Mein letztes Halloween
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Als ich noch ein Kind war, lebte ich in einer Stadt, die eine Garnison der amerikanischen Streitkräfte beheimatete. Die Amerikaner fügten sich nahtlos in das Kleinstadtleben ein und gehörten unlängst zum Stadtbild. Die großen, spritfressenden Pickups mit den kleinen, amerikanischen Nummernschildern waren längst kein ungewohnter Anblick mehr und auch die Einzelhändler in der Stadt übten sich in der englischen Sprache, was hier und dort mal besser, mal schlechter gelang. Die Kommunikation mittels Händen und Füßen funktionierte erstaunlicherweise aber zumeist recht gut. Einige Offiziere wohnten sogar mit ihren Familien außerhalb der Kasernen, es gab auch Ehen zwischen Mitgliedern der US-Army und deutschen Bürgern und sogar gemeinsame Kinder entstanden. Manche waren sogar meine Mitschüler. Dies war wohl auch der Grund, wieso hier in der Gegend mit Halloween ein amerikanisches Fest Einzug gehalten hatte und deutlich umfangreicher als in anderen Teilen Deutschlands gefeiert wurde. Für uns Kinder war dies auch immer die Gelegenheit in schaurigen Verkleidungen durch die Nachbarschaft zu ziehen und Süßigkeiten zu sammeln. Der besondere Reiz bestand darin bei amerikanischen Haushalten an den Türen zu klingeln um exotische Süßigkeiten, die man bei uns nicht kaufen konnte, zu erhalten. Die ersten Jahre gingen wir in Begleitung unserer Eltern und auch nur zu Bekannten, als wir dann schon etwas älter waren, zogen wir alleine los.
In einem Jahr, ich und meine beiden Freunde Felix und Sebastian waren inzwischen vielleicht auch schon ein bisschen zu alt dafür, zogen wir wieder wie gewohnt in Verkleidungen durch die dunklen Straßen. Felix trug ein Vampirkostüm. Ein blass geschminktes Gesicht mit schwarz umrandeten Augen, ein Mantel mit hochgestelltem Kragen, ein verräterischer Blutfleck unter dem Mund sowie ein Plastikgebiss mit spitzen Zähnen, welches er auf seine Zähne gesteckt hatte, verwandelten ihn sichtbar in das bekannte Fabelwesen aus Filmen und Literatur. Sebastian hatte weniger Aufwand betrieben und sich von seiner Schwester großzügig mit Klopapier einwickeln lassen. Sein Anblick sorgte eher für Lacher als dass ihn jemand für eine angsteinflößende Mumie gehalten hätte. Ich hatte mir nicht extra ein Kostüm gekauft und hatte Kleidungsstücke kombiniert, die ohnehin zuhause vorrätig waren. Aus einem weiten Karohemd meines Vaters, einem alten Strohhut und ein bisschen Stroh, das wir immer für unsere Meerschweinchen im Haus hatten, hatte ich versucht ein Kostüm für eine schaurige Vogelscheuche zusammenzustellen. Noch ein paar passende Details ins Gesicht geschminkt und ich war fertig. Wenig Aufwand für ein tolles Kostüm. Ich war zufrieden.
Ich weiß noch genau wie wir durch die Straßen, der Route folgend, die sich über die Jahre bewährt hatte und uns möglichst effizient die meisten Süßigkeiten einbrachte, zogen und uns köstlich amüsierten. Dunkel war es natürlich schon geworden, der Vollmond stand hoch am Himmel und tauchte unsere Heimatstadt in ein mystisches Licht. Mit voranschreitender Zeit wurde es auch immer kälter und gerade in den äußeren Wohngebieten, die nicht so dicht bebaut waren und auch einige Felder und unbebaute Grundstücke aufboten, zog Nebel auf. Uns drei halbstarke Halloween-Profis freute das allerdings und wir erhofften uns mit unseren Verkleidungen noch gruseliger zu wirken.
