ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
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Jetzt anmelden oder registrierenGroßvater Yu war mein absoluter Lieblingsmensch. Ich konnte ihm jedes noch so peinliche Geheimnis anvertrauen und er hat keiner Menschenseele je davon erzählt. Durch sein erstaunliches Allgemein-wissen half er mir auch, wann immer ich bei ihm zu Besuch war, bei den Hausaufgaben oder der Ausarbeitung von Referaten.
Ich sage deshalb „war“, weil er gestorben ist, als ich gerade einmal neun Jahre alt war. Und mit in sein Grab nahm er ein Geheimnis, welches ich wohl niemals lüften werde. Großvater hatte mir damals oft von seinem großen Bruder erzählt, den ich leider nie kennengelernt habe. Meine Eltern sprachen mit mir nie über seine Todesursache und auch Großvater hielt sich mit Informationen eher bedeckt – doch irgendwann konnte ich ihn dazu bringen mir mehr über seinen Bruder zu erzählen.
Aber immer der Reihe nach. Ich war damals acht Jahre alt und ich war bei Großvater zu Besuch. Großvater hatte mir gerade bei meinen Hausaufgaben geholfen, als ich ihn aus dem nichts heraus fragte: „Du, Großvater, wie war dein großer Bruder Hideo eigentlich?“
„Nun, Hatori“, Großvater war über meine plötzliche Frage etwas überrascht, „er war damals nicht nur mein großer Bruder; er war auch mein bester Freund. Zu Grundschulzeiten hatten wir beide zwar auch noch andere Freunde, doch keine Freundschaft blieb über die Mittelschule hinaus bestehen.“
„Was war passiert, dass ihr nicht mehr so viele Freunde hattet?“, entgegnete ich mit einem bedrückten Gesichtsausdruck.
„Zum einen fuhren viele unserer ehemaligen Freunde mit dem Zug nach Tokyo, um dort auf die Mittelschule zu gehen. Sie behaupteten, dort wären die Chancen später auf eine angesehene Oberschule zu gehen besser. Aber mal unter uns, von denen haben es nur die wenigsten wirklich zu etwas gebracht.“
Ich sehe ihn beim letzten Satz immer noch mit einem zynischen Grinsen vor mir. Es hatte ihn wohl damals sehr mitgenommen, dass seine einstigen Spielkameraden ihn so früh im Stich ließen und er amüsierte sich über das Fehlschlagen seiner einstigen Freunde.
„Zum andern, Hatori, kam 1996 der Nintendo 64 auf den Markt und alle Jungs der Schule besaßen einen. Nun ja“, Großvater schmunzelte, „alle bis auf Hideo und ich. Dadurch waren wir natürlich schnell die Außenseiter, weil wir bei den Spielen nicht mitreden konnten. Also verbrachten Hideo und ich die Pausen allein. Ab und zu spielten wir Tischtennis oder Basketball. Zuhause spielten wir Karten oder erzählten uns Gruselgeschichten über mythische Wesen. Am meisten über die Onryō und Yūrei, böse Geister von den Toten.“
„Warst du nie eifersüchtig auf die anderen Kinder, also auf die, die eine Spielkonsole hatten?“
„Anfangs waren Hideo und ich sehr eifersüchtig. Unsere Eltern hatten nicht viel Geld, sodass sie uns eine Konsole hätten schenken können. Also haben wir in den Ferien Zeitungen ausgetragen, aber es reichte bei Weitem nicht für eine Konsole. Es machte mich sehr wütend, dass die Jungs in den Pausen nicht mit uns Fußball oder Basketball gespielt haben, sondern sich stattdessen immer nur über „Super Mario“ oder „The Legend of Zelda“ unterhalten haben.
„Das muss für dich und deinen Bruder eine schlimme Zeit gewesen sein. Aber sag mal Großvater, warum habe ich deinen Bruder Hideo nie kennengelernt?“
„Nun…“, Großvater hielt kurz inne, „Hideo wurde während der Schulzeit ermordet.“ Das letzte Wort klang wehmutsvoll in meinen Ohren.
„W… Was?!“, stotterte ich schockiert. Obwohl ich gerade einmal acht Jahre alt war, konnte ich es nicht fassen, dass so etwas in der Realität passieren könnte. Doch ich atmete tief durch und wollte unbedingt erfahren, wer ihn ermordet hatte.
