Form von Dissoziation, kombiniert
mit Schizophrenie und
einer gehörigen Portion Traumata bedingter Wahnvorstellungen, unter
denen der arme David von Kindesbeinen an leidet! Du existierst
praktisch nicht, hast nicht den geringsten Einfluss auf dieses
Universum und wirst für immer nichts weiter als die fiktive Figur,
des kreativen Unterbewusstseins eines kleinen Jungen sein.“

Seine
Worte hallen durch das feuchtkalte Gewölbe und ihr Nachklang mischt
sich mit dem stetigen tropfen des modrigen Wassers, das tränengleich
von der Decke fällt. Ich zittere am ganzen Leib. „Nein, das… das
kann nicht sein…“ Ich bin am Boden zerstört. Ja… es muss die
Wahrheit sein. Die eine unabwendbare Wahrheit, deren kleine Finger
mir schon seit geraumer Zeit auf die Schulter tippen und mich auf sie
aufmerksam machen wollen. Und ich Idiot wollte es nicht akzeptieren.
Ich… was bedeutet dieses Ich schon? Es hat niemals existiert und
dieser Umstand
war mir schon klar, als ich mich das erste mal hinterfragt habe. ..
Aber, Moment mal… Seit wann können sich Krankheiten
hinterfragen…?

„Natürlich
kann das nicht sein!“, dröhnt plötzlich Freemans heisere
Stimme, die im Lauf seines Monologs immer mehr an Kraft gewonnen hat.
„Wäre der Mensch in diesem Universum die Krone der Schöpfung und
ließe sich alles auf dem, für uns begreifbaren Weg erklären, dann
säße ich jetzt wohl kaum vor dir.“ „Bitte, was…?“, frage
ich schwach
und blicke zu ihm auf. „Natürlich bist du keine einfache
Krankheit, mein Junge.“ „A… aber weshalb…?“

„Das
war nur ein Test.“, der Alte schmunzelt selbstzufrieden. „Um dich
auf deine Überzeugung zu prüfen. Allerdings leidest du offenbar
unter
Selbstzweifel, das enttäuscht mich… Von einem Wesen wie dir, hätte
ich mehr erwartet. Vor allem, da du mittlerweile einen
geradezu ungesunden Gottkomplex entwickelt hast, zumindest hat er mir
das so berichtet… Deine ausgeprägte Arroganz und Überheblichkeit
hat das Klinikpersonal ja schon seit deiner Kindheit zu spüren
bekommen!“

„Du
verdammter Scheißkerl!“, brülle ich zornig und wäre am liebsten
auf ihn losgegangen, befände
ich mich nicht
noch immer im tödlichen Würgegriff der verflixten Zwangsjacke.
„Spiel
dich nicht so auf!“, sagt der Doktor mahnend und schüttelt
missbilligend den Kopf. „Im Gegensatz zu deinem Bruder bist du ohne
das richtige Material und Werkzeug machtlos. Ich habe mich bereits
gefragt, weshalb Er eine so lächerliche Kreatur wie dich geschaffen
hat… deinen Bruder konnte ich ja noch nachvollziehen, aber dich?
Nun, vielleicht ist das ja seine Art und Weise, so etwas wie Humor
auszudrücken…“ Ein ehrfürchtiger Ausdruck ist in seine Augen
getreten, der mich noch mehr aus dem Konzept bringt. Dabei habe ich
mir doch geschworen immer ruhig zu bleiben und die Oberhand
zu behalten. Doch die Wut macht meine Gedankengänge langsam und
träge.

„Hören sie auf zu quatschen, sie sind doch verrückt!“,
knurre ich um Zeit zu schinden. „Wer ist Er?
Und warum zum Teufel leben sie noch?“ Freeman lächelt mysteriös
und tippt mir mit dem Zeigefinger auf die Stirn. Es brennt und ich
beiße die Zähne zusammen. Die Wunde, die mir das Orakel zugefügt
hat… hatte ihn schon beinahe vergessen.

„Du blutest ja…“, der Doktor wirkt aufrichtig besorgt. „Die
stammt von Jack oder? Und diese schwarze Flüssigkeit an deinen
Händen… du hast ihn wohl getötet. Wie ärgerlich.“

„Bleiben sie beim Thema, Mann!“, fauche ich aggressiv und
ignoriere den Schmerz, den sein bohrender Finger verursacht.

„Wenn du mit Jack gesprochen hast, wird er dir doch etwas gezeigt
haben, im Austausch für etwas um dass du ihn offensichtlich danach
gebracht hast.“ Wie ein Aufschrei durchzuckt mich plötzlich eine
Qual, deren Epizentrum in meiner Stirn sitzt, die aber nicht mehr nur
allein von Freemans Finger ausgehen kann. Mir wird schwarz vor Augen
und dann flammt es vor mir auf. Die konzentrischen Kreise bohren sich
in immer schnelleren Spiralen in mein Hirn, die blutrote Pupille
bewegt sich hin und her, durchforstet gnadenlos mein Innerstes…

„Ich…
habe nichts gesehen!“, keuche ich. „Er hat mich betrogen…
deshalb musste er sterben.“ Der Alte scheint nicht überzeugt,
unterlässt es allerdings, tiefer nach zu forschen.

Seine
Stirn legt sich in Falten und der interessierte Blick wird ernster.
Offensichtlich scheint das Vorgeplänkel nun ein Ende gefunden zu
haben. „Weshalb bist du zurückgekommen?“

Die Frage schwebt einen Moment im Raum, denn ich muss ernsthaft
darüber nachdenken. Um meine gesammelten Werke der letzten Jahre zu
bergen natürlich.