Nach einer Weile kamen wir mit großen Tüten voller Süßkram in den Händen an das Haus von Thomas Johnson. Er war ein Offizier bei der Army und wohnte alleine in einem kleinen Haus am Stadtrand. Er war irgendwie verwandt mit unserem Mitschüler Kevin. Sein Onkel glaubte ich zu wissen. Ganz genau wusste ich es aber nicht. Seine Tür war in den letzten Jahren so etwas wie das Highlight unserer Streifzüge geworden, da der gute Johnson für Halloween stets seinen Vorgarten aufwendig dekorierte und auch äußerst spendabel in Sachen amerikanischer Süßigkeiten war. Zu unserer Enttäuschung war der Vorgarten vor seinem Haus diesmal aber absolut nicht geschmückt. Keine Spinnenweben, keine Gespensterpuppen, kein Plastikskelett, noch nicht mal eine Kürbislaterne. In den letzten Jahren war das ganz anders gewesen. Man hatte sogar den Eindruck gehabt Johnson würde sich jedes Jahr selbst übertreffen wollen und hatte immer mehr und mehr aufgefahren. Wieso war hier dieses Mal absolut nichts geschmückt?
„Wohnt der Johnson noch hier? Oder ist er vielleicht inzwischen wieder nach Amerika beordert worden?“ Sebastian hatte diese Unregelmäßigkeit ebenfalls bemerkt und die Fragen als erster in die Runde gestellt.
Ich blickte auf das Namensschild am Briefkasten: Thomas Johnson stand dort in breiten Lettern geschrieben.
„Also laut Briefkasten ist er noch hier zuhause“, antwortete ich und öffnete das Gartentor, durch welches wir drei Gruselgestalten etwas zögerlich nacheinander durchtraten.
Das Grundstück wirkte ungepflegt und verwildert. Der Rasen war hoch gewachsen und durchsetzt mit Unkraut, durch die Fugen der Fliesen, die einen Fußweg zur Haustür bildeten, war ebenfalls Unkraut gewachsen. Als wir den Garten in Richtung Türe durchquerten überkam mich ein ungutes Gefühl. Aber ich wollte nicht vor den anderen beiden als Angsthase dastehen und so riss ich mich zusammen.
„Vielleicht wohnt er ja wirklich nicht mehr hier. Der Garten sieht aus als hätte hier schon ewig niemand mehr was gemacht. Ganz sicher steht das Haus leer.“ Nun fing auch Felix damit an Zweifel zu schüren. Ich war mir sicher, dass auch er sich fürchtete.
„Das mit dem Garten stimmt, aber schaut mal, da hinten brennt Licht in einem Fenster!“ Sebastian schien weniger verängstigt. Er war etwas in das Rasenstück gegangen um seitlich am Haus vorbeisehen zu können und hatte bemerkt, dass im hinteren Teil des Hauses Licht brannte. Hinter dem Fensterglas hing jedoch ein blickdichter Vorhang, welcher uns davon abhielt auszumachen, was im Haus vor sich ging. Für uns war das brennende Licht aber schon Beweis genug, dass Johnson noch hier wohnte und auch zuhause sein musste. Jetzt erreichten wir die Haustüre. Sollten wir klingeln? Noch war es nicht zu spät einfach wieder umzukehren, durch den verwilderten Garten zurück zur Straße zu gehen, das Gartentor zu schließen und Heim zu kehren. Einen taktischen Rückzug hätte ich es genannt. Unsere Beutel waren ohnehin schon gut gefüllt und ich sehnte den angenehmen Teil des Abends herbei, indem man die Bilanz des Halloween-Abends zog und die Süßigkeiten zählte. Wenn man die meisten gesammelt hatte, dann prahlte man vor den anderen und natürlich genoss man auch schon die ersten Schokoriegel, Lollis oder Gummibärchen.
Nun standen hier aber ein Vampir, eine Mumie und eine Vogelscheuche bei eisiger Kälte im Nebel vor Johnsons Tür und die unerschrockene Mumie betätigte die Klingel.
Ding Dong.
Wir warteten eine ganze Weile. Die Stille war unerträglich und ich spürte wie mein Herz raste.
Ding Dong.
Sebastian klingelte erneut. Wieder warteten wir eine Ewigkeit doch es passierte nichts.
Wir sahen uns fragend an.
Ding Dong.
Er klingelte ein drittes Mal. Wir warteten immer noch vergebens auf eine Reaktion von Johnson. Doch nicht mal eine Bewegung hinter der Tür war zu vernehmen.
Ich wendete mich schon von der Tür ab um mit den anderen den Heimweg anzutreten, doch Sebastian forderte mich auf einzuhalten.
„Du willst doch nicht schon gehen, oder?“
„Er macht nicht auf, was bleibt uns da auch anderes übrig als Heim zu gehen?“ Meine Antwort klang etwas schnippischer, als ich es beabsichtigt hatte, aber so schaffte ich es meinen Willen nach der warmen Stube im trauten Heim mit Nachdruck Gehör zu verleihen.
