Gitter vor der Sonne
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Sie hatten in dieser Nacht nicht schlafen können. Zaghaft begann die Morgenröte über den Horizont zu kriechen, und sie verfolgten dieses wunderschöne Schauspiel in andächtigem Schweigen durch das vergitterte Fenster der Zelle. Die Zelle war ein kleiner, grauer Würfel mit einer Ausstattung von zwei stählernen Betten und einem Eimer. Ansonsten war sie leer. Bis auf die beiden Männer, die sich auf den unbequemen Betten gegenübersaßen, jedenfalls. Sie warteten. Worauf, das wussten sie selbst nicht genau. Das Schweigen wurde unbequemer, bis der jüngere der Männer es schließlich brach. Seit sie in diese Zelle gebracht worden waren, hatten sie nicht einmal miteinander gesprochen. Jetzt räusperte der junge Mann mit dem kantigen Gesicht sich und sagte mit heiserer Stimme: „Wissen Sie, ich muss immerzu an meine Frau denken. Wie… Wie es ihr und dem Kind geht, und alles. Wie ist denn das bei Ihnen, wenn ich fragen darf?“ Der ältere Mann richtete seinen Blick auf ihn. Er hatte ein freundliches Gesicht, in das sich schon einige Falten gegraben hatten. Sein Haar war weiß und wohl schon seit längerer Zeit im Rückzug begriffen, und über einer kleinen Nase saßen zwei intelligente dunkle Augen. Schon bei der Aussicht auf ein Gespräch über seine Lieben hellte sich seine ernste Miene merklich auf. „Nun, meine Eltern sind nicht mehr am Leben und auch meine Frau nicht. Aber ich liebe sie immer noch! Nie habe ich an eine andere gedacht, das schwöre ich! Meine Töchter sind das einzige, was ich noch habe. Die Guten! Wie oft haben sie mich besucht und mir Mut gemacht, wenn ich… Wenn ich kurz davor war… Sie kennen das bestimmt… Wenn man einfach, Sie wissen schon, aufhören will. Oder?“
„Ja. Das kenne ich nur zu gut. WissenSie, ich… Also, meine Frau ist schwanger. Es müsste jetzt der achte Monat sein. Ich zähle die Tage an den Fingern, aber manchmal komme ich durcheinander. Und ich kann ja auch nur bis neun…“, lachte er bitter und hielt seine verstümmelte linke Hand hoch. Kein Mittelfinger mehr. „Den haben sie mir für Frechheiten abgeschnitten. Raten Sie mal, was das für Frechheiten waren, und warum ausgerechnet der Finger.“ Er schlug auf das Kissen. Dann lauter: „ Schweine!“ Der ältere Mann blickte sich unbehaglich um: „Ruhig, Freund. Machen sie es doch noch nicht schlimmer.“ Wieder ein bitteres Lachen, diesmal mit einem Anflug von Verzweiflung: „Noch schlimmer? Wie soll das denn möglich sein?“ Schweigen. Dann wieder der junge Mann: „Es tut mir leid. Es ist nur… Wie können sie es nur aushalten, so herumzusitzen? Wie können sie dasitzen und ruhig sein? Wollen sie denn gar nichts tun? Schreien, laut sein, zuschlagen?“
Der Alte senkte müde den Blick: „Was würde es bringen?“ Nur das kam heraus, doch es reichte völlig, um seinem Gegenüber jede Aufregung zu entziehen. Schlagartig erkannte er, dass der Andere recht hatte, sie konnten nichts tun. Er dachte an Julia. Sie hatte geweint, als sie ihn mitgenommen haben. Nicht daran denken. Er erinnerte sich an einen Tag, der ihm unendlich lange erschien. Sie hatte an der Fensterbank gestanden, und er war von hinten an sie herangeschlichen und hatte sie umarmt. Damals war ihr Bauch noch kleiner gewesen. Sie war herumgewirbelt und hatte ihn getadelt, was ihm einfiel, eine schwangere Frau zu erschrecken. Er hatte ihre Tirade mit einem Kuss auf die Nasenspitze unterbunden, und sie hatte gelächelt. Das flauschige Haar in ihrem Nacken hatte golden geglänzt, und er liebte sie. Das war schön gewesen. Seine Gedanken kreisten um das Baby. Was für ein Mensch würde aus seinem Samen entstehen? Ein Junge oder ein Mädchen? Die ewige Fragerei brachte ihn um. Könnte er Julia und das Kind doch nur sehen. Ein einziges Mal. Es brannte in seinen Augen.
