KreaturenLangeTod

Der Djatlow-Pass

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Sowjetunion, 1959, Winter.

Dichtes Schneegestöber umgab die Expeditionsgruppe, die sich eingehüllt
in dicker Winterkleidung durch das ausgesprochen unwirtliche Wetter in 2000
Metern Höhe kämpfte. Es war eisig kalt!

«Wir haben die Tour wohl ein klein wenig unterschätzt, was Igor? »
witzelte Ljudmila.

«Dieses laue Lüftchen wird uns doch nicht aufhalten, schliesslich haben
wir noch knapp 250 Kilometer vor uns», gab Igor zurück, mit einem verschmitzten
Lächeln im Gesicht.

Man konnte sehen, dass ihm fröstelte. Sie alle gingen im Gänsemarsch
auf Skiern durch den hohen Schnee, der hier absolut omnipräsent war und sich
weiss bis an den Horizont erstreckte. Die Skier verhinderten, dass sie nicht in
den Schnee einsanken, auch wenn dadurch das Laufen mühselig wurde, waren sie
hier unverzichtbar.

«Mir geht es nicht besonders gut. Wann werden wir das Bergwerksdorf erreichen?
» fröstelte Juri Judin. Bleich war er und verschwitzt, sah kränklich aus und
kämpfte sich mühselig vorwärts.

«Noch ein paar Stunden, dann kannst du dich aufwärmen. », erwiderte
Igor, der Anführer der Truppe.

Die zehn Person starke Gruppe hatte sich vor einigen Tagen auf eine
Expedition gemacht, die wohl noch Jahrzehnte danach Grund für Spekulationen und
wahnwitzigen Theorien geben sollte.

Sie alle waren Studenten an der UPI, der staatlichen technischen
Universität des Uralgebiets, und zu Ehren des 16. Parteitags der KPdSU wurde
für sie eine Expedition zum Cholat Sjachl, zum Berg des Todes organisiert. Der
furchteinflössende Name wurde dem Berg von dem Eingeborenenvolk, den Mansen,
gegeben.

Alle Mitglieder waren erfahrene Bergsteiger und dies war nicht ihre
erste Tour durch solch unwirtliche Gefilde wie die des eisigen Passes, den sie
zu überqueren gedachten. Nichtsdestotrotz war dies wohl ihre herausforderndste
Wanderung, da es viele Höhenmeter zurückzulegen galt und die geplante Strecke insgesamt
350 Kilometer lang war. Sogar für den erfahrenen und sportlichen Igor Djatlow war
dies eine ganz besondere Herausforderung.

Sie stapften also weiter durch die Schneelandschaft, immer ihr erstes
Ziel vor Augen. Das Bergwerksdorf Wtoroi Sewerny war
ihre letzte Bastion, bevor sie sich endgültig von der Zivilisation abkehrten
und in die eisige Wildnis aufbrachen.

Nach einigen Stunden, wie Igor gesagt hatte, sahen sie in der Ferne
auch bereits besagte Siedlung in der Berglandschaft, die zwar mittlerweile als
verlassen galt, allerdings standen da noch immer Blockhütten mit hoffentlich
funktionierenden Öfen darin. Hoffentlich!

Die Dächer in der Ferne ragten über den Schnee hinaus und boten einen
angenehmen, farblichen Unterschied, denn abgesehen davon gab es nur weiss,
weiss und nochmal weiss.

«Wir sind fast da! » brummelte Igor. Ihr Tempo erhöhte sich,alle Mitglieder
wollte schnellstmöglich ins Warme, oder zumindest diesem blizzardähnlichen
Sturm entfliehen.

Sämtliche Mitglieder der Expeditionstruppe hatten grosses Interesse an
dieser Wanderung gezeigt, da einige der Fachgebiete der Studenten sich mit der
Expedition überschnitten, sei es von topographischer, seismologischer,
klimatischer, oder sogar anthropologischer Natur, und die Umgebung des «Todesberges»
war sowohl seismologisch als auch kartographisch noch sehr wenig erkundet,
sodass sie alle viel zu entdecken hofften. Die Anthropologen unter Ihnen
hofften jedoch auf einige angeregte Gespräche mit den Mansen, um mehr über
deren wenig erforschten Kultur zu lernen.

Alle hofften, dieser abenteuerlichen Expedition etwas abzugewinnen, um
dem jeweiligen Fachbereich etwas beisteuern zu können. Jedoch war keiner in der
Truppe so erfahren in Sachen Expedition in der winterlichen Wildnis wie Igor,
der bereits mehrere vergleichbare Touren erfolgreich absolviert hatte.

Motiviert von dem bevorstehenden Etappenziel erreichten sie nach einer
weiteren Stunde keuchend das Dorf. Er schien tatsächlich komplett leer zu sein.
Circa ein dutzend kleinerer Blockhütten standen da, überdeckt von dem ewig
weissen Mantel des Schnees und Frosts. Vor den Hütten standen einige veraltete
und ebenfalls schneebedeckte Bergbau-Gerätschaften, die scheinbar bereits
Jahrzehnte nicht mehr benutzt wurden. Hinter dem Dorf erkannte man noch den
Stolleneingang des Bergwerkes, welches wohl mittlerweile eingestürzt war.

Schnell gingen sie auf die Hütte zu, die noch am ehesten intakt wirkte
und stiessen die Tür auf. Staub wirbelte aus der Tür ins Licht der Sonne, die
sich bereits zu einem Grossteil hinter dem Horizont versteckte.

