
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Inhaltsverzeichnis:
Teil 1: Museum der Erinnerungen
Teil 2: Direktionswechsel
Teil 3: Spießroutenlauf
Teil 4: Zwischenfälle
Teil 5: Ausbruch
Teil: Die Sitzung
Teil: Interview mit einem Museumsdirektor
Eine ungewisse Gegenwart
Nathaniel hörte aufmerksam zu, was die Person auf der anderen Leitung zu sagen hatte, wobei seine ohnehin schon straffe Körperhaltung immer mehr verkrampfte. Nachdem die Dame mittleren Alters ihre Ausführung beendet hatte, atmete er tief durch. Und dann gleich noch einmal, um nicht restlos die Beherrschung zu verlieren.
„Nein“, knurrte er leise, „ich glaube Sie verstehen nicht. Es geht hierbei, wie ich Ihnen bereits mehrfach erklärt habe, um weit mehr als unsere wirtschaftliche Existenz. Das Ausmaß dieser Situation ist so gewaltig, dass Sie nicht einmal ansatzweise in der Lage wären, sie mit Ihrem kleingeistigen Verstand zu erfassen. Also bitte, auch um Ihretwillen: Denken Sie ausnahmsweise einmal nicht an Ihre politische Karriere, sondern setzen lieber die notwendigen Hebel in Bewegung, um dem Volk, dem Sie sich verschworen haben, einen wahren Dienst zu erweisen.“
Die Antwort seiner Gesprächspartnerin fiel äußerst knapp und nüchtern aus. Vermutlich hätte er sie nicht als intellektuell beschränkt und egozentrisch bezeichnen sollen, den wenigsten Menschen gefiel so etwas. Andererseits wusste der Museumsdirektor, wann er eine Schlacht verloren hatte, weswegen dieser kleine Fauxpas vermutlich auch nicht mehr groß ins Gewicht fiel.
Dennoch unternahm er in letzter Sekunde einen Versuch, das Ruder doch noch zu seinen Gunsten rumzureißen, nur dass es da bereits zu spät war. Sowohl ungläubig wie auch wenig verwundert, betrachtete er den Telefonhörer in seiner Hand, aus dem lediglich Stille dröhnte.
Sie hat aufgelegt, dachte er verdrossen, wobei glühend roter Zorn in seinem Inneren aufwallte, den er für den Moment zu zügeln versuchte. Erfolglos. Wütend knallte er das Endstück des Gerätes auf seinen angestammten Platz, wenn es sich gerade nicht in Benutzung befand, wobei es bedenklich knackende Geräusche von sich gab. Mit etwas Pech hatte er gerade das Leben seines ohnehin schon weit überholten Telefonapparates beendet. Da es sich um ein Erbstück des ersten Direktors handelt, bereute er sein Handeln sogleich, wenn auch nicht genug, um den mutmaßlichen Schaden sofort zu begutachten. Dafür hatte er nun wirklich keine Nerven mehr übrig.
Erschöpft ließ er sich in seinen Stuhl zurücksinken. Derartige Gefühlsausbrüche strengten ihn immer sehr an, was vor allem daran lag, dass er sie nicht gewöhnt war. Seit jenem Tag jedoch… nun, die Dinge hatten sich ein wenig geändert, wobei Nathaniel sich noch uneins darüber war, ob zum Guten oder zum Schlechten. Gedanken konnte er sich darüber aktuell sowieso keine machen, da weitaus drängendere Angelegenheiten seine Aufmerksamkeit verlangten.
Eine davon entschied ausgerechnet in diesem Augenblick, dass dem Mittagsschläfchen genüge getan worden war. „Marta?“, krähte eine Stimme aus dem Nebenzimmer, welche gefolgt wurde von einer Tür, die jemand langsam öffnete. „Marta, warum hast du mich denn nicht geweckt? Wir wollten doch Mary im Krankenhaus besuchen.“
Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Nathaniel, ob es eine denkbare Option darstellen würde, sich einfach nach vorne und den Kopf auf seinem Schreibtisch knallen zu lassen. Dass müsste er dann nur noch ein paar Mal wiederholen, bis alles dunkel und er hoffentlich nie wieder aufwachen würde. Freilich verwarf er die Idee gleich wieder, besser gesagt, sie wurde von Bildern ersetzt, wie Melissa und James das Museum leiteten… oder nur Melissa, weil der Unsterbliche entschied einfach zu gehen, da er nun aus seiner Verpflichtung, dem Direktor zu dienen, entbunden worden ist.
Allein die Vorstellung, dass die wahnhafte, fallenstellende Irre, die vollständige Verantwortung über das Museum der Erinnerungen trug, jagte ihm einen derartigen Schauer über den Rücken, dass er sämtliche Selbstmordgedanken und auch solche, die seinen Tod im Allgemeinen beinhalteten, für die nächsten zehn Jahre vorweg negierte. Mindestens. Am besten wäre es wohl, er striche sein Ableben gänzlich aus seinem Terminkalender, aber in dieser Hinsicht ließ der Gevatter im schwarzen Mantel vermutlich nicht mit sich diskutieren, also würde er bis dahin einfach einen würdigen Nachfolger finden müssen, wobei die Betonung auf würdig lag.
Das bedeutete allerdings auch, dass er sich weiterhin mit seinen weltlichen Sorgen plagen musste. Eine davon befand sich gerade im Begriff durch sein Büro zu schlürfen, ohne dieses als solches wahrzunehmen.
„Marta? Wo treibst du dich denn schon wieder rum? Marta?!“ Langsam wurde der alte Mann energischer, was bedeutete, dass Nathaniel eingreifen sollte, bevor die Situation im Kopf des Mannes noch zu eskalieren begann.
Das war sie vermutlich, sowohl damals in der Szene, in der er sich soeben gedanklich befand, als auch an diversen anderen Tagen, die zusammengenommen einen Großteil des Films über das Leben von Mister Henry Huber abbildeten. Zumindest erschien es dem Direktor nicht als unwahrscheinlich, da er mittlerweile genug derartiger „Einblicke“ bekommen hat, um sich ein recht gutes Bild von der Vergangenheit des Mannes machen zu können.
Weitere davon brauchte er jedenfalls nicht und erst recht keine Wiederholung – Mister Huber neigte dazu, das Abendprogramm am nächsten Morgen erneut abzuspielen –, weswegen er sich kurzerhand aus seinem Stuhl erhob, auf den alten Mann zuging, ihn sanft an den mageren Schultern packte, wobei seine knochige Statur deutlich zu spüren war und zwang ihn dazu, ihm in die Augen zu sehn. „Henry, Marta ist nicht hier, sie ist schon seit Jahren tot. Sie sind nicht zu Hause, sondern in meinem Museum, dem Museum der Erinnerungen.“
Welch Ironie, dass er einen an Demenz Leidenden in einem Ort beherbergte, der dem Erinnern frönte, während er das Vergessen verurteilte.
Nicht, dass dieser Umstand seinem mehr oder weniger unfreiwilligen Gast gestört hätte oder auch nur auffallen würde. Als sich ein warmes Lächeln auf den blassen Lippen des Alten bildeten, welches sein hageres Gesicht, dass bereits an einen Totenschädel erinnerte, zu einer verstörenden Fratze verzerrte, wusste Nathaniel bereits, dass er ihn noch nicht erreicht hatte.
„William, mein Junge, schön dich sehen! Ich wusste gar nicht, dass du wieder in der Stadt bist. Das trifft sich ja gut! Wir wollten eh gerade zu Mary rüberfahren, warum begleitest du uns nicht? Ich sage nur eben Marta Bescheid, dass wir heute zu dritt fahren.“
Damit wollte er sich schon abwenden, um sich erneut auf die Suche nach seiner toten Frau zu begeben, die sich offensichtlich vor ihm versteckte – und dazu allen Grund gehabt hätte, wenn ihr Leib nicht längst unter der Erde läge. Mister Huber war nicht unbedingt ein gewalttätiger Mensch, nur… alt. Das entschuldigte zwar nicht, seine Ehepartnerin zu schlagen, nur weil er es für richtig hielt, doch war dieses Mittel der Züchtigung zu seiner Zeit noch deutlich anerkannter gewesen als dieser Jahre.
Umso glücklicher schätzte Nathaniel sich, dass der Alte in ihm in der Regel seinen Schwiegersohn William sah, den er auf Augenhöhe betrachtete und respektierte. Dass dieser seinen Respekt überhaupt nicht verdient hatte, fiel ihm meist nur in seinen klareren Momenten ein, andernfalls trüge diese Verwechslung doch einiges an Potenzial für Probleme in sich.
Jetzt gerade jedoch konnte Nathaniel es absolut nicht gebrauchen William zu sein. Es gab Arbeit zu verrichten, bei dem ihm diese Rolle nur hinderlich wäre, weswegen er seinen Dauergast zurück in die Realität holen musste.
„Henry“, wiederholte er, eindringlicher diesmal, „wir fahren nirgendwo hin. Weder bin ich Ihr Schwiegersohn, noch steht ein Besuch bei Ihrer Tochter im Krankenhaus an.“ Diese lebte nämlich ebenfalls nicht mehr, der Krebs hatte sie schon lange vor ihrer Mutter zerfressen und quälend langsam dahingerafft.
„Aber William, was redest du denn da? Bist du schon wieder den ganzen Tag durchgefahren und das bei dieser Hitze? Dann ist es ja kein Wunder, dass du wirr im Kopf bist. Ich werde dir erst einmal ein kühles Glas Wasser besorgen. Komm mein Junge.“ Er wollte sich aus dem Griff lösen und in eine Küche marschieren, die allein er sah, doch sein Gegenüber verhinderte es, in dem er die Finger ein klein wenig fester in seine Schultern krallte.
„Aua! William, was machst du denn da? Du tust mir weh!“ Das waren die ausschlaggebenden Worte. Wie so oft, klärte sich der Blick des Alten. Vielmehr wandelten sich seine erstaunlich hart dreinblickenden, grauen Augen, über denen seine Brauen sich in solchen Momenten immer streng zusammenzogen, zu weich, fast schon weinerlich. Seine gesamte Mimik entspannte sich, erschlaffte, so dass es schien als hinge sie wie ein nasser Sack an ihm herab, als versuche die Schwerkraft sie ihm von den Knochen herunterzuziehen, damit sein Totenkopfgrinsen endlich auf ewig sein konnte.
Natürlich geschah nichts dergleichen, dennoch war es immer wieder ein faszinierender und ein wenig erschreckender Anblick, wie aus dem selbstbewussten, stolzen Mann ein kümmerlicher Schatten seines vergangenen Selbst wurde. Körperlich mochte er nur noch ein Klappergestell sein, dass jeden Moment zusammenzubrechen drohte, doch sein Gesicht konnte entgegen allen Falten und Altersflecken, die es zierten, noch immer die Härte dessen annehmen, was einstmals war. Jedoch nur solange er sich dieser Illusion nicht bewusst wurde. Geschah dies, holte ihn die Zeit gnadenlos ein.
Der einfachste Weg dies zu erreichen, war es ihn erkennen zu lassen, dass Schwäche und Gebrechlichkeit seine physische Form schon lange gebrochen hatten. In seinen besten Jahren hätte er es sich nie gestattet aufgrund von Druckausübung auf seine Schultern, kleinbeizugeben und derart zu jammern – das Wort existierte nicht im Wortschatz der jungen Version des Mister Huber. Ganz im Gegenteil, er hätte den, der es wagte so mit ihm umzugehen, ungespitzt in den Boden gerammt. Einhändig.
Doch gerade, weil diese Methode so zuverlässig funktionierte, musste sie natürlich mit einem Preis behaftet sein und die Summe, die sich auf dem Schildchen wiederfand, ließ den Musemsdirektor jedes Mal ein wenig mit sich hadern. Am heutigen Tage jedoch, blieb ihn gar nichts anderes übrig, als zu bezahlen, ihm fehlte schlichtweg die Zeit sich ausgiebig mit dem Dementen zu unterhalten und ihm möglichst schonend beizubringen, wo und wann er sich befand.
Dies hatte unvermeidbar zur Folge, dass der Alte noch weiter als ohnehin schon in sich zusammensank. Sein Blick wurde trüb, traurig, fast schon leer. „Es ist schon wieder passiert, nicht wahr?“, brummte er verdrossen, nein, resignierend. Sein gegenwärtiges Ich hatte sich schon lange aufgegeben, es lebte nur noch des Lebens willen und weil er sich zumindest diesen Funken erhielt: Den letzten Schritt würde er dem Verlauf der Natur überlassen, niemals aber es selbst in die Hand nehmen, ganz gleich wie groß die Versuchung in solchen Augenblicken auch sein mochte.
„Ja“, erwiderte Nathaniel knapp.
Ein Schnaufen kam als Antwort, allerdings nicht irgendeines, sondern das vermutlich abgründigste, ein Ende herbeisehnendste Schnaufen, dass aus den tiefsten Untiefen der menschlichen Seele entstieg, eines, welches die Welt noch nie zuvor vernommen hat, weswegen es sie leise aufstöhnen ließ vor unendlichem Kummer über den armen Menschen, dem es nicht vergönnt wurde, endlich seinen Frieden mit ihr zu machen.
Da dazu keine Notwendigkeit mehr bestand, ließ der Direktor sein Gegenüber los und nahm die Hände herunter. Mister Huber hingegen, blieb noch einige Sekunden lang, in die Leere starrend stehen, ehe er sich mit schlappen Schritten umdrehte, auf die nahe Couch zusteuerte und sich schwer ausatmend auf ihr niederließ, wobei er noch einmal mehr in sich zusammenfiel als entweiche nach und nach alle Luft aus ihm.
Ein Trauerspiel das Ganze, Nathaniel ertrug es kaum dieses Elend zu betrachten. Von Tag zu Tag wurde es unerträglicher, sich mit dem Alten auseinandersetzen zu müssen. Es fühlte sich an, als würde sein Schwermut mit jedem seiner Atemzüge die Mauern des Museums füllen, mit dem einzigen Ziel, alles Lebendige darin zu ersticken oder zumindest zusammen mit ihm leiden zu lassen. Wenn er keine Erlösung fand, warum sollten es dann andere?
