KreaturenLangeTod

Schatzsucher

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Seufzend starre ich auf den Baum, der inmitten des Gesindeviertels der Stadt emporragt. Ich bin leider zu dumm, um zu wissen, zu welcher Gattung diese verholzte Pflanze gehört, aber sie ist echt eindrucksvoll.

„Mann wo bleibt der denn?“, stöhne ich, allmählich genervt.

Keine Ahnung, wie lange ich hier jetzt schon all die armen Seelen bei ihrem Tun beobachte. Wenn das so weitergeht, kann ich aber definitiv ein Buch darüber schreiben… Nein, kann ich nicht. Hab‘ ich nie gelernt. Der Kerl, der zwei Baracken nebenan wohnt, pinkelt schon wieder an den Baum. Dabei murmelt er immer seltsames Zeug. Als hätte er den Verstand verloren. Selbst die Köter hier legen im Vergleich dazu ein besseres Verhalten an den Tag, denke ich naserümpfend.

Die Alte mit den vollgekotzten Stofflumpen, die sie Kleidung nennt, steht wie jeden Tag an ihrer ‘Stammecke‘. Der erste Kunde ist wie immer der perverse Greis, der angeblich auch seine eigene Tochter befummelt. Mein Blick wandert umher. Da ist wieder dieses dumme, gruselige Mädchen, das mich immer anstarrt, wenn es mich entdeckt. Egal wie oft ich sage, sie soll sich zum Teufel scheren, sie hört einfach nicht damit auf.

Verteilt auf den Straßen liegen die Schnapsleichen. Nicht mal Mittag und schon im Vollrausch. Und dann verpesten die auch noch die sowieso schon stinkende Luft mit ihrem intensiven Alkoholgestank. Zwischen Blut, Kotze, Scheiße und weiß der Teufel was noch spielen die Kleinen. Unschuldige Kinder, die niemandem etwas tun und nie etwas anderes kennengelernt haben. Scheiße, was für ein Drecksloch, geht es mir bei dem Anblick durch den Kopf. Nun, eigentlich denke ich das jeden Tag. Ich mag nicht gebildet sein, aber selbst ich weiß, dass dieser Zustand eine Seuche nach der nächsten hervorbringen wird. Dieser Baum ist wirklich das einzig Schöne an diesem widerlichen Ort. Dem Baron scheint nicht viel an diesem Viertel und den Menschen hier zu liegen. Ob das überall so ist?

Ich selbst habe den Baron eher selten gesehen. Der feine Adel hält sich nicht gerne in der Nähe des Gesindels auf, doch die Baroness… Junge, die ist echt ein Blickfang. Fast täglich hält sie sich auf dem Marktplatz auf. Okay, diese Stadt hat zwei Schönheiten zu bieten. Den Baum und die Tochter des Barons, lache ich in Gedanken. Wie es sich wohl so als Adeliger lebt? Erneut stoße ich einen lauten Seufzer aus. Diese ganze Warterei sorgt wieder dafür, dass ich mir unnütze Fragen stelle. Völlig nebensächlich. Ein anderes Leben kenne ich doch gar nicht und werde es auch nie kennenlernen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Einfach ein weiterer armer Hund inmitten von Elend und Dreck. Viele hier sind wie ich, Waisen.

Und was macht man den ganzen Tag so als Mitglied der Unterschicht? Genau, man bestiehlt die Oberschicht, um selbst am Ende des Tages etwas im Magen zu haben. Die sollen sich nicht so anstellen, drei Mahlzeiten am Tag sind an denen doch vollkommen verschwendet. Außerdem bräuchten wir gar nicht zu stehlen, wenn die feinen Schnösel uns mehr Mittel zur Verfügung stellen würden oder zumindest dem verdammten Waisenhaus. Innerlich hoffe ich seit Jahren einfach nur darauf, eines Tages von hier verschwinden zu können. Natürlich mit Emmet. Wo ich gerade daran denke, wieso zum Henker dauert das so lange? Wurde er vielleicht erwischt? Das wäre richtig Scheiße…

„Psssst!“, ertönte plötzlich eine Stimme in einiger Entfernung. Ich sehe mich um und da ist Emmet, der meine Aufmerksamkeit zu erhaschen versucht.

„Vollidiot. Das war lauter, als du vielleicht denkst“, murmele ich lächelnd. Dann erhebe ich mich schnell und schlendere zu ihm. Als ich vor ihm stehe, klopfe ich ihm beruhigt auf die rechte Schulter. Dann schaue ich ihn wütend an.

