ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Hier geht es zum vorherigen Teil:
10. Akt –
Regeneration
Die nächsten zwei
Wochen muss ich das Bett hüten. Das Kind ist bei mir geblieben und
Phobos hat sich in der Zeit kaum gemeldet. Ich weiß dass er da ist,
kann seine Gegenwart spüren obwohl er kein Wort sagt und keinen
Finger rührt. Wahrscheinlich ist er nur zu faul zum Sprechen. Oder
er ist fort. Wir leben von den Vorräten die ich in den
vorhergegangenen Wochen zusammengerafft habe. Einmal hat mir das
Mädchen seltsames Fleisch gebracht, feuchtwarm und roh. Ich aß es.
Ich brauche die Proteine und das Eisen zur Regeneration. Zur
Regeneration meines Blutes. Ich weiß nicht wie viel ich verloren
haben, will es nicht einmal wissen. Mich schaudert, wenn ich daran
denke. Ja, es erfüllt mich mit Schrecken, abgrundtiefem Grauen, wenn
ich daran denke, dass meine kostbare Körperflüssigkeit aus den
Rissen in meiner Haut gequollen und den Boden geflossen ist.
Versickert, vertrocknet, vergeudet. Schmerzen sind nur das kleinere
Übel einer Wunde. Also aß ich das zähe Fleisch. Luna jagt
Kleintiere, Ratten, Mäuse und Eichhörnchen, erdrosselt oder
erschlägt sie mit Steinen. Dieses kleine Biest ist erschreckend
geschickt und präzise in dem was sie tut. Vermutlich war das ihr
Schlüssel zum Überleben in den letzten sieben Jahren… Flinkes
kleines Biest. Armes Mädchen…
Nach einer schier
endlos erscheinenden Zahl von Tagen, die alle gleich zäh und
ereignislos verstrichen sind, halte ich es nicht mehr aus und springe
mit einem Satz aus dem muffigen Deckenlager. Mir wird schwindelig und
ich falle beinahe zurück. Egal! Es muss etwas geschehen! Das
tatenlose Herumlungern ödet mich langsam bis auf Blut an, außerdem
macht es mich schrecklich nervös. „Luna!“, rufe ich herrisch und
stütze mich schwerfällig an der Wand ab. Aus der vermoderten Tapete
lösen sich feine Flocken und rieseln sanft zu Boden. Sie muss einmal
lichtblau gewesen sein… Jetzt ist nichts als ein stumpfes grau
geblieben, als hätte die Traurigkeit die in den letzten Jahren
dieses Haus bewohnt hat, alles Leben und alle Farben davon gespült.
Ich muss unvermittelt an den ehemaligen Besitzer denken, den alten
Mann, der jetzt wurmzerfressen und mit eingefallenen, äschernden
Wangen unter einem Erdhügel unweit des Holzschuppens schläft. Ob er
eine Familie gehabt hat? Eine Frau? Kinder?
Ich atme tief ein um den
Schwindel zu bekämpfen. Vergessen wir das, was interessiert es mich.
„LUNA, in drei Teufels Namen!“, brülle ich erneut durch das
knarzende Gemäuer, dieses mal etwas ungehaltener. Ich komme auf
seltsame Gedanken wenn ich nicht beschäftigt werde und das reizt
mich. Endlich fliegt die Tür auf und das Kind steht mit starrem
Gesichtsausdruck vor mir. Ich betrachte sie. Und plötzlich überkommt
mich ein seltsames Gefühl, so fremd das es beinahe unangenehm ist.
Merkwürdig.
Eigentlich hatte ich
vor, ihr jetzt und unverbindlich meine Befehle zu erteilen wie es
sich gehört, doch etwas in mir entschließt ich anders und vereitelt
meinen ursprünglichen Plan. „Danke…“,
murmle ich mit kratziger Stimme und starre auf die mit Stockflecken
überzogene Wand hinter ihr. „Danke, dass du mir… geholfen hast.
Das war wirklich sehr… ähm, du hast dich bravourös geschlagen.“
Sie reagiert nicht. Keine Antwort, kein Lächeln, nur ein leichtes
blinzeln. Und so etwas wie… Dankbarkeit in ihren Augen. „Lass uns
nach unten gehen.“, sage ich leise, „Ich will dir etwas zeigen.“
Noch immer schwach auf den Beinen aber voller Tatendrang, gehe ich
durch die Hütte und auf die Kellertreppe zu. Das Mädchen huscht
hinter mir her, still und leise wie mein eigener Schatten. Ich muss
wieder an das denken, was sie für mich getan hat. Nein, sie hat mir
nicht nur geholfen, sie hat mir das Leben gerettet. Ich konnte die
Ereignisse der Nacht, in der Jeffrey in das Haus eindrang in ihren
Erinnerungen ablesen wie aus einem Buch. In ihrem Geist habe ich die
Bilder von unserem scheinbar toten Körper gesehen, den verwahrlosten
Irren darüber, den schweren Steingutkrug. Das Blut, das aus dem
Hinterkopf spritze und in die bereit gestellte Schale floss… In
ihrer Erinnerung konnte man ein seltsames, heiseres Lachen vernehmen,
ob es von dem Killer stammt oder nur eine Ausgeburt ihres kranken
Verstandes ist, kann ich nicht sagen. Sie hat mich gerettet.
Ausgerechnet sie… Mir kommt ein Gedanke. Dieses kleine Wesen hinter
mir hat noch nie in seinem Leben so etwas wie Anerkennung erfahren.
Und dann rettet sie ausgerechnet mich. Mich, den einzigartigsten
Menschen der Welt. Ich verstehe ihre Dankbarkeit und fühle mich auf
einmal schrecklich einsam. Fort damit.