Natürlich? Ist es wirklich so natürlich? Sich allein ob des gekränkten Künstlerstolzes zurück in die Höhle des Löwen zu begeben? Ist es das wirklich wert

„Weshalb bist du zu zurückgekommen?“ Die Frage ist nun
eindringlicher, lang und gedehnt, als würde er mit einem Kleinkind
sprechen.

Ich weiß es nicht.

„Das hat sie nicht zu interessieren!“, rufe ich laut und
hochnäsig. Die Art und Weise wie er mit mir redet macht mich zornig.
Diese ganze Farce ist so exorbitant demütigend… Ich seufze schwer
und entnervt, meine Augen schließen sich demonstrativ.

„Eine richtige, kleine Dramaqueen, unser armer Irrer.“, dringt
plötzlich eine teils belustigt, teils angewidert klingende Stimme an
mein gekränktes Ohr.

Es ist einer der Männer, Ben wenn ich mich recht entsinne. Ich
fixiere ihn mit scharfem Blick und erkenne sofort, dass er von der
Sorte Mensch ist, die meiner Meinung nach vor mir im Staub kriechen
und Dreck fressen sollte. Groß und muskulös, gut aussehend,
wahrscheinlich mutig und ehrlich, der Traum einer jeden
Schwiegermutter… die Abwesenheit von jeglicher Kreativität und
Kultur stinkt bis zum Himmel… eine helle und liebreizende Version
meines armseligen Bruders, ein Sportsmann…

„Fahrt
doch alle zur Hölle“, sage ich lang, gedehnt und triefend vor
Verachtung. Ich schließe die Augen wieder und verweigere danach
jegliche Konversation.

Minutenlang, ja vielleicht sogar stundenlang stellt mir der Alte
immer und immer wieder die selben Fragen. Wann, wie, wo… wieso,
weshalb, warum… Ich beschenke sie großzügig mit ergiebiger
Schweigsamkeit.

Nach einer Weile füllt sich der Raum erneut mit einer Vielzahl von
Stimmen.

Offensichtlich glaubt der untote Greis, dass ich in guter
Gesellschaft eher reden werde und hat einen Teil der Meute wieder
herein gelassen. Stechenden Blickes sondiere ich die Gesichter um
mich herum und stelle mir vor, wie ihnen die Haut in blutigen Fetzen
von den gaffenden Visagen blättert. Klappernde Totenschädel
umringen mich in meinem kleinen Mentalgemälde und ihr knirschendes
Gelächter steckt mich an.

„Wie haben sie es geschafft aus der
Einrichtung zu entkommen, Herr…?“ „Was waren die letzten Worte
die ihre Eltern zu ihnen sagten bevor Sie sie ermordeten?“
„Bereitet ihnen der Anblick von frischem Blut Lust?“ „Woher
nehmen sie eigentlich ihre Genialität?“

Ihre Genialität… Genialität… genialität…

Das Durcheinander verschiedener Fragen und Stimmen wird plötzlich
von einem schrillen Kichern übertönt. Die Menge fährt kollektiv
zusammen und ich genieße den Duft ihrer zu Berge stehenden Haare.

So viele Menschen… und so viel Interesse… alles nur für mich…

Ich hasse es wie sich mich anstarren, so herabwürdigen.

Ich liebe es, im Rampenlicht zu stehen!

Ich hasse ihre Gesichter, die mich einengen und mit ihrer verzerrten
Hässlichkeit anekeln…

Ich liebe die Aufmerksamkeit!

Ich hasse die Aufmerksamkeit…

Ich bin ein Künstler.

Also lache ich, lache und lache und lache, im Gleichklang mit den
grinsenden Schädeln die um mich herum schweben.

„Fahrt alles zur Hölle! Fahrt doch alle zur Hölle! Zurück in die
Büros aus denen ihr gekrochen seit, verschanzt euch hinter den
Schreibtischen, zurück in euer bedauernswert unwürdiges Leben!“,
kreische ich ausgelassen und mustere jedes einzelne der entsetzten
Gesichter voll Wohlwollen und Verachtung, dann werfe ich in den Kopf
in den Nacken, schließe die Augen und genieße ihre gaffenden Blicke
auf meinem Körper.

„Deimos… mit wem sprichst du da?“ Es ist Freeman. Ruhig und
gelassen.

Mit einem Schlag hört das Wispern und Rascheln der unzähligen
Stimmen auf. Der Begeisterungssturm um meine Persönlichkeit ebbt ab,
verschwindet schließlich ganz. Als sich meine schweren Lider wieder
heben, ist der karge Raum leer. Nur der Alte, Ben, Maria und das
dritte, namenlose Mitglied der Security stehen bzw. sitzen wie in
Stein gegossen vor mir und mustern mich interessiert, kühl und
hasserfüllt.

Ich bin nicht verrückt.

Nein, nicht ich. Nicht ich bin hier der verrückte.

„Abgesehen von uns ist hier niemand.“, sagt der untote Doktor
langsam. Ist da Mitleid in seiner Stimme? Oder Belustigung?

…Eine Psychose, die dir Sachen vorgaukelt die gar nicht existieren…

Ich bin nicht verrückt.

Ich
bin ein Künstler.

Hier geht es zum nächsten Teil:

16:13, 1. Mär. 2016 (UTC) ()

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