„Der Johnson ist Ammi, der weiß wie die Dinge an Halloween laufen“, sagte Sebastian und holte ein paar Klopapierrollen aus einer der vielen Tüten, die er mit sich herumschleppte. Das waren offensichtlich die übriggebliebenen Rollen, die nicht für seine Verkleidung drauf gegangen waren. „Süßes oder Saures ist nicht nur so ein Spruch, den man aus Brauchtum aufsagt, es ist eine Philosophie. Ein Gesetz, welches nur in dieser einen Nacht im Jahr gilt und zwingend angewendet werden muss!“ Sebastians Stimme klang ernst und entschlossen. Den Teil mit den Streichen, die man spielte sobald man keine Gaben erhalten hatte, war uns natürlich wohlbekannt, doch hatten wir noch nie zuvor ernsthaft irgendeinen Schabernack als Vergeltung verübt. Wir hatten sowas auch noch nie geplant, weshalb es mich sehr wunderte, dass Sebastian etwas vorbereitet hatte. Eifrig verteilte er die Papierrollen an uns andere.
„Sowas haben wir ja noch nie gemacht“, erwiderte Felix als er die Rollen in seinen Händen betrachtete.
„Ja und? Das wird spaßig! Das Beste kommt noch, das ist in meiner Tasche ganz unten.“ Mein Mumien-Freund kramte euphorisch und mit irrem Grinsen im Gesicht in seinem Jute-Beutel und förderte eine Schachtel Eier zu Tage. Schelmisch lachte er während er uns den Eierkarton letztlich präsentierte.
„Meinst du nicht, dass das zu weit geht“, fragte ich und wollte ihn von der Aktion abbringen. Ihn zur Vernunft führen. Süßigkeiten zu erbetteln gab uns ja schließlich einen Mehrwert, aber Streiche zu spielen führten nur dazu, dass andere Menschen Schaden erlitten. Wir würden davon nicht profitieren.
„Das ist amerikanisches Brauchtum! Bei denen ist das ganz normal. Johnson wird das verstehen. Außerdem scheint er ja nicht da zu sein. Bist du etwa ein feiges Huhn?“ Sebastians Argumentation war stark und als er dann noch mit seinen einbandagierten Armen Flügel formte, mit denen er wie ein Huhn schlug und zusätzlich gackernde Laute von sich gab, ließ ich mich dazu verleiten bei dem Streich mitzumachen.
„In Ordnung, aber ich mache nur das mit dem Klopapier! Bitte macht schnell“, sagte ich und lief in Position um die erste Rolle auf das Hausdach zu werfen.
Die anderen beiden kicherten und taten es mir gleich. Es machte ihnen sichtlich Spaß. Wie musste dieser Moment wohl von außen ausgesehen haben? Drei Jugendliche in Halloweenkostümen, die im Mondlicht in einem verwilderten Garten auf und ab rannten um Klopapierrollen auf das Dach eines Hauses zu werfen. Wie gut, dass niemand da war und uns sehen konnte. Wir würden sonst wohl mächtigen Ärger bekommen.
Nach kurzer Zeit, hatte ich alle meine Rollen verworfen und war bereit zum Gehen, doch Sebastian wandte sich nun den Eiern zu und warf die ersten in aller Ruhe gegen die Hausfassade. Unterdessen fiel mir auf, dass sich im Haus etwas bewegte. Schemenhaft sah ich einen Schatten am beleuchteten Fenster vorbeiziehen.
„Da ist wer im Haus“, flüsterte ich meinen Freunden entgegen, „Da hat sich was bewegt hinter dem Fenster!“
„Umso besser, dann kriegt er die Botschaft ja mit“, rief Sebastian mir überschwänglich entgegen, holte weit aus und warf ein Ei gegen das Fenster, hinter dem ich jemanden ausgemacht hatte. War er jetzt total verrückt?!
Hinter dem Vorhang erschien nun eine Hand. Ich konnte deutlich erkennen, wie sie den Griff umklammerte und das Fenster kippte. „Verschwindet sofort ihr frechen Kids“ rief die Gestalt uns mit starkem amerikanischen Akzent entgegen und klang dabei sehr verärgert.
Ich wollte sofort losrennen und animierte Felix und Sebastian dazu das Weite zu suchen. Aber die anderen schienen jetzt erst recht Gefallen daran zu finden. Beide griffen hastig in den Eierkarton um sich mit neuen Wurfgeschossen auszustatten. Ein ums andere Ei landete am Fenster. Ich merkte sofort, dass es das Ziel der beiden war, die Eier so zu werfen, damit sie durch das gekippte Fenster gelangten, sodass sie das Haus innen verdreckten. Die beiden klatschten sich triumphierend ab, als es einen der beiden dann auch gelungen war.