«Keiner da! » rief Alexander, der Seismologe. Also betraten sie
sogleich alle die Blockhütte, sich den restlichen Schnee von den Schultern
schüttelnd. Eine dicke Staubschicht bedeckte die spärliche Einrichtung, die aus
einem vorsintflutlichem Ofen, einem Esstisch und mehreren Stühlen bestand. Ein
Grinsen ging über die Gesichter der Truppe. Das war mehr, als sie sich erhofft
hatten. Sogar ein kleiner Stapel ausgetrockneten Feuerholzes lag in der Ecke.
Sie konnten sich also tatsächlich ein aufwärmendes Feuer entfachen.

Gesagt, getan. Fünf Minuten später wurde die Blockhütte von dem tänzelndem
Licht des Feuers erhellt und alle rieben sich die Hände, traten näher an die
lodernde Wärmequelle und liessen sich entfrosten. Konservendosen wurden
geöffnet und ein karges Mahl wurde zubereitet, welches sie sogleich hungrig
hinunterschlangen.

Mit dem Feuer kam auch die gute Stimmung zurück und sie erzählten sich
Geschichten aus Ihrer Jugend. Sie tranken den guten Vodka, den Semjon
mitbrachte und entspannten sich auf dem Boden. Sinaida, die seit einiger Zeit
mit Rustem, dem Ingenieur der Truppe, liiert war, sprach wieder unaufhörlich
von ihrem Lieblingsthema, der Funktechnik. Viel zu viel hatte das Team bereits
über dieses Thema hören müssen, und sie warfen sich vielsagende,
augenverdrehende Blicke zu. Semjon, der dem langweiligem Monolog Sinaidas nicht
entkommen konnte, hörte gespielt aufmerksam zu und trank fleissig von seinem
Vodka.

«Komm Sinaida, Semjon ist bereits halb betrunken und hört dir nicht
mehr zu. Legen wir uns schlafen. Die am wenigsten staubige Ecke gehört uns!»
beanspruchte Rustem.

«Bin nich betrunkn!» lallte Semjon, nicht ohne Rustem einen dankbaren
Blick zuzuwerfen, dass er ihn vor Sinaidas ermüdendem Sermon gerettet hatte.

Nach und nach zogen sich auch die restlichen Mitglieder der Truppe in
die Ecken der Hütte zurück, um sich in ihre Schlafsäcke zu kuscheln und gleich
darauf ins Reich der Träume zu entgleiten

Nur Igor, Georgie der Anthropologe und Nikolai sassen noch im Halbkreis
um das Feuer und tranken Vodka.

«Kennt jemand eine gute Gruselgeschichte? », fragte alsbald Igor leise,
nachdem er einen weiteren herzhaften Schluck aus der Pulle nahm und sich soeben
seine Pfeife anzünden wollte.

«Nun, da muss ich nicht lange überlegen, » gab Georgie zurück, «denn es
ist zwar keine Geschichte, sondern eine Tatsache. Wisst ihr warum der Cholat
Sjachl auch Berg des Todes genannt wird? »

«Weil das die korrekte, Mansische Übersetzung ist? » erwiderte der
schlaksige Nikolai herablassend.

«Klar, du Schlaumeier. Aber wieso trägt der Berg überhaupt diesen
Namen? Nun, die Mansen leben hier in der Region, sind friedliebend, bleiben
aber gerne unter sich. Sie sind allerdings schon des Öfteren in die
Zivilisation gereist oder hatten Besuch aus der modernen Welt. Forscher und so.
Sie sind also kein isoliertes, abergläubisches Volk, sondern einfach nur gerne
unter Stammesgenossen.

Eines Tages zogen neun Jäger los, um wie immer Essen zu suchen, Tiere
zu schiessen und die Gegend zu erkunden. Sie alle waren erfahrene Männer und
wussten, was sie taten und wie sie sich in dieser Gegend zu verhalten haben.
Nach fünf Tagen waren die Jäger aber noch immer nicht zurück und der Stamm
machte sich Sorgen, schickten sogleich eine weitere Gruppe los, um die
vermissten Jäger zu suchen. Nach einem Tag fanden sie deren Leichen, steif und
gefroren – und in Stücke gerissen. »

Er machte eine theatralische Pause, und liess Igor seine Pfeife
anstecken, bevor er fortfuhr.

«Es gibt hier keine Bären oder Wölfe müsst ihr wissen, höchstens
Schneeluchse und –Hasen, aber nichts, was einen Menschen dermassen zurichten
könnte.  Die Gruppe, die die Leichen
fand, berichtete auch über merkwürdige, leuchtende Kugeln, schwebend in der Ferne.
Kurz darauf haben die Eingeborenen die Flucht ergriffen. »

«Kugeln? Was für Kugeln denn? Heissluftballons? Kugelblitze? » Warf
Igor ein. Er schien fasziniert von der Geschichte zu sein.

«Was weiss ich denn?! Heissluftballons haben die Mansen mit Sicherheit
bereits gesehen und sollten sie nicht so schockieren. Und Kugelblitze gibt es
meiner Meinung nach nicht, Igor! »

«Es wurde nicht bestätigt, aber das heisst ja nicht, dass es sie nicht gibt!
» meinte Georgie mit verdrehten Augen. «Wie dem auch sei, Fakt ist, dass neun
Männer ohne erklärbare Gründe abgeschlachtet wurden. Forscher, die sich zu dem
Zeitpunkt noch im Dorf der Mansen befanden, untersuchten die Fundstelle aufs Genaueste,
konnten aber keine Spuren ausmachen. Einzig konnten sie dank eines
Geigenzählers feststellen, dass an den Stellen, wo die Leichen gelegen haben,
hohe radioaktive Strahlungsrückstände waren. Von da an mieden die Mansen dieses
Gebiet und spinnten sich ihre eigenen Theorien zusammen. Die meisten glauben
wohl, dass sie von einer Art Bergmonster, vielleicht vergleichbar mit unserem
Menk, auch bekannt als Yeti, gerissen wurden. Aber wieso dann die
Strahlungsrückstände? Und was waren das für Kugeln? »

Stille herrschte, durchbrochen durch die Schlafgeräusche der Begleiter,
die selig vor sich hindösten.

