Ich dachte, du magst mich!
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Was
verbindet ihr mit Videospielen?
Nette
Abende mit Freunden?
DIE
Alternative zur Stressbewältigung?
Stolz
über eine gewonnene Platintrophäe?
Oder
einfach nur Spaß am Spiel an sich?
Ich
auch.
Zumindest
war das mal so, bevor es passierte…
Bevor
es geschah, war ich ein großer Fan der Beat ´em up-Serie „Dead or Alive“.
Mein
Lieblingscharakter?
Jann
Lee!
Ihr
habt richtig gelesen, dieser Typ mit der schrägen hochgegelten Frisur, der mehr
tanzt als kämpft und zusätzlich ziemlich unnötige Geräusche macht.
Findet
ihr vielleicht, aber ich liebte es einfach, wenn er bei seinen Angriffen sein
fast männersopranmäßiges „WATAAHH!!!“ kreischte. Ich liebte einfach seine
Frisur, seine Stimme, seinen Körperbau *hüstel*…
Ja,
man könnte fast sagen, ich war verleebt
in Jann.
Ich
himmelte ihn an wie andere Mädchen in meinem Alter ihren Popstar oder
Schauspieler.
Wer
konnte wissen, dass ich ihn irgendwann einmal so abstoßend finden würde?
Noch
nicht einmal abstoßend.
Denn
abstoßend klingt in meinen Ohren immer noch zu untertrieben.
VIEL
zu untertrieben.
Meine
Schule, das Johann Schiller-Gymnasium, gehörte zu den wenigen Orten, die ich
bis auf einige Ausnahmen abgrundtief verabscheute: Meine Kurse waren
vollgestopft mit pubertierenden Halbstarken und zickigen Schminkkoffern, mal
musste ich nach 4 Freistunden um 16:15 Uhr noch zum Unterricht und dann war
dieses Unterrichtsfach noch mein absolutes Hassfach Sport. Es war nicht so,
dass ich keine Freunde hatte, aber es gab nicht selten Tage, wo ich am liebsten
a) den Unterricht boykottiert (einige Streber in meinem Geschichtskurs nennen
es „schwänzen“) oder b) das gesamte Schulgebäude in Brand gesteckt hätte.
Besonders meine Chemie-, Mathe- und Sportlehrer fand ich zum Kotzen: Ihre Lieblinge
lobten sie in den höchsten Tönen und hackten im selben Atemzug auf denjenigen
herum, die entweder keinen einwandfreien Handstandüberschlag auf die Reihe
brachten oder nicht einmal die erste Spalte der Periodensystems auswendig
kannten.
Doch
leider Gottes musste ich nun, nach den erholsamen Ferien, wieder zurück in
diese Hölle aus Stahl, Streit und Stress…
Ich
hatte sehr schlecht geschlafen, konnte, nachdem mich der schrill kreischende
Wecker aus dem süßen Reich der Träume riss, kaum meinen Hintern aus dem Bett
heben und schlurfte übellaunig in die Lernvollzugsanstalt namens „Schule“.
Mein
erstes Fach war Latein, eines meiner Lieblingsfächer. Ich setzte mich auf
meinen Platz und sah mich um. Alle meine Kurskameraden waren da, genauso laut,
genauso nervig wie eh und je.
Nur
an ein Gesicht konnte ich mich nicht erinnern.
Oder
war das ein Neuer?
Er
stand einsam an die Wand gelehnt, war schlank, aber sehr durchtrainiert. Seine
braunen Haare ragten stachelig in die Höhe.
Genau
wie…
„Morgen,
allerseits! Hoffe, ihr hattet schöne Ferien!“, unterbrach Herr Beiwener meine
Gedanken. Der Unterricht hatte begonnen und alle saßen auf ihren Plätzen.
Nur
der fremde Junge stand neben meinem Lateinlehrer.
„Ihr
werdet bestimmt schon unseren Neuzugang bemerkt haben. Jann, stell dich doch
bitte deinen neuen Kameraden vor.“
Jann?!
Hatte
Herr Beiwener gerade tatsächlich „Jann“ gesagt?
Ich
hatte mich sicher nur verhört, der Junge hieß bestimmt nur Jan, schließlich klangen
beide Namen sehr ähnlich.
Der
Junge ging auf die Mitte des Raumes zu und fing an, sich vorzustellen:
„Hallo
Leute, mein Name ist Jann Lee…“
WAS
ZUM GEIER?!!!
Ich
musste betrunken sein oder so! Aber ich trinke doch gar keinen Alkohol…
„…
und ich komme aus Bochum. Meine Eltern sind aus Hong Kong hier eingewandert.
Ich bin 17 Jahre alt, meine Lieblingsfächer sind Latein, Deutsch und Sport und
in meiner Freizeit schaue ich gerne Actionfilme und…“
Sag.
Es. Nicht.
Sag.
Es. Nicht.
„…
mache seit zwei Jahren Jeet Kune Do.“
Es
hätte nicht viel gefehlt und ich wäre ohnmächtig geworden.
Der
Kampfstil von Jann Lee, der Videospielfigur aus Dead or Alive, in die ich so
verschossen war, war – haltet euch fest – ebenfalls Jeet
Kune Do.
„Was´n
dat jetz´, ey?!“, stöhnte jemand aus dem hintersten Eckchen des Raumes. An der
Stimme konnte ich mit 100%iger Genauigkeit sagen, dass es Jasper war, der wohl
arroganteste und trotteligste Junge Deutschlands.
Jann
grinste und erklärte ihm: „Jeet Kune Do ist eine Kampfkunst. Eine sehr
effektive sogar, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“
„Oha!
Kannst du uns etwas davon zeigen?“, fragte Herr Beiwener erstaunt. Geschmeichelt
vom Interesse des Lehrers, aber auch vielleicht etwas nervös massierte
sich Jann die Schulter und entgegnete: „Nun, diese Kampfkunst ist zwar
effektiv, aber nicht besonders spektakulär im Vergleich zu anderen
Kampfkünsten…“
„Der
tut doch nur so als ob, ey!“
Jasper
sprang von seinem Platz auf und stolzierte auf Jann zu.
„Jasper!
Setz dich sofort wieder…“, setzte Herr Beiwener an, aber Jann meinte: „Nein,
lassen Sie ihn ruhig.“
Als
Jasper direkt vor ihm stand, fragte ihn Jann:
„Beherrscht
du auch eine Kampfkunst?“
„Thaiboxen!“,
nuschelte der Streithahn so undeutlich, dass selbst ich in der zweiten Reihe
die Laute kaum deuten konnte.
Wieder
grinste Jann: „Gut. Ich kämpfe nämlich nicht gegen Leute, die sich nicht
verteidigen können.“
Lächelnd
fuhr er sich mit dem Daumen über die Nase und fügte hinzu: „Dann habe ich wohl
doch einen Grund für eine kleine Demonstration…“
Beide
gingen in ihre Stellungen.
Nur…
Hatte
Jann eigentlich eine Stellung?
Es
war mehr geschickte Beinarbeit, taktisches Tänzeln mit kurzen Intervallen, in
denen er innehielt, als ob er Jasper zu einem Schlag provozieren wollte.
Nach
einigen Sekunden preschte Jasper mit einem Faustschlag vor, dem Jann behände
auswich und einen Treffer landete, viel zu schnell, um zu erkennen, wo oder wie
er Jasper getroffen hatte.
Schnell
zog sich Jann zurück. Jasper war verletzt und wütend. Er zielte mit einem
Drehtritt auf Janns Kopf, doch Jann duckte sich flink unter dem Angriff hinweg
und kickte Jaspers Standbein mit einer flüssigen Bewegung weg.
„ATCHOOO!!“, schrie Jann mit schriller
Stimme.
Der
ganze Kurs musste sich ein Lachen verkneifen, weniger wegen Janns Kampfschrei
als wegen des Anblicks von Jasper, der nach Janns Konterattacke unsanft auf
seinem Allerwertesten landete.
Herr
Beiwener starrte erstaunt zuerst auf Jasper, dann auf Jann und bemerkte:
„Eindrucksvoll. Wirklich eindrucksvoll! Ist das nicht aus das, was Bruce Lee immer
macht?“
Jann
wandte sich zum Lehrer und antwortete: „Richtig! Er hat diesen Kampfstil
entwickelt. Allerdings will ich Ihnen nicht unnötig die Unterrichtszeit
stehlen…“
Merkten
die zwei überhaupt, wie Jasper sich aufrichtete und mit erhobener Faust auf
Jann zuschlich?
Ich
wollte gerade „Pass auf!!“ schreien, aber es war bereits passiert.
Mit
einer blitzschnellen Drehung wendete sich Jann zu seinem Kontrahenten und
schlug ihm mit beiden Handkanten auf seine Halsschlagadern, erneut begleitet
von einem markerschütternden Kampfschrei:
„ATAAAAAHHH!!!“
Erschrocken
weiteten sich Jaspers Augen, der kalte Angstschweiß tropfte ihm von der Stirn.
Nun
sah ich auch, dass Jann den Angriff nur angedeutet hatte.
Er
taxierte Jasper mit strengem Blick und erklärte ihm:
„Normalerweise
erlaube ich mir den Luxus des Andeutens nicht.“ Diese Worte bohrten sich wie
kleine Dolche aus Eis in Jasper hinein.
Er
zitterte.
Jann
fuhr fort: „Dieser Angriff aus dem Hinterhalt war echt feige von dir, weißt du
das? Setz dich wieder hin, der Showkampf ist vorbei. Wenn du willst, können wir
nach der Schule noch einmal kämpfen.“
Jasper
wollte gerade auf seinen Platz zurück, den Schrecken noch in den Gliedern, als
Jann mit ernster Stimme hinzufügte:
„Ach
ja, du hattest Glück: mit meinem letzten Angriff hätte ich dich töten können.“
„Jann!“,
rügte ihn Herr Beiwener, „Jetzt gehst du aber zu weit!“
Der
junge Kämpfer entgegnete beschämt: „Verzeihung, Herr Beiwener. Es war nicht
meine Absicht, Panik unter dem Kurs zu verbreiten. Ich habe meine Beherrschung
verloren, tut mir leid.“
Eine
Augenbraue hebend hakte mein Lateinlehrer nach: „`Die Beherrschung verloren´
also, ja? Ich hoffe, das kommt nicht noch einmal vor!“, bevor er zum regulären
Unterricht wechselte: „So, Jann, wie ich sehe, ist neben Kira noch ein Platz
frei.“
Herr
Beiwener musste sich wohl vertan haben.
Denn
mit dieser Kira meinte mein Lateinlehrer MICH!
Was
kam als Nächstes?
Die
Bitte meines Sportlehrers Herrn Yong-Il an Jann, meinen Sportkurs in Kampfkunst
zu unterrichten (vorausgesetzt, er hatte denselben Sportkurs wie ich)?
„Ich
hoffe doch, ihr werdet gut miteinander auskommen!“ Den letzten Teil des Satzes
betonte Herr Beiwener stark, wie um zu sagen: „Wenn du ihr auch nur ein
einziges Haar krümmst, dann schwöre ich dir, Freundchen, dass du schneller von
der Schule fliegst, als du `Sidekick´ sagen kannst!“
Jann
nickte bestätigend und antwortete: „Ich werde mich bemühen!“
Dann
setzte er sich zu mir.
Die
ganze Zeit hatte ich nicht auf seinen Tornister geachtet: Er war dunkelrot und
hatte sowohl vorne als auch an den Seiten silberne Flammenmotive.
Der
Unterricht begann.
Aber
vielmehr musste ich aus dem Augenwinkel auf meinen neuen Sitznachbarn starren.
Ja.
Starren.
Ich
wollte die absolute Gewissheit.
Er
packte sein Heft und einen Kugelschreiber aus seinem Tornister, dann wandte er
sich mir zu.
Seine
Augen waren kastanienbraun, sein Lächeln ließ mich schwach werden…
Er
sah aus wie Jann Lee.
Er
hatte denselben Namen wie Jann Lee.
Er
hatte dieselben Hobbies wie Jann Lee.
Er
kämpfte wie Jann Lee.