„Großvater, magst du mir erzählen, wieso jemand Hideo umgebracht hatte?“
„Hatori“, Großvater legte seine Hand auf meine Schulter, „möchtest du es wirklich wissen? Diese Geschichte ist nichts für einen Achtjährigen.“
„Ich will es unbedingt erfahren! Nein, ich muss es unbedingt wissen!“
„Hah… Also gut, aber erzähl bitte deinen Eltern nichts davon. Versprochen?“
„Großes Indianerehrenwort, Großvater.“ Mit meinen Fingern fuhr ich an meinem Mund entlang, als würde ich meinen Mund wie einen Reißverschluss verschließen. Großvater ging mit mir ins Wohnzimmer und wir nahmen bei einer Tasse Tee auf dem Sofa Platz.
„Damit du jedoch verstehst, warum Hideo ermordet wurde, muss ich etwas ausholen.
Wie schon gesagt, waren Hideo und ich an unserer Schule Außenseiter, weil wir keine Spielekonsole besaßen. Doch anstatt uns einfach zu ignorieren, fingen einige Schüler bald an uns zu ärgern. Allem voran Kazumi Hiragaya mit seinen Freunden. Kazumi war mit mir in der achten Klasse. Seine Freunde hingegen kamen sowohl aus der achten als auch aus der neunten Klasse. Anfangs rissen sie nur blöde Sprüche…“
„Was denn für welche, Großvater?“ Ich weiß es ist unhöflich jemandem, der spricht, ins Wort zu fallen. Doch ich wollte jedes noch so kleine Detail erfahren.
„Alles Mögliche Hatori. Angefangen damit, dass unsere Eltern zu arm sind, um uns eine Spielkonsole zu kaufen, bis dahin, dass wir als Außenseiter nichts auf dieser Schule zu suchen hätten. Diese Beleidigungen steckten Hideo und ich noch problemlos weg. Was viel schlimmer war, war dass es nicht bei solch kindischen Kommentaren blieb. Da ich damals die Statur eines Grashalms hatte, wurde ich von Kazumi und seinen Freunden oft körperlich schikaniert. Das fing damit an, dass sie mich auf dem Flur anrempelten. Später stellten sie mir ein Bein oder schubsten mich zu Boden.
Zum Glück war Hideo stets an meiner Seite. Wann immer es ihm möglich war, hielt er die Schläger davon ab, mich zu schikanieren. Als sie einmal einen Kreis um Hideo bildeten, um ihn zu verprügeln, erteilte er ihnen die Lektion ihres Lebens. Ich staune jedes Mal darüber, wenn ich mir in Erinnerung rufe, wie er Kazumi und seine Freunde bezwungen hat. Ähnlich wie in einem Bruce Lee- oder Jackie Chan-Film. Schon nach kurzer Zeit wagten es Kazumi und seine Freunde es nicht mehr sich auch nur in unsere Nähe zu begeben.
Doch das Schicksal meinte es nicht lange gut mit uns.
Am 21. Januar 1997, diesen Tag werde ich niemals vergessen, veränderte sich mein Leben und das meiner Familie schlagartig. An dem Tag blieb ich nach dem Unterricht noch circa zwei Stunden in der Schulbibliothek, um mir Wissen für ein Referat anzueignen. Hideo war währenddessen noch beim Fußballclub trainieren. Ich nahm ein Buch von Charles Darwin über seine Lehren zur Evolution und natürlichen Selektion zur Hand. Da ich religiös erzogen wurde, fehlte mir das nötige Wissen über die Evolutionslehre.
Gegen 18:00 Uhr kam Hideo mit seiner Sporttasche in die Bibliothek.
„Hey Hideo“, begrüßte ich ihn mit einem Lächeln im Gesicht, „wie war dein Training?“
„Super“, „antwortete er erschöpft und überglücklich, „ich habe zwei Tore geschossen. Yasuke Sensei meinte zu mir, ich sei beim Spiel gegen die Ongata-Mittelschule sein Ass im Ärmel.“
„Das sind ja wunderbare Neuigkeiten. Das müssen wir unbedingt Ma und Pa erzählen!“ Als Ausdruck, wie sehr ich mich für Hideo freute, stand ich auf und umarmte ihn.