Am schwersten wog für ihn jedoch der Umstand, dass er tatsächlich so etwas wie Mitleid für seinen Gast empfand. Nein, nicht nur irgendwie, er fühlte es, wirklich und wahrhaftig.
Noch so eine Begleiterscheinung unvorhergesehener Ereignisse. Nicht, dass der Direktor von Natur aus einen Klumpen Eis in der Brust mit sich rumtrug, nur betrachtete er die Welt um sich herum für gewöhnlich mit einer gehörigen Distanz, analysierte und berechnete sie nur, statt an ihr teilzuhaben oder wenn, dann nur im nötigsten Maß, weil alles andere ihn womöglich an seinen Pflichten hinderte.
Nun, diese erfüllte er trotz allem auch weiterhin gewissenhaft, dennoch hätte gerade in dieser Zeit, gut und gerne auf zusätzliches Gepäck, ganz gleich welcher Art, verzichten können.
Aber so standen die Dinge nun mal. Er hatte sich damit zu arrangieren, niemand würde kommen, ihn bei der Hand nehmen und einen Ausweg aus der vertrackten Situation aufzeigen. Er würde ihn allein finden müssen, so wie immer. Nicht, dass er es je anders gewollt hätte…
Er warf dem deprimierendsten Trauerkloß aller Zeiten noch einen letzten prüfenden Blick zu, entschied, dass dieser vorerst allein zurechtkommen würde und machte sich dann daran, sein Büro zu verlassen. Es galt sich um wichtigere Angelegenheiten zu kümmern. Wie das Museum der Erinnerungen aus dieser vermaledeiten Stadt – besser noch aus dem Land – herauskam, Beispielsweise.
Routinerundgang
Auf der anderen Seite der Tür begrüßte den Direktor Stille. Nicht die bedächtige, aus Ehrfurcht erwachsene Art, sondern schlicht Stille, die von einem erheblichen Mangel an Geräuschquellen herrührte. Und das, obwohl von draußen noch das gleißende Licht eines noch nicht ganz zur Hälfte vergangenen Tages durch die Fenster herein schien.
Ein Albtraum, schauderte er über diesen Umstand. Ein leeres Museum der Erinnerungen, stellte so ziemlich das grausigste dar, was er sich vorstellen konnte, nur dass er bisher immer gedacht hatte, dass diese Bilder auf alle Zeit in seinen Träumen verweilen, nie jedoch Realität werden würden.
Doch wie das Leben nun mal so spielte, gingen immerzu die Dinge schief, die allein das Potenzial dazu in sich trugen, schief zu gehen. Ein Regel, die in diesem Fall gern die Ausnahme hätte sein dürfen.
Tief durchatmend, machte Nathaniel sich auf den Weg. Es brachte ja alles nichts, er würde das Beste aus der Sache machen müssen. Gleichzeitig, so sagte er sich, wäre jetzt wohl ein geeigneter Zeitpunkt, um aus einem überzeugten Atheisten einen wahren Gläubigen zu machen, damit er anfangen konnte zu beten. Denn wenn sich nicht bald etwas änderte, würde ihm nichts anders mehr übrig bleiben.
Leere, verwaiste Gänge und Flure nahmen ihn in Empfang, geleiteten ihn weiter und beklagten dabei, die Missachtung, mit der sie gestraft wurden. Nicht von ihm, verstand sich, wenn sie jemand – vor allem aber die ausgestellten Exponate, die sie beherbergten – (be)achtete, dann er. Nur war dies, im Falle einiger speziellerer Objekte, bei Weitem nicht genug.
Die Erinnerungsstücke, die er aktuell kreuzte, harrten glücklich ihrer Existenz, sammelten allenfalls etwas missmutig Staub an – Memo an mich selbst, dachte der Direktor, Melissa eine andere Aufgabe als Putzen zuteilen – die, zu denen er sich auf seiner täglichen Routine soeben begab hingegen, murrten und rumorten und grollten vor Ungeduld. Es lechzte sie nach Leben, nach Energie, nach geistigen Anstrengungen über sie, nach schockierten Reaktionen, nach Entsetzen, Mitgefühl, Verzweiflung, Trauer und nackter Angst.
Je länger sie warten mussten, desto hungriger wurden sie, desto mehr kehrte sich ihr zerstreutes Wesen in sie zurück. Sie begannen über sich selbst zu sinnieren, sich ihrer zu erinnern. Wer oder was sie einst waren, so dass es nur eine Frage der Zeit blieb, bis die dunklen Erinnerungen Stück für Stück zu rebellieren anfingen. Wurden sie sich ihrer gegenwärtigen Situation erst einmal gewahr, ihres Gefängnisses und der Tatsache, dass man sie davon abhielt, die Bestimmung zu erfüllen, die sie sich selbst zugeschrieben hatten, dann stand nicht nur dem Museum, sondern der gesamten Menschheit eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes bevor.
Noch war es nicht so weit, ihnen blieben noch mindestens ein paar Tage, wenn nicht gar Wochen, doch ewig würden sich die Artefakte der Vergangenheit nicht ruhigstellen lassen. Den ein oder andern Zwischenfall hatte es schon gegeben und wären Nathaniels – mehr oder weniger – treue Gehilfen nicht, stünde es vermutlich schon längst wesentlich schlimmer.
Es sind finstere Zeiten. Wohl wahr, jede Menschenseele auf der großen weiten Welt hätte ihm in diesem Punkt zugestimmt, nur dass sie dann aneinander vorbei geredet hätten, da der Direktor von dem bevorstehenden Ausbruch übernatürlicher Kräfte sprach, während der Rest seiner Mitbürger etwas gänzlich anderes fürchtete.
Immerhin eines musste er den Leuten zugutehalten: Sie hatten das Museum der Erinnerungen nicht vergessen. Es gab immer noch zahlreiche Einreichungen neuer Stücke, die täglich katalogisiert werden mussten, damit für sie ein entsprechender Platz gefunden werden konnte, von dem aus sie eines Tages erneut für aller Augen sichtbar sein würden und sie so fähig wären, ihre Geschichten all denen zu erzählen, die sich gewillt zeigten, ihnen zu lauschen.
Bei den dunklen Vertretern ihrer Art hingegen, herrschte dankenswerterweise deutlich mehr Zurückhaltung. Das hing vermutlich zum Großteil damit zusammen, dass das Museum derzeit nur bedingt, bis gar nicht reiste – dass gleich mehrere dunkle Erinnerungen an einem Ort innerhalb einer kurzen Zeitspanne entdeckt wurden und überdies, ihren Weg zu ihrer vorbestimmten Endstation fanden, musste als höchst unwahrscheinlich eingestuft werden –, zum anderen wohl aber auch daran lag, dass die allgemeine Bevölkerung sich aktuell um ihrer Meinung nach, „Wichtigeres“ sorgte.
Denn so viel Aufklärungsarbeit Nathaniel auch leistete und damit einher, von teils ganz unerwarteten Seiten Unterstützung fand, konnte er sich einer Sache doch immer gewiss sein: Zweifler, würde es stetig im Überfluss geben. Um welche zu finden, brauchte er lediglich einen Schritt vor die Tür setzen, ganz gleich in welcher Stadt und würde vermutlich auf Anhieb einer Hand voll von ihnen in die Arme laufen.
Wo er normalerweise nur mit Unverständnis für die Blindheit der Massen reagierte, schätzte er sich in der aktuellen Lage fast schon ein wenig glücklich darüber. Mal abgesehen davon, dass ihm dieser Umstand die Arbeit ohnehin deutlich leichter machte, da er sich andernfalls unentwegt mit paranoiden, furchtsamen und übervorsichtigen Besuchern zu kämpfen hätte, die bei jedem Haushaltsegenstand mit negativem Hintergrund eine geisterhafte Erscheinung oder dergleichen erwarteten – was in der Regel nicht einmal im Ansatz dem gleichkam, was die dunklen Erinnerungen wirklich ausmachte.
Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Ausstellungsstücken des Museums, handelte es sich bei diesen nämlich um solche, denen eine gewisse Art von Energie anhaftete. Energie, die in unterschiedlicher Ausprägung schädlichen Einfluss auf ihre Umwelt nehmen konnte – und ja, auch in Form ätherischer Erscheinungen, dennoch blieben diese die Ausnahme.
Und eben diese Energie täglich zu zerstreuen, damit sie sich nicht bündelte und somit gewaltigen Schaden anrichtete, zählte neben dem Finden und in die Sammlung-Aufnehmen dieser Stücke zu den wichtigsten Aufgaben des Museums.
Nur war diese Zerstreuung ohne eine entsprechende Menschenansammlung, die sie durch die breit gefächerten Emotionen, welche sie mit sich brachten, kaum möglich. Aktuell taten zwar die drei Mitarbeiter und Bewahrer der Einrichtung, alles in ihrer Machtstehende, doch konnte diese Maßnahme maximal als Notlösung bezeichnet werden, die sie zudem, je weiter sie andauerte, zusehends erschöpfte.
Nathaniel konnte sich jedenfalls nicht erinnern, wann er zuletzt richtig geschlafen hatte, allen voran, weil sein Gast in verwirrtem Zustand gerne mal auf nächtliche Wanderung ging, wobei die Gefahr bestand, dass er durch Zufall einen Raum betrat, den gerade er, in jedem Fall meiden sollte.
Natürlich hätte der Direktor ihn auch einfach einsperren können, genauer gesagt, hatte er genau dies bereits getan oder vielmehr, es versucht; mit dem Ergebnis, dass Henry in seiner Traumwelt völlig durchgedreht ist, das Zimmer fast vollständig demoliert hat und schlussendlich sogar handgreiflich geworden ist. Da er eine solche Erfahrung nicht noch einmal machen wollte, verzichtete Nathaniel stattdessen einfach auch auf das letzte bisschen Schlaf, dass ihm wohl sowieso nicht wesentlich helfen würde, die immer anstrengender werdenden Tage zu überstehen.
Genug gejammert, mahnte er sich selbst. Ganz recht, zum Monieren besaß er weder die Zeit noch Kraft. Abgesehen davon hatte jede Durststrecke irgendwann eine Ende – auf die eine oder andere Art –, er musste nur durchhalten.
Der Museumsdirektor kam seinem Ziel immer näher. Obgleich seine stoischen Schritte von außen den Eindruck erweckten, er wäre wie sonst auch, die Selbstsicherheit und kühle Distanziertheit in Person, fühlte er sich unruhig, nervös und ein klein wenig überfordert. Gefühle, die er bisher nur bedingt kennengelernt hatte und denen er sich aktuell – sehr zu seinem Leidwesen – fast ununterbrochen ausgesetzt sah, ohne dass es eine Aussicht auf Besserung gab. Ganz im Gegenteil.
Gerade als er um die nächste Ecke bog, hörte er schon von der anderen Seite des Gangs eine vertraute Stimme, bei der er augenblicklich zusammenzuckte. Nicht, weil er sich erschrocken hätte, sondern lediglich aus Reaktion seiner überspannten Nerven, die gehofft hatten, dieser Person nicht über den Weg zu laufen. Nicht so bald, zumindest.
„Man Nathi, du siehst echt furchtbar aus, hat dir das schon mal jemand gesagt?“
Ja, du, dachte er innerlich mit den Augen rollend. Ungefähr hundert Mal und das allein in den letzten sieben Tagen. Damit übertrieb er nicht einmal… Erwidern tat er wiederum nichts auf die Frage, weil ihm dazu jegliche, und zwar wirklich absolut jegliche, Motivation abging.
Dass Melissa, seine halbherzig getreue und insgeheim Rachepläne gegen ihn schmiedende Gehilfin, dies nicht einfach auf sich beruhen lassen konnte, verstand sich fast schon von selbst. Wenigstens bewies sie genug Rücksicht, zu warten, bis ihr unfreiwilliger Arbeitgeber an ihr vorbeilief, bevor sie ihn darauf hinwies, sich von ihm ignoriert zu fühlen.
Bis es dazu kam, lehnte sie mit dem Rücken an einer Wand, die Arme vor der Brust verschränkt und erweckte den Eindruck, selbst nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein, wenn auch bei weitem höher als der von ihr Angesprochene. Würde er sich so wie sie positionieren, es läge durchaus im Rahmen des Möglichen, dass er im Stehen einschlief.
Kaum, dass er einen Schritt an der jungen Frau vorbeigemacht hatte, rief diese ihm auch schon unnötig laut hinterher: „Hey, tu nicht so, als wäre ich nur Luft für dich. Noch fange ich nicht an mich aufzulösen!“
Abrupt blieb Nathaniel stehen. Plötzlich hell… nein, ein wenig wacher, machte er auf dem Absatz kehrt und betrachtete sein Gegenüber ein ausgiebiger. Sie sah aus wie immer: Allerweltsgesicht mit einer deutlich hervorstechenden Narbe, welche sich quer hindurch zog. Schmächtig, um nicht zu sagen abgemagert, strahlte sie dennoch eine unvergleichliche Härte und Unnahbarkeit aus, außerdem eine Spur Wahnsinn, sowie eine düstere Aura, die jedoch nur jemand bemerkte, der um sie wusste – ein Umstand, der sich in ein paar Jahren drastisch ändern würde, wobei es dann nicht nur dabei bleiben sollte.
„Warum so überrascht?“, hinterfragte sie scheinbar ehrlich erstaunt. „Dachtest du etwa wirklich, ich würde mich nicht näher mit ihm auseinandersetzen oder über ihn recherchieren?“
„Nun, um genau zu sein, ja, genau das dachte ich.“ Wie vermutlich jeder Mensch es täte, der nicht komplett blind gegenüber ihren offensichtlichen Problemen, Ticks und Störungen war und überdies die Begegnung mit ihr, länger als zehn Minuten überlebte…
„Tja, tut mir leid dich enttäuschen zu müssen, aber dein Plan ist nach hinten losgegangen“, verkündete die andere siegessicher.