Nikolai war indes ebenfalls eingeschlafen und sein Kopf war sachte an
der Wand angelehnt. Ein Speichelfaden hing ihm aus dem bärtigem Mund und sein
Vodkaglas hing ihm noch locker in den Händen. Igor zog die Decke, die er um
sich hatte, enger und empfand ein Schauer, der nichts mit der Kälte zu tun
hatte. Er versank in Gedanken und grübelte noch lange über die Geschichte. Nach
einiger Zeit durchbrach er die Stille und fragte Georgie: «Falls die Geschichte
wahr ist, könnte nicht das Militär dah-« er verstummte schlagartig, da er ein
Rascheln wahrnahm, das von ausserhalb der Hütte kam. Er suchte den Blick von
Georgie, bemerkte aber sogleich, dass dieser ebenfalls bereits eingeschlafen
war. Igor rappelte sich auf und musterte seine Truppe. Sie waren alle
vollzählig, niemand von ihnen war draussen.

Obwohl es jeder Faser seines Körpers widerstrebte, ging Igor zur Tür
und öffnete sie. Er hatte ganz vergessen, wie kalt es draussen war. Der frostige
Luftzug schlug ihm ins Gesicht. Jemand hinter ihm stöhnte ob des eisigen Windes.
Igor streckte seinen Kopf aus der Tür und schaute sich um. Keiner da. Gerade
wollte er die Tür wieder schliessen, da fielen ihm die Spuren auf, die sie bei
ihrer Ankunft hinterlassen hatten. Auf den ersten Blick schienen diese auch
nicht bemerkenswert zu sein, bis er die zusätzliche Spur, circa 5 Meter
parallel zu ihren sah. Es waren tiefe Spuren, und nicht von einem menschlichen
Fuss. Was immer diese Spur hinterlassen hat, musste schwer und ihren Spuren
gefolgt sein. Igor dachte zuerst an einen Bären oder ein anderes Raubtier, doch
was hatte Georgie gesagt? Es gibt hier keine Raubtiere, zumindest nicht solche
die eine derartige Spur hinterlassen konnte.

Igor wurde flau im Magen und er schloss die Tür wieder hektisch. Kam
das Rascheln von dem Tier, welches Ihnen gefolgt war? Oder bildete er sich das
alles nur ein und die Spur war vor ihrer Ankunft bereits da? Wenn dem so ist,
stellt sich noch immer die Frage, woher diese kamen.

Lange lag Igor noch in seinem Schlafsack mit offenen Augen und dachte
über die Geschichte von Georgie nach und über die Spuren draussen, doch er kam
zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Widerwillig fielen auch Igor alsbald die
Augen zu.

Er schlief unruhig, hatte Albträume. Ominöse, weisse Gestalten von
verschwommenen Tiermenschen, blutig und zähnelechzend bedrohten sie ihn. Igor
rannte im Schnee, kam aber nicht vorwärts. Er sah seine Gruppenmitglieder tot
und nackt vor sich liegen. Sah wie er von merkwürdigen, elektrischen Kugel
verbrannt wurde. Erschrocken wachte er auf und bemerkte, dass es noch dunkel
war und dass er alles nur geträumt hatte. Zitternd liess er sich wieder in seine
Decke fallen und entglitt rasch wieder in einen diesmal traumlosen, Schlaf.

Am nächsten Morgen wurde er von Sinaida geweckt. «Igor. Steh auf, wir
müssen langsam los. Der Zeitplan …».

Schlaftrunken richtete sich Igor auf. Er hatte ausgesprochen schlecht geschlafen.
Herzhaft gähnend stand er auf und packte eilig sein Zeugs zusammen. Zehn
Minuten später war er aufbruchbereit.

Er musterte die Truppe und zählte durch. Sie waren komplett. An Juri
Judin blieb sein Blick hangen, der noch schlechter aussah als gestern. Zitternd
stand er vor Igor und wischte sich den Schweiss aus dem Gesicht. Er hatte
dunkle Augenringe.

«Juri, du siehst scheisse aus, blyat! Ich glaube, so können wir dich
nicht mitnehmen. Die Route wird von nun an nur noch schwerer und wir haben viele
Höhenmeter vor uns. Ich denke, am besten bleibst du hier in der Hütte und
versuchst dich auszuruhen, bis wir dich wieder abholen kommen. Wasser und
Pillen solltest du ja genug haben, oder? »

«Ihr wollt- Ich soll hierbleiben??» Juri war ebenso erpicht auf die
Tour wie jeder andere und wollte partout nicht darauf verzichten. «Ich kann
gehen, macht euch keine Sorgen! »

«Nein Juri! Das ist eine verflucht schwierige Strecke! Krank und
geschwächt hältst du uns nur auf und begibst dich in Gefahr. Das ist die letzte
Möglichkeit auf einen zumutbaren Unterschlupf und den wirst du verflucht
nochmal wahrnehmen! »

Juris Augen füllten sich mit Tränen vor Zorn und Enttäuschung und er
starrte böse auf den Boden. «Ich habe so lange darauf gewartet. Ich MUSS mitgehen!
»

«Das war kein Diskussionsanstoss. Es tut mir Leid Juri, wirklich, aber
wir können dich nicht mitnehmen. Ruh dich aus und wir bringen dir dafür ein
paar Yeti-Ohren mit. »

Sein Scherz schien nicht zu wirken, denn wütend stampfte Juri auf,
wirbelte herum und verzog sich zurück in die Hütte. Von nun an waren sie also
nur noch zu neunt.

Igor wandte sich wieder der Truppe zu. Einige nickten ihm zu und
bestärkten ihn in seiner Entscheidung, andere hingegen schienen ob des harschen
Tones doch ein wenig irritiert und verärgert, doch es störte Igor wenig.