„Danke kleiner Bruder. Sag, wie läuft es mit der Ausarbeitung deines Referates?“
„Nicht so gut“, meine vorherige Freude wich Ernüchterung, „das Thema ist wirklich schwierig für mich. Ich werde zuhause noch viel lesen müssen; das Referat ist ja schon in drei Tagen.“
„Na dann lass uns nach Hause gehen. Mama dürfte auch schon das Essen fertig haben. Wenn du Hilfe brauchst, sag einfach Bescheid. Ich hatte damals in der achten Klasse auch dieses Thema. Ein bisschen weiß ich davon noch.“ Hideo´s Worte trösteten mich ein wenig. Zum Glück hatte ich so einen hilfsbereiten Bruder. Ich packte meine Notizen und das Buch von Darwin in meine Tasche und wir machten uns auf den Weg nach Hause.
Unser Heimweg war länger als zu Grundschulzeiten; wir mussten uns also beeilen, wenn wir pünktlich zum Essen da sein wollten. Unser Weg führte durch unzählige Wohngebiete, – Seitengassen dienten uns als Abkürzung. Doch an diesem Tag stimmte irgendetwas nicht. Eigentlich waren wir die Einzigen, die die Seitengassen als Abkürzung nahmen, da unsere Mitschüler meistens auf den Hauptstraßen bei Imbissbuden und Einkaufsläden anhielten. Doch aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, als würde uns jemand verfolgen. Ich stupste Hideo vorsichtig mit meinem Ellbogen an und flüsterte: „Psst, Hideo. Ich glaube, jemand verfolgt uns.“
„Das bildest du dir bestimmt nur ein“, gab er selbstbewusst und kühn zur Antwort, „wir sind schließlich nicht die einzigen Menschen in Akiruno, da kann es schon mal passieren, dass noch jemand diese Gassen als Abkürzung nimmt.“
„Mag schon sein, aber ich habe das Gefühl, dass die Person uns seit der Schule verfolgt. Ehrlich gesagt, habe ich heute Angst durch die Gassen zu gehen.“
Hideo fand mein Verhalten sicherlich merkwürdig. Dennoch nahm er meine Bedenken ernst und erwiderte: „Also gut, wir gehen heute über die befahreneren Straßen nach Hause. Es wird zwar etwas länger dauern, aber wenn du dich besser fühlst, dann ma…“
„Hideo… hinter dir!“
Es war zu spät. Die Person, die uns verfolgt hatte, war Kazumi Hiragaya. Er wohnte in entgegengesetzter Richtung von uns und hatte uns absichtlich bis hierhin verfolgt. Ein Küchenmesser steckte tief in Hideos Bauch.
„Hideo Tanaka, jetzt wirst du für alles bezahlen, was du mir und meinen Freunden angetan hast!“ Diese Worte erhob er mit einer tiefen, ruhigen, fast schon psychopathischen Stimme.
Hideo versuchte sich aus den Klauen seines Angreifers zu befreien, doch sofort stieß er sein Messer erneut in Hideos Bauch, …wieder… und wieder.“ – Die Stimme meines Großvaters wurde immer bedrückter und er kämpfte damit nicht in Tränen auszubrechen, als er die Szene beschrieb.
„Ich… Ich habe nicht gezählt, wie oft er sein Messer in Hideo´s Bauch rammte. Doch nach kurzer Zeit war das Messer bereits in Blut getränkt und lief zudem an Hideo´s Kleidung hinab auf den kalten Asphaltboden.
Wie angewurzelt blieb ich stehen, ich wusste ich könne den Täter ohnehin nicht aufhalten. Für kurze Zeit vergaß ich zu atmen, bis mein Körper jedoch nach Sauerstoff lechzte. Hastig atmete ich ein und aus. Ich vermochte keinen Schrei auszustoßen, aus Angst ich würde Kazumi´s Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Stattdessen merkte ich, wie Tränen behutsam an meiner Wange entlang liefen.“ – In dem Moment konnte mein Großvater sich nicht mehr zurückhalten und die ersten Tränen kullerten an seiner Wange hinunter.
„Großvater“, ich näherte mich ihm und reichte ihm ein Taschentuch, „wenn es dir zuviel wird, musst du die Geschichte nicht zu Ende erzählen.“
„Nein… nein, es geht schon.“ Mein Großvater nahm das Taschentuch zur Hand und wischte die Tränen aus dem Gesicht. „Wo… Wo war ich stehengeblieben? Ach ja –
Nach unzähligen Einstichen beendete Kazumi sein Treiben damit, indem er Hideos Kehle aufschlitzte. Der leblose Körper fiel wie ein Sack Reis zusammen, als Kazumi – blutverschmiert und mit einem Grinsen der Erleichterung – auf mich zuging.