Sprich es nicht aus!, dachte er noch, doch seine Zunge war schneller als sein übermüdeter Verstand, weswegen er sich mit einer simplen Frage, in ein Geflecht aus wilden, voreiligen und zusammenhangslosen Schlüssen verfing, die jeder Beweiskraft und zum Teil auch Logik entbehrten. „Welcher Plan?“
Ein breites, zufriedenes Lächeln legte sich auf die Lippen der durchgeknallten Frau, von der Nathaniel sich bei jeder passenden Gelegenheit fragte, warum er sie überhaupt noch in seinem Museum beschäftigte. „Schön, dass du fragst.“
Was habe ich nur getan…?
Bevor Melissa sich in ihrem feurigen Eifer um Kopf und Kragen reden konnte, schallte auch schon eine weitere Stimme durch die Flure. „Mister Laval!“
Augenblicklich verzog sein Gegenüber das Gesicht und verdrehte die Augen. Dass ihre Glanzstunde so schnell zu Ende sein sollte, missfiel ihr deutlich. Der Gerufene hingegen, hatte Mühe nicht übermäßig erleichtert auszuatmen. Zwar waren die Kenntnisse, die seine Mitarbeiterin erlangt hatte, durchaus von Interesse für ihn, da sie maßgeblich zu einer Entscheidung beitrugen, wie in Zukunft mit ihr zu verfahren wäre, doch hatte er ausgerechnet in diesem Moment, absolut keinen Nerv für Derartiges übrig.
Wenige Sekunden später, stand auch schon James neben ihm, wie immer makellos fein gekleidet und in einer so erhabenen Haltung, dass ein jeder sich in seiner Nähe klein und unbedeutend fühlte. Nun, dass war vielleicht ein wenig übertrieben, dennoch ließ es sich nicht von der Hand weisen, dass der Kerl eine einzigartige Ausstrahlung besaß. Kein Wunder vermutlich, bedachte man, dass er unsterblich war und bereits seit… nun, sehr, sehr, sehr langer Zeit über die Erde wandelte.
„Mister Laval“, wiederholte er, nachdem er sich einen Moment genommen hat, die Lage zu sondieren. „Es gibt da einen Vorfall, der Eurer Aufmerksamkeit bedürft.“
Der andere nickte knapp. „In Ordnung, nach Ihnen.“
So leicht ließ seine Peinigerin jedoch nicht locker. „Wow, wow, wow, stopp! Für wie beschränkt haltet ihr mich eigentlich?“ Für ziemlich beschränkt, kam es dem Direktor wie aus der Pistole geschossen in den Sinn. „Glaubt ihr etwa wirklich, ich falle auf euer kleines Schmierentheater hier rein? Es gibt überhaupt keinen ‚Vorfall‘, oder? Das ist nur ein Vorwand, um mich hier unverrichteter Dinge stehen zu lassen.“
Darauf fiel Nathaniel keine plausible Ausrede ein, vor allem, weil er darüber stutzte, dass die junge Frau Formulierungen wie unverrichteter Dinge benutzte. Sie hatte eindeutig zu viel mit James zu tun, dem ein solcher Sprachgebrauch eher zuzutrauen wäre.
Abgesehen davon besorgte es ihn ein klein wenig, dass sie ihre – zugegebenermaßen ziemlich offensichtliche – Schauspielerei durchschaut hatte. Denn die schnellste Auffassungsgabe besaß Melissa – dem Anschein nach – tatsächlich nicht, obgleich der Direktor in diesem Punkt schon einige Male und in letzter Zeit immer häufiger ins Zweifeln geraten war. Er begann sich zu fragen, ob die Gute nicht einfach nur so tat, während sie in Wahrheit mit eiskaltem Kalkül Pläne schmiedete. Ok, bereit so weit zu gehen, war er immer noch nicht, aber sie zu unterschätzen, könnte sich als gravierender Fehler herausstellen, vor allem da sie keinen Hehl daraus machte, nach seinem Leben zu trachten, wenn auch noch nicht gleich.
Dass er sich insbesondere um Letzteres nur bedingt sorgte, hing damit zusammen, dass er sie gerade wegen dieser Tatsache, in seiner Nähe behielt. So konnte er sie wenigstens im Auge behalten, während sie ihm gleichzeitig half das Museum zu führen… Naja, gelegentlich zumindest, wenn es ihr gerade in den Kram passte, sie nichts Besseres zu tun hatte und sich unsäglich langweilte.
„Chapeau meine Liebe“, meinte James, wobei es zu einer der seltenen Gelegenheiten kam, in denen er beeindruckt klang. Ein wenig. „Ihr habt recht, es gibt keinen Vorfall. Jedenfalls noch nicht.“
Fragend hob sie eine Augenbraue. „Und was soll das jetzt bitte wieder bedeuten?“
Der Unsterbliche zuckte lediglich mit den Schultern, als ob ihn die Vorkommnisse der letzten Wochen überhaupt nichts angingen – was in gewisser Weise auch stimmte; selbst wenn die Welt vor die Hunde ging, würde er immer noch da sein, um ihre Ruinen zu durchstreifen. „Meine Ablösung hätte schon vor ein paar Minuten eintreffen sollen. Da Ihr ihn aufgehalten habt, könnte derweil im Raum der dunklen Erinnerungen alles Mögliche im Gang sein.“
Unwahrscheinlich, aber vorstellbar. Es beunruhigte Nathaniel nicht sonderlich, allen voran, weil seine Müdigkeit, solche Regungen schlichtweg überlagerte, aber auch weil er erkannte, dass James einen zweiten Versuch wagte.
„Na dann geh‘ halt“, winkte die andere desinteressiert ab. Dem Ganzen war der Spaß abhandengekommen, weswegen es für sie keinen Grund gab, sich noch länger mit dem Thema zu befassen.
Jedenfalls ließ der Angesprochene sich das nicht zwei Mal sagen, weswegen er sich sofort umdrehte und davon machte, ehe sie es sich noch anders überlegte. Hinter sich hörte er noch, wie das Gespräch zwischen seinen Mitarbeitern weiter ging.
„Habt Ihr nicht auch eine Aufgabe zu erledigen?“
„Jaja, ich wollte ja gerade hin, als Nathi mich aufgehalten hat.“
„So?“ Wie konnte ein einzelnes Wort nur so viel geballte Zweifel ausdrücken. Zweifel, die die andere natürlich gekonnt ignorierte, so sie sie denn überhaupt registrierte. In jedem Fall begann sie sogleich eifrig darüber zu sprechen, wie „Nathi“ sie abgefangen und in ein Gespräch verwickelt hätte, obwohl sie doch beteuert hat, dass sie einen Zeitplan einzuhalten haben.
James Erwiderung darauf hörte der Direktor schon nicht mehr, da er sich zu weit von den beiden entfernte. Ein wenig tat es ihm ja leid, die Sache dem Unsterblichen überlassen zu haben, dann wiederum, war er einfach nur froh, diese nervige Klette vorerst losgeworden zu sein.
Bald schon würde sie sowieso dem alten Henry ein Ohr abkauen, da sie jetzt dran war, auf ihn aufzupassen, während James sich erholte. Unsterblich hin oder her, auch er musste seine Grundbedürfnisse befriedigen, weil er sonst in einen totenähnlichen Zustand verfiel, in dem sein Körper bis zu einem gewissen Grad zu verwesen begann und er im Dämmerzustand unaussprechliche Qualen erlitt.
Melissa hingegen, nun, die schlief oder aß so gut wie nie, dennoch hielt sie sich strikt an den Schichtplan, außer natürlich ihr bot sich die Gelegenheit auf eine tiefgründige Diskussion. Oder ein Schmetterling flog plötzlich vorbei und nahm sie mit seiner magischen Faszination in seinen Bann… Letzteren Gedanken verwarf der Leiter des Museums sogleich wieder, sperrte ihn gar ganz weit weg in die tiefsten Tiefen seines Bewusstseins. Das Bild war einfach zu verstörend.
Wenig später erreichte er endlich die Tür, die ihn zu den dunklen Erinnerungen führte. Früher einmal, hatte er täglich vor ihr gestanden und sie ohne Furcht aufgestoßen, war selbstsicher eingetreten und an den Erinnerungen vorbeigelaufen, hatte nach ihnen gesehen, manch welche von ihnen gar zu seinen Zwecken gebraucht, sie jedoch immer mit Respekt und der nötigen Achtsamkeit behandelt.
Heute… hielt er es immer noch so, weil zu große Angst vor den Dingen hinter der unscheinbaren Tür, nur den Nährboden für heilloses Chaos gelegt hätte. Dennoch konnte er nicht leugnen, übervorsichtig geworden zu sein und bei Weitem nicht mehr so viel Selbstverständlichkeit im Umgang mit den augenscheinlich harmlosen Objekten an den Tag zu legen.
Das würde sich natürlich ändern so bald… aber bis dahin, konnte noch eine sehr lange Zeit vergehen, weswegen er sich nicht erlaubte, in solchen Träumereien zu schwelgen. Die nächsten Stunden musste er konzentriert sein, sich voll und ganz seiner Aufgabe, seiner Pflicht widmen. Danach, wenn er dann noch lebte und all seine Sinne, so wie seinen Verstand bei sich hatte, gab es immer noch reichlich Zeit, den Funken Hoffnung auf ein baldiges Ende dieser Situation, zu einer kleinen, kontrollierbaren Flamme auflodern zu lassen, bis es dann Zeit wurde, sie erneut zu ersticken.
Tag ein Tag aus, die gleiche Routine, dachte er, wobei sich jedes dieser Worte wie ein rostiges Zahnrad anfühlte, welches sich quälend langsam, quietschend und ächzend weiterdrehte. Andere, ebenso gepeinigte Mechanismen in seinem Inneren, trieben ihn dazu an, den Arm zu heben, die Hand auf die Klinke der Tür zu legen, diese herunterzudrücken und den Flügel schwungvoll aufzustoßen.
Mit einem schweren Seufzen begrüßte ihn die Stille dahinter, als hätte er eine uralte Grabkammer geöffnet, in die zum ersten Mal seit Jahrhunderten frische Luft einströmte. Einen Schritt später, hallte der Vergleich noch immer in seinem Kopf nach, da die Atmosphäre, die er betrat, sich deutlich von der außerhalb dieses Raumes unterschied. Schwer war sie, düster und verheißungsvoll.
Die Tür hinter ihm schloss sich knarzend, ohne dass er sie berührte. Das leise Klicken, als sie ins Schloss fiel, trug etwas Endgültiges in sich.
Akt 1, Szene 1, der Direktor betritt die Bühne und wird angemessen begrüßt… Mögen die Spiele beginnen.
Gedanken der Belegschaft
„Man, ich sag‘ dir Jamie Boy, so langsam ödet mich diese Situation echt an.“ Melissas Schritte hallten leise von den Wänden wider, während sie in gemächlichem Tempo auf das Büro ihres Chefs zusteuerte, dessen Elimination langsam aber sich in greifbarere Nähe rückte. Außer natürlich die Arbeit in dem Museum wurde bald wieder etwas interessanter.
Eigentlich wäre es sogar echt schade, ihren Job frühzeitig kündigen zu müssen – auf die einprägsame Art –, da sie mittlerweile tatsächlich gefallen daran gefunden hat. Ihre beiden Kollegen waren zwar zwei schrecklich spaßbefreite, viel zu ernste Typen, die einfach nicht wussten wie man ordentlich lebte, aber immerhin sorgten sie durch die Tätigkeit, die sie pflichtbewusst erfüllten, immer wieder für spannende Ereignisse, vor allem dann, wenn einmal eine der dunklen Erinnerungen ein wenig verrückter spielte als üblich. Außerdem war es zur Abwechslung auch mal ganz nett eine dauerhafte Bleibe zu haben und nicht ständig von Ruine zu Ruine, immer auf der Suche nach neuen Opfern, die sich dahin verirrten, zu wandern.
Aber aktuell… „Jeden Tag der gleiche Ablauf. Ruhen, aufpassen, noch mehr und vor allem konzentrierter aufpassen und dann wieder ruhen. Das ist so lahm! Und miefig, wenn du verstehst‘ was ich meine. Tust du doch, oder? Der alte Mann hat diesen typischen Geruch an sich, der… naja, eben alten Leuten vorbehalten ist. Oh, tut mir leid, wollte dich nicht beleidigen Jamie und mach dir keine Sorgen, du riechst nicht so, was witzig ist, wenn man bedenkt… Ja ok, schon verstanden, bin still.“
Also lief sie weiter, schweigend, in absolute Sprachlosigkeit gehüllt, die Stille nur durch ihr dumpfes Tapsen störend. Sie hielt es exakt zwölf Sekunden aus.
„Boah, nein ernsthaft, ich dreh‘ hier drinnen noch durch! Geht es dir nicht auch so? Ausgerechnet du bist doch derjenige, der alles daran setzt sich seine Langeweile zu vertreiben. Hast‘ alles gesehen, alles erlebt, alles gemacht. Ich meine wirklich ausnahmslos alles. Dann bist du hier hergekommen, hast dir Abwechslung versprochen und jetzt das. Dass kann’s doch nicht gewesen sein, oder? Und das alles nur wegen so einer dämlichen Pandemie.“
Eine „dämliche“ Pandemie, die schon unzählige Leben gefordert hatte. Nicht, dass sie das interessiert hätte oder überhaupt für derartige Argumentationen empfänglich wäre. Außerdem ließ sich ihr nur schwerlich widersprechen, immerhin stimmte es, dass der weltweite Ausbruch eines hochgradig ansteckenden und zuweilen tödlichen Virus dafür gesorgt hatte, dass das Leben auf dem Planeten Erde zu großen Teilen zum Erliegen kam, darunter auch das Museum der Erinnerungen, welches aufgrund von Schutzmaßnahmen – Unterbindung der Verbreitung der Viren durch Reduzierung der Orte, an denen Menschen aufeinandertreffen/-hocken konnten – hatte schließen müssen. Man gestattete ihnen nicht einmal weiterzuziehen, da selbst Ländergrenzen bestimmten Regularien unterlagen, die besagten, dass für das Museum keine dringende Notwendigkeit bestand umzuziehen.
Die Verantwortlichen für solche Entscheidungen hatten ja keine Ahnung, wie dringend ein Weiterzug der dunklen Erinnerungen war und wie wenig Schutz es bot, sie daran zu hindern.