Ich straffe mich und betrete
den Kellerraum. Ein schneller Blick in den Silberspiegel. Meine Augen
sind wieder grün, natürlich. Einsamkeit ist das Los derer, die
dafür geboren sind Großes zu erreichen! Bald wird mein Meisterwerk
vollendet sein und ich werde für immer aus diesem Dreckloch
verschwinden. Ich bemerke, dass der Wachsklumpen wieder an alter
Stelle liegt, ebenso die Puppen. Im Seelenhort steht ein neues Gefäß,
gefüllt bis zum Rand. „Das warst du?“, frage ich und zeige
darauf. Sie nickt. „Gut gemacht.“ Verstohlen fixiere ich ihr
Gesicht, begierig erneut Dankbarkeit daran zu erkennen. Hör auf
damit!, denke ich gleichzeitig, was soll dieses dumme Gehabe? Ich
besinne mich wieder auf das was wichtig ist und konzentriere mich auf
mein eigentliches Anliegen. „Aber sage mir…“, setze ich an und
suche nach der richtigen Ausformulierung. „Du warst also schon
öfter hier unten? Ohne meine Erlaubnis?“ Das Mädchen hält
instinktiv die Hände vor das Gesicht und duckt sich.
„Bleib ruhig,
ich werde dich nicht bestrafen… ich frage ich nur weshalb du
nicht…“, mir gehen doch tatsächlich die gewählten Worte aus.
Das macht mich wütend. „Warum hast du dich nicht einfach von mir
getrennt?!“, schreie ich sie nun hilflos an und reiße die Puppen
hoch. „Warum hast du die Verbindung nicht gelöst, das Wachs
zerschnitten und dich von meinem Einfluss befreit?!“ Sie schaut
mich groß an, mit blauen Augen die wie matte Saphire aus ihrem
schmutzigen Gesicht hervorstechen. Ich begreife. Und zum allerersten
Mal lächelt sie. „Ich bin ein Teil von dir. Deshalb bleibe ich.
Helfe. Muss helfen. Will helfen.“
Ihre Stimme klingt weich und
kratzig zugleich und mir fällt auf, wie selten wir auf diese Art und
Weise kommuniziert haben. Ein Teil von mir. Ich hatte es bereits
vermutet. Nachdenklich reibe ich mein Kinn. „Meine Bilder haben
etwas mit dir gemacht, ich wusste es… Alle anderen hat der Anblick
in die Verzweiflung, den Tod oder schlimmeres getrieben. Bei dir war
es anders. Besondere… Fähigkeiten. Aber wieso?“ Sie wackelt mit
dem Kopf und hüpft von einem Bein auf das andere, eine seltsam
unbeschwerte und kindliche Geste die ich bei ihr noch nie erlebt
habe. „Du warst im Riss, oder?“, fragt sie und ich zucke
zusammen. „Woher weißt du das?“, zische ich und verenge meine
Augen. Sie schaut mich verwundert an. „Kann es spüren, war schon
oft dort! Aber anders wie du. Anders.“ Mir fällt es wie Schuppen
von den Augen. Natürlich!
„Nicht
einmal der Riss wird euch dreckigen Menschenabschaum vor mir
schützen!“, höre ich meinen randalierenden Bruder in der
Vergangenheit kreischen. Deshalb konnte er sie sehen als sie damals
verschwand! Seine Verbindung zum Riss ist offenbar wesentlich stärker
als meine eigene, weswegen er in der Lage war sie zu sehen, obwohl
sie sich nicht mehr in unserer Dimension befand.
„Du wirst gar
nicht unsichtbar! Du wechselst nur zwischen zwei metaphysischen
Ebenen!“, keuche ich und bin fasziniert von meiner eigenen
Kombinationsgabe. Luna lächelt wieder und nickt. „Aber ich komm
nicht so tief in den Riss rein wie du. Geht irgendwie nicht. Noch
halb da und halb…“, verzweifelt gestikuliert sie, denn ihr
begrenzter Wortschatz geht zur Neige. „Du steckst quasi in einer
Zwischenzone zwischen der Zwischenzone.“, stelle ich fest und tippe
mir nachdenklich auf die Nase. Mein Kopf schwirrt. Es muss unendlich
viele Abstufungen und Begrenzungen zwischen den verschiedenen
Realitäten geben. Und für jede Tür gibt es einen anderen
Schlüssel. Ich knie mich vor dem Mädchen hin und fasse es an den
Schultern „Du sagst, der Teil vom Riss in dem du dich aufhalten
kannst, sei anders als der Teil den ich betreten habe. Wie sieht es
dort aus?“, frage ich langsam und deutlich. Das Kind legt die
vernarbte Stirn in Falten. „Es sieht aus wie hier. Nur… anders!“,
sie bekommt leuchtende Augen. „Es ist schön dort, ich mag es.
Anders ist gut!“ Sie kichert seltsam und ein angenehmer Schauer
läuft mir über den Rücken. Ja, anders ist wirklich immer gut, da
hat sie recht. „Oh!“, ruft sie plötzlich und zupft an meinem
Pullover. „Es gibt Orte. Stellen. An denen kann ich rein. Dort ist
es anders. Und manchmal, geht es nicht Manchmal geht es nicht in den
Riss rein. Dann ist dort nur… hier!“ Sie macht eine allumfassende
Geste. „Im Riss… verändern sich Dinge… Sachen… und Menschen.
Wenn man will geht man. Oder bleibt. Ich bin gegangen.“
Plötzlich
werden ihre lebhaften Augen wieder starr und ihr Kopf wendet sich zum
Seelenhort. Ich folge ihrem Blick und bleibe auf einem Flakon hängen.
Ihrem Flakon. Und erst jetzt begreife ich was sie mir sagen will. „So
bist du also aus der Anstalt herausgekommen.“, hauche ich. „Warum
hast du es mir nicht schon damals verraten, als wir darüber geredet
haben? Du bist also unten rausgegangen. Du warst in den
Katakomben, dem Zentrum von Stanleys Hölle, dort wo er meine
wunderbare Kunst an nutzlose Patienten vergeudete. Und seine anderen
schrecklich geschmacklosen Machenschaften betrieben hat. Du bist also
unten rausgegangen, aber nicht hier sondern…!“
„Ja…“, sagt
sie ausdruckslos. „Dort ist unten ein Riss in der Mauer.“
Nach dieser
Offenbarung habe ich das Kind mit den knappen Worten, „Ruh dich
aus!“, nach oben geschickt. Morgen früh, noch vor Tagesanbruch
werden wir uns auf den Weg machen. Ob wir zurückkehren werden? Ich
hoffe doch sehr. Zumindest für mich wird es kein erfolgloses Zurück
geben. Doch bevor wir aufbrechen habe ich noch etwas zu erledigen.