Behutsam näherte er sich meinem Ohr und sprach mit seiner psychopathischen Stimme: „Hör gut zu, wenn du auch nur deinen Eltern davon erzählst, werde ich sie auf eine noch grausamere Art und Weise umbringen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in einer der Seitengassen. Ich ging auf Hideo´s leblosen Körper zu, ließ mich zu Boden fallen, um ihn in meine Arme zu nehmen, und weinte.
Hideo wurde am 30. Januar auf dem Friedhof, nahe des Akiru-Schreins, zur Ruhe gebettet.“
„Großvater“, unterbrach ich ihn erneut, „haben die Behörden Kazumi geschnappt und ihn seiner gerechten Strafe zugeführt?“
„Sachte, sachte Hatori. Ich sagte meinen Eltern nicht, dass es Kazumi war, sondern dass Hideo an jenem Tag von einem Kriminellen umgebracht wurde.“
„Also wurde Kazumi nie gefasst? Ich hoffe, er führt ein furchtbares Leben und bemitleidet sich jeden einzelnen Tag.“ Ich war damals echt wütend auf meinen Großvater, weil er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Ich verstand nicht, dass er zum Schutz seiner Familie gelogen hatte. Vermutlich hätte ich aber an seiner Stelle genauso gehandelt.
„Ich bin ja noch nicht fertig mit der Geschichte“, erwiderte mein Großvater, was meine Wut besänftigte. „Jetzt kommt erst der interessante Teil an der ganzen Geschichte.“ Mein Interesse wuchs schlagartig an und jedes negative Gefühl von Wut oder Enttäuschung verschwand.
„Jeden Sonntag besuchte ich sein Grab, um einen Strauß Blumen da zu lassen. Gebetet hatte ich seit jenem Tag nicht mehr. Mein Glaube an einen liebevollen Allmächtigen existierte schlichtweg nicht mehr. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein gutherziger Gott so etwas Schreckliches zulassen konnte. Nur, dass ein Teufel oder ein böser Gott existierte, bewies dieses Ereignis.
Zu meiner Trauer gesellten sich schließlich noch allerlei Sinnestäuschungen. Egal wo ich war, ob in der Schule, beim Bummeln in der Stadt oder Zuhause. Es schien so, als würde Hideo mich in einiger Entfernung beobachten. Sobald ich mich jedoch in die Richtung umdrehte, war er dort nicht mehr zu sehen. Ich glaubte zudem ein Flüstern von ihm zu hören. Zwar konnte ich nur Bruchstücke von ihm verstehen. Aber ich war mir sicher die Worte „Bald… erlöst… sein“ zu hören. Ich erzählte meinen Eltern von den angeblichen Sichtungen Hideos und seiner Stimme. Doch alles was ich von ihnen zu hören bekam, war, dass dies ganz normal sei, wenn man einen geliebten Menschen durch den Tod verloren hatte. Außerdem versicherten sie mir, dass die Gefühle mit der Zeit nachlassen würden. Ich war sehr erzürnt darüber, dass meine eigenen Eltern mir kein Glauben schenkten. Andererseits konnte ich sie auch verstehen. Schließlich ist es unmöglich, dass ein toter Mensch wieder lebt.
Und als wog die Last über den Verlust meines Bruders nicht schon schwer genug, wurde auch die Schule ein weiterer Ort meiner persönlichen Hölle. Ich wurde weiterhin von Kazumi und seinen Freunden schikaniert. Neben den üblichen, dämlichen Witzen darüber, wo doch bloß mein großer Bruder sei, wurde mir zudem mein Essen weggenommen und der Inhalt meiner Schultasche auf dem Flur verteilt. Und wie sie dann jedes Mal so spöttisch lachten. Wie gackernde, aufgescheuchte Hühner. Wenn ich damals doch nur so stark wie Hideo gewesen wäre, dann hätte ich ihnen ihr Maul schon gestopft.
Selbst auf dem Heimweg, oder beim Stadtbummel, lauerten Kazumi und seine Freunde mir auf. Nur um mich auch dort weiter zu belästigen. Und auch Hideo schien mir weiterhin „aufzulauern“.