„Was hat da bitte so lange gedauert? Ich dachte schon, du wärst erwischt worden“, ermahne ich ihn. Ich bin aber wirklich erleichtert, dass dem nicht so ist. Emmet ist alles, was ich hier habe. Er ist der einzige Grund, weshalb ich nicht schon abgehauen bin.

Emmet gehört überhaupt nicht hierher und, ganz ehrlich, eigentlich hat er ein tolles Leben. Zumindest aus meiner Sicht. Er selbst scheint es zu hassen. Seine Familie besteht aus hoch angesehenen Leuten. Sein Vater beispielsweise ist ein Arzt. Seine Mutter ist eine… wie hat er das genannt… Forscherin? Die Beschreibung jedenfalls trug für mich die Aufschrift ‘Abenteurerin‘. Gemeinsam mit ihrem Vater, also Emmets Großvater, untersucht sie Ruinen und studiert Schriften darüber. Noch dazu fertigen sie selbst welche an und vervollständigen die bereits vorhandenen. Sie holen die Geschichte zurück, das hat Emmet immer gesagt, wenn wir uns darüber unterhielten.

Aber bei so viel Spannung und Mühe bleibt einfach nicht viel Zeit für einen fünfzehnjährigen Jungen. Emmet hat am Ende also eigentlich nichts vom Ruf seiner Familie. Er darf ja nicht einmal seine Mutter begleiten. So eine Schande, echt. Andernfalls jedoch hätten wir uns wohl nie angefreundet. Ich verbrachte immer viel Zeit alleine am Flussbett. Eines Tages komme ich an meinem üblichen Punkt an und dort sitzt schon jemand. Stumm habe ich mich daneben gesetzt und damit begonnen, Steine über die Wasseroberfläche springen zu lassen. Er war beeindruckt und so kamen wir dann ins Gespräch. Von dem Tag an trafen wir uns immer öfter dort und freundeten uns wirklich an. Er verbringt mehr Zeit mit mir hier im Gesindeviertel oder am Flussbett als bei sich Zuhause. Mann, er hat sogar angefangen, für mich zu stehlen. Ich meine, ja, ich hab es ihm gezeigt, aber alles andere geht auf seine Kappe.

Ich schmunzele.

Wir sind wie Brüder. Ich glaube, er schaut ein wenig zu mir auf. Das erfüllt mich schon irgendwie mit Stolz. Ich bin gerade einmal zwei Jahre älter, aber trotzdem, er respektiert und schätzt mich und ich ihn.

„Nein. Schau!“, sagt er ganz aufgeregt und fingert in der Innenseite seiner Jacke herum.

„Nicht hier! Wir gehen zur üblichen Stelle“, halte ich ihn auf, noch bevor er etwas aus seiner Jacke ziehen kann.

Wir verschwinden schnell zum Fluss. Im so malerischen Sonnenuntergang setzen wir uns jeweils auf einen großen Stein. Aufgeregt zieht er mehrere zusammengerollte Seiten Papier hervor und hält mir diese triumphierend entgegen. Zögernd nehme ich diese und entfalte sie nacheinander.

„Vorsichtig!“, ermahnt er mich harsch.

„Ja-ja!“

Ich starre auf den Inhalt der Seiten und realisiere schnell, dass ich nichts damit anfangen kann. Erkennen tue ich auf der etwas vergilbten Seite eine Art… Labyrinth vielleicht? Emmet merkt, dass mir die Seiten ein Rätsel sind, schnappt sie sich und schüttelt grinsend den Kopf.

„Was? Du warst derjenige, der mir Lesen und Schreiben beibringen wollte, schon vergessen?“, erwidere ich seiner Geste.

„Ich weiß, schon gut. Ich erkläre es dir, okay?“

Ich nicke zustimmend. Am Boden liegen viele hübsche Steine. Einige sammele ich in meiner linken Hand und beginne sie über die Wasseroberfläche zu werfen.

„Also, das hier ist so eine Art Grab“, beginnt Emmet seine Erklärung und hält mir das Papier mit der Zeichnung darauf hin.

„Ich habe das für ein Labyrinth gehalten“, erwidere ich.

„Ja, weil es auch eines ist. Zumindest, wenn man sich die Zeichnung anschaut.“

„Da drinnen soll sich echt ein Schatz befinden?“, werfe ich skeptisch ein.