Er
hatte dieselbe Augenfarbe wie Jann Lee.
„Hi!“,
sagte er zu mir.
Jetzt
fiel mir auf, dass er auch dieselbe Stimme hatte wie Jann Lee.
Entweder
ich träumte gerade einen äußerst realistischen und fantastischen Traum, aus dem
ich nicht mehr aufwachen wollte, oder Gott hatte meine Gebete endlich erhört.
„Hi…“,
antwortete ich zögerlich.
Hoffentlich
war ich nicht rot geworden! Es war einfach zu schön, um wahr zu sein! Ich
meine, welches Mädchen kriegt schon das große Glück, seinen Traummann oder, wie
in meinem Fall, seine absolute Lieblingsvideospielfigur im Lateinkurs zu
haben?!
Es
lag mir schon die ganze Zeit auf der Zunge, also nahm ich meinen ganzen Mut
zusammen und flüsterte ihm zu, damit Herr Beiwener es nicht bemerkte:
„Du
hast echt gut gekämpft!“
„Wirklich?
Danke. Ich mach das noch nicht so lange.“, flüsterte er zurück.
„Zwei
Jahre sind schon ´ne lange Zeit.“, erwiderte ich.
Geschmeichelt
lächelte Jann sein hinreißendes Lächeln. Er schlug mir vor: „Lass uns in der
Pause weiterreden, da haben wir mehr Zeit, okay?“
„Okay“,
hauchte ich.
Ich
konnte es kaum erwarten!
Nach
der Stunde Latein, die mir wie ein Monat erschien, bekamen wir endlich unsere
wohlverdiente 5-Minuten-Pause.
Jann
und ich unterhielten uns etwas abseits unserer Kurskameraden im Treppenhaus,
welches direkt neben unserem Lateinraum war.
Es
war zwar ein kurzes Gespräch, aber umso größer war meine Freude darüber, mit
dem Mensch gewordenen Traum meiner schlaflosen Nächte zu reden. Ich hatte noch
nie großartig mit Jungs zu tun gehabt, dementsprechend nervös war ich auch
anfangs. Dennoch legte sich das dank Janns herzlicher Art sehr schnell.
Besonders
intensiv unterhielten wir uns über den Kampf gegen Jasper. „Hast du eigentlich
mit Absicht so schrill geschrien?“, wollte ich wissen.
Auf
diese Frage hin musste Jann grinsen. Er antwortete: „Ach, die Kampfschreie
meinst du? Dämliche Angewohnheit von mir. Manchmal ist selbst mir das peinlich.
Aber es ist einfach wie ein Powerschub, wenn ich so schreie! Musst du in ´nem
unbewachten Moment auch mal probieren.“
„Hehe,
so hoch zu schreien ist selbst für ein Mädchen eine Kunst…“, kicherte ich
nervös.
Mein
Herz schlug einen dreifachen Salto, als Jann mir seine warme, starke Hand auf
die Schulter legte und grinste: „Übung macht die Meisterin!“ Dann wechselte er
das Thema: „Ach ja: Magst du eigentlich Devil
may Cry?“
Neben
Dead or Alive war Devil may Cry meine absolute Lieblingsvideospielserie.
Verwundert
entgegnete ich: „Warum fragst du?“
„Ach,
nur so.“, antwortete Jann, auch wenn ich in seinem Blick etwas anderes zu
deuten glaubte.
„Okay.
Ja, ich mag die Serie. Sehr sogar. Ich meine, Dante ist doch der coolste Typ,
den man sich vorstellen kann!“
„Jaaa,
mag sein…“, meinte Jann. Sein Tonfall gefiel mir irgendwie nicht.
Bevor
wir weiterreden konnten, was die Pause bereits zu Ende.
Seltsamer
als der Tonfall seiner Bemerkung war das, was er mir in der großen Pause sagte…
Ich
hatte es mir, bis über alle Ohren verknallt, in den Kopf gesetzt, die Pause mit
Jann zu verbringen und ihm unser Gymnasium zu zeigen, aber er erklärte mir:
„Ich würd´ ja gern, aber ich muss noch etwas mit der Stufenleitung klären.“
„Ah,
okay. Vielleicht treffen wir uns dann in der zweiten Pause vor dem
Vertretungsplan, okay?“, schlug ich vor. Jann nickte lächelnd. Gerade wollte ich
in die Pausenhalle, als ich hinter mir Janns Stimme hörte: „Kira!“
Ich
drehte mich um: „Ja, was ist?“
„Du
magst Dante sehr, oder?“
„Yo,
mein absoluter Traummann!“, antwortete ich mit einem Hauch Schwärmerei.
Auf
einmal verzog sich Janns Gesicht zu einem grotesken Grinsen, zu einer
grässlichen Grimasse.
Gehässig
raunte er:
„Dann rate ich dir, vorsichtig zu
sein. Wer weiß, was für schreckliche Dinge deinem Schatz passieren könnten…“
Dann
tauchte er in der wirren Schülerschar unter.
In
meinen anderen Kursen befand er sich nicht, und in der zweiten Pause konnte ich
ihn nirgendwo ausfindig machen, egal, wo ich suchte oder wen ich fragte.
Nach
der Schule warf ich, vermutlich wegen des Vorfalls mit Jann, wieder einmal mein
Devil may Cry-Spiel ein, um eine Runde mit Dante Dämonen in den Hintern zu
treten. Ich wurde wie gewohnt von der tiefen, grollenden, „Devil may cry…“ knurrenden Stimme begrüßt und ging über das
Startmenü in die Missionsauswahl. Da mir noch einige Bilder fehlten, nahm ich
mir vor, Mission 10 anzuwählen, denn je mehr Dämonen ich in dem Spiel besiegte,
desto mehr Bilder konnte ich freischalten. In dieser Mission kam ich
gewohnheitsmäßig auf 107 K.O.s nach einem Durchlauf, und das in weniger als
fünf Minuten. Das hieß, dass ich nach sechs Durchgängen endlich alle Bilder betrachten
konnte!
Doch
dieses Mal war ich nicht auf das vorbereitet, was mich erwarten würde…
Die
Zwischensequenz, die normalerweise am Anfang des Levels abspielt, wurde
übersprungen.
Ich
gebe zu, dass ich die Zwischensequenzen gerne selbst überspringe, um mehr vom
Spielen zu haben, aber dieses Mal fehlten sie komplett! Meiner Erfahrung nach
dauert es in diesem Spiel einige Sekunden, bis eine Sequenz übersprungen werden
kann, doch ich befand mich direkt nach der Auswahl im Level, wo mich der
gewohnte Hauptgegner des Abschnitts, Bob Barbas, erwartete.
Dabei
musste ich doch vor dem Bosskampf einen kleinen Abschnitt mit einigen
Hindernissen überwinden! Dieser Abschnitt wurde ebenfalls übersprungen.
Die
nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten:
Dante
war verschwunden!
Von
meinem gesteuerten Charakter fehlte jede Spur!
Nur
der Gesundheitsbalken und die Energieanzeige befanden sich noch ganz normal und
randgefüllt an derselben Stelle.
Zuerst
dachte ich, das wäre nur ein harmloser Programmfehler und startete das Spiel
noch einmal neu, nachdem ich meine Playstation 3 für ein paar Augenblicke
ausgeschaltet hatte.
Der
Startbildschirm war normal, das Menü auch. Keine Ruckler, kein Rauschen,
nichts. Erneut ging ich in die Missionsauswahl und wählte Mission 10.
Wieder
wurde die Zwischensequenz übersprungen und ich stand Bob Barbas gegenüber –
OHNE
DANTE!!!
Schon
zum zweiten Mal fehlte meine Spielfigur.
Es
kam mir so vor, als hätte sie jemand aus dem Spiel entfernt.
Seltsamerweise
waren Gesundheitsbalken und Energieanzeige nun leer und die Hintergrundmusik
des Bosskampfes war nicht zu hören.
Ich
war irritiert, wollte die Hoffnung jedoch nicht aufgeben und ein drittes Mal
neustarten, als Bob Barbas MICH ansprach.
Nicht
Dante.
Nicht
die Zuschauer seiner manipulierten Nachrichtensendung namens „Raptor News“.
MICH.
Er
starrte mich mit diesem verstörenden Blick an und fragte mich: „Beunruhigt?“
Weniger
wegen des Fehlens meiner Spielfigur als wegen der Tatsache, dass Bob Barbas
deutsch sprach.
Ich
hatte die Systemsprache auf Englisch eingestellt.
Und
das Schrecklichste war, dass es noch nicht einmal nach seinem deutschen
Synchronsprecher klang (Ich kannte beide Versionen).
Es
klang so, als wäre es sein englischer Synchronsprecher, allerdings ohne
erkennbaren Akzent, was die Sache noch verstörender machte.
Barbas
fuhr fort: „Du
suchst Dante, richtig? Der wird nicht mehr auftauchen.“
Vielleicht
war es dumm, mit dem Fernseher zu sprechen, aber ich fragte leise (weniger Bob
als mich selbst): „Warum?“
Barbas
grinste breit und schwieg eine Weile. Dieses Schweigen war mir unheimlich, es
nagte an meinen Nerven und Bob schien diesen Anblick sehr zu genießen.
Schließlich
antwortete er:
„Weil
dein heißgeliebter Dante tot ist.“
Was
hieß das?
Das
war mir egal und ich drückte den Knopf.
„Das
bringt nichts, egal, wie oft du neu anfängst!“
>>Wollen
Sie das Spiel beenden?<<
Ja,
Herrgott nochmal, ja!!!
„Warum
denn jetzt die Hektik? Hast du Angst?“
Verdammt,
warum braucht das Teil nur so lange zum Beenden?!!
„Akzeptier
es, Kleine. Dante ist tot, und Neustarts werden ihn auch nicht wieder
zurückholen. Find dich damit ab!“
Endlich
war ich wieder im Playstation 3-Hauptmenü.
Ich
brauchte eine Weile, um mich von dem, was ich gesehen und gehört hatte, zu
erholen.
Warum
war meine Spielfigur weg?
Warum
sprach Bob Barbas mit mir?
Und
vor allem…
Was
meinte er mit „Dante ist tot“?
Ich
entschloss mich, die Bedeutung dahinter mit „Vergils Fall“, einem
herunterladbaren Spiel, das auf der Geschichte von Devil may Cry aufbaut,
herauszufinden.
Vielleicht
war die CD von Devil may Cry einfach nur kaputt, aber dieses Spiel, dass
ich mir vor ein paar Wochen heruntergeladen hatte, musste funktionieren!
Tatsächlich,
bei „Vergils Fall“ war seltsamerweise alles normal, oder lasst es mich besser
sagen, am Anfang war alles normal.
Ich
steuerte wie gewohnt Vergil, Dantes Bruder und Hauptcharakter des Spiels, alle
Zwischensequenzen waren bis jetzt vorhanden und der Spielverlauf war flüssig.
Nur
schien es mir nach längerem Spielen so, als ob die Zwischensequenzen, in denen
Dante vorkam, geschnitten waren. Eine Sequenz fehlte sogar ganz. Und in einem
Level, in dem Dante normalerweise auf einer erhöhten Plattform steht und Vergil
beobachtet, war von Ersterem keine Spur.
Plötzlich
konnte ich Vergil nicht mehr bewegen.
Nicht
schon wieder, dachte ich mir, das wird ja immer besser.
Wie
Recht ich da hatte…
Langsam
drehte sich Vergil ohne mein Zutun um und sah in meine Richtung.
Sein
Blick war schwermütig, niedergeschlagen.
„Du
scheinst es auch bemerkt zu haben, oder?“, fragte er mich in einem betrübten
Ton.
Die
Spracheinstellung war nach wie vor auf Englisch, aber wie Bob Barbas sprach
Vergil mich auf Deutsch an. Seine Stimme war eine Mischung aus seinem englischen
und deutschen Synchronsprecher.
Auf
einmal erschien er wie aus dem Nichts vor der Kamera, als würde er jeden Moment
aus dem Fernseher steigen.
Man
konnte nur sein Gesicht und einen kleinen Teil seines Oberkörpers sehen.