Einen kleinen… Selbstversuch. Angeekelt starre ich auf die
unbrauchbaren, gräulichen Stümpfe an meiner linken Hand. Zum
Krüppel gemacht! Verstümmelt und entstellt, verunstaltet, ein
Freak… Ich! Das kann ich nicht dulden.
Ich wende mich dem Pult zu
und starre auf das Wachs, das mir schon so gute Dienste geleistet
hat. Einer meiner treusten Verbündeten in diesem verrückten Kampf.
Schnell wird eine Kerze entzündet, eine große Metallnadel in die
Flamme gehalten, desinfiziert und dann in meiner linken Handfläche
versenkt. Ich verziehe keine Miene und starre mit versteinertem
Gesicht auf den dicken, roten Blutstropfen der hervorquillt und
langsam über die Handinnenfläche rinnt. Blib, macht es als
der Tropfen auf das fettig glänzendes Wachs klatscht. Ich knete mit
der Rechten bis sich eine gleichmäßig rosafarbene Tönung gebildet
hat und die Substanz weich und geschmeidig in meiner Hand liegt. Es
ist verdammt schwierig präzise zu arbeiten, wenn man ungewohnter
Weise auf eine einzige Hand angewiesen ist. Doch irgendwie gelingt es
mir, fünf kleine Finger zu formen, die ich anschließend mühevoll
an der winzigen Verkrüpplung meines künstlichen Puppendoppelgängers
befestige.
Ein Kribbeln fährt durch meine Linke und ich halte
gespannt den Atem aus. Das leichte Jucken wird stärker, brennend und
pochend strahlt es von meinen Fingerstümpfen in den ganzen Unterarm
aus, wandert höher und erreicht schließlich meinen Brustkasten. Ich
stoße ein zischendes Keuchen aus und beiße die Zähne zusammen. Das
konturlose Gewebe wird heiß, schrecklich heiß und dann verändert
es sich… Sich windende, halb flüssig, halb lebendig wirkende
Stränge und Fasern wachsen daraus hervor, werden länger, dicker,
verweben sich miteinander und gewinnen nach und nach an Form.
Verzückt betrachte ich das faszinierende Schauspiel. „Ja…!“,
hauche ich siegesgewiss und höre in meinem Hinterkopf bereits die
süßes Fanfaren des werdenden Erfolges erschallen. Die weichen,
schlangenartigen Formen verhärten und strukturieren sich, bis sie
schließlich stillstehen, erschlaffen und gefühllos werden. Das
Brennen verschwindet mit einem Schlag und mit ihm meine Euphorie. Was
in drei Teufels Namen habe ich da gemacht…?
Ich bewege meine neuen
‚Finger‘ probehalber und stelle fest, dass sie sich problemlos
kontrollieren lassen. Ich greife in die Luft, bilde eine Faust,
trommle auf der Tischfläche herum… und knicke meine „Gelenke“
dann in einem komplett unnatürlichen Winkel nach Oben! Mit
steigendem Ekel starre ich auf dieses Ding an meinem linken Arm, die
gespiegelte Faust, die widernatürlich verdrehten Glieder, die
konturlose, fahlgraue Haut und das dicke, knubbelige Narbengewebe das
sich zwischen meinem echten und dem künstlichen Fleisch gebildet
hat. Meine neu gewachsenen Finger sind abgrundtief hässlich!
Schlampig gearbeitet! Eine Schande! Der Hautoberfläche fehlt
jegliche Struktur, sie ist glatt, fest und wie aus Gummi. Die Finger
viel zu lang, beinahe um ein Drittel länger als die Finger an der
rechten Hand. Sie sind spitz zulaufend, geradezu tentakelartig, Nägel
fehlen gänzlich. Nur an der Spitze des Mittelfingers, der im
unproportional länger ist als die anderen, hat sich so etwas wie
eine verhornte, stachelartige Kralle gebildet. Die unterentwickelten
Gelenke lassen sich in alle möglichen Richtungen verbiegen und
knicken, wie bei einer abstrakten Gliederpuppe.
Ich bin, gelinde
gesagt entsetzt. Und enttäuscht von meinen unzulänglichen
Fähigkeiten. Nein, Unfähigkeiten! Wie habe ich mich nur
jemals selbst einen Künstler schimpfen können? Wenn es nicht einmal
zu so etwas einfachem wie der lumpigen Plastik einer Hand ausreicht!
Ernüchtert wanke ich auf einen kleinen Schemel zu und lasse mich
gedemütigt darnieder sinken. „Ich bin hässlich…“, schluchze
ich theatralisch mit trockenen Augen und trockener Kehle und vergrabe
das Gesicht in den ungleichen Händen. „Was soll die Theatralik?“,
knurrt eine tiefe Stimme in meinem Kopf und lässt mich
zusammenzucken. „Ich finde die neuen Finger ziemlich geil.“
Himmel, den hab ich ja total vergessen… „Ach, sei leise.“,
stöhne ich und sacke noch weiter in mich zusammen.
12. Akt –
Mit dem Kopf durch die Wand
Für den Augenblick
habe ich mich mit der Abartigkeit meiner eigenen Kreation abgefunden.
Um genau zu sein, Phobos hat mich dazu überredet. Habe nicht die
Kraft und Muße mich in dieser Situation auf eine stundenlange
Diskussion mit dem durchgedrehten Mistkerl einzulassen. Also bleibt
die Hand vorerst dran, funktionieren tut sie ja, außerdem habe ich
wichtigeres zu erledigen. Mir ist die grandiose Eingebung gekommen,
dass ich mir eventuell temporär eine der Fähigkeiten des Mädchens
aneignen könnte, wenn ich mir die Energie in ihrem Blut zunutze
mache.
Aus dem Blut ziehe ich all meine Kräfte, all meine Genialität
lässt sich darauf zurückführen. Als ich noch in der Anstalt vor
mich hin vegetiert habe, signierte ich jedes Einzelne meiner Werke
mit meinem eigenen Lebenssaft, und siehe da… Ich grinse hämisch.
„Was bist du doch für ein gerissenes, intelligentes Wesen…“,
kichere ich vor mich hin und entkorke den Flakon mit Lunas Blut.