«Seid ihr alle bereit? Wir haben einen langen Tag vor uns. » Und noch
bevor eine Antwort aus der Truppe kam, drehte er sich um und stapfte los.

Sie hatten heute bedeutend besseres Wetter als gestern, und schon bald
begannen sie zu schwitzen in ihrer dicken Winterbekleidung, doch wollten sie
den Sonnenschein und die gute Sicht ausnutzen und möglichst viele Kilometer
schaffen. Erst nach ungefähr fünf Stunden Marsch wurde Igor, der bisher an der
Spitze der Gruppe lief, langsamer. «Lasst uns hier eine Rast machen. Die Stelle
ist flach und der Schnee nicht zu locker. Essen und trinken wir etwas, bevor es
weitergeht. Ich möchte gerne noch heute den ersten Pass bewältigen. »

Mürrisches Zustimmen erklang aus der Gruppe, die schnaufend Ihre
Rucksäcke abzogen und es sich auf dem Boden gemütlich machten. Die Stimmung war
eher angespannt seit dem kurzfristigen Ausscheiden eines der Gruppenmitglieder.

Nur Sinaida schien noch immer ganz die Alte zu sein, denn sobald sie
wieder einigermassen zu Atem kam, begann sie wieder über ihr übliches Thema zu
plappern. «…Ich sag euch, diese neue Wellenübertragungstechnik ist
überwältigend. Der kalte Krieg mag zwar allgemein für Unsicherheit und Panik
sorgen, jedoch bringt der Rüstungswettbewerb viele neue Technologien, die unser
Leben auf immer verändern könnten. Nehmen wir nur mal die neuartige Nuklear-Technik
der UDSSR, die momentan noch getestet…»

«Wir brechen wieder auf, macht euch bereit! » Unterbrach Igor. Keiner
war verärgert über diesen Zwischenruf, da dieser Sinaidas Monolog unterbrach.

Alexander, der Seismologe, steckte seinen mobilen Seismographen wieder
ein, auf den er in der letzten halben Stunde wie gebannt geblickt hatte.
«Überaus interessant. So etwas habe ich noch nie gesehen! Im Abendlager muss
ich das unbedingt nochmals überprüfen. » sagte Alexander mehr zu sich selber
als zu jemand anderem.

Niemand bemerkte das leise Knistern des Geigenzählers am Hosenbund von
Rustem.

Viele Kilometer brachten sie an diesem Tag noch hinter sich, denn das
gute Wetter und die angenehmen Verhältnisse waren zuträglich für Ihre Route.
Sie waren sogar ihrem Zeitplan voraus, was Igor fröhlich stimmte. Er mochte
Effizienz.

Mittlerweile hatten Sie eine beachtliche Höhendifferenz zurückgelegt
und sie bemerkten immer mehr, dass die Luft dünner wurde und Ihre Kondition
nachliess. Dies äusserte sich in lautem Schnaufen der Mitglieder, die langsam
aber sicher erschöpft ob des langen Tages wurden. Auch Igor entging das nicht und
er entschied, dass sie heute genug geschafft hatten. Schliesslich hatten Sie
den namenlosen, ersten Pass, und somit auch das erste Etappenziel, bereits
hinter sich gebracht.

In einigen hundert Metern Entfernung erblickte er sogleich einen
steilen Hang, an dessen Fuss sie Ihre Zelte im Wind- und Wetterschatten
aufstellen konnten. Sogar eine kleine Einbuchtung in den Felsen gab es, fast
wie eine Höhle. Ein idealer Platz für ihr Nachtlager also. «Dort! Lasst uns für
heute Schluss machen und unser Lager dort drüber aufschlagen. », rief er und
zeigte mit dem Finger auf besagte Stelle.

«Ausgezeichnet, ich kann gar nicht mehr richtig atmen. Die Luft ist
echt dünn hier oben. » meinte Georgie, nicht ohne ein demonstartives Husten
loszuwerden.

Sie brachten die letzten Meter hinter sich. Mittlerweile war der Schnee
von der wärmenden Sonne weich und schwer geworden und das Vorwärtskommen wurde
selbst mit Skiern zu einer Tortur.

So machten sie sich alle daran, ihre Zelte aufzustellen. Igors Zelt war
direkt an der Felswand angelehnt, und wurde von den anderen Zelten im Halbkreis
umgeben.

Rustem hatte kein grosses Talent fürs Zelte aufbauen und kämpfte gerade
mit seinem Zwei-Personen-Zelt, während Sinaida ihm wie immer ein Ohr abkaute,
während sie gut gelaunt auf einem Stein sass und brabbelnd aus ihrer
Thermoskanne trank. Rustem sah verärgert aus, doch war er der Einzige, der die
furchtbar drögen Monologe der durchaus hübschen Sinaida ertragen konnte, ohne
sich über eine Klippe zu werfen. Doch auch er war mittlerweile rot im Gesicht
aufgrund der Anstrengung des Zeltaufbaus, als auch des Palaverns von seiner
Freundin. Igor grinste in sich hinein ob der typischen Situation für die
beiden. Gerade machte er es sich auf seiner Isomatte im Zelt gemütlich, während
er durch den offenen Zelteingang seine Truppe beobachtete, als ihm etwas
auffiel.

«Wo ist Ljudmila und Juri??» fragte er, noch während er aufsprang und
sein Zelt verlies. Schweiss perlte auf seiner Stirn.

«Juri? », wunderte sich Georgie, «den hast du doch im Lager gelassen? »

«Nicht Juri Judin, du Depp, sondern Juri Doroschenko! Ich kann mich
nicht erinnern, ihn seit dem Mittag gesehen zu haben. Da habe ich auch das
letzte Mal nachgezählt! »

«Sucht ihr mich? » erklang sogleich die weibliche Stimme von Ljudmila.
«Sorry, ich war kurz für kleine Forscherinnen. »

Ein Stein fiel Igor vom Herzen. Ljudmila, die er immer sehr mochte, war
wohlauf. Wo aber war Juri?