Doch mit der Zeit ließen sie von mir ab. Immer wenn Kazumi´s Freunde mich sahen, fingen sie zwar sofort an mich zu beleidigen und drohten mir, dass sie gleich zu mir rüberkommen würden. Doch aus einem mir unerklärlichem Grund rief Kazumi sie zurück. Vielleicht wurde ihm langweilig, mich immerfort zu schikanieren. Vielleicht hatte er aber auch Angst, ich würde ihn verpfeifen.
Den letzteren Grund verwarf ich allerdings sofort, als ich mir in den Sinn rief, was Kazumi mir an jenem Tag, an dem er Hideo ermordet hat, gesagt hatte:
„…wenn du auch nur deinen Eltern davon erzählst, werde ich sie auf eine noch grausamere Art und Weise umbringen.“ Doch Kazumi wirkte auch nicht gerade so als würde es ihm langweilig werden, mich zu schikanieren. Er wirkte eher… angespannt. So als brenne er zwar darauf mich fertig zu machen, jedoch würde ihn etwas so in Angst versetzen, sodass er mir nur noch aus dem Weg ging.
Ich versuchte nicht mir über seine Beweggründe den Kopf zu zerbrechen, sondern einfach diesen kleinen Glücksmoment in meinem Leben zu genießen. Einen weiteren positiven Effekt hatte das Ende der Schikane auch noch. Ich sah Hideo immer seltener in meinem Augenwinkel. Bald sah ich ihn sogar gar nicht mehr. Vielleicht lag es an dem geringeren Stress, jetzt wo ich nicht mehr von Kazumi und seinen Freunden schikaniert wurde. Oder… das Schicksal wollte sich wieder mit mir versöhnen.
Die Tage vergingen und mein Leben wurde langsam wieder erträglich. Allmählich fasste ich neue Hoffnung, dass ich wieder so etwas wie Freude empfinden könne.
Es war der dritte März. Zwölf Wochen sind seit Hideo´s Beerdigung vergangen. Und zwei Wochen seitdem ich das letzte Mal von Kazumi und seinen Freunden belästigt wurde. An diesem Tag hatte es stark geregnet. Während sich meine Klassenkameraden über die Erlebnisse ihres gestrigen Tages unterhielten, bereitete ich mich auf den Japanisch-Unterricht bei Herrn Yamamoto vor.
Meine Gedankengänge wurden durch die Pausenglocke unterbrochen. Im Klassenraum angekommen prüfte Herr Yamamoto zuallererst die Anwesenheit.
„Mei Itou.“
„Hier.“
„Aki Kawasaki.“
„Hier.“
„Fumio Nagai.“
„Hier.“
„Yu Tanaka.“
„Hier.“
„Kazumi Hiragaya.“
Herr Yamamoto warte auf die Antwort. Für einen Augenblick herrschte im Klassenraum Totenstille. Dann brach Herr Yamamoto die Stille, indem er fortfuhr: „Kazumi Hiragaya…. Weiß jemand von euch, weshalb Kazumi Hiragaya nicht anwesend ist?“
„Herr Yamamoto“, meldete sich Koji Yamada, Kazumi´s Freund, vorsichtig zu Wort, „Kazumi Sensei geht es nicht gut, deshalb ist er heute nicht in der Schule.“
„Koji Yamada, kannst du dich etwas genauer ausdrücken? Ist Hiragaya krank, oder hat er nur keine Motivation, um in der Schule zu erscheinen? Immerhin ist es schon der vierte Tag in Folge, in der er unentschuldigt fehlt. Und das ist bei Hiragaya ja nichts Neues. Also, raus mit der Sprache! Warum ist Kazumi Hiragaya nicht hier?“
Herr Yamamoto legte einen rauen und strengen Umgangston an den Tag. Als ehemaliger Hauptmann der japanischen Volksarmee hatte er sich den Respekt der Schüler gleich am ersten Tag verdient. Daher konnte er es auch nicht leiden, wenn man auf seine Fragen so halbgar antwortete.