„Dankeschön! Du bist aber auch nicht so übel!“, sagt meiner
Bruder höhnisch und ich laufe vor Wut rot an. Dieser verdammte Kerl
geht mir langsam wirklich auf die Nerven. „Halt die Klappe!“,
zische ich böse. „Was denn, was denn?“ Er lacht gackernd. Ich
kann beinahe verstehen warum uns die anderen Menschen immer für
verrückt gehalten haben. Aber die hatten ja keine Ahnung… Sollen
sie erst einmal selbst die Erfahrung machen mit so einer Nervensäge
im selben Körper gefangen zu sein!
Ich ziehe das dickflüssige Blut
in einer Spritze hoch und schlage den rechten Ärmel hoch. Unter der
blassen Haut meines Oberarms zeichnen sich zartblaue Venen ab.
Perfekt. Ich hebe die Spritze. „HALT, NEIN NEIN!“, kreischt
Phobos plötzlich in Panik. „Was zum…?!“ Unsere Hand verkrampft
sich und die Spritze fällt zu Boden, ein vereinzelter Tropfen quillt
aus der Kanüle. „Warum hast du das getan?“, frage ich wütend,
hebe die sie wieder auf und setzte zu einem erneuten Versuch an.
„NEIN, die Blutgruppen, die Blutgruppen!“, zetert Phobos
hysterisch. „Nur äußerlich anwenden oder essen, nur äußerlich
oder essen, nicht innerlich! Wir werden sonst sterben, STERBEN!“
Sterben? Kalter Schweiß tritt plötzlich auf meine Stirn. Bei Gott
er hat recht! Ich habe nicht die geringste Ahnung welche Blutgruppe
das Mädchen hat, und sollte es die falsche sein… Ein kurzer Kampf
zwischen Antigen und Antikörper, Rhesusfaktor im Duell gegen
Rhesusfaktor, dann eine Reaktion, ein anaphylaktischer Schock, das
Blut wird verklumpen und dann… aus, tot. Wie konnte ich nur so dumm
sein… Ich atme tief durch. „Äußerliche Anwendung eh?“, frage
ich. „Lieber essen, ja essen!“ Mein Bruder schmatzt gierig. Ich
verziehe das Gesicht. „Vergiss es! Ich müsste hier noch irgendwo
eine Maske herumliegen haben…“ Phobos fängt an zu jammern. „Komm
schon! Wenigstens direkt auf die Haut, ich brauche das Blut!
Verdammt, brauche es! Ich… ich werde dafür kämpfen!“ Ich spüre
wie er sich innerlich aufrüstet und dazu ansetzt mich zu verdrängen
um komplett die Kontrolle zu übernehmen. „Schon gut, schon gut!“,
rufe ich beschwichtigend und tauche einen Finger in die kalte
Flüssigkeit.
Wenige Stunden
später befinde ich mich im Wald, es ist schwärzeste Nacht und das
Mädchen raschelt hinter mir durch das Laub. Schweigend passieren wir
uralte, knorrige Bäume, einen Bach und eine seltsame Felsformation.
In der Ferne schreit ein Käuzchen und das erstickte Quieken eines
sterbenden Kleinsäugers ertönt. Ach ja, die Natur ist so herrlich
gnadenlos… Plötzlich erkenne ich einen schwachen Lichtschimmer
über einer der Hügelkuppen und bleibe abrupt stehen. Die Kleine
stößt in der Dunkelheit mit mir zusammen und stolpert zurück, aber
ich fange sie auf bevor sie zu Boden fällt. „Schscht!“, zische
ich Luna an. „Leise jetzt, wir sind fast da!“ Sie starrt mich mit
großen Augen an. Dann windet sie sich plötzlich aus meinem Griff
und flitzt flink wie ein Wiesel den Hang hoch. „Dieses kleine
Scheißkind!“, fluche ich entnervt und nehme geduckt die Verfolgung
auf.
Als ich die Hügelkuppe erreiche erstreckt sich plötzlich eine
bedrohliche Festung vor mir. Im Zenit des Mondes steht dort die
Anstalt, die gelblichen Scheinwerfer und sein silbernes Licht
scheinen sich einen erbarmungslosen Kampf um die Vorherrschaft auf
ihren Mauern zu liefern. Es ist gespenstisch still, nur das endlose
Wispern und Murmeln des nächtlichen Waldes erfüllt die kühle Luft.
Selbst die Tiere scheinen dieses Areal zu meiden. Mein Herz pocht mir
bis zum Hals und unangenehme Gefühle und Erinnerungen kommen in mir
hoch, doch ich schlucke sie hinunter und folge der kleinen Silhouette
des Mädchens mit schnellem Schritt. „Komm sofort zurück!“,
befehle ich mit gedämpfter Stimme, doch entweder hört sie es nicht
oder ignoriert mich beharrlich. Wir nähern uns zügig den dicken
Mauern und langsam erkenne ich auf den Wachtürmen menschliche
Umrisse im kränklichen Scheinwerferlicht. Merkwürdigerweise bilde
ich mir ein, ihre Schlagstöcke, Schusswaffen und Angespanntheit
riechen zu können und muss bitter grinsen. Geschickt weichen wir den
suchenden Lichtfingern aus, die den Boden in unmittelbarer Nähe des
Gebäudes abtasten.
Meine innere Anspannung steigt proportional zu
der Nähe mit dem verfluchten Irrenhaus und als Luna einmal nur knapp
einem der Scheinwerferkegel entgehen kann, sterbe ich fast an einem
Herzkasper und kann nur mühsam einen lauten Fluch unterdrücken.
Plötzlich ertönt ein aggressives, heiseres Bellen und ich fahre
zusammen. Heilige Scheiße, die Hunde! Die Wachhunde im Innenhof,
groß wie Kälber und angriffslustig wie eine Herde Wildschweine zur
Paarungszeit. Das Mädchen bleibt ruckartig stehen und nun bin ich
es, der beinahe mit ihr zusammenstößt und sie über den Haufen
rennt. Nur noch ein oder zwei Meter trennen uns von dem massiven
Schutzwall. Über sieben Meter hoch, beinahe zwei Meter dick,
gespickt von Stacheldraht, Scheinwerfern und bewaffneten
Schutzleuten. Eine uneinnehmbare Festung, ein abweisendes Monument
dass nur zu schreien scheint: Verschwinde, hier findest du nichts
außer einer bitteren Niederlage oder den Tod, wenn du besonders viel
Pech hast!