Jetzt
erkannte ich erst, wie düster sein Gesichtsausdruck wirklich war. Sein Gesicht
war gezeichnet von tiefer Trauer und…
Waren
das Tränen, die seine Wangen herunterrannen?
Ich
spürte förmlich, welche Überwindung es ihn kostete, als er mir tief in die
Augen sah und mit trauriger Stimme verkündete:
„Dante
ist tot.“
Dann
bedeckte er die Kamera mit seiner Hand und der Bildschirm wurde schwarz.
Meine
Playstation 3 schaltete auf „Standby“.
Eine
halbe Ewigkeit saß ich da, unfähig, aufzustehen, unfähig, mich überhaupt zu
bewegen, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.
Zuerst
Janns kryptische Warnung, dann das.
Ich
wusste schon, dass man Videospielfiguren darauf programmieren konnte, zu einem
gewissen Grad mit dem Spieler zu interagieren, aber was ich gesehen hatte, war
einfach zu verstörend, um normal zu sein.
Schlaf.
Was
ich jetzt brauchte, war Schlaf.
Das
war bestimmt nur das Ergebnis meiner manchmal erschreckend lebhaften Fantasie,
vielleicht hatte ich nur einen Wachalptraum.
„Was
hockst du denn so auf dem Boden, Killer? Siehst aus, als hätte jemand gerade
deinen Schwarm abgeschlachtet!“
Lautlos
hatte sich Leonard, mein älterer Bruder, in mein Zimmer hineingeschlichen.
Er
sprach mich mit meinem Spitznamen an, den er sich wegen meiner für Mädchen eher
ungewöhnlichen Vorliebe für Beat-´em-ups, Action- und Schießspiele ausgedacht
hatte.
Leonard
war auf den ersten Blick vielleicht etwas schroff, aber er meinte seine
manchmal ziemlich bissigen Kommentare nie böse. Im Grunde war er sogar ein sehr
netter und witziger Typ – und der zweifellos beste Bruder der Welt, der sich exzellent (sein Lieblingswort) mit
Elektronik auskannte.
Und
das hieß auch…
„Leo!
Du wirst nicht glauben, was hier gerade passiert ist! Du musst dir das
ansehen!“ Untereinander redeten wir uns fast ausschließlich mit unseren
Spitznamen an.
Ein
drittes Mal startete ich das Spiel Devil may Cry.
Wie
immer sahen der Startbildschirm und die Missionsauswahl mehr als normal aus,
wie es schien.
„Jetzt
möchte ich, dass du genau aufpasst, Leo. Ich glaube nämlich, dass sich hier ein
Programmfehler oder sogar ein Virus eingeschlichen hat.“
Aus
Versehen wählte ich statt der zehnten Mission die zweite.
Trotzdem
war alles so, wie ich es mir gedacht hatte.
Die
Zwischensequenz am Anfang des Levels wurde übersprungen.
Sofort
befand ich mich in dem Level, der ehemaligen Villa von Dante und seiner
Familie.
In
diesem Level war Dante endlich wieder da!
Aber…
„Hey,
das ist ja witzig! Wie hast du das gemacht, dass Dante der Kopf fehlt?! Cooler
Glitch, Killer!“, staunte Leonard.
Es
stimmte.
Der
vermisste Dante war zwar jetzt vorhanden, aber kopflos.
Wie
beim zweiten Mal war Dantes Gesundheitsbalken leer, die Energieanzeige hingegen
war komplett gefüllt.
„Leo,
ich war das nicht…“, erklärte ich ihm leicht angekratzt, und probierte die
Steuerung aus.
Sie
funktionierte einwandfrei, als wenn nie etwas passiert wäre. Ich konnte mit
Dante rennen, springen und auch seine Kampf- und Spezialbewegungen verwenden.
Aber
dieses Mal sahen seine Bewegungen so… falsch aus…
Ich
kann nicht beschreiben, warum.
Er
nahm auch keinen Schaden, wenn er von seinen Gegnern getroffen wurde, wie denn
auch, wenn seine Gesundheit bereits aufgebraucht war?
Normalerweise
kommentierte Dante im Spiel an zahlreichen Stellen das Geschehen, aber der
kopflose Kämpfer blieb stumm. Auch seine obligatorischen Kampfschreie, wenn er
einen Gegner angriff, konnte ich nicht hören. Lediglich bei Treffern glaubte
ich, ein leises, gurgelndes Stöhnen vernehmen zu können.
„Echt
krass… der Typ hört sich nicht gut an“, murmelte Leonard.
Er
konnte das Stöhnen also auch hören.
Das
war für mich das Signal, mit dem Spiel aufzuhören.
Es
war einfach zu unheimlich.
„Und,
was denkst du, was es ist?“, fragte ich.
Leonard
kratzte sich am Hinterkopf und meinte: „Das ist echt schwer zu sagen, keine
Ahnung. Für einen Glitch musst du besondere Vorgaben erfüllen wie bestimmte
Kommandos an einer speziellen Stelle eines Levels eingeben oder in einem
Abschnitt einem bestimmten Fortbewegungsmuster folgen. Da du im Spiel nichts
Besonderes getan hast, spricht das gegen einen Glitch. Ein Virus kann es auch
nicht sein, sonst hättest du ja überhaupt nicht spielen können. Und für einen
Programmfehler war das Ganze viel zu ausgefeilt: Unbesiegbarkeit, der fehlende
Kopf, das Fehlen von Dialogen, das ansonsten sehr flüssige Gameplay…“
Er
überlegte einen Moment, bevor er fortfuhr:
„…
und dieses Stöhnen. Kommt dieser Sound im normalen Spiel auch vor?“
„Nein.“,
antwortete ich knapp.
„Auch
nicht bei Gegnern, Bossen oder speziellen Sequenzen?“, hakte er nach.
„Leo,
wenn ich´s dir doch sage, ich habe dieses Spiel so oft gespielt, dass ich alle
Dialoge, Ereignisse und Soundeffekte auswendig kenne! Dieses Geräusch kam weder
bei Dante noch irgendeinem Gegner vor!“, betonte ich.
Ratlos
kratzte sich mein Bruder abermals am Hinterkopf und kam zu dem Schluss:
„Dann
hab ich auch keine Ahnung. Vielleicht schaust du dir das Spiel morgen noch
einmal an. Sollte es dann auch nicht funktionieren, tippe ich darauf, dass das
Spiel kaputt ist.“ Nach einem kurzen Blick auf die Uhr fügte er hinzu: „Du
solltest jetzt auch schlafen, wenn du für die Schule fit sein willst..“
„Yeah,
Schule…“, sagte ich ironisch und holte meinen Schlafanzug.
Als
ich kurze Zeit später im Bett lag, glaubte ich, hören zu können, wie mein
Bruder im nebenanliegenden Zimmer murmelte:
„Jesses,
dieses Spiel muss verflucht sein oder so…“
„Hilf
mir…“
Dunkelheit. Nichts als undurchdringliche
Dunkelheit.
„Hilf
mir… bitte…“
Diese Stimme. Sie rief nach mir.
„Kira…
bitte… hilf mir…“
Es war die Stimme eines jungen
Mannes. Sie klang gequält und heiser.
„Hilf
mir… ich habe Angst… es tut so weh…“
Aus der Dunkelheit ertönten
Schritte.
„Bitte…
hilf mir… räche mich…“
Die Schritte wurden lauter. Eine
schemenhafte Gestalt kam auf mich zu.
„Hör
nicht auf ihn… dieser…“
Das darauffolgende Wort wurde von einem gurgelnden Stöhnen verschluckt.
„… hat nichts Gutes mit dir vor… Kira… hörst du mich?“
Die Gestalt war fast vor mir. Die Stimme des jungen Mannes wurde mit jedem Satz kratziger, als würde ihm das
Sprechen Schmerzen bereiten.
„Sei
vorsichtig… traue ihm nicht… Kira…“
Nun konnte ich ihn klar und
deutlich in der pechschwarzen Farbe erkennen.
„Hilf
mir…
Räche mich…
„Töte ihn…“, flehte der kopflose Dante.
Mit
einem lauten Schrei erwachte ich aus dem Alptraum.
Ich
war schweißgebadet.
Einige
Zeit lang saß ich keuchend da.
Dann
wagte ich einen Blick auf den Wecker:
7:06
Uhr.
Wie
konnte ich das Geräusch meines Weckers überhören?! Ich war verdammt spät dran!
Schnell
flitzte ich ins Bad, um mich anzuziehen, Dusche und Frühstück musste ich wegen
des Zeitdrucks auslassen.
Danach
sprintete ich gerade noch rechtzeitig zu meinem Bus.
Kaum
hatte ich einen Sitzplatz gefunden, vibrierte mein Handy.
Ich
nahm es aus meiner Hosentasche und sah, dass ich eine SMS erhalten hatte.
Allerdings kannte ich den Absender nicht. Laut der Anzeige handelte es sich um
jemanden namens Tony Redgrave.
Der
Inhalt der SMS lautete:
Sei
vorsichtig, Kira!
Dieses
Mal hatte ich Physik mit Herrn Satern.
Sein
Name ist Programm, sprecht ihn mal aus.
Dieser
Mann ist knallhart, gemein und gnadenlos wie der Leibhaftige höchstpersönlich.
Ich
saß auf der linken Seite in der zweiten Reihe, leider Gottes gab es nur drei.
Der Raum war nicht besonders groß. Hätte
ich gewusst, dass ich in der Oberstufe Herrn Satern als Physiklehrer bekomme,
hätte ich mich am liebsten ins hinterste Eckchen des Physikraumes verkrochen
und mir sicherheitshalber eine Tarnkappe aufgesetzt. Der
Großteil des Kurses verstand weniger als 5% von dem, was wir gerade durchnahmen
– und ich war eine von ihnen. Diejenigen, die dieses Problem nicht hatten, die
Hobbyphysiker und Mathegenies, waren Herrn Saterns Stars, sie wurden von ihm
gefeiert wie glorreiche Helden. Wir, die wir nicht einmal etwas von
Elektrostatik verstanden, waren nur lästiges Ungeziefer, der Pöbel der
Gemeinschaft des Physik-Grundkurses.
Und
in diese Gemeinschaft wurde nun auch Jann eingereiht.
Er
betrat mit Herrn Satern den Kursraum.
Sofort
waren alle Schüler still, denn wer konnte garantieren, dass man wenigstens eine
Gnadenvier bekam, sollte man sich zu auffällig verhalten?
Mittlerweile
hatte ich die Künste perfektioniert, zu wirken, als würde ich aufmerksam
zuhören, obwohl ich gerade an etwas völlig anderes dachte, und mich im
Unterricht beinahe unsichtbar zu machen.
So
konzentrierte ich mich mehr auf Jann, der in der ersten Reihe Platz genommen
hatte und sich anscheinend hervorragend mit Physik auskannte.
Ich
hielt mich bei dem Thema, das wir gerade bearbeiteten – Elektrische Felder –
höflich zurück und malte mir in meinem Inneren aus, wie es sein würde,
Physiknachhilfe von Jann Lee zu bekommen.
Nach
wenigen Minuten war es klar wie Kloßbrühe:
Herr
Satern hatte ein neues Mitglied in seinem Physikgenie-Club.
Gott
sei Dank hatten wir nur eine Einzelstunde, die sich jedoch in die Länge zog wie
Kaugummi.
Als
sie endlich zu Ende war, stellte ich Jann, nachdem wir beide aus dem Raum
waren, zur Rede:
„Wo
warst du eigentlich gestern in den Pausen?“
„Oh,
das mit der Stufenleitung hatte etwas länger gedauert. Und in der Vierten hatte
ich auf einmal solche Kopfschmerzen, dass ich mich vom Unterricht abgemeldet
hatte, sorry.“, entschuldigte er sich. Dann fragte er: „Hast du Englisch bei
Frau Phessori?“
„Ja,
habe ich.“
„Und
Bio bei Herrn Müller?“
„Nee,
wünschte, es wäre so. Er war mein Reli-Lehrer.“, seufzte ich.