Immerhin ging es ihnen wirtschaftlich noch verhältnismäßig gut. Zwar bestand der Hauptaspekt ihrer Einrichtung nicht darin, finanziell flüssig zu bleiben, doch galten für sie freilich die gleichen Regeln wie für alle anderen auch: Ohne Geld konnten sie keinen Bestand haben. Da das Konzept des Museums vielerorts für Begeisterung sorgte und der Zulauf vor dem Auftritt der Seuche nie versiegt ist, hat sich ihnen die Möglichkeit ergeben Rücklagen zu bilden. Außerdem bekamen sie regelmäßig von unterschiedlichsten Seiten Spenden.
Also nein, um diesen Teil brauchten sie sich keine Gedanken machen. Was die „spezielleren“ Exponate anbelangte hingegen…
„Jaja, schlimme Sache mit den Dingern, aber soll ich dir was sagen Jamie? Eigentlich ist es mir völlig egal, was mit diesen Gegenständen passiert. Im Zweifelsfall sorgen sie für ein wenig Unterhaltung, bevor alles… na du weißt schon, zu Scheiße wird.“
Warum tat sie sich diese Tortur dann überhaupt noch weiter an? Tja, Menschen neigen dazu Gewohnheitstiere zu sein. Vor ihrer Anstellung im Museum der Erinnerungen hat Melissa Fallen in verlassenen Gebäuden platziert und Jagd auf Menschen gemacht, nichts hätte sie daran hindern können dieser Tätigkeit weiter nachzugehen – strenggenommen hinderte sie noch immer nichts daran… Mit ihrem neuen Arbeitsplatz verhielt es sich ganz ähnlich. Sie hatte sich an diesen Ort gewöhnt und stagnierte deswegen, obwohl sie es kaum noch ertrug. Doch bald schon, würde sie die Nabelschnur kappen, der Zeitpunkt rückte näher. Ja, bald…
„Nathi glaubt bestimmt, dass er mich nur im Blick behalten muss, um vor mir sicher zu sein. Dass er sich schon in seiner Theorie getäuscht hat, ich würde keine Nachforschungen über meinen neuen, ständigen Begleiter anstellen, sollte ihm zu denken geben, oder was meinst du Jamie?“
Ihr Begleiter, der Grinser, der einen Anker in der Welt brauchte, um sich in ihr bewegen und Nahrung finden zu können, dabei jedoch die Person, an die er sich heftete, langsam dematerialisierte, sie in eine andere, seine Dimension zog.
So weit hat es die passende Geschichte hergegeben, die Melissa, wie Nathaniel wohl vermutete, tatsächlich nur flüchtig gelesen hat. Anders verhielt es sich mit seinen dazugehörigen Aufzeichnungen, welche er zu allen Exponaten penibel führte. Mittlerweile unternahm er nicht einmal mehr den Versuch, sie wegzuschließen, da er es aufgegeben hat, irgendetwas vor seinen Mitarbeitern verbergen zu wollen.
Und warum sollte er auch? Niemand wäre jemals davon ausgegangen, dass vor allem Melissa Interesse an den Recherchen haben könnte, nicht einmal sie selbst. Aber dann waren die Tage trist und öde geworden und da sie in ihren Ruhephasen eh nur wenig schlief, hatte sie begonnen die leere Zeit effektiv zu nutzen, in dem sie ihre Revanche vorbereitete.
Wesentlich viel mehr, als sie sowieso schon wusste, hatte sie zwar nicht herausgefunden, da auch Nathaniels Informationen sich in Grenzen hielten – über das mysteriöse Wesen namens Grinser war schlichtweg zu wenig bekannt und aufgezeichnet worden –, doch allein, dass sie sich mit ihm beschäftigte, so hatte sie vermutet, würde ihrem Arbeitgeber einen kleinen Schrecken versetzen. Eine Theorie, mit der sie, wie sich herausgestellt hat, goldrichtig lag.
„Aber weißt du, was das Witzigste in dieser Angelegenheit ist, Jamie? Ich bin ihm nicht einmal böse. Ich meine klar, als ich erfahren habe, dass er mir mit seinem Trick ein Wesen an den Hals gehängt hat, dass mich eines Tages auflösen wird, war ich nicht gerade begeistert, um nicht zu sagen, tierisch angepisst, aber mein Gott, seien wir doch mal ehrlich, eine außerordentlich lange Lebenszeit habe ich mir eh nie angedichtet und immerhin wird es eine interessante Erfahrung. Solch einen Tod – sofern ich denn wirklich sterbe – erlebt nicht jeder. Nein, es geht einzig und allein ums Prinzip. Der Kerl hat mich verarscht, hat mich benutzt, weil er selbst nicht dran glauben wollte, und dafür werde ich ihn irgendwann – vielleicht schon sehr bald – büßen lassen. Hätte er mich einfach gefragt, ob ich diese Bürde für ihn auf mich nehmen würde… hätte ich ihn vermutlich ausgelacht, zugegeben, aber trotzdem. Sowas macht man nicht mit einer Dame.“ Über den letzten Satz musste sie selbst lauthals lachen. Sie und eine Dame. Guter Witz.
Das Lachen blieb ihr im Hals stecken, als sie das Büro des Direktors erreichte. Die nächsten Stunden würde sie damit zubringen, auf den alten Knacker aufzupassen, der nicht mehr alle Tassen im Oberstübchen beisammen hatte.
„Gott, wie ich das hasse“, brummte sie. „Ich schwöre dir Jamie, wenn der Typ mich noch einmal mit seiner verstorbenen Alten verwechselt, drehe ich ihm den Hals um.“ Würde sie nicht, dafür fehlte ihr die physische Kraft. Ihn hingegen auf eine andere – deutlich kreativere Art – unter die Erde bringen jedoch… ja, das lag durchaus im Rahmen des Möglichen, auch wenn es dem guten Nathi vermutlich nicht besonders gefallen würde. Allerdings, was interessierte sie das schon? Wenn sie ihn abmurksen wollte, warum sollte sie dann Rücksicht auf seinen Gast nehmen, von dem sie immer noch nicht verstand, warum er überhaupt bei ihnen wohnte.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihr die Vorstellung, den alten Mann auszuschalten, ganz gleich, ob er sie wieder einmal mit dem Namen Marta ansprach oder nicht. Das würde ihr wenigstens kurzweilig, ein wenig Unterhaltung einbringen. Vor allem weil sie schon das entsetzte Gesicht Nathaniels vor sich sehen konnte. Es zauberte ihr ein vorfreudiges Lächeln auf die Lippen, welches ihre Miene, wie so häufig, zu einer Maske des Wahnsinns verzerrte.
Ja, heute würde der Graue sterben, daran bestand nicht länger ein Zweifel. Euphorisch stieß Melissa die Tür auf, im Kopf ging sie bereits ihre Möglichkeiten durch, hatte insgeheim jedoch schon längst entschieden, es ganz spontan zu machen, das lieferte meist die besten Ergebnisse.
„Oh Henry“, trällerte sie, dass sie bis eben noch mit James geredet hatte, hatte sie bereits völlig vergessen.
Doch es kam keine Antwort. Das Büro lag verwaist und wie gewohnt ordentlich vor ihr. Das konnte nur bedeuten, dass der alte Mann ihm Nebenzimmer lag und schlief, wie er es die meiste Zeit des Tages machte. Mal ehrlich, im Grunde stand er doch sowieso schon mit einem Bein im Grab. In gewisser Weise tat sie ihm wohl einen Gefallen damit, ihn zu erlösen.
Wenige Schritte später stellte sie erschrocken fest, dass sie falsch lag. Das Bett fand sie ebenfalls leer vor, von Henry fehlte jede Spur.
„Oh oh“, machte sie. „Jamie, das wird unserm Boss überhaupt nicht gefallen. Deswegen überlasse ich es dir, ihn darüber in Kenntnis zu setzen. Cool? Cool.“
Dass sie den Ärger darüber, den Gast des Direktors aus den Augen verloren zu haben, mehr fürchtete, als die Tiraden, die über sie niedergegangen wären, hätte sie ihn getötet, sagte einiges über sie aus. Ebenso wie die Tatsache, dass sie seit mehreren Minuten mit „Jamie“ sprach, der nur in ihrem Kopf existierte, da der echte James schon längst anderer Wege gegangen war…
—
Wenigen Minuten zuvor hatte James der jungen Frau noch kopfschüttelnd hinterhergeblickt. Sie war mitten im Gespräch mit ihm einfach losgelaufen und hatte dabei munter weiter geredet, ohne darauf zu achten, ob er ihr folgte oder zurückblieb. Ihm sollte es recht sein. Auch wenn sie hin und wieder für erfrischende Abwechslung sorgte, ging diese Frau ihm die meiste Zeit einfach nur auf die Nerven. Wie pochende Zahnschmerzen, die man einfach nicht ignorieren konnte, während sie sämtliches Denken lahmlegten und einen sich nur wünschen ließen, dass sie endlich aufhören mochten. Erschreckend, wie gut der Vergleich passte…
Ein Grund mehr, keinen weiteren Gedanken an seine Kollegin zu verschwenden und die Zeit, die ihm ohne sie geschenkt wurde, lieber sinnvoll zu verbringen. Nur, dass er damit einmal mehr den Knackpunkt seines Lebens erreichte: Welche Tätigkeit blieb ihm in seiner Unsterblichkeit denn noch, die als sinnvoll erachtet werden konnte?
Die ernüchternde Antwort lautete: Keine. In tausenden sich aneinander reihenden Jahren hatte er so ziemlich alles ausgeschöpft, was seine Existenz zu bieten hatte. Selbst die Moderne, sprich Erfindungen und Technologien, an die er sich immer noch gewöhnen musste, langweilten ihn bereits unsäglich, da sie nur eine Veränderung des Bekannten darstellten. Früher waren Briefe noch in physischer Form verschickt worden, heutzutage gab es elektrische Post in unterschiedlichsten Ausführungen. Das Prinzip jedoch, blieb das gleiche.
Genau so verhielt es sich mit allen anderen Bereichen der Welt, ob Transport, Verbreitung von Informationen oder deren Austausch, Wissensansammlungen, Forschung, Entwicklung, Produktion, alles verändert und doch vom Grunde her identisch zu früher; somit wenig bis gar keine Begeisterung spendend, zumindest nicht auf Dauer, da der Schein des Neuen nie lange anhielt. Schließlich hatte James genug Innovationen mitgemacht, um längst zu wissen, dass sie festen Regeln folgten.
Großartig neue Erfahrungen hat ihm die Arbeit im Museum der Erinnerungen auch nicht geboten, dergleichen hatte er allerdings auch nie erwartet. Womit er hingegen nicht hatte rechnen können, war der Umstand, dass es ihm tatsächlich so etwas wie Freude bereiten könnte, seine unendliche Zeit hier zu verbringen. An besonders guten Tagen ging er sogar so weit, zu behaupten, es würde ihn erfüllen.
Wie viel Potenzial diese Gefühle in sich trugen, über weite Strecken anzuhalten stand natürlich auf einem anderen Stern, weswegen er sich glücklich darüber schätzte, noch in der Lage zu sein, einfach den Moment zu genießen.
Nur, dass davon aktuell nicht viel übrig blieb.
Freilich war er sich darüber im Klaren, dass der geschätzte Direktor nichts für die Ereignisse konnte, welche die Welt im eisernen Griff hatten und Einfluss auf sein Museum nahmen, dennoch erwischte James sich immer wieder dabei, wie er dazu neigte, jemandem die Schuld an allem geben zu wollen.
Menschen sind von Natur aus egoistisch, dachte er, während er ziellos durch die leeren Gänge wanderte, weil ihre Lebenszeit auf Erden begrenzt ist und sie das Beste für sich herausholen wollen. Meine Zeit ist unendlich, ich habe keinen Grund für egoistisches Handeln… und dennoch bin ich ebenso bestrebt, mein Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, auch wenn es bedeutet, dass andere den Preis dafür bezahlen oder als Sündenbock herhalten müssen.
Er fühlte sich deswegen nicht schlecht, ihn plagte kein Gewissen, derartige Emotionen hatte er schon vor Ewigkeiten abgelegt. Umso mehr überraschte es ihn selbst, dass sich im Fall des Mister Laval, doch etwas in ihm regte, wenn er – ungerechtfertigt – so über ihn dachte.
Er konnte immer noch nicht sagen, was es war, dass ihn so sehr an diesem unscheinbaren und doch eindrucksvollen Mann faszinierte. War es seine stoische Suche nach etwas, die er ohne Unterlass verfolgte, ohne dabei so recht zu wissen, wonach er eigentlich suchte? Oder hatte es mit seinem unerschöpflichen Pflichtgefühl zu tun, obgleich er niemandem etwas schuldig war, schon gar nicht der Menschheit, für die er sich augenscheinlich auch gar nicht so sehr interessierte? Für Letzteres hatte sein ergebener Diener zumindest einen plausiblen Erklärungsansatz parat: Der alte oder vielmehr erste Direktor.
Er sprach nur wenig über den geheimnisumwobenen Gründer des Museums der Erinnerungen, wenn es jedoch einmal dazu kam, dann klang er niemals gleichgültig oder herablassend, wie es oft der Fall war, wenn er… nun ja, über jeden anderen Menschen redete. James würde nicht so weit gehen, in diesen Momenten so etwas wie Wärme oder Nächstenliebe aus seinen Worten herauszuhören, doch etwas war da. Eines Tages würde er vielleicht herausfinden, worum es sich dabei handelte.
Bis dahin, blieb er ihm ein Rätsel, eines, das zu lösen ihm mehr Freude bereitete als die letzten paar Jahrhunderte zusammengenommen. Unter anderem auch, weil es immer komplexer wurde, statt sich langsam aufzudröseln.
Da wäre zum Beispiel dieser alte Mann, den sie neuerdings bei sich beherbergten. Was es mit ihm auf sich hatte, hatte Mister Laval ihnen weder erläutert – zumindest nicht auf eine glaubhafte Art – noch überkam den Unsterblichen das Gefühl, einer Erklärung auch nur näher zu kommen.