„Herr Yamamoto“, stammelte Koji sichtlich verunsichert, „i.. ich bin mir nicht sicher…, aber Kazumi meinte jemand…, oder etwas, würde ihn verfolgen. Aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war niemand zu sehen. Außer Passanten natürlich. Kazumi wirkte jedoch sehr verstört. Er zog sich immer mehr zurück. Er schlief kaum noch, weil er dem Ganzen nachgehen wollte.“
„Koji Yamada, das ist die albernste Ausrede, dich ich je gehört habe. Wer um alles in der Welt sollte Hiragaya verfolgen?“ Herr Yamamoto war über Koji´s Aussage sichtlich empört. Für ihn war das nichts anderes als eine schwache Ausrede, um nicht in der Schule zu erscheinen. Die Klasse wurde langsam unruhig und einige Schüler stellten erste Thesen auf, was wirklich mit Kazumi los sei.
„Herr Yamamoto“, meldete sich Koji erneut zu Wort, „Sie werden jetzt vermutlich denken, Kazumi sei verrückt, aber er war sich sicher, dass Yu´s Bruder ihn verfolgen würde.“
„Du meinst doch nicht etwa Hideo Tanaka? Das ist doch völliger Unsinn! Hideo Tanaka wurde von irgendeinem dahergelaufenen Irren ermordet. Es ist unmöglich, dass Hideo Tanaka damit etwas zu tun hat. Ich werde nach dem Unterricht seine Eltern kontaktieren.“
Im selben Augenblick, als Herr Yamamoto seinen Satz beendete, öffnete sich die Tür des Klassenraumes. Im Türrahmen stand Kazumi Hiragaya, vom Regen durchnässt und vollkommen außer Atem. Seine Augen waren mit riesigen Ringen umrandet, welche vermutlich auf Schlafmangel zurückzuführen waren, und ihn wie einen Panda aussehen ließen. Hektisch blickte Kazumi auf den Flur zurück, bevor er sich als nächstes im Klassenraum umsah. Nach wenigen Sekunden lief er zielgerichtet auf mich zu. Die gesamte Klasse folgte Kazumi´s Schritten mit angespannten Blicken. Keuchend legte er seine Handflächen auf meinem Tisch ab und beugte sich zu mir nach vorn.
„Ta…naka“, redete Kazumi mit keuchendem Atem, „s… sag ihm, er soll aufhören mich zu verfolgen!“
„Von wem redest du?“, entgegnete ich Kazumi ahnungslos.
„Red keinen Scheiß!“, seine Stimme wurde energischer und seine Augenbrauen zogen sich enger zusammen, „Ich rede von deinem Bruder Hideo. Seit Wochen verfolgt er mich! Selbst in meinem Zimmer bin ich nicht sicher vor ihm. Sag ihm, er soll mit dieser Psycho-Scheiße aufhören!“
„Das ist doch absurd! Hideo wurde von einem Irren ermordet. Ich war selbst auf seiner Beerdigung. Wie um alles in der Welt soll er dich bitte verfolgen?“
Natürlich wusste ich, dass Kazumi der wahre Mörder war. Ich versuchte jedoch den Ahnungslosen zu spielen, damit die Klasse Kazumi als Spinner betrachtete. Doch ich konnte nicht verbergen, wie irritiert ich über das war, was Kazumi über Hideo sagte. Hatte ich mir Hideo etwa doch nicht eingebildet? Lebte er wirklich noch? Unmöglich! Hideo ist tot! Ich selbst habe gesehen, wie seinen Leib mitsamt des Sarges begraben wurde. Kazumi´s schlechtes Gewissen und die Angst, er könne als der wahre Täter entlarvt werden, schienen ihn paranoid zu machen. Er suchte händeringend nach einem Ausweg aus seiner Misere. Das war für mich die einzig logische Erklärung.
Aber Kazumi war felsenfest davon überzeugt, Hideo würde irgendwie noch leben. Vielleicht dachte er, Hideo hatte den Angriff überlebt. Wutentbrannt stieß er den Tisch zur Seite und packte mich am Kragen. Da Kazumi als Captain des Basketball Clubs gut 30 Zentimeter größer war als ich, hing ich mit den Füßen in der Luft. Sein Blick war finster und er knirschte vor Wut mit den Zähnen.
„Ich weiß zwar nicht, wie das möglich sein soll, aber ich habe so das Gefühl, du verheimlichst mir etwas. Also hör endlich auf den Dummen zu spielen! Oder dich wird das gleiche Schicksal ereilen, wie deinem Bruder.“
Seine rechte Hand war bereits zu einer Faust geballt. Er war bereit mich vor allen Anwesenden zu verprügeln. Der anfängliche Regenschauer wurde nun auch von einem starken Gewitter begleitet. So als wären der Himmel über Kazumi´s Verhalten erzürnt.