«Ljudmila, », begann Igor, «hast du Juri gesehen?»

«Juri? Den hast du doch im La-»

«Nicht Juri Judin, verdammt! Ich weiss, dass ich ihn im Lager gelassen
habe. Den anderen Juri, der Stille! »

«Ach, Doroschenko. Ich glaube, ich habe das letzte Mal mit ihm nach der
Mittagspause gesprochen. Ist er nicht hier??»

«Nein, wir müssen ihn suchen, sofort! Suchen wir zuerst die Umgebung
ab, vielleicht musste auch er sich nur erleichtern, oder aber er fehlt schon
länger. Verdammt, warum ist uns das nicht früher aufgefallen?! »

Gerade wollten Sie Ihre Ausrüstung anlegen, um ihre Spuren zurückzuverfolgen,
und um Doroschenko zu suchen, als sie eine Silhouette am Horizont ausmachten.
Igor kniff die Augen zusammen und beobachtete die Gestalt. «Da ist Doroschenko!
Er muss es sein! » rief er. Er und Georgie stolperten sogleich der Gestalt
entgegen. Mehr schlecht als recht kämpften sie sich vorwärts durch den weichen
Schnee, stolperten und riefen Juris Namen. Als sie näherkamen, erkannten sie
tatsächlich Juri, der apathisch und die Hände um sich geschlungen auf sie zu
torkelte.

«Juri, Juri! Mensch, was machst du für Sachen?! Wir dachten, wir hätten
dich verloren! Ich habe doch gesagt keine Alleingänge! », Igor war zornig, doch
auch sichtlich erleichtert, dass sie Juri wiederhatten. «Wo warst du denn? Und-
Und wo ist deine Ausrüstung? Du hast ja gar keine Jacke an! »

Ich… weiss nicht. » stotterte Juri. Sein Blick war leer und seine
Lippen rissig. Er trug nur sein Thermoshirt und schien stark unterkühlt zu
sein. «Ich… Ich bin in eine Spalte gefallen, glaube ich. Ich k- kann mich nicht
erinnern. D- Dieses Gefühl… in meiner Brust. Es ju- juckt mich überall am Körper!»,
stotterte er. Er griff sich an den Kopf als hätte er starke Schmerzen und
krümmte sich. Sabber lief aus seinem rissigen Mund. Georgie stiess Igor mit der
Schulter an: «Mit ihm stimmt doch was nicht, Blyat. Seine Nase blutet stark.».
Igor bemerkte es nun auch und ging noch einen Schritt auf Juri zu. «Juri, wir
müssen dich in die Wärme bringen, und zwar so schnell wie möglich. Sonst
kriegst du noch eine Frostbeule oder schlimmeres! Komm mit. » Er wollte Juri an
der Schulter packen, der sofort panisch zurückwich.

«K- K- Könnt ihr es denn nicht fühlen? Es z-zerreisst mir die Brust.
Und mir ist so heiss. I-Ich koche fast über.» nach diesen Worten griff sich
Juri an den Kragen seines Shirts und zog sich dieses mit einer hektischen Bewegung
ebenfalls vom Körper.

«Juri! Mach kein Scheiss. Du bist unterkühlt und dein Gehirn spielt dir
einen-», Igor unterbrach sich, denn er bemerkte das grosse Büschel Haar, dass
Juri während seines Ausziehens vom Kopf gefallen war. Sein Blick wanderte an
Juri runter und er sah tiefe Kratzspuren auf seiner Brust. Sie waren bereits
verkrustet durch die Kälte, aber definitiv frisch.

«Juri! Was zur Hölle ist passiert mit dir? » stiess Georgie hervor.

«Nein, Nein! Nein! Weiss nicht mehr. Schrecklich. Menk! ». Juri begann
zu keuchen und stiess das letzte Wort mit einer rauen Stimme hervor, die nicht
wirklich zu ihm passte. Und dann brach Juri auf dem tiefen Schnee zusammen und
blieb regungslos liegen.

Igor und Georgie starrten ihn einen Moment mit aufgerissenen Mündern
an.

«Was zum-?! Wir müssen ihn zum Lager bringen. Rasch! ». Das liess sich Georgie
nicht zweimal sagen, packte Juri an der Schulter und hievte ihn hoch. Igor nahm
seine Beine und zusammen kämpften sie sich hektisch zurück zum Lagerplatz der
Gruppe. Mehrmals stolperten sie ob des schwierigen Terrains, kamen aber nach dutzenden
Minuten beim Zeltplatz an. Die gesamte Gruppe erwartete sie bereits und hielten
sich erschreckt die Hände vor die Münder, als sie Juri erblickten.

«Wir müssen ihn ins Warme bringen. Schnell. Helft uns. Wir legen ihn in
mein Zelt. Bringt Decken und Jacken. Ich glaube er hat einen Kälteschock!

Ljudmila eilte herbei und hielt kurz inne: «Igor. Was sind das für
Wunden auf seiner Brust? »

«Weiss nicht. », antwortet dieser, «Er sagte, er sei in eine Spalte
gefallen. Vielleicht hat er sich bei Sturz an scharfem Eis geschnitten? »

«Das glaubst du doch wohl selbst nicht! » Gab Ljudmila zurück.

«Egal jetzt, bringen wir ihn ins Zelt! Wir können ihn auch noch später fragen.
»

Sie trugen ihn in Igors Zelt und legten ihn sachte auf die Isomatte.
Igor bemerkte, dass Juri noch weitere Haare verloren hatte. War er krank? Hat
er sich vergiftet? Sind das Folgen der Erfrierungen?