Eines Tages war der Direktor einfach mit dem alten Mister Huber im Schlepptau aufgetaucht und hatte seine beiden Untergebenen darüber unterrichtet, dass er fortan bei ihnen wohnen würde.
Melissa hatte wie erwarten mit heftigen Protesten reagiert. Was der Unsinn solle, ob sie neuerdings die Wohlfahrt wären und dass sie keinen Finger krumm machen würde, wenn es darum ging sich um ihren Dauergast zu kümmern oder dergleichen. „Und wenn der Alte in seinem Zimmer kauernd verhungert“, hatte sie das Thema abgeschlossen, „ist mir völlig egal. Du hast ihn angeschleppt, es liegt in deiner Verantwortung, dass er gepflegt, gewaschen und gefüttert wird!“
Auch wenn er gewusst hat, dass es ein fruchtloses Unterfangen wäre, hat James ihr zu erklären versucht, dass Henry kein Tier sei, dass Mister Laval von der Straße aufgelesen hätte – wobei er sich zumindest in einem Punkt nicht ganz sicher hatte sein können (und es noch immer nicht war). Wie zu erwarten, war sie solchen Argumentationen gegenüber resistent, weswegen er es sich gespart hat, sie zusätzlich darauf hinzuweisen, dass sie sowieso nie etwas im Museum machen würde, von dem man nicht mindestens zehn Mal verlangte, dass sie sich der Aufgabe annahm.
Doch so viel er auch spotten mochte, fiel es ihm selbst ebenso schwer die Beweggründe, den plötzlichen Anflug scheinbarem Mitgefühls seines Arbeitgebers zu verstehen oder auch nur mit ihm in Verbindung zu bringen.
Wenn der alte Mann wenigstens etwas zu ihrer Arbeit beitrüge, stünde es um sein Verständnis vermutlich deutlich besser, jedoch, dass genau Gegenteil war der Fall: Wie Melissa befürchtet hatte, brauchte es immerzu jemanden, der ein Auge auf den Dementen hatte, damit dieser nicht in Räume stolperte, die ihm besser verborgen blieben. Er raubte ihnen Zeit, Energie und zuweilen auch Nerven, wenn er einmal mehr vergaß, wo er sich befand.
Aber es war nicht an ihm, darüber zu richten. Mister Laval musste seine Gründe haben und selbst wenn nicht, hätte James dies, als sein treu ergebener Diener zu respektieren. Immerhin hatte er ihm zugesagt, an seiner Seite zu bleiben, solange er lebte. Ein Schwur, den zu brechen, er trotz aller Zweifel und Rückschläge in seinem Leben, er sich nicht wagen wollte. Denn, wenn ihm nicht einmal mehr ein solcher heilig war, was blieb ihm dann noch?
Für den Augenblick jedoch, war es genug. Er tat stets gewissenhaft was ihm aufgetragen wurde, um dies auch weiterhin zu vollbringen, musste er ruhen. Zwar brauchte er weit weniger Schlaf als ein gewöhnlicher Mensch, aber hin und wieder zwang auch ihn die Müdigkeit dazu, sich ihr zu ergeben. Manchmal sehnte er sich sogar danach, weil der Schlaf ihm ein winziges Stück Frieden zu geben vermochte. Eine Art von Freiheit, die er auf keine andere Weise erreichte, da die Ketten seiner Unsterblichkeit ihn in jedem anderen Zustand unnachgiebig an die Ewigkeit banden.
Das aus seinem Plan, ein wenig Ruhe zu bekommen, nichts werden sollte, hätte er sich eigentlich auch schon vorher denken können. Allerdings lebte er hin und wieder tatsächlich noch in der Illusion, dass ausnahmsweise einmal nichts schief ging. Als Melissa plötzlich um die Ecke gehastet kam, zerfiel dieser irrwitzige Glaube vor ihm zu Staub. Ihr hektischer Blick sprach Bände…
Auch wenn er sich kaum zu Fragen traute, erkundigte er sich trotzdem: „Solltet Ihr nicht auf Mister Huber aufpassen?“
„Was?“, fragte sie in einem Ton, als ob sie gerade mit der Hand in der Keksdose erwischt worden wäre. „Ja natürlich. Sollte… ich meine, tue ich!“
„Ach ja?“ Der andere hob skeptisch eine Augenbraue, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich übertrieben theatralisch in dem Gang um. „Und wo ist er dann?“
„Ähm… auf Toilette.“
„Auf Toilette?“
„Japp.“
Plötzlich klang sie vollkommen von dieser Idee überzeugt. Ein Grund mehr, der Sache schnell ein Ende zu bereiten, ehe sie sich noch weiter hineinsteigerte und anfing ihr Lügenkonstrukt für unanfechtbar wahr zu halten. „Melissa, lassen wir den Unsinn, Ihr habt ihn aus den Augen verloren, oder?“
„Ich habe ihn nicht angerührt!“; verteidigte sie sich sofort.
Es kam zu einer der seltenen Gelegenheiten, in denen James kurz stutzte. Was hatte das jetzt schon wieder zu bedeuten? „Habe ich auch nicht behauptet…“, meinte er langsam. „Sagt mir bitte einfach, ob ich richtig liege.“
Die andere haderte mit sich, was ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Als Lügnerin taugte sie wirklich nicht. „Es ist nicht meine Schuld, ok?“, gab sie schließlich zu. „Als ich in das Büro gekommen bin, war er schon nicht mehr da. Keine Ahnung, wo er sich rumtreibt.“
Nun, dafür konnte sie vermutlich tatsächlich nichts, immerhin war es fast unmöglich den alten Mann vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche im Blick zu behalten. Auch verstand niemand von beiden warum dazu überhaupt eine Notwendigkeit bestand, nur, dass James diese Aufgabe nicht hinterfragte, während seine Kollegin nicht müde wurde, immer wieder zu erklären, wie sehr es ihr gegen den Strich ging.
„Das wird Mister Laval nicht gefallen“, seufzte er. Und ihm gefiel es nicht, den Mann zu enttäuschen, dem er sich verschworen hatte.
„Er muss es doch nicht erfahren, oder?“
Ein tollkühner Vorschlag, den sie da unterbreitete. Allerdings war die Lage im Museum schon angespannt genug, weswegen dem Unsterblichen kein Argument einfiel, dass gegen ein kleines Geheimnis zwischen ihm und der Wahnsinnigen sprach. „Teilen wir uns auf“, erwiderte er deswegen bestimmt, „und finden wir Henry, bevor er…“
„Ausrutscht und sich den Schädel an einer Toilettenschüssel aufschlägt? Rausgeht und nie wieder gesehen wird? Im Raum mit den dunklen Erinnerungen landet und…“
„Finden wir ihn einfach“, zischte James gereizt. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Er sah bereits vor seinem inneren Auge eine Katastrophe auf sie zurollen, obwohl es dazu keine Veranlassung gab. Immerhin war nur ein alter Mann, der unter Demenz litt, was konnte der schon für Schäden anrichten?
Routinierte Torturen
Hatte die Stille in den Fluren des Museums den Direktor schon erdrückt, erschlug sie ihn im Raum der dunklen Erinnerungen förmlich.
Von allen Seiten aus wirkten sie ihre Kräfte auf die Umgebung aus, ließen die Luft schwer werden, dämmten die Lichtverhältnisse, ließen die Temperatur erst fallen und dann unerträglich steigen. Das meiste davon geschah lediglich illusorisch – noch. Die vielen Gegenstände in Vitrinen versteckt oder auf Podesten präsentiert, spielten mit ihm.
Nathaniel ließ sich davon nicht ablenken, mittlerweile stellte sich bei ihm ein Gefühl der Gewöhnung ein. Ein gleichsam furchtbares zwar, vor allem da er wusste, welche Gefahr der Nachlässigkeit daraus wachsen konnte, aber auch hilfreich, da seine überspannten Nerven ihn nicht länger hinter jedem Schatten das nahende Ende seiner Karriere erblicken ließen.
Allerdings trug auch die Erschöpfung ihren Teil dazu bei, dass er den Raum von Mal zu Mal gefasster und ruhiger betrat. Er beschwor sich immer wieder, dass es sich dabei wirklich nur um das handelte: Müdigkeit und keine Resignation im Angesicht einer sich anbahnenden Katastrophe, die sie unmöglich verhindern, nur hinauszögern konnten, außer es änderte sich etwas grundlegend an ihrer aktuellen Situation.
Eine Kleinigkeit, die alles andere als klein – sinngemäß: unbedeutend – war, ließ sein Herz aber doch jedes Mal einen Moment lang höher schlagen. Sein erster Blick galt immer der eisernen Jungfrau im hinteren Bereich des Ausstellungsraumes, welche keinen Ton von sich gab. Nie, oder zumindest nicht, seitdem sie das Museum hatten schließen müssen. Seltsamerweise störte ihn dieser Umstand beinahe mehr, als wenn sie ununterbrochen Laut gegeben hätte, weil der Direktor so das Gefühl nicht los wurde, dass die Erinnerung, die er darin weggeschlossen hatte, etwas plante oder auf den rechten Augenblick wartete, hervorzubrechen.
Solange dies nicht geschah, blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als seine übliche Route abzulaufen und sich darum zu kümmern, dass die übrigen Erinnerungen, wenn schon nicht in einem identischen, dann wenigstens ähnlichen Zustand verweilten.
Dann mal los, gab er sich selbst den nötigen Stoß, ohne den er vermutlich noch Stunden an Ort und Stelle gestanden hätte, während die Luft um ihn herum immer unerträglicher wurde. Schwerer, dichter, als würde man durch eine zähflüssige Masse waten, die kaum Sauerstoff enthielt, die ihm Schweißperlen auf die Stirn trieb und jede Bewegung zur Qual machte.
Es brauchte nur ein paar Schritte, ihn zum ersten Exponat zu bringen. Eine schlichte Kamera, deren Linse das dämmrige Licht widerspiegelte. Nathaniel holte seinen Schlüsselbund hervor – einen von dreien –, öffnete mit geübten Handgriffen den Kasten und verharrte noch einige Sekunden, ehe er das Erinnerungsstück mit beiden Händen anhob, es anschaltete, auf sich richtete und abdrückte. Dem grellen Blitz folgte wie so oft, eine kräftig gebaute, ruppige Gestalt, welche eine Spitzhacke hoch über dem Kopf hielt, die er geradewegs auf sein mutmaßlich ahnungsloses Opfer herabsausen ließ.
Statt überhastet auszuweichen, schloss dieses lediglich die Augen. Ein Zucken ging durch seinen Körper, als der kalte, gnadenlose Stahl ihn traf und spurenlos durch ihn hindurchglitt.
Wie viele Male hatte er diese Kamera jetzt schon in Aktion erlebt? Dennoch schauderte ihm immer wieder aufs Neue dabei. Sie besaß die Macht die Grenzen zwischen verschiedenen Welten, für einen Wimpernschlag zu durchstoßen. Was dann geschah, war jedes Mal ein Würfelspiel. Am häufigsten trat der Bergmann auf den Plan, gelegentlich aber auch andere Menschen… oder Wesen. Außerdem, so schien es, war es sogar möglich die Grenze in dem Augenblick, in dem sie aufgerissen wurde, zu überschreiten. Eine Reise ohne Wiederkehr, wie Nathaniel glaubte, weswegen er nicht plante sie jemals anzutreten.
Neben der Tatsache, dass er nie wusste, was ihm begegnete, wenn er die Kamera bediente, hatte er ebenso lange Zeit nicht einschätzen können, welche Wirkung diese Dinge auf seine Welt nahmen. Mittlerweile hatte er dies dank James jedoch analysieren können und war deswegen in der Lage, einzuschätzen, wann es erforderlich wurde zurückzuweichen und wann die Wirkung der anderen Welt bereits verblasste, ehe sie ihm gefährlich wurde.
Nummer eins, dachte er, während er das Objekt zurück an seinen angestammten Platz legte und die Vitrine schloss. Zum zweiten vom dritten Mal an diesem Tag. Fehlen noch… Zu viele, lautete die unausgesprochene Fortführung dieses Satzes. Einfach zu viele und jeden Tag wuchs diese eigentlich konstante Ziffer in immer größere Sphären an.
Dabei sollten sie sich lieber glücklich schätzen, überhaupt so weit gekommen zu sein. Anfangs, als die Schließung sie plötzlich ereilt hat und sich eine kleine Panikattacke bemerkbar machte – zumindest für den Direktor, Melissa hatte überhaupt nicht verstanden, worum es ging und James seine allzeit gefasste Miene gewahr – waren sie noch völlig planlos gewesen. Über mehrere Tage hinweg hatte sich die Energie in dem Raum der dunklen Erinnerungen derart verdichtet, dass sie kurz vor dem Kollaps stand, bis dem Unsterblichen die rettende Idee gekommen war.
Wäre er eine Katze, er hätte mehr als eines seiner neun Leben dabei eingebüßt, sich den Mächten zu stellen und sie so zu „besänftigen“, wie er es nannte. Tagelang hat er sich ihnen ausgesetzt, zugelassen dass die Erinnerungen ihn verletzten und verstümmelten, sowohl körperlich als auch psychisch. Schließlich war es Nathaniel und Melissa gelungen anhand seiner Aufopferung genug Daten zu sammeln, um diese Bürde mit ihm zu teilen, mit dem Unterscheid, dass sie dabei versuchten den Schaden möglichst gering zu halten.
Interessanterweise hatten sie erst dadurch herausgefunden, dass diese Methode weit besser funktionierte, als jeden Tag Besucher zu den Erinnerungen zu führen, die die Energien nur zerstreuten. Es brauchte weniger menschliche Komponenten und wirkte – zumindest eine Zeit lang – effektiver, länger anhaltender.
Jedoch schien es, dass die Wirkung nachließ, je länger sie diese Methodik anwendeten, weswegen es immer häufiger nötig wurde, die Artefakte auf diese Art zu unterhalten. Auf Dauer blieben die Besucher des Museums also unerlässlich und ihre Erkenntnis diente höchstens als Überbrückung einer Durststrecke. Dennoch, eine wertvolle Erfahrung für die Zukunft, so es denn für sie noch eine gab.