Ich schlucke schwer und starre Luna fragend an. Sie nickt
und ich ziehe wie auf ein stummes Kommando das kleine Fläschchen aus
meiner Manteltasche. Von beiden Seiten nähern sich plötzlich zwei
grell leuchtende Kreise. Ich entkorke das Fläschchen. Die tastenden
Lichtflecken kommen näher. Die kalte, stinkende Flüssigkeit tropft
langsam und gemächlich über mein Gesicht und meine Handrücken.
Näher… Phobos stöhnt genüsslich. Noch näher… Ich greife nach
der kleinen Hand des Mädchens, unsere Finger verschränken sich und
ich spüre dass sie zittert. Dann ist es soweit. Grelles Licht
blendet mich als sich die zwei Kreise genau an unserer Stelle
überschneiden! „JETZT!“, brülle ich und die ganze Anspannung
scheint auf einen Schlag von mir abzufallen wie ein zersplitternder
Mantel aus brüchigem Lehm. Ein hoher, summender Ton erklingt, meine
Augen scheinen in das innere meines Schädels zu rollen und ein
ziehendes Gefühl strahlt von meiner Brust aus durch den ganzen
Körper. Dann….
13. Akt – Der
Mann mit der Maske
… dringe ich in
das transparente Mauerwerk ein und kann mir ein überraschtes
Luftholen gerade noch verkneifen. Es fühlt sich an, als sei mein
Körper von einer zähflüssigen, kalten Substanz umgeben, die sich
um mich herum und in mich hinein windet. Sie dringt mir in
jede Pore und ein grausames Kältegefühl macht sich unter meiner
Haut breit. Obwohl die Masse keinen Widerstand zu besitzen scheint,
bin ich nicht in der Lage mich schneller als in Zeitlupentempo zu
bewegen, beinahe so, als seien meine Glieder eingeschlafen und mein
Körper träge vor Müdigkeit. Dazu kommt eine seltsame und
unangenehme Spannung, welche die Substanz auszustrahlen scheint, sich
auf mir festsetzt und die Härchen auf meinen Armen aufrichtet… Wir
haben es geschafft! Wir haben es tatsächlich geschafft… Ich hatte
Recht mit meiner Vermutung, dass Blut des Kindes würde ihre
Fähigkeiten auf mich überschreiben. Doch für wie lange? Ich
verschiebe diesen Gedanken auf später und versuche mich in der neuen
Umgebung zu orientieren. Es ist unzweifelhaft anders, für wahr… Ein ekelerregendes
Surren und Säuseln bohrt sich in meinen Schädel, anschwellend und
abflauend wie der Atemzug eines gigantischen Wesens.
Quälend langsam
kämpfe ich mich durch diese Konvergenzzone, schaufle halbfeste
Materie hinter mich und ignoriere den pulsierenden Schmerz der sich
hinter meinen Augäpfeln ausbreitet. Im diffusen Licht kann ich
plötzlich das Mädchen vor mir erkennen und ihr Anblick verschlägt
mir den Atem. Sie ist wunderschön… Oh süße
Dimensionen Faltung… wie verzerrst du nur unsere triste Realität.
Es ist pure Inspiration. Sämtliches Haar und
ein Großteil ihrer blassen Haut sind ihr in Fetzen vom Körper
gefallen und schweben um uns herum wie ein Mottenschwarm. Ihr feucht
glänzendes Fleisch schillert rötlich und ihre Gliedmaßen dehnen
sich in abstrusen Winkeln in die Länge. Als sie sich zu mir
umwendet, sehe ich, dass an Stelle ihrer Augen nur glattes, rohes
Fleisch über den Schädel gespannt ist, welches sich in Falten legt
als sie mir ihr kindliches Lächeln zuwirft. Nur anhand ihres
Lächelns kann ich noch erkennen, dass es sich bei der Kreatur vor
mir um Luna handelt. Meine kleine Luna…
Gespannt werfe ich
einen Blick auf meinen eigenen Körper. Auch er hat sich verändert.
Meine Haut ist von einem dichten schwarzen Federkleid bedeckt und auf
meinem Kopf ertaste ich seltsame, fleischige Auswüchse.
Krallenbewehrte Finger, die aus meiner Stirn, meinem knochigen und
deformierten Schädel wuchern… Ich muss unwillkürlich grinsen,
gleichzeitig wird mir jedoch speiübel. Permanent habe ich das
Gefühl, winzige Hände, Tentakel oder Seile würden sich um meine
Knöchel legen um mich in die Unterwelt zu zerren, dazu kommt ein
beißender Gestank von Schwefel und Ammoniak. Dieser Geruch kommt mir
vertraut vor. Ja, das selbe Parfum, das dem Areal anhaftete, welches
ich bereits betreten habe. Ich bin überwältigt und begeistert von
all den neuen, schrecklichen Eindrücken. Wahrscheinlich laufe
ich gerade kichernd in mein Verderben, aber… es ist einfach
wunderbar.
Und dann sind wir
durch. Auf einen Schlag hört der Spuk auf und ich breche auf kaltem,
hartem Stein zusammen, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem
Trockenen. Ich starre das Mädchen an, das ausdruckslos über mir
steht und mich mustert. Sie sieht nun wieder ganz normal aus. Die
Illusion ist vorüber. „Du musst im Riss
nicht die Luft anhalten.“, sagt sie leise. „Ich…“, doch
noch ehe ich einen Satz erwidern kann, dreht sie sich um und
verschwindet in der Finsternis. „Luna!“, brülle ich wütend
hinter ihr her, bevor mir einfällt, dass ich besser meine Klappe
halten sollte, wenn ich überleben will. Meine Genialität, diese
unglaublichen Fähigkeiten machen mich nicht unverwundbar. Und
unsterblich erst recht nicht… oder? Ein unkontrolliertes
Zittern läuft über meinen gesamten Körper, als mir mit einem
Schlag klar wird, wo ich mich nun befinde. Aber es ist ein Zittern
der Erregung. Jegliches Angstgefühl, jeglichen Zweifel an meinem
Vorhaben, habe ich scheinbar vor den Mauern zurückgelassen.