„Definitiv. Laut den Aufzeichnungen meiner Familie.“

„Okay aber wenn es ein Labyrinth ist, wie sorgen wir dafür, dass wir uns nicht verlaufen? Und vor allem, wie sollen wir den Schatz finden?“

„Mensch, stellst du dich wieder an. Wir haben doch darüber gesprochen. Denk doch mal bitte mit, Alistair!“, stöhnt er.

Ich rufe mir das Gespräch in mein Gedächtnis zurück. Es begann damit, dass wir uns über unsere Leben unterhielten.

„Hey, Emmet? Was hast du eigentlich so im Leben vor? Was willst du mal werden?“, hatte ich ihn gefragt. Er zuckte mit den Schultern.

„Eigentlich will ich ja ebenfalls dem Weg meiner Mutter folgen, aber so ganz ohne Erfahrung wird es wohl nicht gehen, und wer weiß, wie lange ich dafür warten müsste“, war seine Antwort.

„Blöde Situation.“

„Hm. Und was ist mit dir?“

„Ich will auf jeden Fall ein Soldat werden!“, hatte ich voller Stolz verkündet.

„Vielleicht fange ich bei irgendeiner Söldnergruppe an und arbeite mich dann bis zur Leibgarde irgendeines ranghohen Arsches hoch.“

Wir lachten herzhaft.

„So oder so. Dafür bräuchten wir Geld. Du bräuchtest vor allem Geld, um aus diesem Drecksloch zu fliehen.“

„Fliehen könnte ich bereits jetzt, aber Geld würde dafür sorgen, dass ich etwas länger als drei Tage überlebe“, kicherte ich.

Stille schlich sich ein und wir starrten auf das klare Wasser des Flusses. Die Sonne war dabei unterzugehen und färbte alles in ein wunderschönes Orange-Rot.

„Mir fällt da was ein!“, rief Emmet plötzlich und sprang auf. Verdutzt sah ich ihn an.

„Neulich bin ich auf eine Schatzkarte gestoßen. Zwischen den Unterlagen meiner Mutter befanden sich zusammenhängende Aufzeichnungen über eine Schatzkammer!“

„Äh, was? Du schnüffelst in den Unterlagen deiner Mutter herum?“, lachte ich.

„Das war Zufall… ist aber auch egal. Ich hab mir die aus Neugier etwas genauer angesehen. Offensichtlich haben Mama und Opa nicht vor, diesen Schatz zu bergen.“

„Da ist doch was faul“, merkte ich skeptisch an.

„Nicht unbedingt. Meine Mutter nimmt keine Schätze oder ähnliches mit, wenn sie bei ihren Nachforschungen auf solche stößt. Sie ist da etwas abergläubisch. Vor allem nicht, wenn sich diese Schätze in einer Gruft oder einem Grab befinden. Sie sagt, sie will einfach die Vergangenheit verstehen und die Geschichten aufschreiben. Mama hat kein Interesse daran, als eine Grabräuberin zu gelten.“

„Okay… Also… War deine Mutter bereits dort?“

„Nicht wirklich… In ihren Notizen stand, dass sie sich dem Grab genähert haben, sie haben es betreten, kamen jedoch nicht weit. Eine steinerne, mit Schriftzeichen verzierte Wand versperrte ihnen den Weg. Alles, was sie wusste, schrieb sie auf. Da sie aber wie gesagt kein Interesse an dem Schatz hatte, kehrten sie um.“

„Ich weiß nicht… Ich finde das irgendwie merkwürdig…“

„Was meinst du?“, fragte Emmet stirnrunzelnd.

„Na ja… Warum haben sie keinen anderen Zugang gesucht? Haben sie sich wirklich so einfach damit zufriedengegeben?“

Emmet seufzte laut.

„Du kennst eben meine Mutter nicht. Mit Sicherheit haben sie vor, noch einmal zurückzukehren. Vielleicht haben sie einfach keinen anderen Zugang entdeckt. Wenn ich ihnen zuvorkommen könnte, kann ich meinen Wert beweisen, Alistair!“

Seine braunen Augen funkelten vor Euphorie.

„Aber… Wenn deine Mutter schon keinen anderen Zugang entdeckt hat, meinst du echt, dass wir dann einfach so in das Grab gelangen?“, wand ich ein.

„Schon, aber meinst du nicht, dass es einen Blick wert ist? Vielleicht entdecken wir ja etwas, dass meiner Mutter verborgen geblieben ist? Überleg doch mal, Alistair, das könnte die Gelegenheit sein. Ich könnte meiner Mutter beweisen, dass ich eben kein kleines Kind mehr bin, und obendrein könnten wir noch an den Schatz gelangen. Dann könnten wir sorgenfrei von hier verschwinden.“ Er lächelte glücklich.