Mittlerweile hatte sich ein Rhythmus eingestellt, der dafür sorgte, dass sie drei Mal täglich rotierten. Morgens wachte Nathaniel über Henry, James über die Erinnerungen und Melissa ruhte. mittags wechselten sie eine Position weiter und abends das Gleiche noch einmal. Und jeden Tag wurde es schwerer.
Man sollte meinen, auf einen alten, dementen Mann aufzupassen, der den halben Tag verschlief, ein Viertel vegetierte und ein viertel dummes Zeug redete, wäre ein Leichtes, doch weit gefehlt. Henry bereitete ihnen mehr Ärger, als er ihn eigentlich wert war… Nein, dass stimmte nicht, der Alte gehörte zu den wichtigsten Relikten ihres Museums und unterstand als solches, dem – von einem kraterähnlichen Ring unterstrichenen – Argusauge seines Direktors.
Dass Nathaniel allein um die Bedeutung des Alten wusste, stellte ein nicht zu verachtendes Risiko dar, dessen war sich nur allzu bewusst, doch seine Mitarbeiter einzuweihen, war ihm schlichtweg nicht möglich. Schlimm genug, dass er diese Kenntnisse besaß, weitere Involvierte würden sehr wahrscheinlich mehr Chaos stiften als verhindern.
Aber über solche Dinge wollte er gerade ohnehin nicht nachdenken. Es galt seine Konzentration den dunklen Erinnerungen zu widmen, da niemandem geholfen wäre, wenn er durch eine vermeidbare Unachtsamkeit ums Leben käme.
Wenig später hatte er bereits eine Bärenfalle aktiviert, ohne dabei eines seiner Gliedmaßen einzubüßen. Mehr Zeit erforderte es da schon, sich dem Gefühl lebendig begraben zu werden auszusetzen, während er regungslos vor einem leeren Sarg stand.
Jede Erinnerungen hatte ihre eigenen „Bedürfnisse“, sprich, je nach Kanalisierung und wie viel derjenige davon an sich ran ließ, unterschieden sie sich stark in ihrer Handhabe, Wirkungsweise und Dauer des Effekts.
Die Kamera und die Bärenfalle Beispielsweise funktionierten physisch, mit direkter Auswirkung und ihre Nutzung kostete in der Regel nur einen Wimpernschlag, nach dem das Opfer entweder sich noch glücklich seines Lebens erfreute oder blutend und vor Schmerz schreiend am Boden lag.
Der Sarg hingegen arbeitete auf einer rein psychischen Ebene, vermittelte unterschwellige Emotionen, die mit entsprechender Willensstärke durchaus bekämpft werden konnten. Die Aussendung dieser Regung vermochte nur Sekunden oder ewig dauern, je nachdem wie viel Energie das Objekt aufbrachte und gleichsam, wie sehr Nathaniel sich von ihr beeinflussen ließ.
Es war jedes Mal ein kleiner Kampf sich loszureißen, beinahe so, als bräche er tatsächlich aus der letzten Ruhestätte aus und grub sich durch das Erdreich an die Oberfläche. Er mochte sich nicht einmal vorstellen, was geschah, wenn er dies eines Tages nicht mehr schaffte… Innerlich begraben… ich könnte mir schönere Enden ausmalen. Allerdings genauso gut auch weitaus schrecklichere.
Weiter ging es mit einem überdimensionierten Osterei, dass den Direktor erneut, wie so viele Male zuvor, auf die gleiche Art verhöhnte, was dieser schulterzuckend hinnahm. Es folgten verschiedene albtraumhafte Visionen von unterschiedlichen Zukünften, die so hoffentlich niemals eintraten, Bilder verzerrter Welten, die Höllendimensionen und ähnliches widerspiegelten, Eskapaden mit geisterhaften Erscheinungen vergangener, ruchloser Mörder und unzählige weitere Schreckgespenster, die mal mehr mal weniger tödliche Bedrohungen darstellten.
Zum Ende hin fühlte Leiter des Museums sich ausgelaugt, verbrannt und innerlich leer. Die körperlichen Anstrengungen – Angriffen aus dem Nichts ausweichen, kleinere Schmerzattacken ertragen – waren eine Sache, die geistige Belastung eine gänzlich andere, vor allem da die Kräfte nicht nur an seiner Psyche, sondern auch an seiner Gefühlswelt zerrten. Sie spielten mit seinen Ängsten und Hoffnungen, von denen selbst der sich sonst so unterkühlt wirkende Direktor die eine oder andere besaß.
Aus diesem Grund sparte er sich eine ganz besondere Erinnerung immer für den Schluss auf. Nicht die eiserne Jungfrau, bei der gab es keinen Handlungsbedarf, da sie sich nie regte – er bevorzugte es, keine schlafenden Hunde zu wecken –, sondern ein Spiegel, welcher zu jeder anderen Gelegenheit von einem Tuch verhüllt wurde.
Das reflektierende Objekt zeigte dem Betrachter seine inneren Dämonen. Geister der Vergangenheit, hässliche Fratzen die sich hinter einem milden Lächeln verbargen oder die dunklen Winkel, einer gestörten Seele.
Melissa hatte darin einst einen alten Freund gesehen, welcher sinnbildlich für die Kehrtwende ihres Lebens stand. Ein Schicksalsschlag, der sie zu dem Monster gemacht hat, dass sie heute war.
James… nun, er redete nicht darüber. Ein Geheimnis, dass der Direktor ihm gewährte, von dem dieser allerdings glaubte, dass es ein wahrhaft schreckliches sein musste, da der Unsterbliche, als er das erste Mal hineingeblickt hat, derart verblasste, dass es den Anschein machte, er wäre doch noch endlich dahingeschieden. Noch nie zuvor und nie mehr danach, hatte er derart erschrocken, nein, entsetzt und bis in die Tiefen seiner Selbst erschüttert ausgesehen.
Und Nathaniel? Er sah ein Bild, um dass sich sein ganzes Leben drehte, dass seinen Antrieb und seine Verzweiflung darstellte, den Grund, warum er all dies überhaupt auf sich nahm. Dieser blanken, ungeschminkten Wahrheit gegenüberzustehen, belastete ihn mehr, als jede andere dunkle Erinnerung, weil sie Gefühle in ihm weckte, von denen er nie geglaubt hätte, sie jemals sein eigen nennen zu dürfen.
Seitdem neigte er zu gelegentlichen Ausbrüchen, wurde unbegründet wütend oder deprimiert. Ablenkungen, die er sich für gewöhnlich niemals gestattet hätte. Er hasste es und gleichwohl, gefiel es ihm auf eine perverse Art. Als wären diese nutzlosen Regungen eine Form der Geißelung, die ihm wohlige Schauer durch den Körper jagten.
Der Tanz zwischen diesen Extremen, nüchtern seine Arbeit zu erledigen und sich in emotionalen Gefilden, befreit von allen Pflichten, austoben zu wollen, raubte ihm langsam aber sicher den Verstand, da er weder das eine, noch das andere gänzlich haben konnte. Diesen Umstand dann auch noch täglich vor die Nase gesetzt zu bekommen, machte ihn schier rasend, doch musste es sein, wollte er verhindern, dass er bald zu keinem der beiden Formen seines Ichs fähig wäre, weil sie gänzlich ausgelöscht wurden.
Bringen wir es einfach hinter uns!, trieb er sich fluchend selbst an, streckte dabei die Hand aus und packte mir klammen Fingern den festen Stoff, um ihn mit einem Ruck herabzuziehen.
Bevor er die Bewegung vollenden konnte, ertönte plötzlich ein unerwarteter Laut, links von ihm. Die Tür zum Raum der dunklen Erinnerungen wurde geöffnet. Als sie gänzlich aufschwang, erkannte Nathaniel dahinter jemanden, der hier ganz und gar nichts zu suchen hatte. „Henry?“, fragte er unnötigerweise. „Was machen Sie…“
Weiter kam er nicht, da auf einmal ein weiteres Geräusch seine Aufmerksamkeit forderte: Das leise quietschen metallener Scharniere, während schwere Deckel sich langsam öffneten, wobei eine Kakophonie des Grauens sich auszubreiten begann.
Na na na naaa naa na na na
„Nein…“, hauchte der Direktor, den einmal mehr Todesangst packte, weil sein geliebtes Museum, das zu schützen er geschworen hatte, sich erneut in ein Albtraumkabinett wandelte. Und er wusste nicht, ob er es dieses Mal würde abwenden können…
Eskalation
Unter normalen Umständen hätte Nathaniel bereits in dem Augenblick Maßnahmen ergriffen, in dem die Tür sich unerwartet geöffnet hat. Seine Mitarbeiter kannten den Plan, sie wären nie hereingekommen, ohne sich vorher bemerkbar zu machen, was bedeutete, dass etwas schief gelaufen sein musste.
Doch von Normalität, konnte dieser Tage schon lange nicht mehr die Rede sein. Der Direktor war erledigt, hoffnungslos übermüdet und mit den Nerven am Ende. Er ging auf dem Zahnfleisch, konnte kaum mehr krauchen, geschweige denn die Augen offen halten und wenn er sie schloss, wurde sein Verstand von albtraumhaften Visionen geplagt; das Nachhallen, der Schrecken, denen er sich Tag für Tag aussetzte.
Aus diesem Grund tat er selbst dann noch nichts, als Henry bereits die ersten Schritte in den Raum hinein machte, wobei er eindeutig nur ein Ziel ansteuerte. Nathaniel wusste was unweigerlich in wenigen Minuten geschehen würde und doch sah er sich nicht in der Lage etwas dagegen zu unternehmen. Sein Hirn spuckte partout keine Idee aus, sendete nicht einmal das Signal, sich gottverdammt in Bewegung zu setzen, um wenigstens irgendetwas und sei es auch noch so planlos, zu tun.
Stattdessen stand er nur da, starrte den alten, offensichtlich verwirrten Mann an und sah gleichwohl seinem Schicksal bereitwillig entgegen. Es war nicht so, dass er es wollte, doch würde er im Nachhinein nicht leugnen können, dass es verlockend klang, es einfach geschehen zu lassen. Dann könnte er endlich schlafen. Für immer.
Gott oder welche höhere Macht auch immer sich darum scherte, segne seine Mitarbeiter – oder zumindest einen von ihnen – die geistesgegenwärtig genug waren, die Katastrophe, die auf sie zurollte, nicht nur zu erkennen, sondern auch das Ruder in die Hand nahmen, um sie abzuwenden – oder es wenigstens auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Vermutlich durch den grässlichen Singsang, welcher in immer lauteren Tönen anschwoll, angelockt, stürmten die beiden kurz nach Henrys Auftritt in den Raum, analysierten präzise die Situation und stellten die einzig wichtige Frage: „Was zur Hölle ist hier los?!“, brüllte Melissa über die disharmonischen Laute hinweg.
Der Moment kam, in dem es an dem Direktor war, seinen zuverlässigen Gefährten Anweisungen zu geben… und er verging, ohne dass er dergleichen auch nur in Erwägung zog.
„Mister Laval!“, rief auf einmal James, wobei er sich energisch auf ihn zubewegte, während er zuvor noch Melissa beauftragt hatte, den Alten hinauszuschaffen. „Verzeiht mir, dass ich Euch dies in aller Deutlichkeit sagen muss, aber: Reißt Euch gefälligst zusammen!“
Der Unsterbliche machte keine Anstalten, vor seinem Arbeitgeber stehen zu bleiben. Stattdessen marschierte er geradewegs weiter auf die eiserne Jungfrau zu, wohl in dem Bestreben sie zu schließen, um diesem Konzert des höllischen Infernal ein Ende zu bereiten, dass selbst ihn dazu veranlasste, die Miene zu verziehen. Gleichzeitig wirkte er dabei, so unbeeindruckt wie fast immer, wohl, weil er schon ganz andere Sachen gesehen und am eigenen Leibe erfahren hat.
Indes hatte Melissa schwerer mit dem alten Mann zu kämpfen, als es zu erwarten wäre. Sie zog und zerrte an ihm, drohte ihm gar Gewalt an, wenn er sich nicht fügte, doch er ignorierte sie komplett und lief stoisch seinen Weg entlang. Langsam zwar, doch stetig, wobei die Bewegung seiner Lippen vermuten ließ, dass er etwas vor sich hin murmelte, nur dass seine Worte in dem Lärm gänzlich untergingen.
Das Chaos nahm seinen Lauf, als ein greller Blitz, links von Melissa kurz den Raum erhellte und gleich darauf ein Bergmann aus dem Nichts heraus auf sie zustürmte. Beide, der Direktor wie auch sie, erkannten, dass es sich dieses Mal bei ihm nicht nur um eine flüchtige Illusion handelte, weswegen sie schlagartig von Henry abließ und nach hinten hin weg hechtete. Die Spitzhacke rauschte knapp an dem Alten vorbei, präzise dahin, wo eben noch die junge Frau gestanden hatte.
„Was zum…?!“ Sie kam nicht dazu, ihre Frage zu beenden, da sie, bei einem weiteren Schritt nach hinten, über einen kleinen Stein stolperte, das Gleichgewicht nicht halten konnte und rücklings fiel. Auf dem Boden kam sie jedoch nicht auf, stattdessen stieg sie plötzlich nach oben auf, erst langsam und dann immer schneller, so schnell, dass sie drohte jeden Moment an der Decke zerquetscht zu werden, was jedoch nicht geschah, da ihr Höhenflug kurz vor dem Aufprall abrupt gestoppt und sie schwerelos in der Luft gehalten wurde.
James erging es mittlerweile nicht besser. Hinter sich vernahm Nathaniel nicht nur Kampfgeräusche, sondern auch das überdeutliche Summen tausender Fliegen, dass laut genug schallte, um selbst den grässlichen Gesang zu übertönen.
Lange würde es nicht mehr dauern, dann wäre jede dunkle Erinnerung erwacht und nichts würde Mister Huber noch daran hindern, seinen Weg zu vollenden. Falls das nicht schon längst geschehen war.