Er raufte sich die Haare und konnte sich keinen Reim darauf machen. Klar
denken fiel Igor momentan schwer in Anbetracht der Situation.

«Er ist eiskalt, aber seine Vitalwerte scheinen in Ordnung zu sein.
Zumindest seine Atmung verläuft regelmässig. Puls konstant. » flüsterte
Ljudmila, während sie das Handgelenk auf den Puls prüfte und die sich hebende
und senkende Brust betrachtete.

Sie packten ihn ordentlich in Decken ein und zogen ihm Mütze und
Handschuhe an. Sie wollten ihn schnellstmöglich aufwärmen. Juri brabbelte in seinem
Schlaf und verzog immer wieder die Mine, als hätte er einen schlimmen Albtraum.
Auch schien er noch immer zu frieren

Von seiner kurzen Zeit beim Militär hatte Igor einen Trick gegen Frost
gelernt. Er packte eine leere Thermosflasche aus seinem Rucksack und öffnete
seine Hosen. Er öffnete die Flasche und nach einigem Zögern pinkelte er in die
Flasche. Ljudmila schaute ihn angewidert und auch fragend an. Doch bemerkte
Igor auch ihren suchenden Blick auf sein bestes Stück.

«Das wird ihm als Bettflasche dienen und ihn aufwärmen. Und zu meiner
Verteidigung: es ist kalt hier! », sagte Juri mit einem Augenzwinkern. Ljudmila
errötete und wand sich ab. «Schlau! » hauchte sie.

Sie schoben die Flasche unter Juris Decken und verliessen vorerst das
Zelt, um es zu schliessen, sodass keine Kälte hereinkam.

Draussen war es mittlerweile dunkel geworden und die Gruppe sass gerade
rund um das Feuer eines Bunsenbrenners um sich die Hände aufzuwärmen, und Tee zu
erhitzen, als sie fragend Igor betrachteten.

«Wie geht es ihm? », fragte Semjon, der gerade einen Zug aus seiner
Pulle genommen hatte.

«Was zum Teufel ist da draussen passiert??», rief Alexander, der ein
Stück ausserhalb der Gruppe sass.

«Ich-», Igor suchte nach Worten, «Ich weiss es nicht. Wir haben ihn in einem
völlig apathischen Zustand vorgefunden. Er hatte etwas vor sich hingebrabbelt,
aber kaum verständlich. Er hatte tiefe Kratzer auf seiner Brust, seine Nase
blutete und Haare fielen ihm aus, als hätte er eine Intoxikation. Er schrie
mehrmals das Wort Menk und ist dann ohnmächtig geworden. »

Die Gruppenmitglieder sahen sich verstört an. Sie alle hatten
Geschichten vom Menk, auch bekannt als Yeti gehört, aber als Wissenschaftler
konnten sie das nicht ernst nehmen. Igor musste an die Geschichte denken, die
Georgie gestern Abend in der Blockhütte erzählt hatte und musste schwer
schlucken. Dem Gesicht von Georgie entsprechend ging es ihm nicht anders. Igor
fühlte sich unwohl, ihm war schlecht und er konnte sich keinen Reim auf die
Gesamtsituation machen. Was war da draussen mit Juri passiert?

Er verdrängte seine Unsicherheit und trat vor die Gruppe: «Leute! Es
war ein verdammt langer Tag. Wir sollten uns alle ein wenig ausruhen und uns
morgen Gedanken machen, was mit Juri passiert ist. Vielleicht kann er uns
morgen mehr dazu sagen. Er ist nicht mehr in Lebensgefahr und braucht jetzt nur
Ruhe und Wärme. Lasst uns zu Bett gehen. »

Die Anderen schienen verunsichert, doch niemand erhob Einsprache.

Nach und nach zogen sich alle in Ihre zelte zurück. Sogar Sinaida
brachte kein Wort mehr heraus und taumelte mit Rustem in ihr gemeinsames Zelt. Sie
war bleich und zittrig

«Igor, wirst du bei Juri im Zelt schlafen? Wir können ihn nicht
unbewacht lassen, solange es ihm nicht bessergeht.

«Einverstanden. », brummelte Igor, der in Gedanken versunken war.

Stille legte sich über das Lager und die Kälte der Nacht brach herein.

Igor hatte sich sein Nachtlager im Zelt neben dem noch immer
bewusstlosen Juri gemacht und legte sich hin. Seine Gedanken rasten. Er machte
sich grosse Sorgen um Doroschenko und auch um sich selbst. Es war seine erste
Expedition in diesem Ausmass, in der er die Führung innehatte. Und er wollte,
dass alles perfekt läuft. Nun aber hatten sie bereits ein Gruppenmitglied
zurücklassen müssen, und ein Zweites war schwer verletzt und litt an
Frostbeulen und unbekannten Kratzspuren. Unweigerlich musste er an die Spuren
im Schnee denken, die er gestern Nacht entdeckt hatte, und fragte sich, ob es
nicht doch Raubtiere in der Gegend geben könnte. Was sonst könnte Juri so
zugerichtet haben? Er dachte auch an die Mansen, doch die waren friedliebend
und keine Barbaren. Es machte alles keinen Sinn.

Ein statisches Knacken weckte Igor, der noch immer im dunklen Zelt
neben dem seitlich liegendem Juri lag. Schlaftrunken setzte sich Igor auf und
sah sich nach der Quelle des Rauschens um. Sein Blick fiel auf den
Geigenzähler, der aus seinem Rucksack herauslugte. Er zeigte erhöhte
Strahlungswerte an.

«Was zum-?!» Igor betrachtete die Werte auf dem dunklen Display. Sie
lag bei ungefähr 600 Millisievert. Eindeutig zu hoch. Insbesondere in
unbewohntem Gebiet. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und überprüfte die
Messwerte erneut. Sie war angestiegen. Das Ding musste defekt sein.