Wie hätte ich da Nein sagen können?

Jetzt fällt es mir auch wieder ein.

„Du sagtest etwas darüber, dass diese Schriftzeichen eine Art Wegweiser wären, richtig? Deine Mutter hatte sie übersetzt und notiert.“

„Ganz genau. Hey, du hörst mir ja doch zu“, lacht er.

„Natürlich!“, erwidere ich gespielt empört.

„Also, steht da, wo sich das Grab befindet?“, hake ich nach. Er durchstöbert die Seiten und nickt schließlich.

„Ja, hier. Gar nicht so abgelegen, wie man vielleicht vermuten würde. Eigentlich müssen wir nur diesem Fluss folgen. In Richtung Westen, bis er sich gabelt. Zu unserer Rechten sollten wir dann laut Karte einen Kreis aus Bäumen sehen. Im Zentrum dessen soll sich das Grab befinden“, schildert er ruhig.

„Im Ernst? Jeder Idiot könnte das finden. Wer sagt denn, dass es nicht bereits geplündert wurde?“

„Das wissen wir erst, wenn wir selbst dort waren. Bitte, Alistair.“

Ich rolle mit den Augen und winke ab.

„Schon gut. Gib mir bloß nicht diesen traurigen Hundeblick!“

„Danke, Kumpel!“

Emmet erhebt sich und steckt die Seiten zurück in seine Tasche. Verwundert sehe ich ihn an.

„Na los!“, ruft er aufgeregt und hält mir seine rechte Hand entgegen.

„Du willst doch nicht etwa jetzt dorthin? Emmet, die Sonne geht bereits unter.“

„Na und? Als ob sich jemand im Waisenhaus darum scheren würde, wo du steckst“, entgegnet er grinsend.

„Das nicht, aber was ist mit deinen Eltern? Die werden sich doch Sorgen machen. Außerdem kann keiner sagen, wie lange wir uns dort aufhalten werden, geschweige denn, wie lange wir für den Weg dorthin bräuchten.“

Ich sehe zu, wie er den Kopf schief legt und darüber nachdenkt. Er wirkt ein wenig enttäuscht, stimmt meinen Argumenten aber letztendlich zu und wir verschieben unsere Schatzsuche auf den kommenden Morgen.

Wir laufen zurück zum Stadttor und passieren es. Auf dem nun so gut wie menschenleeren Markt verabschieden wir uns. Er läuft auf sein Haus zu und ich folge dem Gestank, der mich zum Gesindeviertel führt. Immer der Nase nach. Du kannst es nicht verfehlen. Als ich das Waisenhaus betrete, ist die Sonne bereits vom Horizont verschwunden. Mein Magen knurrt. Den Hunger ignorierend lege ich mich in mein Bett, ich weiß, dass ich heute Abend kein Essen zu erwarten brauche. Wird alles bereits aufgefuttert sein. Hier gibt es eine Menge hungriger Mäuler zu stopfen. Wer da zu spät zum Abendessen erscheint, hat da eben Pech gehabt.

In dieser Nacht schlafe ich nur sehr unruhig. Ich wälze mich von der einen Seite auf die andere. Sobald ich meine Augen schließe, überkommen mich seltsame Bilder und Gedanken. Ich stelle mir vor, was wir in diesem Grab vorfinden werden. Stelle mir vor, wie wir den Schatz bergen und danach im Geld schwimmen. Aber dann sind da noch diese Gedanken. Das ist ein Grab. Was, wenn uns dort unvorhergesehene Dinge erwarten, wie beispielsweise Fallen? Meine innere Stimme meldet sich zu Wort und flüstert mir gruselige Dinge zu.

Was, wenn Fallen noch das harmloseste ist, was dort auf uns wartet?

Heißt es nicht, dass es Ghule gibt, die in sowas hausen?

Und wenn es dort spukt?

Was, wenn Emmet mir etwas verheimlicht? Wenn er mich belügt und andere Ziele verfolgt?

Bei dem letzten Gedanken setze ich mich aufrecht hin und streiche mir schwarze Strähnen meines Haares von der Stirn. So ein dummer Quatsch! Was zum Teufel denke ich denn da? Das würde Emmet niemals tun. Wir sind wie Brüder. Wir passen aufeinander auf. Brüder spielen sich doch nicht gegeneinander aus. Ich kichere leise.