Nathaniel steckte nicht länger in einer Blase fest, oh nein, er hatte längst erkannt was um ihn herum geschah und überlegte fieberhaft, wie er ihrer aller Untergang verhindern sollte, doch ihm fiel nichts sein. Jeder Versuch gegen den Alten vorzugehen, endete nur in noch mehr Aktivität der dunklen Erinnerungen. Der Demente mochte sich dessen nicht bewusst sein, doch die Exponate reagierten auf ihn oder besser gesagt auf das, was er in sich trug. Deswegen hätte er diesen Raum niemals betreten dürfen.
Ihr hattet eine einzige einfache Aufgabe!, fluchte der Direktor innerlich, was ihm in diesem Moment jedoch auch nicht weiterhalf. Dennoch fühlte es sich gut an, seinem Ärger kurz vor seinem Tod, noch einmal Luft zu machen. Wenn schon, dann wollte er nicht mit unvollendeten Taten sterben.
Also gut, dachte er weiter. Henry ist kein Ansatzpunkt. Was dann? Er drehte sich um. Just in diesem Augenblick wurde alles um ihn herum still. Gänzlich still. Die Welt verlor vollständig an Geräuschen. Er rechnete schon damit, dass gleich die finsterste Finsternis folgen würde, doch stattdessen glitt nur ein großes, dunkles Flugobjekt, dass frappierend an eine überdimensionierte Fledermaus erinnerte, an der hinteren Fensterfront vorbei, welche kurz das einfallende Sonnendlicht ausblendete.
Als die Erscheinung verschwand, kehrte auch die Kulisse aus tosendem Lärm zurück, weswegen Nathaniel den Drang unterdrücken musste, sich die Ohren zuzuhalten. Für so etwas hatte er keine Zeit.
Schließlich richtete er seinen Fokus auf die eiserne Jungfrau, welche nunmehr vollständig offen da stand und ihr Innerstes präsentierte: Eine halb verfaulte Leiche, deren von Verwesung zerfressener Schädel schief grinste, ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte und siegessicher auszulachen schien. Der ausgemergelte Körper hing halb aus seinem Sarkophag heraus und hatte die Arme empfangend weit ausgestreckt, ganz so, als wolle er dazu einladen, jemanden fest zu drücken.
Nein, es ist genau das, erkannte der Direktor. Der alte Francis oder besser gesagt das Wesen, dass in ihm hauste, plante sich mit Henry und seinem Gefolge zu vereinen. Zwei unaussprechliche Mächte, in einem stählernen Gefängnis vereint, welches sich vermutlich nie wieder öffnen würde, wenn es sich einmal schloss, jedoch trotzdem unablässig endloses Elend über die Welt brachte.
Das kann ich nicht zulassen. Ich muss es verhindern. Nur wie? Wie?!
Als er sich das fragte, lief gerade der an Demenz leidende alte Mann an ihm vorbei. Viel trennte ich nicht mehr von seinem und dem Schicksal der Menschheit. Jetzt, da er ihm so nah war, verstand Nathaniel sogar, was er unablässig murmelte.
„Marta, ich komme, ich komme zu dir, Marta! Marta, ich komme, ich komme zu dir, Marta!“
Wieder und wieder wiederholte er diese Worte, ähnlich wie Francis, der es nicht lassen konnte, sein Liedchen zu trällern.
Na na na naaa naa na na na
Na na na naaa naa na na na
Ich weiß schon, warum ich nichts für Musik übrig habe…, erlaubte Nathaniel sich noch eine gedankliche, sarkastische Bemerkung, die rein gar nichts brachte, außer dass ein weiteres Häkchen auf der To-Do-Liste kurz vor dem Ende setzen konnte.
Langsam wurde es Zeit, sich etwas einfallen zu lassen, denn von seinen Mitarbeitern brauchte er keine Hilfe zu erwarten. Melissa schwebte immer noch irgendwo hilflos an der Decke und James hatte es mittlerweile gleich mit mehreren Gegnern unterschiedlicher Art zu tun, die ihn zwar nicht töten, sehr wohl aber in Schach halten konnten.
Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. Ruhig sah er sich in dem Raum um, betrachtete jede einzelne Erinnerung, studierte sie und ihr Verhalten aufs Genaueste. So zeitraubend dieses Vorgehen auch sein mochte, es musste sein, wollte er noch eine Chance auf Erfolg haben.
Zwischen den Gesang ertönte ein vertrautes, furchtbares Lied, welches unter anderem dazu beitrug, die fallenstellende Irre in der Luft zu halten. Eine Ecke des Raumes brannte und schien gleichzeitig überhaupt nicht mehr zu dem Museum, sondern einer anderen Welt zu gehören. Zahllose Zettel lagen um einen, in endloser Pein schreienden Jesus herum, sie kündeten von Vorschlägen, wie dem Elend ein Ende zu bereiten wäre.
Ja, jede Erinnerung trug ihren Teil dazu bei, dass Chaos aufrechtzuerhalten und sei ihre Art auch noch so abstrus. Sie alle wurden von Henry dazu verleitet, sich auszutoben, ihren Energien freien Lauf zu lassen. Alle folgten dem Ruf eines Dementen, der nicht wusste, was oder warum er es tat.
Alle, bis auf eine.
Nathaniels Blick huschte zur Seite, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Plan aufging stand… Er hatte keine Ahnung. Vermutlich eins zu einer Millionen oder so, wenn er Glück hatte, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Abgesehen davon besaß dieser Plan eine gewisse Perfidität, die ihm gefiel, weswegen er es schon allein deswegen probieren musste. Und sei es auch nur, um den dämlichen Gesichtsausdruck auf Francis hässlicher, vergammelter Fratze zu sehen.
Der Direktor des Museums der Erinnerungen, tat, was er immer tat: Er erfüllte seine Pflicht und brachte zu Ende, was er begonnen hatte. In diesem Fall legte er seine Hand erneut auf den schweren Stoff, unter dem sich ein verhasster Spiegel befand. Mit einem Ruck zog er ihn hinab und blickte in sein Antlitz. Es versetzte ihm einen Stich, jedoch nicht mehr. Interessanterweise verschwand das Bild gleich darauf und zeigte nunmehr, nichts, nicht einmal sein Ebenbild.
Darüber kann ich mir später noch Gedanken machen.
Stattdessen ging er hinter den Spiegel und packte ihn an den Seiten, um ihn hochzuheben. Wie erwartet, wog das Ding so schwer, wie es aussah, weswegen er seine eher schmächtige Gestalt, ziemlich anspornen musste, seinem Befehl Folge zu leisten. Solange er es noch konnte, brüllte er durch den Raum: „James! Halten Sie mir alles vom Leib, was mir zu nahe kommt!“
Keine Antwort, er konnte nur hoffen, dass der Unsterbliche ihn gehört hatte und überdies, dazu in der Lage war, ihm zu helfen.
Nathaniel machte seinen ersten, viel zu langsamen Schritt, dann den zweiten, bei dem er aufpassen musste, nicht von dem Podest, auf dem der Spiegel für gewöhnlich stand, herunterzufallen. Ein dritter und ein vierter folgten sogleich. Es trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, seine Hände wurden ebenso schwitzig, was die Arbeit nicht leichter machte. Neben ihm krachte es, wie bei einer Explosion, was ihn kurz zusammenfahren ließ, doch war nichts zu sehen. Dafür vernahm er gleich darauf, das Geschrei eines Mannes. Ein bald schon gefallener Soldat, wie der Direktor wusste, nur dass er keine Gelegenheit hatte, sich näher mit dieser Vision aus einer anderen Welt auseinanderzusetzen.
Über dem tosenden Lärm, der nun regelmäßig durch Stille ersetzt wurde, wobei gleichzeitig jede Lichtquelle verschwand, nur um direkt wieder gleißend zu erstrahlen, wurde der Gesang der Leiche immer lauter. Laut genug, um jedem der ihn hörte, rasende Kopfschmerzen zu bereiten. Eine Erfahrung die Nathaniel schon einmal gemacht hat und auf deren Wiederholung er gerne hätte verzichten können.
Während er quälend langsam seinen Weg fortsetzte, zogen immer mehr Bilder, Geräusche und Gerüche an ihm vorbei. Er vernahm Gesprächsfetzen, schmeckte Blut auf der Zunge, spürte Kälte seine Gliedmaßen emporsteigen und blitzende Schmerzen seinen Körper peinigen, doch nichts hielt ihn davon ab, immer weiterzugehen.
Irgendwo am Rande registrierte er, wie James um ihn herumtänzelte. Er versuchte den Mann, dem er sich verschworen hatte, so gut es ihm möglich war, vor allem abzuschirmen, was da versuchte an ihn heranzutreten. In Anbetracht der Tatsache, dass auch er nicht unbesiegbar war, vollbrachte der Untergebene wahre Wunder, was jedoch nichts daran änderte, dass Nathaniel sich schon bald nicht mehr als denkendes oder fühlendes Lebewesen wahrnahm, sondern nur noch als Ding, dass aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund durch eine Welt der Schmerzen wanderte und dabei eine viel zu schwere Last mit sich herumschleppte.
Schließlich endete es. Alles.
Die Welt stand still oder zumindest das Innenleben des Museums tat dies. Eben noch durch einen undurchdringlichen Nebel gelaufen, wurde Nathaniel sich plötzlich wieder seiner Situation gewahr und erkannte, dass er es geschafft hatte. Er stand direkt vor der eisernen Jungfrau, weswegen er den Spiegel ächzend absetzte, schwer darum bemüht, nicht gleich darauf zusammenzubrechen.
Er umrundete ihn halb, sah sich dabei um und stellte wenig überrascht fest, dass der Raum geleert worden war. Keine Erinnerung befand sich mehr darin, selbst von Melissa und James fehlte jede Spur. Lediglich der alte Henry lief unbeirrt weiter auf Francis zu, der immer noch die Arme ausgestreckt hielt. Das Murmeln des Alten war nun überdeutlich zu hören.
„Marta, ich komme, ich komme zu dir, Marta! Marta, ich komme, ich komme zu dir, Marta!“
Als der Direktor seine volle Aufmerksamkeit wieder der Leiche widmete, hatte diese ihren Kopf in seine Richtung gedreht. „Eine schöne Show, die du da abgeliefert hast, Nathaniel“, höhnte eine tonlose, befremdliche Stimme in seinem Kopf. „Nur leider zwecklos.“
Tja, so viel dazu… Wenigstens konnte niemand behaupten, er hätte es nicht versucht. Obwohl… „Bist du sicher?“, fragte er, weil es jetzt sowieso keinen Unterschied mehr machte. Seinen Trumpf hatte er gespielt, alles Weitere oblag nicht länger seiner Hand. „Schau doch nochmal genauer hin.“
„Das wird kaum nötig sein. Ich bereue nichts, mein sehnlichster Wunsch wir jeden Moment erfüllt und Dämonen trage ich keine in mir, weil ich der Dämon bin. Also ja, ich bin mir sicher.“ Bei den letzten Worten klappte ihm der Unterkiefer herab, was den fauligen Geruch, der von dem verwesten Körper ausging, noch verstärkte und den Eindruck erweckte, Francis würde stumm schreien vor Leid. Eine amüsante Vorstellung, nur leider nicht hilfreich. Es sei denn…
Nathaniels Herz schlug schneller, sein Blick huschte panisch zu Henry rüber, nur noch wenige zittrige Schritte trennten ihn von der eisernen Jungfrau und dem Ende der Welt, wie die Menschheit sie kannte. Er musste sich beeilen.
„Francis, sieh in den Spiegel!“, befahl er knapp, eindringlich.
„Francis? Hier gibt es keinen Francis, nur mich. Ich dachte, dass hättest du mittlerweile begriffen.“
„Francis, tu es“, fuhr der andere unbeirrt fort.
„Wie auch immer dein glorreicher Plan lautet, ich muss dich leider enttäuschen: Es wird nicht funktionieren.“ Die Leiche klang erbost, so hatte sie sich ihren finalen Sieg wohl nicht vorgestellt. Lieber wäre es ihr gewesen, Nathaniel im Staub liegen zu sehen, wo er winselnd um Gnade flehte.
„Francis, gottverdammt, du warst ein unwürdiger Nachfolger des Museumsdirektors und selbst als Leiche bist du noch eine Last für uns, also vollbringe wenigstens einmal in deinem Nachleben etwas, dass uns hilft. Sieh. In. Den. Spiegel!“
„So langsam gehst du mir wirklich auf die Nerv… Was?!“ Mitten im Satz unterbrach sich das verrottete Fleisch selbst. Der Kopf des Leichnams hatte sich kaum wahrnehmbar, einen Millimeter in Richtung Spiegel gedreht.
„Was geht hier vor?“ Dann die Erkenntnis. „Francis, du alter Narr, du bist tot! Hörst du mich?! Du hast keine Kontrolle mehr, du gehörst mir! Ich werde das nicht zu…“ Ruckartig ging wurde der Kopf noch ein wenig weiter gerissen. „Nein!“
Verzweiflung machte sich in dem Wesen breit. Sie hatten noch eine Chance! Jedoch schwand ihr Zeitfenster immer weiter dahin. Henry, der nichts von den Geschehnissen mitzubekommen schien, stolperte weiter vor sich hin brabbelnd, seinen Weg entlang und nichts würde ihn daran hindern.
Komm schon Francis, beeil dich!
Wie zu erwarten, strengte auch das Wesen in seinem Inneren sich an, den zweiten Direktor aufzuhalten. Na na na naaa naa na na na, erklang plötzlich wieder die verhasste, schiefe Melodie, die sich in unerträglicher Lautstärke in Nathaniels Gehörgänge und seinen Verstand bohrte. Er ging in die Knie, presste die Augen zusammen und die Hände auf die Ohren, was nur nichts brachte, da die Töne wie ein Presslufthammer, in seinem Kopf arbeiteten und sich von dort aus in alle Richtungen ausbreiteten.
Seine Welt bestand nur noch aus Schmerz. Ihm war, als malträtiere etwas jeden Muskel, jede Sehne und jeden Knochen in seinem Körper. Seine Zähne vibrierten, seine Herz stockte, die Lungen gingen rasselnd und sein Verstand wurde unter den Qualen zu einem grauen Einerlei zermürbt. Wenn das nicht bald aufhörte, spielte es keine Rolle mehr, ob Francis noch die Oberhand gewann, dann würde er nicht überleben.