Jann
fragte: „Okay, dann… hatten wir was in Englisch auf?“
„Nein,
sie hat nur über diesen organisatorischen Kram geredet und uns die Themen
vorgestellt, die wir bald haben werden; Shakespeare und irgendwas mit dem
amerikanischen Traum.“, erklärte ich ihm, fügte dann hinzu: „Apropos
Unterricht: weißt du, du bist richtig gut in Physik!“
„Ach,
meinst du?“, wollte er verwundert wissen und massierte sich die rechte
Schulter, „Ich finde diese elektrischen Felder ziemlich schwer, aber wenn man
den Bogen raushat, ist es eigentlich relativ einfach. Wenn du magst, kannst du
ja nach der Schule zu mir kommen, dann können wir zusammen lernen!“
In
meiner Hosentasche vibrierte mein Handy.
Ich
holte es heraus.
„Oh,
eine SMS.“, murmelte ich.
Wieder
von diesem Tony Redgrave.
An
deiner Stelle würde ich das nicht tun!
„Was
ist?“, erkundigte sich Jann.
„Herrje,
ich muss zum Unterricht! Schon so spät! Wir sehen uns dann nächste Pause in der
Pausenhalle, okay?“
Es
war wirklich spät, kurz bevor mein Kunstlehrer kam, konnte ich gerade noch den
Kunstraum erreichen.
Der
Unterricht war wie immer, wir saßen an Gegenständen, die wir naturalistisch
nachzeichnen sollten, was mir trotz redlicher Bemühung nicht wirklich gelingen
wollte.
Nach
dem Unterricht spürte ich wieder dieses schwache Kribbeln in der Hosentasche.
Diesmal
lautete Redgraves Nachricht:
Denk
dran, Kira: Sei vorsichtig!
Ich
sah mich in der Pausenhalle um. Da stand Jann, angelehnt an der Wand, neben der
Tür zur Aula.
Irgendwie
schaffte ich es, mir den Weg durch die Schülermassen zu ihm durchzukämpfen.
„Watah!“, grüßte er mich mit einem
scherzhaften Kampfschrei. Anscheinend freute er sich sehr, mich zu sehen, das
sah ich an seinem Blick.
„Fire“,
antwortete ich schmunzelnd, „wie geht´s?“
„Ganz
gut! Und dir so?“, wollte Jann lächelnd wissen.
„Pfff,
den Umständen entsprechend. So lala. Was hattest du gerade?“
„Politik
bei Frau Wechsler. Echt nette Frau. Und du?“ Er sah an meiner linken Hand
herunter.
„Kunst,
richtig?“
„Ja,
bei Herrn Van Keyne, der wohl wirksamsten Schlaftablette dieses Gymnasiums…“
Jann
musste lachen.
„Schlaftablette
also, ja? Na, dann werde ich wohl viel Spaß mit ihm haben. Er unterrichtet bei
mir Deutsch. Ach ja…“ Sein Blick veränderte sich.
„In
der Fünf-Minuten-Pause haben wir uns ja über Physik unterhalten. Hast du Lust,
nach der Schule zu mir zu kommen? Ich könnte dir die Sachen erklären und
dir…“ Er grinste. „…, wenn wir mit dem Üben fertig sind, etwas Jeet Kune Do
beibringen, wenn du Lust hast.“
Schlagartig
erinnerte ich mich an die SMS von diesem seltsamen Tony Redgrave: „An deiner Stelle würde ich das nicht tun!“
Warum
eigentlich?
Jann
war ein netter Kerl, etwas verrückt vielleicht, aber dennoch nett, dazu noch
gutaussehend und mit einer angenehmen Stimme und Kampftalent gesegnet. Nur…
Manchmal
kam er mir etwas seltsam vor, nahezu unheimlich. Dieses Grinsen, das er
manchmal aufsetzte, wirkte auf mich sehr verstörend. Als hätte er etwas völlig
anderes mit mir vor, als nur Kurskameraden zu sein. Und damit meine ich keine romantische
Liebesbeziehung…
Was
sollte ich also tun?
Sollte
ich zu ihm?
Sollte
ich auf Redgrave hören?
All
diese Gedanken kamen mir im Bruchteil einer Millisekunde, dann hatte ich mich
entschieden.
„Weißt
du, das ist ja sehr nett von dir, aber ich übernachte heute bei einer Freundin
und ich muss noch ein wichtiges Referat vorbereiten.“, log ich.
Jann
runzelte die Stirn und hakte nach: „Du übernachtest bei ´ner Freundin? Morgen
ist doch noch Schule!“
„Morgen
fehlen alle Lehrer, bei denen ich habe, und wir zwei haben dieselben Fächer.“
Das entsprach jedoch der Wahrheit. Ein Mädchen aus meiner ehemaligen Klasse,
Sophia, hatte dieselben Fächer wie ich gewählt. Wir waren zwar keine besten
Freundinnen, kamen aber ziemlich gut miteinander aus.
Wenn
Jann enttäuscht war, versteckte er es gerade sehr gut. Er seufzte: „Na gut,
wenn das so ist. War sowieso ´ne blöde Idee von mir, ich hab heute Abend
Training. Verschieben wir das also auf ein anderes Mal, okay?“
„Ich
überleg ´s mir.“, antwortete ich knapp.
Es
klingelte.
Die
Pause war zu Ende.
Dabei
hatten Jann und ich nur wenige Minuten gequatscht?!
Ach
ja, Herr Van Keyne hatte natürlich wie immer überzogen.
„Hast
du jetzt auch Geschichte bei Frau Boster?“, fragte ich.
„Nö,
ich hab gleich Biologie.“
„Na
dann viel Spaß! Bis Montag und schon mal schönes Wochenende!“, sagte ich und
machte mich auf zum Geschichtsraum.
„Gleichfalls!“,
rief Jann mir hinterher.
Spielte
mir mein Gehör gerade einen Streich?
Hinter
meinem Rücken glaubte ich, Jann leise säuseln zu hören:
„So schüchtern…“
Nach
der Schule fuhr ich wie immer mit dem Bus nach Hause.
Einige
Zeit starrte ich verträumt aus dem Fenster, als sich wieder einmal Tony
Redgrave meldete:
Das
war gut. Aber ich glaube kaum, dass er dich jetzt in Ruhe lassen wird.
Ich
wusste, dass er die Unterhaltung mit Jann meinte. So langsam wurde mir die
Sache unangenehm. Ich entschloss mich, zurückzuschreiben:
Was
meinst du damit? Wer bist du überhaupt und woher hast du meine Nummer?
Wenige
Sekunden später kam die Antwort:
Es
ist besser, wenn du es selbst herausfindest. Wie du vielleicht schon gelesen
hast, bin ich Tony Redgrave. Deine Nummer… Darüber schweige ich lieber.
Vielleicht
war es dämlich zu fragen, aber ich tippte:
Bist
du ein Stalker?!!
Redgrave
antwortete nach unheimlich kurzer Zeit:
Nein.
Sonst würde ich dir doch nonstop Liebeserklärungen machen oder so ´n Quatsch.
Hör zu: Ich will dir nichts Böses. Ich hätte auch Paras, wenn mir ein
wildfremder Kerl schreiben würde, aber du musst mir vertrauen! Bitte, Kira,
lass dich nicht auf ihn ein!
Etwas
mürrisch schrieb ich, leicht besorgt um mein Guthaben:
Und
warum nicht?
Innerhalb
von zwei Sekunden schrieb Redgrave zurück:
Das
müsste dir bereits selbst aufgefallen sein. Findest du ihn nicht auch etwas
seltsam?
Jetzt,
wo er es fragte, fiel mir auch wieder ein, wie seltsam sich Jann manchmal
benahm. Trotzdem, was ich von Jann hielt, ging Redgrave einen feuchten Dreck an.
Ich
wollte gerade „Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“ schreiben, als ich die
Nachricht erhielt:
Na,
also. Mach dir nichts vor, er ist ein Freak. Und wenn ich du wäre, würde ich
mich jetzt eine Weile von elektronischen
Medien fernhalten.
Der
Bus hielt an. An dieser Station musste ich aussteigen, um nach Hause zu kommen.
Noch
im Gehen las ich Redgraves nachträgliche SMS:
Ach
ja: Das mit dem Fire war schon witzig! 🙂
Endlich
kam ich zu Hause an, aufgekratzt, nachdenklich, etwas müde vielleicht.
Meine
Eltern arbeiteten noch, mein Bruder war noch bei einer Vorlesung, also
verbrauchte ich den kläglichen Rest unserer Erdnüsse. Nach all den Erlebnissen
hatte sich mein Hunger um ca. 60% reduziert.
Dann
warf ich mich rücklings auf mein Bett, starrte die Decke an und dachte nach.
Über
Jann.
Und
über Tony Redgrave.
Wer
waren diese Typen?
Jann
kannte ich zumindest etwas, aber von diesem Redgrave-Typen hatte ich noch nie
gehört. Vielleicht hatte nur einer meiner Kurskameraden diesen Benutzernamen
für sein neues Handy oder Iphone oder was auch immer gewählt, um mir Angst
einzujagen. Vielleicht wollte mir dieser Jemand einfach nur die anfangende
Freundschaft zwischen Jann und mir versauen. Ich meine, jeder Mensch ist auf
seine Art seltsam, man denke an das berühmte Singen unter der Dusche…
Aber
nachdem Jann sich das erste Mal merkwürdig verhalten hatte, kam es zu diesem
Vorfall mit dem kopflosen Dante, kurz darauf folgte der Alptraum. Es musste
doch einen Zusammenhang geben! Oder machte ich mich mit meinen Gedanken nur
wahnsinnig? Nach langem Überlegen tippte ich auf Letzteres. Janns Verhalten war
bestimmt eine typische Jungenmasche und das Spiel war garantiert kaputt.
Dabei
hatte ich es erst vor vier Monaten gekauft…
Ach,
mir war langweilig.
Hätte
ich Jann einfach zugestimmt, würden wir jetzt bestimmt eine tolle Zeit
miteinander verbringen:
Ich
würde endlich Physik kapieren, mit ihm über alle möglichen Sachen sprechen und
meinen lang gehegten Traum, Chinesen-Hip-Hop zu lernen, verwirklichen.
Oh,
ich hatte völlig vergessen: Er hatte heute Training, also hätte meine Zustimmung
auch nicht viel an diesem beschissenen Nachmittag auf dem Bett geändert.
Aber
wenn ich schon nicht mit dem Jann Lee aus Fleisch und Blut zusammen sein konnte,
konnte ich zumindest mit seinem virtuellen Zwilling vorlieb nehmen. Also
warf ich die Playstation 3 an, wechselte die Devil may Cry-CD mit der Dead or
Alive 5-CD aus und begann, zu spielen.
Wie
beim letzten Spiel erschien mir alles normal. Das Hauptmenü, die
Hintergrundmusik, einfach alles!
Um
mir die Langeweile zu vertreiben, nahm ich mir vor, den Arcademodus auf der
dritthöchsten Schwierigkeitsstufe durchzuspielen (es gab acht
Schwierigkeitsgrade), auch wenn ich vermutlich zigmal verlieren würde, bevor
ich den glorreichen Sieg davontragen konnte.
Wie
immer wählte ich meinen Liebling: Jann Lee.
So
weit, so gut, bis jetzt lief alles wie am Schnürchen. Selbst der nervige
Ladebildschirm war vorhanden.
Nach
ellenlangen Sekunden ging es endlich los:
Ich
kämpfte gegen Eliot, einen hübschen jungen
Blondschopf, der trotz seiner Milchbubistatur mächtig austeilen konnte.
Die
Introsequenzen liefen auch ganz normal ab.
Eliot
verneigte sich vor Jann und sagte wie immer: „I challenge you!“
Jann
sprang auf die Kampffläche, wie immer gefolgt von einem seiner typischen
Kampfschreie: „WUUUUUAHH!!“
Kam
es mir nur so vor oder klang Jann dieses Mal noch kampflustiger als sonst?
Der
Kampf begann.
Mit
unerwarteter Leichtigkeit deckte ich Eliot mit schnellen Schlägen ein, die kaum
von ihm gekontert oder erwidert wurden. Zwar blockte Eliot einige Schläge ab,
aber es sah so anders aus als sonst, schon fast, als ob…
…
als ob Eliot Angst hätte.