„Verdammt! What a mess„, drang es von innen hinaus in den Garten, „Wer seid ihr?“
Der Vorhang wurde zur Seite gezogen und Thomas Johnson sah mir direkt ins Gesicht. Ob er mich erkannte, fragte ich mich schockiert.
Auch Johnson schaute schockiert und verschwand schnell wieder hinter dem Vorhang. Irgendetwas musste ihn erschreckt haben.
„Mist, ich glaube er hat mich erkannt! Bestimmt ruft er gerade meine Eltern an. Das wird so Ärger geben“, sagte ich zu den anderen.
„Niemand erkennt uns in den Kostümen! Wenn er rauskommt, kriegt er noch ein Ei ins Gesicht“, beruhigte Sebastian mich und zeigte mir stolz ein ganz besonders eklig riechendes Ei aus seinem Karton. Mich beunruhigte, dass die beiden Johnson eher noch weiter provozieren wollten, anstatt jetzt zu türmen.
„Der kommt nicht raus, ich sehe seinen Schatten hinter dem Vorhang“, merkte Felix an und wog uns in Sicherheit. Tatsächlich konnte auch ich Johnson hinter der Gardine ausmachen. Er stand einfach da, aber irgendetwas schien eigenartig an seiner Körperhaltung. Er stand ungelenk und in leicht gebückter Haltung und hielt seine Arme vor das Gesicht.
„No, not again! I must resist this time! I shall not change!“ Johnson murmelte einige Worte auf Englisch, die unter seinem lauten und schnellen Atmen aber kaum auszumachen waren.
Jetzt hörten wir ihn laut schreien, als ob er gerade Höllenqualen durchlitt. Seine grausamen Schreie gingen mir durch Mark und Bein!
Ich wollte wegrennen, wie ich es schon die ganze Zeit tun wollte. In irgendeine Richtung, bloß weg von hier! Aber meine Beine versagten mir den Dienst und ließen mich wie angewurzelt verweilen. Ich blickte rüber zu meinen Freunden, die genauso entsetzt wie ich betrachteten, was da im Haus vor sich ging.
„Was passiert mit ihm? Sollen wir einen Krankenwagen rufen?“ Auch Felix konnte seine Beobachtungen nicht einordnen, weshalb er sich an uns wandte.
Plötzlich hörten wir wie Knochen begannen zu knacken und zu brechen. Johnson schrie wie am Spieß!
Wir blickten wieder in Richtung des Fensters und sahen wie sich Johnsons Silhouette zu verändern schien. Sein Skelett formte sich neu, Muskelpartien schienen sich verändert zu ordnen und Strukturen legten sich an, die es zuvor noch gar nicht gegeben hatte. Aus dem flachen Gesicht wurde eine langgezogene Schnauze. Die Fingernägel wuchsen heran zu scharfen und langen Krallen.
Was geschieht hier? Ist das echt oder will man uns hier nur erschrecken, es war ja schließlich Halloween? Jede Menge Fragen gingen mir in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Wie gebannt sah ich dem Geschehen, das ich mir nicht erklären konnte, zu und konnte meinen Blick nicht abwenden.
Johnsons Gestalt war nun deutlich auf über zwei Meter angewachsen. Seine Schreie klangen jetzt mehr wie ein Jaulen. Die Kleidung, die er trug, platze auf, seine neuen Muskelpartien forderten bedingungslos Platz. Unter seiner Kleidung erblickte ich eine starke Behaarung. Seine Haare schienen blitzartig schnell zu wuchern und bildeten ein Fell!
Ich suchte fieberhaft nach einer Erklärung und nur eine kam mir in den Sinn: Aus dem Offizier war ein Werwolf geworden! Das Licht des Vollmonds musste die Verwandlung ausgelöst haben! Ungläubig blickte ich auf das Wesen. Sowas konnte doch unmöglich real sein!
„Das Ding ist ein Werwolf!“ Auch Sebastian hatte es nun erkannt.
„Cool, wie er das wohl gemacht hat?“ Felix schien diese Verwandlung für einen Trick zu halten und war schwer beeindruckt.