Als ein lautes Scheppern den Raum erfüllte und schneidende Schmerzen den Direktor an unterschiedlichen Stellen seiner Hände, seines Körpers und im Gesicht trafen, meinte er zu wissen, dass es um ihn geschehen war. Kälte machte sich in ihm breit, während nach und nach alles dunkler wurde, leiser, bis kein Ton mehr erklang und alles zu Nichts wurde.
So fühlte er sich also an, der Tod. Still war er, fast schon friedlich. Warum nur, übermannte ihn nur immer noch diese unsägliche Müdigkeit? War er womöglich in der Hölle gelandet? Dazu verdammt, auf ewig zu empfinden, was ihn zuletzt gefoltert hat?
„Marta? Marta, wo bist du hin?“
Marta?, schoss es Nathaniel durch den Kopf. Blinzelnd öffnete er die Augen. Was er sah, erschreckte ihn so sehr, dass ihm kurz der Atem weg blieb: Ein Gesicht, dass seinem sehr ähnlich war, von einem Schleier aus Blut verhüllt. Dann verschwand das Bild und übrig blieb eine Spiegelscherbe, die nichts mehr reflektierte.
Ungläubig hob er den Kopf. Da wo zuvor der Spiegel gestanden hatte, lag nur noch ein Trümmerhaufen des Artefakts und die eiserne Jungfrau… war leer.
„Er hat es geschafft“, hauchte Nathaniel, wobei irritierenderweise eine einzelne Träne seine Wange hinablief. Die Erleichterung überkam ihn so unerwartet, dass er diesen Anflug peinlicher emotionaler Regung, nicht hatte unterbinden können. Keine Sekunde später verhärtete seine Mimik sich allerdings schon wieder und er ging, trotz seines lädierten Zustands, gedanklich die Liste der Dinge durch, die noch in den nächsten Minuten erledigt werden mussten.
„Verflucht noch mal, wo steckst du schon wieder Weib? Marta!“ Punkt Nummer eins, Henry hier rausschaffen.
Wie durch ein Wunder hatte der alte Mann, keine einzige Wunde von dem zerspringenden Glas davongetragen. Wobei… mit Wundern hatte das vermutlich weniger zu tun.
Der Direktor richtete sich auf, kam dabei jedoch sogleich ins Schwanken und wäre wahrscheinlich prompt wieder zu Boden gegangen, wenn nicht ein paar starker Arme ihn aufgefangen hätten. „Ruhig, Mister Laval“, erklang die sanfte Stimme James. „Ich kümmere mich um ihn. Melissa wird die Erinnerungen aufräumen und Ihr, Ihr solltet euch hinsetzen.“
„Nein ich…“
„Keine Widerrede.“ Der Unsterbliche geleitete ihn zu einer schmucklosen Bank, auf der Nathaniel sich niederließ. Ausnahmsweise ließ er es geschehen, dass man ihn derart behandelte, aber nur, weil jedes Auflehnen zum einen zwecklos und zum anderen viel zu anstrengend gewesen wäre.
„Danke“, rang er sich sogar ab, als James sich versichert hatte, dass es seinem Arbeitgeber so weit gut ging. Naja, den Umständen entsprechend.
„Nichts zu danken.“ Damit wandte er sich auch schon wieder ab und widmete sich stattdessen dem Dementen, welchen er behutsam, aber auch bestimmt, hinauskomplimentierte.
In den darauffolgenden Minuten beobachtete Nathaniel mit trüben Blick Melissa dabei, wie sie ausnahmsweise einmal ihre Arbeit verrichtete und aufräumte. Gleichzeitig ging er einigen Gedanken nach, sammelte sich und seine Erfahrungen über das Geschehene, versuchte sie zu einem sinnvollen Konsens zusammenzuführen, um möglichst viel daraus zu lernen.
Er kam zu dem Schluss, dass er es nur schwer glauben konnte, dass ausgerechnet Francis, den er zum Wohl des Museums geopfert hatte, ihn gerettet hat. Was auch immer er in dem Spiegel gesehen haben mochte, es hat gereicht das Wesen, den Dämon, aus seiner Leiche zu vertreiben und ihm endlich Erlösung geschenkt.
Oder war diese Abfolge der Ereignisse am Ende, doch nur dem Spiegel zu verdanken? Was, wenn es nicht Francis, sondern den Dämon gespiegelt hat, der, wie er behauptet hat, nichts darin sah und genau dieser Umstand, seinen Untergang besiegelte? Wenn die reflektierende Oberfläche statt einem Wesenszug von ihm, ihn gespiegelt, sprich, ihn in sich aufgenommen hat und deswegen zerstört wurde?
Womöglich war es sogar gänzlich anders gekommen. Es würde weiterer Nachforschungen bedürfen, um zu einer schlüssigen Lösung zu gelangen. In jedem Fall konnte der Direktor sich glücklich schätzen, dass er mit seinem Gefühl richtig gelegen hat. Etwas an diesem Objekt hat dem Dämon nicht gefallen, weswegen es unberührt geblieben ist. Selbst Henry konnte es nicht ungewollt manipulieren, Was bedeutete, dass es noch einen ganz anderen Zweck hätte erfüllen können…
Nun, aber für solche Überlegungen war es nun endgültig zu spät. Das Artefakt würde nie wieder Reue, Hoffnungen oder innere Schatten offenlegen, was bedeutete, dass der Alte auch weiterhin ein Problem blieb, dass sie mit Samthandschuhen behandeln mussten.
Als Melissa an ihm vorbeilief, eine simplen Stuhl in der Hand, den sie auf sein Podest zurückstellte, bemerkte sie trocken: „Hey, jetzt laufen wir bald im Partnerlook rum.“
Statt etwas darauf zu erwidern, betrachtete Nathaniel nur seine aufgeschnittenen Hände, Arme und einen Teil seines Oberkörpers. Wie viel sein Gesicht wohl abbekommen hatte? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, fühlte sich alles taub, regelrecht stumpf an. Ganz gleich, sollten doch Narben von dieser Eskapade bleiben, sie würden ihm eine Mahnung sein, ab sofort noch achtsamer zu sein. Einen derartigen Vorfall dürfte es nie wieder geben!
Jedoch, Melissa ihre Häme zu nehmen, konnte er sich dann doch nicht verkneifen. „Das Aufräumen kannst du dir übrigens sparen, die dunklen Erinnerungen müssen eh umziehen. Der Raum ist kontaminiert.“
Abrupt blieb die junge Frau stehen und drehte sich langsam zu ihm um. „Und das sagst du mir jetzt?!“ Sie hatte bereits fast alles zurück an seinen Platz gebracht.
Nathaniel hörte sie allerdings kaum, da er noch über seine eigenen Worte sinnierte. Kontaminiert. Henry bereitete ihnen wirklich fast mehr Probleme, als er wert war. Das Gefäß wurde langsam löchrig und was aus ihm heraussickerte, brachte ihnen nichts als Ärger. Ärger, der nur noch gravierendere Ausmaße annehmen würde. Doch was blieb ihnen schon anderes übrig? Die Alternative wäre weitaus schrecklicher…
Es muss erst richtig übel werden, damit es sich zum Besseren wenden kann, ermutigte er sich selbst. So oder so würde er das nicht alleine schaffen. Mehr Beweise, als der heutige Tag gebracht hatte, brauchte es definitiv nicht, um ihn das erkennen zu lassen. Sobald James zurück war, würde er mit seinen Mitarbeitern reden müssen.
Eines Tages
„Und deswegen, habe ich ihn hier hergebracht“, schloss Nathaniel seine Erklärung.
Nachdem sie alles auf- und vor allem umgeräumt hatten und Mister Huber mittlerweile seelenruhig in seinem Bett schlief, hatten die drei sich im Büro nebenan zusammengefunden, um über die Ereignisse der letzten Stunden, vor allem aber der, der letzten Wochen zu sprechen.
„Das heißt“, erwiderte Melissa grüblerisch, „wenn ich Henry getötet hätte, wäre das ziemlich schlecht für uns gewesen…“
„Was?!“, platzte es aus dem Direktor heraus.
„Ach nichts“, winkte die andere ab, was Nathaniel dazu veranlasste, es dabei bewenden zu lassen. Er musste nicht von allem wissen, was in dem Kopf dieser Verrückten vor sich ging.
Da sie nicht mehr zu der Sache zu sagen haben schien, wandte er sich James zu.
Dieser saß mit überschlagenen Beinen und vor der Brust verschränkten Armen vor dem Schreibtisch Nathaniels und betrachtete hin aus kühlen Augen. Ihm war deutlich anzusehen, wie es in ihm arbeitete. Schließlich schien er sich seine Worte zusammengelegt zu haben und meinte: „Ihr hättet schon früher mit uns darüber sprechen sollen, Mister Laval.“
„Ach ja, hätte ich das?“
Eine ernstgemeinte Frage, die sein Gegenüber auch als solche wahrnahm, weswegen er seine Antwort ein weiteres Mal gut durchdachte. „Nein, oder vielmehr, ich verstehe, warum ihr es nicht getan habt und zu dem Zeitpunkt, war es wohl wirklich das Beste, uns im Dunkeln tappen zu lassen. Rückblickend jedoch, hätten wir eine katastrophale Situation, wie sie uns heute widerfahren ist, andernfalls vielleicht verhindern können. Was ich sagen will: Es gibt hierbei kein richtig oder falsch: Sehen wir einfach zu, dass so etwas nicht noch einmal geschieht.“
„Ganz meine Meinung“, stimmte Nathaniel nickend zu.
„Schön“, tat James es ihm gleich.
„Wunderbar“, schloss Melissa sich an, was die Ernsthaftigkeit dieses Themas endgültig ad absurdum führte und sie diesen desaströsen Tag, trotz schmerzender Knochen und höllischer Kopfschmerzen, mit einem Schmunzeln beenden ließ.
Der Unsterbliche richtete sich zuerst auf. „Und Ihr seid sicher, dass die dunklen Erinnerungen für heute ruhen werden?“
„So ziemlich“, meinte der Direktor in ungewohnt lapidarem Ton. „Wenn nicht“, er zuckte mit den Schultern, „wie viel schlimmer kann es denn noch werden?“
Das rang dem anderen einen misstrauischen Blick zu dem benachbarten Zimmer ab.
„Ich passe schon auf“, versicherte Nathaniel.
„Gut, denn ich glaube nicht, dass ich in den nächsten vierundzwanzig Stunden auch nur einen einzigen Zwischenfall überstehe.“ Damit wandte er sich ab und verschwand mit erhobenem Haupt, aber ein wenig schlurfend das Zimmer.
„Ach komm schon Jamie“, rief Melissa ihm hinterher, „das war doch nichts!“ Dieses „nichts“, machte sich bei ihr bemerkbar, als sie selbst aufstand und dabei gehörig ins Schwanken geriet, so dass sie sich an dem Tisch festhalten musste, um nicht geradewegs umzukippen. „Man, ich sag‘ dir Nathi, mit dir wird es nie langweilig.“ Während sie das sagte, erhellte sich ihre Miene, was wie immer absolut grässlich aussah. „Hey, da wird mir gerade bewusst, dass ich dich vielleicht doch noch nicht so bald über den Jordan schicken muss. Heute muss dein Glückstag sein.“
„Ja“, meinte der Angesprochene, dem wie auf Kommando gleich mehrere, mittlerweile verbundene Wunden ziepten, gedehnt. „So wird es wohl sein.“
Sie schenkte ihm noch ein schiefes Grinsen, was so ziemlich das fürchterlichste darstellte, was er je erblickt hat, machte kehrt und entschwand ebenfalls in die Tiefen des Museums, um sich zur Ruhe zu begeben.
Nathaniel selbst, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, atmete einmal kräftig durch und genoss einen Augenblick einfach die Stille. Da die Nacht hereingebrochen war, begrüßte er sie wie einen alten Freund, den zu sehn ihm eine wohlig warme Freude bereitete. Eine Weile lang ließ er zu, dass dieses Gefühl Besitz von ihm ergriff, akzeptierte es, als ein Teil von sich, den er wohl nie wieder los werden würde.
Es hieß, wenn eine Tür sich schloss, öffnete sich stets eine andere. Er hatte an diesem Tage gleich mehrere, für immer versiegelt und fragte sich deswegen unweigerlich, wie viele Pforten sich ihm, aber auch anderen, damit wohl aufschlossen. Gleichwohl hoffte er, nichts und niemandem damit Einlass zu gewähren, was ihnen noch gefährlicher als eine schief singende, dämonische Präsenz werden konnte.
Als er minutenlang die Tür zu Henrys Zimmer betrachtete, tat sich ihm eine weitere Frage auf: Hatte er das nicht schon längst?
Eines Tage, wird das Gefäß zerbrechen und was dann geschieht, vermag ich nicht zu sagen. Langsam näherte sich ihm ein dunkler Schatten, der jedes Licht um ihn herum verschluckte und die angenehme Wärme, durch bittere Kälte ersetzte.
Überschwängliche Gefühle jeder Art, konnte er sich, trotz dessen er es mittlerweile gerne täte, einfach nicht erlauben. Noch, war er der Direktor des Museums der Erinnerungen. Noch, hatte er eine Pflicht zu erfüllen, die ihm alles abverlangte. Er würde tun, was getan werden musste, weil man es von ihm erwartete und weil es nun mal jemanden brauchte, der sich dieser Sache annahm.
Doch wenn er erst einmal Henry und alles was nach ihm noch kommen mochte, überwunden hatte – und das würde er! – würde schließlich der Tag kommen, an dem sich das Blatt wendete. An diesem Tage wäre der Spiegel, der jetzt in Scherben lag, wieder da, doch würde er sich nicht als reflektierende Oberfläche zeigen, sondern als Tor, als Pfad in eine Welt, die ihm gebührte. Er würde hinter den Spiegel treten und eins werden, mit seinem Ebenbild.
„Eines Tages“, flüsterte er in die Welt hinaus und lächelte dabei.
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Fortsetzung folgt