Nach
einiger Zeit fing Eliot ebenfalls an, anzugreifen. Doch seine Angriffe kamen
nur vereinzelt und zögerlich. Ich war noch nie besonders gut im Abblocken.
Umso
seltsamer war es, dass Jann Eliots Angriffe scheinbar automatisch abwehrte und
sogar konterte. Allerdings konnte ich mich nicht erinnern, dass Jann diese
Konteranimationen überhaupt besaß. Am schrecklichsten war der Moment, in dem
Jann mit einer geschickten Bewegung hinter Eliot gelangte, seinen Unterarm
ergriff und ihn ruckartig nach hinten riss, während er den Oberarm mit seiner
anderen Hand festhielt.
Dabei
entstand ein schreckliches Geräusch, fast so, als hätte er Eliot tatsächlich
den Arm gebrochen.
Das
Schreckliche daran war, dass es sich völlig anders anhörte als die anderen
Soundeffekte.
Es
klang so real.
Eliot
stieß einen lauten Schmerzensschrei aus.
Im
Laufe meiner Dead or Alive 5-Karriere hatte ich die Spielfiguren vor Schmerzen
ächzen, keuchen, höchstens stöhnen gehört, aber dieser Schmerzensschrei gehörte
eindeutig nicht zum Repertoire des Spiels.
Jann
begab sich grinsend zurück in seine Kampfstellung.
Halt.
Grinste
er gerade wirklich?!
Vor
Schmerzen hielt Eliot sich den Arm, der ihm gerade gebrochen wurde. Er stöhnte
gequält.
Das
gehörte nicht zum Spiel!
Ich
wollte es nicht glauben, als Jann eigenständig mit langsamen Schritten auf
Eliot zuging und dieser mit bebender Stimme flehte:
„Bitte…
Hör auf! Du hast gewonnen, ich gebe auf! Bitte
lass mich leben!“
Schon
wieder auf Deutsch, obwohl es in diesem Spiel keine deutsche Sprachausgabe gab…
Die
Perspektive des Spiels änderte sich zu einer Nahaufnahme.
Jann
beugte sich zu Eliot, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte in
einem unheimlich sadistischen Unterton:
„Das hättest du wohl gerne.“
Ein
ekelerregendes schmatzendes Geräusch ertönte.
Die
Perspektive änderte sich nicht, aber ich konnte mir denken, was er gerade mit
Eliot getan hatte…
Eliots
Augen weiteten sich vor Schreck, sein Mund leicht geöffnet, als wollte er
protestieren.
Dann
wurde sein Blick glasig. Sein Kopf neigte sich nach unten.
Wieder
dieses schmatzende Geräusch.
Jann
stieß Eliot von sich weg, der leblose Körper prallte mit einem grässlichen
Knallen auf den Boden.
Die
Kameraperspektive wechselte zu Jann, während der Schriftzug „Winner“ auf dem unteren Bildschirm erschien.
Janns
linke Hand war voller Blut.
Sein
manisches Kichern war einfach nur furchteinflößend.
Als
er sah, wie ich mit aufgerissenen Augen auf den Fernseher starrte, fragte er
mich kampflustig:
„Was
ist los, Kira? Komm, lass uns weitermachen! Ich mach sie alle fertig! So wie
ihn!“
Er
deutete mit seiner linken Hand dorthin, wo vermutlich Eliot lag.
Ich
stand auf, hetzte zum Kabel.
„Halt!
Was tust du da, Kira?! Ich hab das nur für dich getan! Kira!“‚
Endlich,
nur noch ein Griff.
„Was
hast du, Kira?! Ich dachte, du magst
mich! KIRA!!!“
Ich
stöpselte das Kabel aus, der Bildschirm wurde schwarz und Jann schwieg endlich.
Zitternd
verharrte ich in meiner jetzigen Haltung, bestimmt mehrere Minuten lang.
Dann
rannte ich ins Bad, klappte den Klodeckel hoch und erbrach mich.
Warum?!
Warum
passierte das ausgerechnet mir?
Es
war wie verflucht.
Es
war wie ein Alptraum.
Nur,
dass man aus einem Alptraum aufwachen kann und danach alles gut wird.
Ich
würde, wenn ich Pech hatte, nie aus diesem Grauen aufwachen.
Plötzlich
hörte ich das Klimpern von Schlüsseln.
Das
musste Leonard sein!
Ich
musste ihm von diesem Vorfall erzählen, wollte seinen Namen rufen, als wieder
mein Handy in meiner Hosentasche vibrierte.
Dieses
Mal war es nicht Tony Redgrave.
Es
war Jann Lee.
Er
hatte mir eine Videonachricht geschickt.
Was
ich in dem Video sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren:
Jann
stand grinsend da, legte den Zeigefinger an die Lippen und sagte: „Pssst!“.
Dann zwinkerte er mich an und das Video endete.
„Hey,
Kira…“
Leonard
hatte das Bad betreten und legte mir die Hand auf die Schulter.
Ich
sah ihn an. Besorgt erwiderte er meinen Blick. Bestimmt sah ich erbärmlich aus.
„Leo…“,
fing ich an.
„Ja?“,
fragte er.
„Ich
glaube, morgen bleibe ich zu Hause…“
„Mach
das. Vielleicht solltest du auch zum Arzt, Killer. Siehst echt nicht gut aus.“,
antwortete Leonard. „Hast echt Glück, dass du morgen keinen Unterricht hast.“
Kurze
Zeit später im Bett erinnerte ich mich an Redgraves Nachricht:
„Und wenn ich du wäre, würde ich mich jetzt
eine Weile von elektronischen Medien
fernhalten.“
„Warum
hast du das getan?“
Wieder diese Schwärze. Alles war
schwarz, pechschwarz.
„Warum
hast du das zugelassen? Du wusstest, dass so etwas passieren würde, oder etwa
nicht?“
Eine vorwurfsvolle Stimme drang zu
mir. Doch es war nicht die des kopflosen Dantes.
„Du
wusstest, dass Tony Recht hatte. Und trotzdem hast du es getan. Warum?“
Diese Stimme war die eines
siebzehnjährigen Jungen. Schritte hallten in dem formlosen Raum wider.
„Jetzt
wird er dich erst recht nicht in Ruhe lassen, Kira. Jetzt wird er dich jagen,
bis er dich endgültig in seiner Gewalt hat.“
Langsam aber sicher konnte ich die
Silhouette des Jungen erkennen. Er schien mehr zu schlurfen als zu gehen.
Sein linker Arm baumelte dabei hin
und her, als wäre er gebrochen.
„Vielleicht
warst du dir der Sache bewusst, wolltest dir jedoch den Schein deiner ach so
heilen Welt bewahren. Aber glaub nicht, dass du mein – nein – UNSER Leiden
rückgängig machen kannst. Nicht mehr.“
Auf einmal erkannte ich den Jungen.
Er fixierte mich mit strengen blauen Augen.
„Weißt
du, wie sehr diese Wunde schmerzt, Kira?“,
fragte Eliot röchelnd, auf seine linke Brust zeigend.
Ein tiefes Loch befand sich dort,
wo sein Herz war.
Die Wunde war noch frisch.
Blutstropfen fielen auf den Boden.
Kreischend
setzte ich mich mit einer ruckartigen Bewegung auf.
Mal
wieder.
Das
war jetzt schon mein zweiter Alptraum in Folge.
Und
das Schlimmste war, dass mir durch diesen Alptraum einiges klarer wurde:
Es
war der Jann Lee aus meinem Gymnasium, der die Videospiele gehackt und mir
dieses Video geschickt hatte, das mich an meinem gesunden Menschenverstand
zweifeln ließ. Redgraves Nachrichten waren allesamt Warnungen, die ich, naiv
wie ich bin, in den Wind geschlagen hatte. Unwillkürlich fielen mir Eliots Worte
ein:
„Vielleicht warst du dir der Sache bewusst,
wolltest dir jedoch den Schein deiner ach so heilen Welt bewahren.“
Dadurch,
dass ich in der Schule mit ihm zusammen war, hatte ich Jann Interesse
signalisiert. Ein folgenschwerer Fehler.
„Jetzt wird er dich erst recht nicht in Ruhe
lassen, Kira. Jetzt wird er dich jagen, bis er dich endgültig in seiner Gewalt
hat.“
Was
Eliot mit „jagen“ meinte, wollte ich gar nicht erst wissen.
Aber
diese scheinbar plausiblen Erkenntnisse warfen Fragen auf:
Wie
hätte Jann meine Spiele hacken können, wenn er nie bei mir gewesen war?
Wie
konnte Jann mir eine Nachricht schicken, obwohl er meine Nummer nicht kannte?
Warum
schien es so, als ob die Spielcharaktere tatsächlich mit mir interagierten und
nicht nach einer festgelegten Programmierung handelten?
Und
vor allem…
Warum
schien es so, als ob sich alles nur um Jann und mich drehte?
Was
würde Jann mit diesen Aktionen bezwecken wollen?
Was
war so besonders an mir, dass Jann es ausgerechnet auf mich abgesehen hatte?
Je
mehr ich nachdachte, desto mehr Fragen kamen in mir hoch, bis meine Gedanken
nur aus einem endlosen Strudel aus Fragen bestanden.
„Exzellent!
Einfach exzellent, wie meine kleine Schwester schon zu dieser frühen Stunde
über irgendwelche Sachen nachdenken kann!“
Leonard
hatte unbemerkt mein Zimmer betreten. Er hatte noch seinen Schlafanzug an und
kniete neben meinem Bett.
„Wie
jetzt? Wie spät ist es?“, fragte ich verwirrt, beantwortete meine Frage jedoch
selbst und blickte auf meinen Wecker:
4:44
Uhr.
Ich
wandte mich wieder zu Leonard und wollte wissen: „Warum bist du eigentlich so
früh wach?“
„Bin
durch dein Geschreie wach geworden.“, antwortete mein Bruder, „Hattest wohl
einen verdammt fiesen Alptraum.“
Oh
Leo, wenn du nur wüsstest, wie verdammt fies dieser Alptraum wirklich war…
„Yo“,
murmelte ich und log: „Hab geträumt, dass mich Zombies aus einem Hochhaus
geworfen haben.“
Leonard
lachte und vermutete sarkastisch: „Hatten wohl keinen Hunger, hm? Hör mal,
Killer…“ Er fuhr sanfter fort: „Das war bloß ein Traum, ein dummer beschissener
Traum. Das war nur in deinem Kopf, mach dir also nicht so viele Gedanken
darüber, okay?“
„Okay,
Leo.“, antwortete ich. Mein Bruder wusste ja nicht, was ich bis jetzt
durchgemacht hatte.
„Das
ist gut. Weißt du, ich würde echt gerne noch weiter mit dir quatschen, aber ich
schreibe heute ein wichtiges Examen und da möchte ich zumindest etwas ausgeruht
sein. Ich leg mich die drei Stunden noch etwas aufs Ohr, ist das okay für
dich?“
„Ja,
mach das.“, antwortete ich.
Leonard
stand auf, ging zur Tür und riet mir:
„Ach
ja, Killer: Versuch trotzdem, zu schlafen. Das hast du dir nach dieser
bekloppten Schulwoche redlich verdient!“
Dann
schloss er die Tür.
Ich
ließ mich wieder in mein Bett sinken und mich von den nicht enden wollenden
Fragen in meinem Kopf treiben.
Was
wusste ich überhaupt von Jann Lee?
Wusste
ich eigentlich etwas über meinen neuen Mitschüler?
Was
er am ersten Tag über sich verriet, konnte auch nur eine Lüge gewesen sein…
Lüge…
Lüge…
Lüge…
Die
Nachrichten!
Ich
beschloss, die Telefonnummern von Redgrave und Jann zu überprüfen und schnappte
mir mein Handy vom Schreibtisch.
Redgraves
Telefonnummer kannte ich nicht, selbst Telefonbuch oder Internet brachten mich
nicht weiter, da seine Telefonnummer nirgends vertreten war.