Plötzlich stieß die Kreatur ein ohrenbetäubendes Wolfsgeheul aus und sprang mit einem Satz durch das Fensterglas! Scherben flogen in sämtliche Richtungen als das Glas zerbrach und fügten dem Werwolf ein paar üble Schnittwunden zu, doch das schreckliche Geschöpf schien sich nicht groß daran zu stören. Ich konnte es jetzt ganz deutlich sehen. Muskelbepackt und komplett mit dunklem Fell überzogen stand es auf allen vieren vor mir. Eine Schnauze voll mit spitzen Zähnen und einer langen Zunge, die aus dem Maul hing. Eine groteske Mischung aus einem Wolf und einem Bodybuilder. Zweifelsfrei ein gefährliches Raubtier! Es richtete sich auf, blickte uns an und heulte anschließend den Mond an.
„Jetzt aber nichts wie weg“, rief ich meinen Mitstreitern entgegen, die jetzt gar nicht mehr so wild darauf waren Johnson weiter zu drangsalieren. Wir rannten so schnell wir konnten durch das hohe Gras zur Straße. Sebastians Klopapier löste sich durch die schnellen Schritte teilweise von seinem Körper. Ich blickte nur ganz kurz zurück: Der Wolfsmensch hetzte uns hinterher. Er ging auf allen Vieren, wobei seine flüssigen Bewegungen deutlich an die eines Wolfes erinnerten. Er war schneller als wir. Ich erreichte das Gartentor als letztes und warf es mit aller Kraft ins Schloss.
Der Werwolf krachte ungebremst und mit voller Wucht gegen das hölzerne Tor, welches daraufhin in Stücke zerbrach. Einen Moment lang lag die Kreatur benommen auf der Straße, dann richtete sie sich langsam wieder auf.
„Wir müssen uns aufteilen“, schlug Felix vor.
„Guter Plan“, antwortete ich, doch ehe wir abklären konnten wer wohin gehen sollte, waren Felix und Sebastian schon in die beiden entgegengesetzten Richtungen der Straße gerannt und hatten mich wohl vor vollendete Tatsachen gestellt. Ich musste also geradeaus auf ein freies Grundstück, welches überwuchert mit mannshohem Gras war.
So schnell ich konnte, rannte ich tief hinein. Ich stapfte über den Boden und trat dabei etliche Halme nieder. Es bildete sich eine Schneise. Während der Hast verlor ich meinen Strohhut, aber ich hielt nicht inne um ihn aufzuheben und rannte weiter.
Irgendwann hielt ich dann doch kurz inne um mich zu orientieren. Hinter mir hörte ich den Werwolf, wie er laut schnaubend ebenfalls das hohe Gras durchdrang. Wieso musste er ausgerechnet mich verfolgen, ging es mir durch den Kopf. Der Werwolf, den ich bis zu diesem Tag stets für ein erfundenes Fabelwesen gehalten hatte, schritt nun langsamer voran. Ich hörte seine mächtigen Schritte, als er seinen massigen Körper über den weichen Boden bewegte. Dann hörte ich ihn laut schnuppern. Er wusste nicht wo ich war und versuchte meine Fährte aufzunehmen.
Auf leisen Sohlen schlich ich mich davon. Aber wohin sollte ich gehen? In den angrenzenden Wald oder auf den benachbarten Friedhof? Ich überlegte einen Augenblick. Wo kann er mich riechen? Wo kann ich mich verstecken?
Meine Wahl fiel auf den Friedhof. Ich dachte mir, die Friedhofsmauer böte einen Sicht- und Geruchschutz. Außerdem würden die Gräber sicher eine Möglichkeit zum Verstecken aufbieten.
Ich schlich also weiter in Richtung der Friedhofsmauer. Als ich sie schließlich erreicht hatte, blickte ich mich nochmals um und hielt nach meinem Widersacher Ausschau und konnte ein Rascheln in weiter Ferne ausmachen. Zum Glück war er deutlich von mir entfernt und tappte scheinbar völlig im Dunkeln.
Das war die Gelegenheit! Ich krallte mit meinen Fingern in die Natursteinmauer und versuchte mit meinen Füßen Halt zu finden. Es klappte! Jetzt zog ich mich ein Stück weit hoch und gleich noch eins. Gleich würde ich die obere Kante der Mauer greifen können! Nur noch den Fuß ein bisschen weiter hoch setzen!
Ich trat mit dem Fuß in eine Nische und fand Halt. Jetzt zog ich mich hoch, doch der Stein bröckelte unter meinem Gewicht und stürzte mit einem lauten Krachen zu Boden. Ich drohte zu stürzen, aber bekam die Kante zu fassen! Ich zog mich unter größter Anstrengung nach oben und war total erleichtert, als ich letztlich oben auf der Mauer saß.