Ein tiefes Stöhnen lenkte ihn ab. Juri.

Igor blickte ihn an, auch wenn er in der Dunkelheit nur seine
Silhouette ausmachen konnte.

«Juri? Kannst du mich hören? Bist du wach? », flüsterte Igor. Ein
bestialisches Knurren erklang aus Juris Richtung. Igor wich entsetzt zurück.

Zur selben Zeit lag Rustem noch immer wach in seinem Schlafsack neben
Sinaida. Er konnte nicht schlafen. Der Vorfall mit Juri gab ihm schwer zu
denken und er fand keine Ruhe. Er wälzte sich hin und her, bis er schliesslich
zu Sinaida blickte, die scheinbar friedlich vor sich hinschlummerte.

Er streckte seine Hand aus und schob sie in ihren Schlafsack. Er wollte
ihre Nähe spüren, um sich zu beruhigen. «Sinaida? Ich kann nicht schlafen, die
Sache mit Juri… Sinaida? » seine Hand glitt weiter runter in Richtung ihrer
sich hebend und senkenden Brust. Ein Grinsen stahl sich über sein Gesicht.

Sinaida schien langsam zu erwachen, denn sie griff nach seiner Hand und
zog sie weiter an ihrem Körper herunter.

«Sinaida, du kannst Gedanken lesen. Wärmen wir dieses scheisskalte Zelt
ein wenig auf! », sagte Rustem lüstern.

Seine Hand glitt unter ihre Thermowäsche und berührte ihre nackte Haut.
Doch- Moment. Das fühlte sich falsch an, etwas stimmte nicht.

Er zog seine Hand ruckartig zurück, und hielt etwas in seiner Hand,
dass sich aus Sinaidas Schlafsack gelöst hatte. Er hielt sich das lederne,
glitschige Ding direkt vor die Augen und würgte.

Er hatte ein blutiges Stück Haut in der Hand, dass sich von Sinaida gelöst
hatte.

«Ach du Scheisse! Sinaida, Sinaida! Was ist das? »

Er sah auf und bemerkte, dass sich Sinaida still aufgerichtet hatte und
ihr Gesicht nun direkt vor seinem war. Ihre Augen waren starr und weit
aufgerissen. Alle Ihre Zähne waren zu sehen, die merkwürdig spitz schienen.
Rasselnder Atem drang aus ihrer Kehle. Rustem begann zu hyperventilieren. «Sinaida.
Was ist los mit dir??»

Sinaida schnellte nach vorne und vergrub ihre Zähne tief in Rustems
Gesicht. Dieser schrie vor Schreck und Schmerz auf, merkwürdig dumpf, denn sein
Mund war komplett bedeckt von Sinaidas Biss. Sie zog den Kopf zurück und riss
ihm seine Lippen und Nasenspitze mit ab. Blutig und röchelnd zuckte Rustem
zurück, Ungläubigkeit in seinen tränenden Augen. Er sah noch wie weisse Stoppeln
aus ihrem Gesicht hervorsprossen, als sie ein zweites Mal, blitzschnell wie
eine Schlange, nach vorne schnellte und diesmal in seine Kehle biss.

Schwalle von Blut spritzen stossweise aus seinem nun klaffenden Loch,
wo einst sein Adamsapfel war und er sackte leblos in sich zusammen.  Sinaida, oder das, was sie nun geworden ist,
brüllte auf und vergrub ihre Zähne weiter in Rustems Fleisch.

Igor packte sein Messer und hielt sich die Stelle an seinem Unterarm,
wo Juri ihn gebissen hatte. Das Stück Fleisch aus seinem Arm war noch immer in
Juris Mund und während dieser knurrend darauf rumkaute, kroch er weiter auf
Igor zu.

«Juri! Blyat was ist los mit dir. Du Wixer hast mich gebissen! »

Igor wich weiter zurück, das Messer schützend vor sich haltend. Juri
schien keine Notiz davon zu nehmen, denn gerade wollte er sich auf Igor
stürzen, als von ausserhalb des Zeltes das Gebrüll von Sinaida erklang. Juri
heulte auf und erwiderte den Schrei.

Igor nutze die Chance und wirbelte herum. Er stach das Messer in die
Zeltplane und schlitzte es vertikal auf. Hektisch schlüpfte Igor durch den
Schlitz in die kalte Nacht.

Vor ihm tat sich ein Albtraum auf.

Mehrere Zelte waren in sich zusammengefallen, einige vollgespritzt mit
Blut, andere wie seins aufgeschlitzt, und leer. Er hörte Schreie in der Ferne.
Ljudmila!

Doch bevor er sich weiter umschauen konnte, griff eine Hand nach seinem
Knöchel und hielt ihn mit unmenschlicher Kraft fest. Juri hatte sich aus dem Zelt
gekämpft und lag geifernd hinter ihm und griff nach seinem zweiten Knöchel.
Bereit, auch seinem Bein einige Stücke Fleisch herauszubeissen.

Igor schrie auf und stach mit seinem Messer in die mittlerwile
fellüberzogene Hand, die noch immer an seinem Knöchel war.

Doch Juri reagierte nicht einmal auf das Messer, dass nun in seiner
Hand steckte, sondern zog seinen geifernden Mund nur weiter Richtung Bein. Igor
stach weiter auf seine Hand ein. Weiter und weiter. Er hörte es knacken und ein
gleissender Schmerz durchzog sein Bein. Sein Unterschenkelknochen war gebrochen.
Doch das Adrenalin in Igors Adern liessen ihn weiter zustechen. Weiter und
immer weiter, bis Igor nur noch auf den blutdurchtränkten Schnee einstach, die
abgetrennte Hand Juris zuckend neben seinem Bein liegend.