Zurück in Stanleys
Hölle. Und bei weitem
tiefer drin, als jemals zuvor… Ich raffe mich auf
und sehe mich in meiner neuen Umgebung um. Langsam gewöhnen sich
meine Augen an die spärliche Beleuchtung und ich erkenne, dass ich
mich in einem niedrigen gemauerten Gewölbe befinde. Schwach
flackerndes Halogenlicht dringt aus einem Gang etwa zehn Meter von
mir entfernt. Dort muss das Kind verschwunden sein… Knurrend
schleiche ich darauf zu. Jetzt heißt es;
Luna einfangen, meine Bilder aufstöbern und vor allem: Überleben.
Das hat höchste Priorität. Flach atmend und an
die feuchte Mauer gedrückt, bewege ich mich auf den engen Tunnel zu.
Ferne Schreie, hohes Kichern und metallische Klänge dringen an mein
geschärftes Gehör und ich grinse voller Vorfreude. „Auf, auf in den
Kampf!“, flüstere ich sarkastisch. Phobos schweigt.
Es geht vorwärts
immer vorwärts, durch dunkle Gänge und enge, sich windende Tunnel.
Kalte Lichtröhren beleuchten einige Teile der Katakomben in ihrem
gespenstischen Schein, doch die meisten Teile sind stockdunkel oder
zumindest in diffusem Dämmerlicht gehalten. Ich habe das Gefühl
durch die kranken und teilweise abgestorbenen Arterien eines siechen
Organismus zu schleichen immer weiter auf sein schwarzes, halbtotes
Herz zu. Als ich auf die ersten Zellen treffe, verstärkt sich in mir
diese Vermutung. Ich scheinen den Grenzbereich verlassen zu haben.
Hier und da erhasche ich einen schnellen Blick auf einen der
Insassen. Schmutzig und apathisch die meisten, einige schlafend (oder
tot?), andere leise vor sich hin weinend oder kichernd. Es stinkt
erbärmlich nach altem Blut, Krankheit und Exkrementen. „Ich will
hier raus…“; flüstert Phobos plötzlich. Ich bin schockiert.
Nicht weil mich seine Stimme erschreckt hat, nein. Es ist der Ton
darin. Zum ersten Mal seit ich mich erinnern kann, schwingt so etwas
wie… Angst in ihr mit. Kein Abscheu, kein Ekel, Wut oder Hass…
es ist eine verzagte, erbarmungswürdige, beinahe kindliche Angst.
Das beunruhigt mich.
Ein lautes Klirren
reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Murmeln und Zischen ertönt von
allen Seiten und ich erkenne, dass ich mich in einem relativ großen
und runden Raum befinde, mit nicht weniger als neun oder zehn
kreisförmig angeordneten Kammern an den Wänden. Zwei oder drei
Zellen sind leer, die Insassen der anderen stehen steif und
bewegungslos hinter den Gittern und starren mich an. Nur ihre Münder
bewegen sich und geben ein kontinuierliches Geflüster und Gewisper
von sich. „Ist er es….? Ja,ja, er muss es sein, muss es sein….
ist gekommen… Endlich hier… Tötet er uns…? Vielleicht bald,
vielleicht…. Er ist es!“
Unbehaglich sehe ich mich um, überlege
ob ich weitergehen soll, flüchten bevor sie mich verraten, oder…
Ich entschließe mich anders und gehe auf eine der Zellen zu. Ein
kleine, alte Frau mit verfaulten Zähnen und eingefallen Wangen steht
hinter den Gittern und klammert sich daran fest wie ein Ertrinkender
am letzten Strohhalm. Als sie mich auf sich zukommen sieht, treten
plötzlich Tränen in ihre Augen und sie streckt eine magere Hand
nach mir aus. „Du bist es…“, haucht sie und streicht zärtlich
über mein Gesicht, während ihr Tränen über die Wangen laufen.
„Endlich bist du gekommen…“ Ich zucke unter ihrer Berührung
zusammen, bleibe allerdings standhaft und rühre mich nicht vom
Fleck. „Woher…“, setzte ich leise zu einer Frage an, doch die
Alte unterbricht mich. „Ich habe dich gesehen… als sie mir das
Gedicht zu lesen gaben und die Bilder gezeigt haben. Wir alle haben
dich gesehen…“ Zustimmendes Murmeln von allen Seiten. „Du bist
der, der uns erlösen wird… uns befreien wird… du bist endlich
da…“ Weinend klammert sie sich an die Gitterstäbe und streicht
über mein Gesicht, meine Haare… Voller Grauen erkenne ich an ihren
verschwommenen, silberfarbenen Augen, dass sie blind ist.
Taumelnd
trete ich von ihrer Zelle zurück und breche beinahe unter meinen
widersprüchlichen Gefühlen zusammen. Mit einer Mischung aus
Abscheu, Stolz, Ekel, Selbstzufriedenheit, Verwirrung und Wut drehe
ich mich um mich selbst und starre auf die bettelnden, flehenden,
heruntergekommenen Kreaturen in ihren kleinen Kerkerlöchern, die
teils lachend, teils weinend immer wilder an den Stäben ihrer
Gefängnisse rütteln. Überwältigt stolpere ich wieder zurück in
den Gang aus dem ich gekommen bin und fliehen von diesem seltsamen
Ort. Ihr verzweifeltes Wispern verfolgt mich noch lange, auf meinem
einsamen Weg durch Stanleys Katakomben. Ob diese Wesen nach dem Tod
des Doktors einfach hier unten vergessen wurden? Ich weiß es nicht…
Plötzlich öffnet
sich ein weiterer Raum vor mir, von dem exakt gleichen
architektonischen Aufbau wie der erste. Allerdings scheinen alle
Zellen leer zu sein. Vor der letzten, die direkt gegenüber von mir
liegt, steht eine kleine Gestalt mit langen, blonden Haaren. Es ist
Luna. „Hier bist du also!“, zische ich. „Komm sofort her, wir
müssen weiter, sonst…“ Sie bewegt sich nicht, kehrt mir
weiterhin den Rücken zu und plötzlich höre ich etwas. Ein
seltsames Schnaufen, ein gleichmäßiger gurgelnder Ton, nass und
ungesund, der direkt aus ihrer Richtung zu kommen scheint. Vorsichtig
gehe ich auf sie zu. „Luna…?“
„Er… er macht
mir Angst…“, sagt sie leise erst jetzt erkenne ich, dass doch
nicht alle Zellen leer stehen. Eine Gestalt hockt zusammengesunken an
der Rückseite der winzigen Kammer und stößt dabei diese seltsamen
Atemgeräusche aus. Ich trete an das Gitter heran und lege Luna meine
Hände auf die Schultern. Das Wesen scheint annähernd menschlich zu
sein, hat schmale Schultern und trägt einen zerlumpten
Kapuzenpullover auf dem ich eingetrocknete, rotbraune Flecken
erkenne. Eine blaue, gewölbte Maske verdeckt das Gesicht, nur zwei
runde Augenlöcher sind frei und entblößen nichts als Schwärze.