Nach
langer Recherche gab ich auf und wandte mich Janns Nachricht zu, nur um zu
erkennen, dass…
…
dass die Videonachricht von Jann verschwunden war.
Egal,
was ich tat, ich konnte die Videonachricht von Jann weder aufrufen noch
überhaupt finden!
Als
ob jemand sie gelöscht hätte…
Wie
aufs Stichwort erhielt ich eine SMS.
Ich
musste mich zusammenreißen, um nicht erneut aufzuschreien und mein Handy gegen
die Wand zu werfen.
Der
Absender war Jann Lee.
Seine
Nachricht lautete:
Huuu…WATAH!
Echt langweilig ohne dich, Kira. Heute Lust auf Treffen? So um vier am Kiosk
neben dem Kino?
Dein
Jann (the one 🙂
Jann the one…
diesen Spitznamen hatte ich mir einmal für die Spielfigur Jann Lee ausgedacht.
Woher
wusste er davon? Oder war es bloß Zufall?
Doch
da war noch etwas:
Er
hatte ein Bild an die Datei angehängt.
Vermutlich
hatte er es in der Jungenumkleide unserer Sporthalle geschossen. Jann hatte
sich selbst mit seinem I-Phone vor einem Spiegel fotografiert. In dem Bild
stand er mit nacktem, muskulösem Oberkörper vor einem Spiegel. Mit seiner
rechten Hand hielt er sein I-Phone, mit der linken fuhr er sich mit seinem
Daumen über die Nase. Und wieder hatte er dieses grässliche Grinsen auf den
Lippen…
Was
hatte dieses Bild zu bedeuten?
Und warum stand bei seiner SMS keine Handynummer?!
Ich beschloss, ihm nicht zu antworten.
Ich
würde diesen Tag und das Wochenende ausschließlich zu Hause verbringen, das
Risiko, draußen zufällig Jann zu begegnen, wollte ich nicht in Kauf nehmen.
Der
selbstauferlegte Hausarrest war nicht einmal halb so schlimm, wie ich erwartet
hatte!
Ich
hatte jede Menge Spaß mit meinen Eltern, die an diesem Tag erst um 13:00 Uhr
arbeiten mussten.
Wir
spielten Karten, unterhielten uns über Schule, Arbeit und sonstigen nichtigen
Kram und machten viele andere banale Sachen.
Aber
gerade diese banalen Sachen lehrten mich wieder, wie es sich anfühlte, ein
Mensch zu sein, frei von Panik und Paranoia.
Über
Jann erzählte ich ihnen kein Wort, warum auch, wenn ich ihn zumindest eine
Zeitlang vergessen konnte?
Auch
meine Eltern freuten sich, dass es ihre Tochter auch einmal zustande brachte,
sich von ihrer heißgeliebten Playstation loszureißen und etwas mit der Familie
zu unternehmen. Ich wünschte, diese Zeit mit meinen Eltern würde nie enden.
Doch die Zeit verging schnell, viel zu schnell, und meine Eltern mussten sich
für ihre Arbeit vorbereiten.
Es
war fast halb Eins, und meine Eltern waren schon mit einem Bein draußen.
„Tschüss
Kira, bis heute Abend! Mach niemandem die Tür auf, okay?“, fragte meine Mutter.
„Ja,
Mama.“, antwortete ich.
„Alles
klar, dann mach´s gut!“
Meine
Eltern wollten gerade gehen, als sich mein Vater noch einmal umdrehte:
„Ach
ja, Kira?“
„Ja,
Papa?“
„Kannst
du heute für uns schwarze Druckerpatronen kaufen? Unsere ist schon so gut wie
leer und du weißt ja, wie wichtig Kopien unserer Berichte sind.“
Hätte
er das vor einer Woche gefragt, hätte ich ohne zu zögern mit „ja“ geantwortet.
Doch
nun, wo es ein seltsamer Mitschüler namens Jann Lee auf mich abgesehen hatte,
traute ich mich kaum noch, einen Fuß aus unserem Haus zu setzen.
Trotzdem
antwortete ich, wenn auch etwas zögerlicher als sonst:
„Klar,
kein Problem.“
„Okay!
Na dann bis später!“
Dann
schlossen meine Eltern die Tür und ich war wieder allein.
Ich
war einsam, einsamer als je zuvor.
Konnte
ich früher noch wenigstens Videospiele spielen, um mich abzulenken, wagte ich
jetzt nicht einmal, einen Lichtschalter anzurühren. Stimmt, ich hätte etwas
schreiben, malen oder Musik hören können, aber in meiner wiederaufkommenden
Furcht wären mir diese Alternativen nicht im Traum eingefallen. Somit hockte
ich die nächsten drei Stunden geistesabwesend in der Ecke meines Zimmers.
Ich
saß da, zusammengekauert, die Arme um meine angewinkelten Beine geschlungen,
reglos, auf den Boden starrend.
Als
ob mir das etwas bringen würde.
Als
würde das die Gedanken an Redgrave, Eliot und Jann von mir fernhalten.
Doch
die Gedanken kehrten immer wieder zurück. Immer und immer wieder.
Mein
Kopf war bis zum Rand ausschließlich mit diesen Gedanken gefüllt.
Ich
spielte bereits mit dem Gedanken, für einige Tage die Schule zu schwänzen oder
sogar auf ein anderes Gymnasium zu wechseln. Aber davon würde sich Jann Lee
nicht aufhalten lassen, auf keinen Fall. Er konnte mich immer noch mit
Nachrichten terrorisieren, mir auflauern oder…
Diesen
Gedanken wollte ich nicht zu Ende führen.
Und
schließlich müsste ich irgendwann sowieso aus dem Haus, wegen Schule und dem
ganzen Kram.
Mein
Gott.
Wann
ist dein Selbstvertrauen noch ´mal auf die Größe einer Erbse geschrumpft, Kira?
Ich
ließ mich doch nicht von einem dahergelaufenen neuen Mitschüler wahnsinnig
machen, Kampfkunst und Verrücktheit hin oder her!
Endlich
stand ich auf, schnappte mir Handy und Portemonnaie und machte mich auf zur
Haustür.
Es
waren schließlich bloß Druckerpatronen, dumme kleine Druckerpatronen…
Als
ich den ersten Schritt aus dem Haus wagte, fühlte ich mich ungewöhnlich
erleichtert, als ob ich gerade ein scheinbar unüberwindbares Hindernis hinter
mir gelassen hatte. Ich bog sofort links ab Richtung Askania-Laden, hatte einen
sicheren Schritt und summte vor mich hin.
Dabei
bemerkte ich kaum, dass die Straßen seltsam leer und verlassen aussahen.
Wie
in einer Geisterstadt…
Der
Wind heulte leise, der Himmel hatte einen beunruhigend dunklen Farbton
angenommen. Doch ich blendete alles bis auf den vor mir liegenden Weg aus, ich
wollte einfach nur nach Askania und ein paar schwarze Druckerpatronen kaufen.
Langsam bekam ich jedoch ein mulmiges Gefühl…
Es
kam mir so vor, als ob sich langsam eine Wand aus Nebel in meiner Umgebung
ausbreitete, zuerst nur schwacher, kaum erkennbarer, weißer Dunst, der sich mit
jedem meiner Schritte allmählich verdichtete. Anfangs dachte ich an eine
optische Täuschung, Müdigkeit oder stressbedingte Halluzinationen und ging
unbeeindruckt weiter.
Doch
der Nebel wurde immer dichter und dunkler…
Ich
beschleunigte meine Schritte.
Warum
schien der Laden so weit weg?
Ich
musste nur ungefähr drei Minuten von meinem Haus aus dorthin laufen, aber ich
war in diesem Moment gefühlte zehn Minuten unterwegs.
Der
Nebel dämpfte alle Geräusche, doch ich vernahm das leise Echo meiner Schritte.
Oder…
War
das gar kein Echo?
Ich
drehte mich um.
Es
war zu neblig, um die Person zu erkennen, aber die stachelige Frisur und der
robuste Körperbau der schwarzen Silhouette sagten mir bereits alles:
Jann Lee verfolgte mich.
Wie
ein lauerndes Raubtier schlich er zu mir, langsam, aber zweifellos auf seine Beute
fixiert.
Nun
tat ich das, was ich längst hätte tun sollen:
Ich
nahm die Beine in die Hand und rannte so schnell ich nur konnte.
Mir
war es egal, wohin mich meine Angst führen würde. Durch den Nebel beschränkte
sich meine Sicht sowieso nur auf ein paar mickrige Meter. Doch wenn ich schon
nichts sehen konnte, würde Jann mich bestimmt auch aus den Augen verlieren.
Die
einzige Voraussetzung für diesen Plan war, dass Jann sein momentanes Tempo beibehielt…
Ich
hoffte und betete, dass ich zumindest dieses Mal Glück hatte.
Schwitzend
und keuchend kämpfte ich mich durch die trübe gräuliche Wand aus Nebel, ohne
mich auch nur einmal umzudrehen. Dafür waren mir die Zeit und mein Abstand von
ihm zu kostbar. Je mehr Abstand ich zwischen Jann und mir gewinnen konnte,
desto besser. Im Lauf warf ich einen zufällig dastehenden Kartonstapel um.
Solange Jann neben seiner Kampfkunstlaufbahn keine Karriere im Hochsprung
eingeschlagen hatte, gewann ich durch dieses Hindernis wertvolle Zeit.
Moment…
Die
Tür des Waffengeschäfts neben Askania war offen!
Ich
riskierte einen schnellen Blick über meine Schulter.
Nebel.
Kalter,
grauer, dichter Nebel.
Von
Jann Lee keine Spur.
Kein
Geräusch war zu hören, nur meine hastigen Schritte und keuchenden Atemzüge.
Da
ich ihn anscheinend abgehängt hatte, betrat ich den Waffenladen und schloss die
Tür hinter mir.
Kaum
fiel die Tür ins Schloss, duckte ich mich.
Schließlich
wollte ich nicht, dass Jann sah, dass der Laden nicht leer war.
In
gebeugter Haltung kroch ich an der linken Wand entlang und sah mich um. Es war
sehr dunkel, dennoch konnte ich die Ausstattung einigermaßen gut erkennen.
Pistolen
und Gewehre wurden in Glasvitrinen aufbewahrt, neben der Kasse lagen
9mm-Patronenpäckchen. Sogar Schwerter befanden sich in einer größeren Vitrine
in der hinteren rechten Ecke. Und auf einem Tisch in der Mitte lagen Waffen,
die wie Kampfmesser eines Kriegsveteranen aussahen. Aufgrund meiner Lage
beschloss ich, mir ein solches Messer vorsichtig zu nehmen und in meiner
Jeanstasche zu verstauen. Gott sei Dank war es ein Klappmesser.
Langsam
tastete ich mich weiter im dunklen Laden voran. Hinter der Kasse war eine Tür.
Vielleicht
habe ich Glück und es ist noch jemand hier!
Ich
öffnete die Tür vorsichtig, wobei ein schrilles Knarren ertönte. Zuerst steckte
ich meinen Kopf durch die Öffnung. Es war noch dunkler als im Geschäft selbst,
man konnte kaum die eigene Hand vor Augen sehen. Dennoch trat ich in den
hinteren Bereich des Waffengeschäfts. Einen Lichtschalter würde ich schon bald
finden, davor benutzte ich den Bildschirm meines Handys als dürftigen Taschenlampenersatz.
So
überprüfte ich den Spiegel auf der linken und die Garderobe auf der rechten
Seite des schmalen Ganges, als ich auf einmal eine Stimme hörte:
„Hier,
fang!“
Etwas
rundes, kaltes und auf einer Seite haariges prallte auf meinen Oberkörper.
Instinktiv fing ich es auf. Was war das? Ein Ball war es schon mal nicht.
Vielleicht eine Gummimaske? Nein, dazu war dieses Ding zu schwer und solide.
Aber was war es dann?
Plötzlich
ging das Licht an.
Ich
betrachtete das Objekt in meinen Händen – und war kurz davor, laut
aufzuschreien.
Es
war Dantes Kopf.