Der junge Mann sah gar nicht schlecht aus, fand er. Das Gesicht war von einer kantigen, scharfen Männlichkeit. Blaue Augen. Blondes Haar. Er schätzte ihn auf zwanzig Jahre, vielleicht mehr. Er ahnte, wie schwer es für ihn war. Er hatte sich mit so ziemlich allem abgefunden. Er hatte sich nie gewehrt. Einerseits, weil er die Lektion gelernt hatte, die sein Mitbewohner wohl gerade lernte; und zum anderen wusste er, das alles auf seine Töchter zurückfiel, was er tat. Er liebte die beiden und wollte, dass sie ein schönes Leben führen konnten. Ein schöneres als seines. Er wollte den anderen trösten. Er war ja fast noch ein Kind. Mit vom langen Sitzen steifen Schritten durchquerte er den Raum. Viele brauchte er nicht. Er fühlte sich wie gerädert. Seine Augen brannten, sein Kopf schmerzte und er war müde, aber an Schlaf war nicht zu denken. Er setzte sich neben ihn und tätschelte ihm die Schulter. Das Bett quietschte, als er ihm auf den Rücken klopfte. Der Blonde unterdrückte die aufkommenden Tränen und flüsterte: „Danke, Mann.“ – „Keine Ursache. Wir müssen zusammenhalten.“ – „Ich weiß, aber es ist so verdammt unfair.“ – „Ja, das ist es.“ Sie schwiegen. Dann irgendwann regte sich der Junge: „Willst du ’nen Witz hören?“ Der Alte lächelte schwach. „Sicher, warum nicht? Lachen kann nicht schaden.“ Er hatte registriert, dass der andere das Du benutzt hatte. Sie hielten zusammen.
“Darf ich Sie mit unserem Gefängnisdirektor bekanntmachen?“ – „Angenehm! Sagen Sie mal, wie wird man eigentlich Gefängnisdirektor? Haben Sie als einfacher Gefangener angefangen?“
Sie lachten beide. Zuerst war es mehr ein nervöses Kichern, doch sie steigerten sich so hinein, dass sie nicht mehr aufhören konnten. All die Anspannung und die Angst lösten sich für einen kurzen Moment. Die Sonne hatte mittlerweile den Himmel erobert. Als das Lachen verebbte, bedanke der Alte sich. „Sowas habe ich gebraucht“, kicherte er mit feuchten Augen. Plötzlich klickte die kleine Klappe an der Zellentür. Verblüfft beobachteten sie, wie eine behandschuhte Hand zwei Zigaretten und eine Packung Streichhölzer hindurchschob. Der Grauhaarige erhob sich und sammelte die Gaben auf. Die Streichholzpackung enthielt nur ein Streichholz. Von einer plötzlichen Fröhlichkeit getrieben rief er laut: „Ihr Knauser! Dafür sollte man euch einsperren!“ Der Blonde lachte. Er steckte sich eine Zigarette an, der andere wollte keine. Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken. Als der Rauch ihm wohltuend im Hals brannte, merkte er, wie lange er schon nicht mehr geraucht hatte. Er zog zu schnell, und die Zigarette glühte zu schnell herunter, sodass sie nicht mehr schmeckte, doch das war ihm egal. Sie beobachteten den Rauch, der sich langsam kräuselnd zwischen den Gittern hindurchschraubte und in der Dämmerung entschwand. In der Freiheit.
Unerwartet und plötzlich das Geräusch von Schlüsseln im Schloss. Sie blickten sich an. Auf einmal waren sie ganz ruhig. Die Tür wurde grob geöffnet, und zwei uniformierte Polizisten standen als Silhouetten in der Tür. Sie umarmten sich, und der Alte flüsterte dem Jungen ins Ohr: „Sei stark! Sei stark und aufrecht! Knie nicht vor diesen Verbrechern! Ich wünsche dir… Ich…“ Die Stimme des Alten brach. Als sie ihn abführten, stolperte er einmal und fiel beinahe hin, wurde aber weitergezerrt. Er drehte sich noch einmal um und rief mit einer unerwarteten Fröhlichkeit in der Stimme: „Vergiss niemals, wir sind im Recht! Und das wissen sie! Deshalb müssen sie uns töten!“ Dann war er weg. Die Zellentür schlug zu. Der Blonde rauchte schweigend weiter. Äußerlich ruhig, doch dann ergriff ihn ein Zittern, das er nicht kontrollieren konnte. Er stand kurz vor dem Zusammenbruch, doch mit jeder Faser seines Willens klammerte er sich an das Bild seiner Frau mit ihrem dicken Bauch. Sein Kind! Er dachte an den Augenblick an der Fensterbank. Er dachte daran, wie stark der Alte gewesen war, und wie sie zusammen gelacht hatten. Das gab ihm Kraft, und mit der erlöschenden Glut der alten Zigarette zündete er sich die Neue an. Als sie die Tür erneut aufschlossen, ließ er sie vor Schreck fallen. Doch als sie ihn abführten, ging er stolz und aufrecht. Sie konnten ihm nichts tun, das wusste er. Kein Erschießungskommando konnte das, denn er war im Recht. Er dachte an den Alten. Er dachte an seine Frau. Julia. Und er dachte an sein Kind. Er ging mit ihnen.
In der leeren Zelle blieb die Zigarette verlassen zurück. Der Rauch drehte sich in Spiralen, stieg hinauf, der Sonne entgegen, doch lange bevor er den Himmel erreichen konnte, wurde er von Winden zerstreut.