„Das würdest du nicht wagen, Kazumi, nicht vor einem Lehrer“, entgegnete ich ihm mit einem selbstsicheren Blick.
„Na dann pass mal gut auf, du Yu Tanaka! Gleich wirst du deinen Bruder wiedersehen!“
Kazumi hob die Faust und machte sich bereit mich windelweich zu prügeln. Plötzlich blitzte und donnerte es am Himmel und die Deckenlampen flackerten auf.
„Ähh was, d… das ist doch unmöglich!“
Kazumi stoppte seine Faust direkt vor meinen Augen. Seine Gesichtsfarbe wurde schlagartig kreidebleich. So als würde er hinter mir einen Geist sehen.
„W…Wie bist du hier reingekommen?“
Kazumi ließ mich los, sodass ich zu Boden fiel und wich gut drei Meter zurück. Die Schüler sahen ihn irritiert an. Sie verstanden genauso wenig wie ich, was plötzlich in Kazumi gefahren war. Immerhin redete er für die Schüler mit der Luft.
„B… Bleib bloß weg von mir, hörst du!?“ Kazumi wurde panisch. Er holte ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche hervor und fuchtelte wild damit herum. Ich rappelte mich indes langsam auf und blickte über meine Schulter. Als ich mich umdrehte, konnte meinen Augen kaum glauben….“
Großvater hörte abrupt auf zu erzählen.
„Och, komm schon Großvater; mach’s nicht so spannend“, sprach ich aufgedreht zu ihm. „Wer war hinter dir? Ein Schüler, vor dem Kazumi Angst hatte? Herr Yamamoto? Sag schon, sag schon!“ Ich brannte wirklich darauf zu erfahren, wer an jenem Tag hinter meinem Großvater stand. Aber auf das, was er dann zu mir sagte, war ich nicht gefasst.
„Hinter mir stand mein großer Bruder – Hideo; in einem weißen Gewand gekleidet und mit einem Messer in seiner Hand. Mit kurzen, kontrollierten, Schritten bewegte Hideo sich auf Kazumi zu. Die Halogenleuchten zerborsten, als Hideo unter ihnen entlang ging. Die Schüler schrien panisch auf. Aber nicht wegen Hideo, sie konnten ihn aus irgendeinem Grund nicht sehen, sondern wegen den platzenden Halogenleuchten. Sie verdeckten ihre Gesichter, um keine Scherben in die Augen zu bekommen. Kazumi rannte wie ein geölter Blitz auf die Tür des Klassenraumes zu.
„So ein Mist! Sie lässt sich nicht öffnen!“
Herr Yamamoto versuchte die panische Menge zu beruhigen und gleichzeitig Kazumi zur Vernunft zu bringen. Trotz, dass Kazumi bewaffnet war packte, er ihn am Arm und drehte in zu sich um.
„Kazumi Hiragaya, was ist bloß in dich gefahren? Du machst deinen Mitschülern mit deinem Verhalten Angst. Du kommst jetzt sofort mit zum Direktor!“
„Lassen Sie mich in Ruhe, Herr Yamamoto!“
Kazumi löste den Griff von Herrn Yamamoto und rüttelte erneut an der Tür. Als das nichts half, formte Kazumi mit seiner Rechten eine Faust und schlug die Scheibe der Tür ein. Hideo kam ihm währenddessen immer näher. Von der anderen Seite ließ sich die Tür öffnen. Kazumi riss die Tür auf und stürmte auf den Flur. Ich weiß bis heute nicht warum, aber ich rannte Kazumi hinterher. Er eilte die Treppen hinauf. Zweites Obergeschoss, drittes Obergeschoss, viertes Obergeschoss, bis er schließlich auf dem Dach angekommen war. Nach wenigen Augenblicken erreichte auch ich das Dach. Oben angekommen waren Kazumi und ich völlig außer Atem, doch von Hideo fehlte jede Spur. Nur Mei Itou, die Klassensprecherin, war uns noch gefolgt. Sie erachtete es als ihre Pflicht Kazumi zur Rede zu stellen.