Seine
Augen waren noch weit aufgerissen, sein Gesicht sah erschrocken, fast ungläubig
aus, als wusste er in seinen letzten Momenten nicht, was mit ihm geschah.
Schockiert ließ ich den Kopf auf den Boden fallen.
„Na,
na, na, hast du denn keinen Respekt vor den Toten?“, fragte die Stimme. Ich
wusste doch, dass ich sie von irgendwoher kannte. Nachdem ich aufsah, kicherte
er und bemerkte:
„Allerdings
siehst du schon verdammt süß aus, wenn du Angst hast. Weißt du, Kira?“
Jann
Lee stand am anderen Ende des Ganges, seine rechte Hand lag noch auf dem
Lichtschalter.
Er
war ungefähr vier Meter von mir entfernt, doch das würde nicht mehr lange so
bleiben.
Grinsend
leckte er sich die Lippen, während er sich mir näherte.
Mit
jedem Schritt, den er auf mich zu machte, wich ich einen Schritt zurück.
Blind
tastete ich nach der Türklinke, ohne den Blick von Jann abzuwenden.
Da!
Ich kriegte sie zu fassen!
Ich
öffnete die Tür und tastete mich weiter bis zum vorderen Bereich des Waffenladens
vor.
Nun war Jann nur noch knapp zwei Meter von mir
entfernt…
Schnell
wollte ich mich umdrehen, aus dem Laden fliehen, aber ich stolperte über einen
Katalogstapel und fiel rücklings zu Boden.
Jann
blieb im Türrahmen stehen.
Seine
stacheligen Haare ragten wie viele kleine Teufelshörner in die Höhe.
Und
seine Augen…
Sie
schienen zu leuchten…
Der
Abstand zwischen uns wurde abermals geringer und geringer, bis er direkt vor
mir stand.
Plötzlich
hielt Jann inne.
Verblüfft
starrte er mich an und fragte mich verwirrt:
„Was
ist los mit dir? Warum hast du Angst vor mir?
Ich… ich…“
Er
klang verzweifelt, hatte den Blick eines kleinen Jungen, dessen Geschenk soeben
von seiner Mutter abgelehnt wurde.
Jann
fuhr fast schon panisch fort:
„Ich
dachte, du magst mich! Du magst mich
doch, oder? Oder magst du mich nicht mehr? Kira! Sag mir doch, was ich falsch
mache! Moment…“
Mit
einem Mal grinste er wieder und raunte:
„Es
ist nicht mein Aussehen, richtig? Du magst meine Kampfschreie am liebsten,
nicht wahr, Kira? Haha! Warum hast du das nicht gleich gesagt?! Für dich mache
ich das auf Kommando, Kira, das weißt du doch!“
Er
wechselte zu seiner hohen, schrillen Stimmlage.
„Wataaaah! Huuu-Ataaaa!! Yattaaaa!!!“,
zischte er, als wollte er mit mir über eine Geheimsprache kommunizieren, die
nur er kannte.
Nicht
nur, dass mir seine Stimme und sein Gesichtsausdruck einen eiskalten Schauer
über den Rücken jagten, das Schlimmste waren seine Augen.
Sie
leuchteten.
Sie
leuchteten tatsächlich in einem bedrohlichen Rot.
Erschrocken
krabbelte ich rückwärts, versuchte aufzustehen, doch Jann hockte sich
blitzschnell neben mich.
Er
strich sanft mit seiner linken Hand über meine Wange.
Sie
war kalt wie Eiswasser und… Gott… sie roch so salzig-metallisch…
Nach
Blut…
Angeekelt
wollte ich zurückweichen, doch Janns Berührung schien meinen Körper von Kopf
bis Fuß zu lähmen.
Jann
Lee flüsterte mir ins Ohr:
„Hab
doch keine Angst. Ich bin der, den du am meisten magst. Komm, ich bring dich
jetzt zu mir…“
Er
hielt inne, fixierte meine angst- und ekelerfüllten Augen, folgte ihrer
Richtung zur Tür des hinteren Ladenbereiches und knurrte:
„Was
ist mit diesem Schwachkopf namens Dante?“
Endlich
fand ich meine Stimme wieder.
Ich
fragte ihn: „Hast
du wirklich Dante getötet?“
Die
Frage schien ihn sehr zu verärgern.
Ungehalten
fauchte er:
„Na
klar! Was dachtest du denn? Er stand unserer Freundschaft im Weg. Weißt du
noch? Immer, wenn du unser Spiel gespielt hattest, hast du immer mich
ausgewählt, hast immer mit mir gekämpft! Ich habe es geliebt, wie du mich immer
angefeuert hast, du gabst mir Mut, auch wenn wir mal Kämpfe verloren hatten.“
Janns
Miene verfinsterte sich noch mehr. Er schnaubte:
„Und
dann stolzierte irgendein Dante daher, um uns zwei voneinander zu trennen!
Nachdem du einmal mit ihm gespielt hattest, hattest du nur noch Augen für
Dante. Nur für Dante! Mich hast du mehr und mehr vergessen! Und ich versauerte
in der kleinen Hülle eines Videospiels. Da musste ich doch etwas tun! Also kam
ich an deine Schule, um nachzuprüfen, ob du mich wirklich vergessen hast. Aber
du hast mich nicht vergessen.“
Er
tippte mit seinem Finger auf meine Brust:
„Ich
war immer noch da drin! Das wusste ich, als du mich das erste Mal auf der
Schule angesprochen hast. Du hattest immer noch Gefühle für mich! Und genau
deshalb musste ich natürlich dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Also
schlich ich mich nach der Schule zu deinem Freund Dante und stutzte ihn auf die
Größe, die er wirklich verdient hat.“
Jann
führte seinen tödlichen Angriff vor, indem er mit beiden Handkanten einen
unsichtbaren Hals durchtrennte.
„WAH-TAH! Genau so, Kira. Genau so habe
ich ihn getötet. Ich habe ihn getötet, wie ich auch Jasper hätte töten
können.“, schnurrte er. Er schien die Erinnerung an seine Tat in vollen Zügen
zu genießen.
Er
fuhr selig grinsend fort:
„Nun
musstest du dich doch an deine Gefühle für mich erinnern! Aber nein: Dante…
oder sollte ich besser sagen Tony
Redgrave…? Das war sein Deckname. Jedenfalls war er selbst nach seinem
Ableben sehr anhänglich und hat dir pausenlos Warnungen geschickt. Ha! Ein ganz
schön eifersüchtiger Egoist, nicht wahr?“
„Fragt
sich nur, wer hier der Egoist von euch beiden ist…“, dachte ich.
Also
war es tatsächlich Dante, der mich mehrmals vor Jann gewarnt hatte!
Dieser
Tony Redgrave – das war er!
Und
ich habe die ganze Zeit nicht bemerkt, was für ein Spiel Jann trieb…
Zitternd
vor Aufregung begann Jann, weiterzureden:
„Aber
das war auch kein Problem für mich. Ich musste dich einfach nur irgendwie auf
mich aufmerksam machen! Was für ein Glück ich doch hatte, dass du nach langer
Zeit wieder unser Spiel gespielt hast! Ich musste dir zeigen, dass ich bereit
war, für dich alles zu tun! Also habe ich diesen lästigen Milchbubi namens
Eliot vom Angesicht der virtuellen Erde getilgt.“
Tu
doch etwas, Kira! Herrgott, solange er redet, ist er unaufmerksam! Tu doch
endlich etwas!
„Haha,
und dann hast du einfach das Spiel ausgestöpselt. Du warst bestimmt
erschrocken, wie einfach es war, oder? Erstaunt, zu was ich imstande bin, nicht
wahr? Ich hab das nur für dich getan, Kira! Das hast du gespürt, das weiß ich!
Aber in der Schule warst du immer noch so schüchtern…“
Er
kicherte gehässig und fügte hinzu:
„…Sogar
jetzt noch. Das brauchst du doch gar nicht! Vielleicht bist du dir deiner
Gefühle nur noch nicht be-…“
Er
stockte.
Er
sah an sich hinunter.
Verdammt,
ich hatte einfach zu viel Angst!
Aber
immerhin hatte ich ihm wenigstens das Klappmesser in eine Stelle unterhalb
seiner linken Brust rammen können.
Jann
schrie vor Schmerz auf.
Schnell
zog ich das Messer raus, rappelte mich auf und hielt die Waffe schützend vor
meinen Körper.
„Keinen Schritt näher, du Freak!!!“,
brüllte ich ihn an.
Fluchend
presste Jann seine rechte Hand auf seine Wunde und richtete sich ebenfalls
langsam auf.
Dann
legte er den Kopf schief.
„`Freak´…?“,
fragte er langsam, als wüsste er nicht, was dieses Wort bedeutet. „Hast du mich
da gerade `Freak´ genannt…?“, fragte er erneut.
Eine
Weile stand er verwirrt da, doch dann regte er sich wieder.
Zornig
warf Jann den Kopf in den Nacken und stieß ein aggressives, animalisches
Brüllen aus.
Dann
starrte er mich wutentbrannt mit seinen feuerroten Augen an.
Sie
schienen nahezu in Flammen zu stehen.
„SO
WEIT HAT ER DICH SCHON?!! SO SEHR HAT DIR DANTE SCHON DEN KOPF VERDREHT?!!! AUF
KEINEN FALL!!!“, schrie er.
Die
Hand, in der ich das Kampfmesser hielt, begann stark zu zittern, aber ich
wollte mich nicht einschüchtern lassen. Ich hatte eine Waffe, Jann nicht.
Mit
schmerzverzerrtem und wütendem Gesicht schlurfte der Verrückte auf mich zu und
streckte seine linke Hand nach mir aus.
„DU
GEHÖRST IHM NICHT, KIRA! DU GEHÖRST MIR!! ICH LASSE NICHT ZU, DASS ER DICH MIR
WEGNIMMT!!!“
Nun
war es höchste Zeit, den armen Irren von seinem Leid zu erlösen.
Ich
machte tapfer einen Ausfallschritt auf Jann zu, wollte sein Herz treffen.
Doch
Jann schlug mir das Kampfmesser mit einer raschen Bewegung aus der Hand.
Dabei
benutzte er die rechte Hand, mit der er vorher seine Wunde gehalten hatte. Sie
blutete immer noch.
„Das
lasse ich nicht zu…“, knurrte er.
Urplötzlich
stieß er mich zur Seite, wankte auf den Tisch mit den Kampfmessern zu und
musterte die Waffen grinsend.
Er
griff sich ein Messer und betrachtete es.
„Das
ist doch ein grausames Ende, wenn die Liebende den Geliebten tötet, weil sie
von seinem Rivalen getäuscht wurde, nicht wahr, Kira?“, fragte er mich, ohne
den Blick von der Waffe abzuwenden.
Ich
nutzte diese Chance, um mich im Raum nach irgendeiner weiteren Waffe umzusehen,
um Jann endgültig den Garaus zu machen.
Die
Schwerter in der Vitrine? Dazu müsste ich erst einmal das Glas einschlagen. In
der Zeit wäre Jann bereits bei mir, trotz seiner Verletzung konnte er sich noch
recht schnell bewegen.
„Ich
habe da eine viel bessere Idee. Ich habe getan, was ich konnte, um deine Gefühle
für mich wieder wachzurütteln, aber wie ich sehe, hat Dante bei dir ganze
Arbeit geleistet. Wie wäre es also hiermit…?“, setzte Jann an. Er starrte immer
noch verträumt auf das Messer.
Das
Gewehr neben dem Tresen? Ich musste mich noch nicht einmal bücken, um es an
mich zu nehmen.
Aber
es war nur ein Exponat, es würde garantiert nicht geladen sein, deshalb suchte ich krampfhaft weiter.
„Zuerst
bringe ich dich um, und dann bringe ich mich um. Dann sind wir zwei für immer
zusammen, Kira! Obwohl es schon ziemlich schade ist, so ein hübsches Ding wie
dich zu töten…“
Ja,
rede weiter, Jann, rede ruhig weiter, das verschafft mir wertvolle Zeit.
Mein
Blick fiel auf die 9mm-Patronen neben der Kasse, wanderte einige Zentimeter
weiter…
Und
ich erblickte etwas auf dem Tresen, was mir noch vor fünf Minuten nicht
aufgefallen war:
Eine
Pistole!