Zu meinem Entsetzen musste der Werwolf den heruntergekrachten Stein gehört haben, denn das Rascheln im Gras bewegte sich in meine Richtung!
Verdammt, dachte ich mir, wieso lässt er denn nicht von mir ab? Ich habe doch gar nichts machen wollen. Schon an der Tür wollte ich eigentlich gehen. Sebastian war an allem schuld! Und trotzdem wiegte der sich jetzt zuhause in Sicherheit und ich musste hier am Stadtrand um mein Leben rennen!
Ich sprang nach unten und lief zwischen den Gräbern umher um mir ein geeignetes Versteck zu suchen. Der Kies knirschte verräterisch unter meinen Füßen.
Als ich hörte, dass das Ungetüm die Mauer erreicht hatte, sprang ich hinter einen großen Grabstein, auf dem die Namen zahlreicher Familienangehöriger eingemeißelt waren. Dabei schürfte ich mir sehr schmerzhaft mein Knie auf. Es brannte fürchterlich! Hoffentlich waren keine Kieselsteinchen in die Wunde gelangt, welche eine Entzündung verursachen würden! Ich unterdrückte den Schmerz und versuchte ganz ruhig zu bleiben.
Der Werwolf kletterte geschickt über die Friedhofsmauer, wobei ihm seine gewaltige Körpergröße von Vorteil war. Mit einem lauten Aufprall setzte er auf dem Boden auf und machte sich daran, den Friedhof systematisch abzusuchen. Eine Grabreihe nach der nächsten schritt er über die Fußwege. Das Knirschen des Kieses wies mich darauf hin, dass er immer näher zu mir kam. Bald würde er mich erreichen! Ich muss zum Tor und den Friedhof verlassen, dachte ich mir, aber ist es offen oder verschlossen?
Ich musste es versuchen, denn bliebe ich hier hinter dem Grabstein, hätte mich der Werwolf schon bald gefunden! Ich stand also auf und humpelte so schnell ich jetzt noch konnte in Richtung des Tores. Erst als ich es schon fast erreicht hatte, bemerkte mich der Wolf und rannte auf mich zu. Noch drei Meter bis zum Tor! Das Raubtier hatte schon die halbe Strecke hinter sich gebracht! Ich erreichte das Tor und versuchte es zu öffnen, doch es war verschlossen! Heftig rüttelte ich an dem eisernen Tor, aber es tat sich absolut nichts und verweilte im Schloss. Das Tor war meine letzte Option gewesen. Meine letzte Chance auf ein Überleben. In Kürze würde ich von einem blutrünstigen Werwolf in Stücke gerissen werden! Es war nicht meine Schuld, dass ich in diese Situation gekommen war, aber ändern konnte ich es nun auch nicht mehr. Resignierend ließ ich mich am Tor zu Boden sinken und hielt meine Arme schützend vor mein Gesicht, bereit mich meinem Schicksal zu fügen.
„Da drüben!“ Eine vertraute Stimme hallte auf einmal durch die Nacht! Es folgten drei laute Schüsse, die jeweils kurz aufeinander folgten.
Peng! Peng! Peng!
Ich nahm meine Arme aus dem Gesicht um zu sehen was passierte: Es war Sebastian und er hatte seinen Vater mitgebracht. Dieser war bei der Polizei und stand nun mit gezückter Dienstpistole im Anschlag neben ihm. Der Werwolf lag nur wenige Meter vor mir und jaulte fürchterlich vor Schmerzen. Er musste von den Kugeln getroffen worden sein. Der Werwolf raffte sich nun auf, ließ von mir ab und flüchtete vor dem Kugelhagel, den Sebastians Vater auf ihn niederregnen ließ. Mit einem Satz sprang er über die Friedhofsmauer und rannte in den Wald um Schutz zu suchen. So sehr ich Sebastian eben noch zum Teufel gewünscht hatte, so sehr freute ich mich nun ihn wieder zu sehen! Er hatte mich nicht im Stich gelassen und hatte mich gerettet!
Das war also das letzte Halloween, an dem wir mit Verkleidungen durch die Straßen zogen. Dieser Vorfall hatte uns drei Freunden sämtliche Begeisterung an diesem Fest genommen, er hatte aber auch unsere Freundschaft gefestigt. Felix und Sebastian sind noch heute enge Freunde von mir. Über diesen Vorfall haben wir aber seither nie wieder geredet. Auch Thomas Johnson wurde nie wieder gesehen.