„Tanaka…“, fragte mich Kazumi mit letzter Kraft, „w… was muss ich tun, damit dein Bruder aufhört?“
„I… Ich glaube… es gibt nichts mehr… was du noch tun kannst. Du musst für deine Taten geradestehen.“ Ich verstand langsam, weshalb Hideo Kazumi verfolgte und wie es möglich war, dass er noch „lebte“. Hideo war offensichtlich als Onryō, also als ein Rachsüchtiger Geist zurückgekehrt und sehnte sich nun nach Vergeltung.
„Was hat das alles hier zu bedeuten? Wovon redet ihr beiden?“, fragte Mei. Sie war irritiert von unserem Verhalten. Das Kazumi ein Messer in der Hand hielt, machte ihr keine Angst. Sie begriff ja nicht einmal, weshalb er es gezückt hatte. Für sie zählte nur, dass wir uns vor ihr rechtfertigten.
„Mei, du würdest es weder verstehen, noch uns glauben schenken“, gab ich zur Antwort.
Kazumi war indes völlig hysterisch. Er wusste nicht mehr weiter. Ein letztes Mal erhob er seine Stimme gegen mich und sprach: „Es… Es muss doch irgendeinen Ausweg geben! Irgendei…“
Mei und ich erschraken.
Statt seinen Satz zu beenden, spuckte Kazumi Blut. Hinter Kazumi war Hideo, seine rechte Hand umschloss das Messer, welches in Kazumi´s Bauch steckte und seine linke Kazumi´s Hals. Einmal, zweimal, dreimal, wie auch bei Hideo konnte ich nicht sagen, wie oft das Messer in seinen Bauch gerammt wurde. Doch nach wenigen Sekunden beendete Hideo die Szenerie, indem er Kazumi´s Kehle aufschlitzte. Dann ließ er Kazumi los, der wie ein Sack Reis zu Boden sank, und ging langsam auf mich zu. Wie damals blieb ich wie angewurzelt stehen und hatte große Angst vor dem, was jetzt geschehen würde. Er näherte sich behutsam meinem Ohr und sprach mit einem freudigen Gesichtsausdruck: „Endlich bin ich von meinem Leiden erlöst.„
Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und verließ das Dach über die Treppen, wie ein normaler Schüler. Mei, fassungslos von dem, was sie gerade gesehen hatte, blieb wie angewurzelt stehen. Sie hielt sich die Hände vor den Mund, konnte aber nicht schreien. Ich versuchte sie aus ihrer Trance zu lösen, indem ich sie schüttelte und immer wieder auf sie zuredete. Ich brachte sie zur Krankenstation, wo sie sich von dem Schock erholen sollte. Ich ging mit der Schulsanitäterin zurück auf das Dach, um ihr den leblosen Leib Kazumi´s zu zeigen. Dank Mei als Zeugin wurde jeglicher Verdacht gegen mich, dass ich Kazumi erstochen hätte, fallen gelassen. Kazumi´s Tod blieb allen ein Rätsel, deshalb wurde dieses Ereignis vor der Öffentlichkeit verheimlicht. Selbst Kazumi´s Eltern erzählte man nicht, wie ihr Sohn gestorben ist. Ihnen wurde gesagt, dass er plötzlich einen Herzinfarkt erlitten hätte. Nur ich wusste wie Kazumi wirklich starb. Und ich begriff nun auch, dass nicht ich, sondern Kazumi von Hideo verfolgt wurde. Ich konnte Hideo nur deshalb in meinem Augenwinkel sehen, weil Kazumi jedes Mal in meiner Nähe war.“
Ich weiß noch genau, wie ich meinen Großvater ansah, nachdem er die Geschichte zu Ende erzählt hatte. Ich konnte ihm das Gesagte einfach nicht glauben. Für mich war es damals nur eine frei erfundene Gruselgeschichte über Großvater´s vergessenen Bruder.
Doch ein heutiger Zeitungsartikel lässt mich daran den Kopf zerbrechen, ob die Ereignisse von Großvaters Geschichte vielleicht doch echt sind. Denn auf der Titelseite der Tokyo-News steht Folgendes:
„Gesuchter Mörder Chen Lee tot in eigener Wohnung aufgefunden. Täter und Ursache unbekannt.„
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eine wirklich schöne Geschiche. Ich freue mich immer wenn ich storys über gutartige Familiengeister lesen darf