Die Schwärze tropft. „Wer ist das?“, frage ich, doch Luna
antwortet nicht. Ein Ruck fährt durch den, bis dahin bewegungslosen
Körper und mit einem ekelerregenden Knirschen dreht sich die Maske
in meine Richtung. „Ich…“, gurgelt die Kreatur mit einer
bodenlosen, unmenschlichen Stimme. „…Bin das Orakel.“
Ich
schlucke. „Das Orakel? Welches Orakel?“ Das Wesen ignoriert meine
Frage und fährt fort. „Ich war nicht immer hier weißt du? Und
seitdem ich hier bin, war auch lange niemand mehr bei mir…“
Knarzend erhebt es sich und schlurft langsam auf das Gitter zu. Das
keuchende Atmen wird lauter und ein schwerer, öliger Geruch dringt
in meine Nase, beißend wie brennendes Pech. „Ich kenne dich!“,
rufe ich erstaunt als er vor mir steht, „Ich habe von dir in der
Zeitung gelesen, du bist der den sie Eyeless Jack nennen!“ Meine
Hände graben sich in Lunas Schultern. Das Mädchen hat mich
tatsächlich zuverlässig zu meinem nächsten Klienten geführt. Die
Gestalt knurrt und grunzt abfällig. „Eyeless Jack…“, schnauft
er verächtlich. „Was für ein lächerlicher Name… “ Die
schwarze Flüssigkeit rinnt langsam aus seinen Augenhöhlen und
tropft zu Boden.
„Also ich finde ihn ganz passend“; sage ich und
kichere nervös. Das Wesen gibt verärgerte Laute von sich und ich
wechsle schnell das Thema. „Du bist also… ein Orakel?“ Jack
nickt langsam und plötzlich schießt sein rechter Arm mit einer
Schnelligkeit und Unvorhersehbarkeit einer angreifenden Viper durch
das Gitter und ein nasskalter Finger bohrt sich in meine Stirn. Bevor
ich reagieren kann, zieht er seinen Arm wieder zurück, hebt die
Maske an und steckt den Finger darunter. Ein brennender Schmerz geht
von meiner Stirn aus und eine warme Flüssigkeit tropft in meine
Augen. Als ich sie berühre, erkenne ich frisches Blut und fluche
laut. Ein beinahe perverses Schlürfen und Schmatzen dringt unter der
Maske des Wesens hervor und ich weiche angewidert vom Gitter zurück.
„Was sollte das?“, rufe ich wütend und geschockt. Er ignoriert
mich und schweigt. Nach ein paar Herzschlägen ertönt seine tiefe,
gurgelnde Stimme, allerdings scheint sie auf einmal vielschichtiger
zu sein, als würden sich mehrere, vollkommen unterschiedliche
Stimmen überlagern. „Deimos… ich habe eine Botschaft für
dich… doch ich verlange etwas als Gegenleistung dafür.“ Meine
Gedanken überschlagen sich. „Woher weiß ich, dass ich dir
vertrauen kann? Woher weiß ich, dass das Ganze hier kein fauler
Trick ist?“ Das Wesen lacht grausam. „Das weiß niemand. Aber
mein Angebot… steht.“ Ich fasse mir ein Herz und trete wieder
näher an das Gitter heran. „Gut. Was willst du?“ Er kichert
hinterhältig und ein gieriger Ton schleicht sich in seine
Grabesstimme. „Eine Niere. Eine Niere von dem kleinen Mädchen da!“
Luna wimmert leise, doch ich versteife mich und lege wieder meine
Hände auf ihre Schultern. „In Ordnung, ich nehme das Angebot an.“
Das Mädchen versucht sich aus meinem Griff zu befreien, doch ich
halte sie gnadenlos fest. Während sich der Maskierte vor uns
siegessicher die Hände reibt, baue ich unbemerkt die mentale
Verbindung zwischen uns auf und taste nach Lunas Geist.
Keine Sorge, dir
wird nichts passieren. Ich habe einen Plan.
„Also,“, sage
ich laut zu dem Wesen hinter dem Gitter. „Dann halte dich an deinen
Teil der Abmachung und fang an!“ Das gurgelnde Keuchen schwillt an
und langsam hebt er die Hände an die Ränder seiner blauen Maske.
Die gewölbte Schale wird zur Seite geschoben und das, was darunter
liegt, raubt mir für einen Moment den Atem. Eine klaffende
Mundhöhle, besetzt mit mehreren Reihen verfärbter,
schleimüberzogener Haifischzähne ruht in einer vollkommen glatten,
silbernen Fläche. Darüber liegen zwei kreisrunde, schwarze Löcher,
augen-, und bodenlos. Tiefe Brunnen in einer Spiegelwüste. Das ist
kein Gesicht. Das ist ein surreales Albtraumgemälde. Und es gefällt
mir. „Nun…?“, frage ich abwartend, doch das Wesen schweigt. Auf
einmal scheint sich sein Gesicht zu verflüssigen, schlägt
Wellen und bildet ausufernde, ringförmige Kreise um das Maul und die
Augen. Wie Quecksilber fließt und gleitet die Substanz hin und her,
schlägt schließlich über den leeren Augenhöhlen zusammen und
verfestigt sich wieder. Nun befindet sich dort nur noch ein glatter,
makelloser Spiegel in dem ich mein eigenes Gesicht sehen kann. Ich
beuge mich näher heran, bis die gesamte Fläche von meinem
Spiegelbild eingenommen wird.