Igor heulte furchterfüllt auf und wich rückwärts zurück. Und er rannte
los.

Die Zelte, die in sich zusammengefallen waren, lagen wie Planen auf dem
blutdurchtränkten Schnee, unter ihnen zeichneten sich die Körper von seinen reglosen
Kollegen ab. Er stolperte weiter, nur bekleidet in seiner Unterwäsche. Von der
Kälte spürte er nichts, und auch noch nicht besonders viel von seinem Knochenbruch,
doch beides würde ihm über kurz oder lang zum Verhängnis werden.

Doch es kümmerte ihn nicht. Adrenalin durchfloss seine Adern und
liessen ihn weiterlaufen.

Er hörte hinkende Schritte und Gekeuche hinter sich. Über seine
Schulter schauend erkannte Igor, wie Sinaida, oder ein Wesen, welches wohl einmal
Sinaida war, über den noch zuckenden Körper von Alexander gebeugt war und
grosse Stücke Fleisch aus ihm herausbiss. Ihr Körper war behaart und weiss, Ihr
Kopf länger als normal, doch die Geräusche, die sie von sich gab, waren
übelkeitserregend und konnten einfach nicht von einem Menschen stammen.

Ihr Blick schnellte hoch und sie erblickte mit wütendem Blick, wie Igor
davonstolperte. Sofort nahm sie die Verfolgung auf.

Igor beschleunigte, soweit sein Bein es zuliess und ging auf den Abhang
zu, an dessen Ende ein kleiner, gefrorener Tümpel neben einer Gruppe Fichten lag.
Halb stürzend, halb rennend ging es den Hang hinab. Da die Kuppe ihn vor den Blicken
seiner Verfolgerin kurzzeitig verdeckte, stürzte sich Igor in den Schnee und
schaufelte möglichst viel davon über seinen fast nackten Körper. Ein
verzweifelter Versuch, sich zu verstecken.

Er hatte gut sichtbare Spuren hinterlassen und wenn das Wesen in der
Lage war, diese zu lesen, würde sie ihn garantiert finden. Vor Angst und Kälte
zitternd hielt Igor den Atem an. Nur noch seine Augen waren sichtbar und lugten
aus dem Schnee heraus.

Einen kurzen Moment später hörte er das gurgelnde Keuchen Sinaidas, wie
sie an ihm vorbeischlurfte. Hektisch zuckte ihr Kopf hin und her, auf der Suche nach
ihrer Beute. Sie brüllte auf und hechtete Richtung Fichten.

Igor konnte sein Glück nicht fassen. Als sie sogleich aus seinem
Sichtfeld verschwand, wand er sich wieder aus dem Schnee und richtete sich auf.

Sein Blick fiel auf das Tümpelufer. Ein Körper lag da, regungslos und
stocksteif gefroren. Nikolai.

Er musste schon früher in der Nacht vor etwas geflohen sein. Igor ging
in die Knie. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Was zur
vermaledeiten Hölle passierte hier? In was für Wesen verwandelten sich seine
Freunde und Kollegen und rissen sich gegenseitig in Stücke? Und Wieso?? Träumte
er noch? Er erbrach sich in den Schnee, doch nur ein Schwall Blut verliess
seinen Mund. Igor zitterte und es wurde trüb vor seinen Augen.

Der Geruch von nassem Hund stieg in seine Nase und er wirbelte herum.
Igor nässte sich ein, als er sah, was nun direkt hinter ihm stand.

Ein Wesen stand einen Meter hinter ihm. Breit und hochgewachsen sah es
aus wie ein Mensch, nur mit einem dichten Fell überzogen, merkwürdig grossem
Kopf und keine erkennbaren Gesichtszüge, nur das pelzige Gesicht eines
Raubtieres in Menschengestalt. Es hatte Ähnlichkeit mit dem, in dass sich Juri
und Sinaida verwandelten, nur mächtiger, kraftvoller, gnadenloser. Igor sah
noch, wie das Wesen seine Pranke erhob. Gleich einem Eisbären in
Angriffsposition richtete es sich vor ihm auf. Eine kleine Plakette war an der
Brust des Wesens befestigt. Igor kannte diese Plaketten. Es waren Namensschilder
des sowjetischen Militärs.

Dann schlug das Wesen zu. Die Klauen glitten durch Igors Bauch und
rissen diesen auf. Igor keuchte. Seine Gedärme fielen vor ihm auf den Boden,
die er noch verzweifelt festhielt. Ein überraschter Laut entfleuchte noch
seinen blutigen Lippen, dann fiel er in sich zusammen und blieb regungslos
liegen. Kurz darauf war er tot.

Das Wesen lief zurück Richtung Zeltlager. Zottelig und blutüberströmt lechzte es seine Zähne und ging auf die Felswand hinter dem Lager zu. Das
Steintor, das sich optisch perfekt in die Steinwand einfügte, öffnete sich, als
das Wesen mit seiner mächtigen Tatze dagegen stiess. An der Tür war eine kleine
Gravur zu sehen: «Ural: Eksperimental’naya ustanovka, izluchat’ otdel – Ural:
experimentelle Einrichtung, Strahlenabteilung»

Nichts wird je wieder die Experimente des Wesens behindern.

Ein Schneesturm zog auf und verwehte die Spuren des nächtlichen
Grauens. Kein Expeditionsmitglied hatte diese Nacht überlebt, und erst Wochen
später wurden ihre kalten und zerfetzten Leichen unter der Schneedecke
gefunden. Die Strahlungsrückstände, sowie das unerklärliche Ableben der
Gesellschaft war ein Mysterium, welches nicht beantwortet werden konnte.

Der Pass, an dem das Expeditionsteam ihr Lager aufstellte und auch ihr
Ende fand, wurde nach dem Gruppenanführer benannt. Der Djatlow-Pass.

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