Leise
schlich ich mich zur Feuerwaffe, nahm sie vorsichtig an mich und überprüfte
deren Inhalt.
Ich
zwang mich, nicht zu grinsen.
In
der Pistole befanden sich sechs Schuss.
Jetzt
war ich bereit.
Noch
grinste Jann.
Doch
das Grinsen würde ihm schon bald vergehen…
Endlich
sah er zu mir herüber, wobei ich die Pistole hinter meinem Rücken versteckte.
„Keine
Sorge, Kira. Es wird nicht lange wehtun. Nur ein schneller kurzer Schnitt, mehr
nicht. Du kannst auch ruhig die Augen zumachen.“
Langsam
ging er auf mich zu, das Messer in der Hand.
Seine
Augen funkelten wie Rubine.
Gierig
leckte er sich die Lippen.
„Du
siehst so unbeeindruckt aus, Kira. Hast du keine Angst?“, fragte er kichernd.
Das
Kichern blieb ihm im Halse stecken, als ich die Pistole auf ihn richtete und
antwortete:
„Kein bisschen.“
Ich
drückte ab.
Jann
zuckte zusammen, stieß einen gequälten Laut aus.
Blut
begann aus der Stelle zu fließen, wo sich sein Herz befand.
Ein
Glückstreffer, aber dennoch ein Treffer.
Stöhnend
fiel Jann auf die Knie, sein grässliches Grinsen war einem ungläubigen, fast
schon traurigen Gesichtsausdruck gewichen.
Seine
Lippen bebten, als er flüsterte:
„Kira… Ich… Ich… dachte, du… magst… mich…“
Er
fiel seitlich zu Boden, rollte kraftlos auf seinen Rücken.
Da
er bereits im Sterben lag, schritt ich auf ihn zu und hockte mich neben ihn.
Ich
wollte sein Ende mit eigenen Augen mitverfolgen.
Dennoch
hielt ich vorsichtshalber meine Pistole im Anschlag.
Wieder
versuchte Jann, zu sprechen.
„W… Wa… Tahhhh…“, krächzte er.
Vor
Schmerz verdrehte er seine leuchtend roten Augen.
Er
hob schwach seine linke Hand und legte sie auf meine.
„Bitte, Kira…“, röchelte er, „Bleib bei mir… Ich… Ich…
Ich
liebe dich doch…“
Plötzlich
spürte ich einen heftigen Schmerz in meinem Bein.
Ich
sah an mir herunter.
Jann
hatte mit letzter Kraft das Kampfmesser tief in meinen linken Unterschenkel
gerammt.
Es
tat höllisch weh, nur was sollte ich tun?
Ich
warf einen letzten Blick auf Jann.
Er
atmete nicht mehr, sein Körper lag schlaff auf dem Boden und sein Blick war
glasig.
Anscheinend
war er jetzt wirklich tot.
Endlich
tat ich das, was ich längst hätte tun sollen, anstatt mich neben Jann zu
hocken.
Ich
stand auf, warf die Pistole weg und riss das Messer aus meinem Bein.
Vor
Schmerzen schrie ich laut auf, aber ich wollte nichts am Körper tragen, was mir
nicht gehörte, schon gar nicht in meinem Unterschenkel.
Die
Wunde blutete stärker, als ich gedacht hatte. Anscheinend hatte Jann eine Ader
erwischt.
Ich
musste erst einmal hier raus, so schnell wie möglich…
Draußen
war es immer noch neblig, aber es schien, als ob sich der Nebel etwas
aufgelockert hätte.
Trotzdem
waren nirgendwo Menschen zu sehen.
Ich
humpelte ziellos die Straße entlang, schließlich musste hier irgendwo ein
Krankenhaus sein, zumindest ein Mensch!
Es
fiel mir immer schwerer, mich überhaupt zu bewegen. Durch die Wunde zog ich
eine kleine Blutspur hinter mir her.
Wenn
ich jetzt so weitermachte, würde ich durch den Blutverlust ohnmächtig werden
oder im schlimmsten Fall – ich will gar nicht daran denken – sterben.
Ich
musste die Wunde versorgen, zumindest mein Bein mit etwas verbandähnlichem
umwickeln!
Fetzen
von Kleidungsstücken schieden schon mal aus, denn ich trug gerade mal ein
T-Shirt und eine kurze Hose am Leib. In meinem jetzigen Zustand war ich auch zu
schwach, um überhaupt etwas auseinanderzureißen, ich konnte nur laufen, laufen,
laufen.
Auf
einmal hörte ich eine Stimme in meinem Kopf:
„Wo gehst du hin? Bring es zu Ende!“
Das
war Eliots Stimme.
Aber
warum?
Jann
war bereits tot, es gab nichts, was ich im Waffengeschäft noch hätte erledigen
müssen.
Mir
wurde bereits schwindlig, alles drehte sich, aber ich zwang mich zum
Weiterlaufen, auch wenn ich gelinde gesagt nur noch torkeln konnte.
Mittlerweile
musste ich mich mit einer Hand an den Hauswänden abstützen, um nicht
umzufallen.
Eine
weitere Stimme von irgendwoher befahl mir:
„In den Kopf! In den Kopf!“
Ich
erkannte Dantes Stimme wieder.
Was
meinte er damit?
Bestimmt
waren diese Stimmen nur die Auswirkungen meines Blutverlustes.
Ich
konnte kaum noch geradeaus sehen, geschweige denn einen Fuß vor den anderen
setzen.
Kraftlos
kippte ich nach vorne und lag auf dem kalten Asphalt.
Würde
ich jetzt sterben?
Sah
ganz danach aus.
Na
ja, zumindest konnte ich mich damit trösten, dass ich meinen Mörder mit ins
Grab genommen hatte.
Und
so ergab ich mich meinem Schicksal und meinem Schmerz, den ich in meinem
Delirium nur noch dumpf wahrnahm.
Ich
lag einfach da und wartete auf meinen Tod.
Aber…
was war das für eine Gestalt, die da in dem Nebel auf mich zukam?
Allmählich
konnte ich ihre Silhouette erkennen. Es war eine ältere Dame, und anscheinend
hat sie mich schon von weit her erkannt.
Schnell
rannte sie auf mich zu und fragte mich irgendetwas.
Aber
ich hörte nichts mehr, spürte nur noch das schwere Pochen in meinem Bein. Mir
war kalt, und die Augen aufhalten konnte ich auch nicht wirklich.
Das
letzte, was ich spürte, war, dass ich auf eine Trage gehievt wurde.
Und
das letzte, was ich sah, waren zwei kleine, kaum erkennbare Rubine, die blutrot
im grauen Nebel glänzten.
War
ich tot?
Mir
war nicht mehr kalt, sondern warm, und es war pechschwarz um mich herum.
Langsam
öffnete ich meine Augen.
Ich
lag in einem Bett – und befand mich wohl in einem Krankenhaus.
Dann
hatte die ältere Dame also einen Krankenwagen gerufen, um mir zu helfen! Wenn
ich ihr doch nur irgendwie danken könnte…
Ich
sah mich um.
Anscheinend
war ich die einzige Patientin in diesem Zimmer. Die Eingangstür war zu, es
begann bereits zu dämmern. Auf den kleinen Nachttisch neben meinem Bett hatte
jemand eine Vase mit einer blutroten Rose gestellt. Und da saß jemand mit dem
Rücken zu mir auf einem Stuhl und sah aus dem offenen Fenster…
„Leonard?“
Ich
erkannte meinen Bruder sofort. Diese witzige braune, stachelige Frisur konnte
man einfach nicht verwechseln.
„Schön,
dass du wieder wach bist.“, antwortete er knapp, ohne sich umzudrehen.
„Wie
lange bist du schon hier?“, fragte ich.
„Eine
Weile.“
So
wortkarg hatte ich meinen Bruder noch nie erlebt. Eigentlich war er immer
derjenige, der eine Unterhaltung am Laufen hielt und allgemein gerne plauderte.
Vor
allem hätte Leonard eher ungeduldig an meinem Bett gewartet, bis ich aufwachte,
anstatt gedankenverloren aus dem Fenster zu starren.
„Wo
sind unsere Eltern?“, hakte ich nach.
„Noch
arbeiten.“
Die
ganze Zeit hatte sich mein Bruder kein einziges Mal umgedreht. Ich bekam ein
mulmiges Gefühl.
Etwas
zögernd bemerkte ich: „Leo, du verhältst dich gerade ziemlich seltsam…“
„Ach,
tue ich das…?“, fragte er tonlos. Dann erzählte er mir: „Ich habe gehört, dass
du von Jann Lee angegriffen wurdest und ihn aus Notwehr umgebracht hast. Alle
Achtung, hast dich gut geschlagen. Und das, obwohl er Jeet Kune Do
beherrschte…“
„Warte
mal, hast du vorhin `Jann Lee´ gesagt?!“
„Ja.“
Moment.
Leonard
konnte gar nichts über Jann wissen.
Ich
hatte ihm nie etwas über ihn erzählt, hatte die ganze Sache geheim gehalten.
Warum
also kannte er nicht nur seinen Namen, sondern auch seinen Kampfstil?
Okay,
vielleicht hatte er das irgendwo aufgeschnappt oder einer meiner Lehrer hatte
ihm etwas über Jann gesagt, aber das war unmöglich.
Denn
er war auf einer Universität, während ich noch auf dem Gymnasium war.
Ich
warf einen Blick auf die Uhr, die an der gegenüberliegenden Wand hing:
16:28
Uhr.
Dabei
hatte mein Bruder erst um 17:30 Uhr Feierabend.
„Wer
bist du…?”, fragte ich ängstlich.
Wenn
dieser Junge dort nicht mein Bruder war – wer war er dann?
Ruhig
antwortete er:
„Ich
bin dein Bruder. Nein, sagen wir: Ich bin mehr als das. Du und ich – wir sind
unzertrennlich. Wir sind eins. Wir gehören zusammen wie Yin und Yang. Du weißt
das. Und ich weiß das auch.“
Dieser
Typ ließ in mir den starken Wunsch aufkommen, aus dem Zimmer zu rennen und um
Hilfe zu schreien, aber durch sein monotones Geraune war ich wie gefesselt.
Wir
beide schwiegen eine Weile.
Dann
fand ich den Mut, das Schweigen zu brechen und den mysteriösen Unbekannten zu
fragen:
„Aber
wenn du wirklich mehr als mein Bruder
bist, warum hast du dann nicht den Mut dazu, dich endlich mal umzudrehen, damit
ich dir ins Gesicht sehen kann?“
Der
Unbekannte kicherte.
Dieses
Kichern kam mir so bekannt vor.
„Weil
wir unser Band erst einmal wieder neu knüpfen müssen, Kira. Ich bezweifle, dass
du meinen Anblick nach dieser kleinen… Meinungsverschiedenheit so schnell
wieder ertragen könntest.“
Zwar
konnte ich es nicht sehen, aber sein Grinsen konnte ich förmlich spüren.
„Aber
es scheint dir ja wieder gut zu gehen, und das ist doch schon mal ein Anfang!
Ich gebe zu, ich habe mich komplett daneben benommen. Liebe muss sich nach und
nach entwickeln, bevor sie zu etwas
Größerem werden kann. Ich war wohl etwas zu stürmisch. Aber das will ich wieder
gutmachen, Kira. Deshalb möchte ich dich etwas fragen…“
Er
drehte sich langsam um.
Ich
konnte nicht glauben, was ich da sah.
Jann
Lee sah mich mit seinen feuerroten Augen an, mit seinem grässlichen Grinsen auf
den Lippen.
Sein
T-Shirt war immer noch voller Blut.
Zwei
Löcher befanden sich dort, wo ich ihn verwundet hatte.
„Jetzt
wird er dich erst recht nicht in Ruhe lassen, Kira. Jetzt wird er dich jagen,
bis er dich endgültig in seiner Gewalt hat.“
Zwinkernd
streckte er die rechte Hand nach mir aus.
Er
fragte:
„Wollen wir nicht einfach von vorne
anfangen…?“