Nicht passiert, ich starre nur in meine
eigenen grünen Augen und ein kalter Schauer läuft über meinen
Rücken. Ein kleiner, beinahe unsichtbarer Funken schleicht sich
plötzlich in diese Augen und breitet sich in Sekundenschnelle darin
aus wie ein außer Kontrolle geratener Buschbrand. Sie ertrinken in
leuchtendem Rot, durch das sich spiralig angeordnete Kreise und
Ringe ziehen! Bei Gott, wieder diese Augen! Mir wird übel und ich
versuche wegzusehen, doch es geht nicht. Ich bin erstarrt und
gezwungen, weiter in diese schreckliche Visage zu starren. Meine Haut
verändert sich, wird schwarz und mein Mund zieht sich plötzlich von
einem Ohr bis zum anderen, als habe man mir mit einer Axt das Gesicht
gespalten. Spitze Reißzähne wuchern daraus hervor und die
konzentrischen Kreise in meinen brennenden Augen wirbeln immer
schneller und schneller um sich selbst. Nein, nein… Plötzlich
dringt ein hoher und grauenerfüllter Schrei zu mir durch und reißt
mich aus der verhängnisvollen Trance.
Beinahe stürze ich zu Boden,
kann mich gerade noch keuchend und zitternd am Gitter festklammern.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Luna, die mit angstverzerrtem Gesicht
vor mir zurück weicht, sich umdreht und aus dem Gewölbe flieht.
„Nein!“, kreischt nun auch das Wesen im Käfig wütend und
gurgelnd. „Ihr habt mich betrogen, betrogen!“ Die Situation
entgleitet mir nun vollends und eskaliert. Ich wirble zu dem
keifenden und spuckenden Wesen herum und kochender Zorn ergreift von
mir Besitz. Ich hebe den Arm und bevor er reagieren kann, schmetter
ich meine geballte Faust durch das Gitter hindurch in Jacks
ausdrucksloses Gesicht. Ein hohes Klirren ertönt, ein überraschtes
Glucksen und dann zersplittert das Spiegelglas in tausend Scherben.
Eine stinkende, schwarze Substanz quillt in zähflüssigen Strömen
aus dem zerstörten Kopf und ergießt sich auf den Zellenboden. Stumm
sackt das Wesen in sich zusammen, die blaue Maske fällt aus seiner
Hand und rollt wie eine grausige Frisbee in den hinteren Teil seines
Kerkers. Ohne zu überlegen ziehe ich ein Reagenzglas aus der Tasche,
fange einen kleinen Teil der Flüssigkeit auf, verkorke es wieder und
verstaue die kostbare sicher in den Tiefen meines Mantels. „LUNA!“,
brülle ich verzweifelt und stürme dem
Mädchen nach. Ich presche
aus dem Raum hinaus in den Gang, in dem sie verschwunden ist. „Zu
unvorsichtig.“, knurrt Phobos plötzlich in meinem Kopf, doch bevor
ich Zeit habe mich darüber zu wundern, bekomme ich plötzlich einen
brutalen Schlag auf den Hinterkopf. Alles wird schwarz. Das war’s
dann wohl…
Als ich die Augen
aufschlage ist es noch immer schwarz. Als ich versuche mich zu
bewegen ist mir dies unmöglich. Ich spanne meine Muskeln an, doch
nichts passiert. Eine feste und furchtbar enge Hülle presst sich um
meinen Körper, schnürt mir bösartig die Luft ab und meine Arme
sind auf eine unangenehme Art und Weise vor meinem Oberkörper
verschränkt, selbst die Hände. Keinen Finger kann ich rühren,
keinen Einzigen. Schmerzen und kalter Stein malträtieren mein Kreuz
und als ich begreife, dass mir dieses hilflose Gefühl der kompletten
Bewegungsunfähigkeit nur allzu bekannt ist, kocht Panik in mir hoch.
„Nein… nicht schon wieder. Bitte nicht.“
Die Luft ist
nasskalt und riecht nach Schimmel und Fäulnis. Ich versuche die
brodelnde Furcht in mir niederzukämpfen und durch kühle
Gelassenheit zu ersetzten. Plötzlich flammt ein kleines Licht auf,
es zischt elektrisch und die niedrige Decke explodiert förmlich in
einem grellweißen Inferno. „Aaaargh…!“, keuche ich überrascht
und schmerzerfüllt. Als ich versuche meine geblendeten Augen mit
einer Hand zu schützen wird dies von der Zwangsjacke in die sich
mich gesteckt haben verhindert. „Verdammte Scheiße…“, knurrt
Phobos durch unseren Mund. „Psst!“, zische ich. „Sei still!“
Ein pfeifendes
Atmen, ein hölzernes, regelmäßiges Tock, Tock, Tock, im
Hintergrund viele, sehr viele Schritte. Panisch blinzle ich in das
blendende Weiß und versuche etwas zu erkennen. Gedämpftes Murmeln
und verhaltenes Husten ertönt. Dann eine Stimme. Sehr alt und
zerbrechlich. „Das ist er also?“ „Ja.“, flüstert eine
andere, „Das ist der Patient.“ Das dumpfe Pochen kommt näher und
plötzlich kann ich einen seltsamen Geruch wahrnehmen, muffig und
erdig, als hätte man einen Spaten voller Erde aus einem alten Grab
ausgehoben. „Willkommen.“ Ein leichtes Zögern. „Willkommen
zuhause… Deimos.“
Meine getrübte
Sicht klärt sich langsam und ein altes Gesicht schält sich nach und
nach aus dem einheitlichen Weiß. Männlich, bebrillt, mit
schneefarbenem Bart und irgendwie aus der Zeit gefallen. Als ich ihn
erkenne, verschlägt es mir vor Fassungslosigkeit den Atem. „Sie!“,
rufe ich mit einer anklagenden Mischung aus Unverständnis und Zorn.
„Aber warum?! Warum ausgerechnet sie?! Sie sind seit über Vierzig
Jahren tot!“
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