Am Morgen darauf verschwinde ich nach meinem eher mageren Frühstück aus dem Haus, um mich mit Emmet zu treffen. Ich kann machen, was ich will, aus irgendeinem Grund werde ich dieses seltsame Bauchgefühl nicht los. Etwas sagt mir, dass wir diesen Schatz nicht suchen sollten. Dass wir dieses Grab nicht betreten sollten. Auf dem Weg zum Treffpunkt erwische ich mich, wie ich still darauf hoffe, dass Emmets Eltern von unserem Vorhaben Wind bekommen haben und wir diese ganze Geschichte abblasen. Doch ich werde eines Besseren belehrt, als ich in das strahlende Gesicht Emmets sehe, der anscheinend bereits ungeduldig auf mich gewartet hat.

„Heute gibt’s keine Ausreden! Meine Mutter wird für eine Weile außer Haus sein und mein Vater macht die nächsten zwei Tage Hausbesuche. Meinem Opa hab ich erzählt, dass wir einen Freund besuchen und es spät werden könnte“, erklärt er mir freudestrahlend. Ich nicke wortlos.

Ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Er sieht mich etwas besorgt an.

„Na dann… Gehen wir“, stimme ich schließlich zu.

Wir folgen diesem Fluss nun schon eine Weile. Gesprächsthemen wollen kaum welche aufkommen. Die Stimmung wirkt befremdlich. Was ist bloß los mit mir? Ich bin doch sonst nicht so? In Gedanken versunken merke ich nicht, wie Emmet stehenbleibt, und laufe in ihn hinein. Er zieht eine Augenbraue hoch und sieht mich leicht genervt an. Dann wandert sein Blick nach vorne und ich folge diesem. Ein Mann kommt uns entgegen. Er ist groß, wirkt desinteressiert und sein pechschwarzes, schulterlanges Haar weht leicht im Wind. Ein Reisender? Vielleicht ein Händler auf dem Weg nach Kerheen. Wir stehen still und drängen uns an den Wegesrand. Der Pfad bietet nicht viel Platz, daher müssen wir auch hintereinander laufen. Der Plan ist, den Typen erstmal passieren zu lassen. Wir sehen zu, wie er sich uns nähert.

Unkontrolliert beginnen meine Hände zu zittern, je näher der Kerl uns kommt. Mein Herz schlägt schneller. Was zum Teufel? Werde ich etwa krank? Der Mann drängt sich still an uns vorbei und dabei treffen sich unsere Blicke. Ein eiskalter Schauer durchflutet meinen Körper schlagartig. Noch nie zuvor habe ich solche emotionslosen, kalten Augen gesehen. Plötzlich bleibt er stehen. Der Kloß in meinem Hals hat soeben die Größe eines Schildes angenommen. Langsam dreht er sich zu uns um. Erneut starren mich diese blauen Augen an. Mein Blick wandert unfreiwillig auf die goldene Anstecknadel, welche in seinem Gewand steckt. Es zeigt eine goldene Faust und ich überlege, wo ich dieses Symbol schon einmal gesehen habe. Ich kenne es, da bin ich mir sicher.

„Ist das der Weg nach Kerheen?“, fragt er mit ruhiger, aber dennoch irgendwie gespenstischer Stimme.

„Ja“, gibt ihm Emmet zur Antwort. Ich kann nichts erwidern. Kein Ton entweicht meinen Lippen.

Der Kerl hält inne. Dann bedankt er sich und zieht von dannen. Als er außer Hörweite ist, atme ich erleichtert aus. Emmet signalisiert mir, dass wir auch weiter unseres Weges gehen sollten, und erneut setzen wir uns in Bewegung.

„Hey Emmet?“, beginne ich schließlich eine Unterhaltung.

„Du hast doch an die Papiere gedacht, oder? Ich meine, wäre Scheiße, wenn du sie vergessen hättest.“

„Habe ich“, antwortet er kurz angebunden.

„Okay… Sag mal, was glaubst du, wie spät es bereits ist?“

„Der Sonne nach zu urteilen wird es wohl bereits Nachmittag sein.“

„Mann… Langsam bekomme ich Hunger“, murmele ich.

„Ich habe etwas Proviant dabei“, entgegnet er.

Wir sind dem Fluss, wie auf der Karte beschrieben, bis zur Gabelung gefolgt. Und wie auf der Karte sehen wir zu unserer Rechten einen kleinen Wald. Genau kreisrund angeordnet. Scheiße, wie können Bäume bloß so seltsam wachsen? Dort ist es also. Emmet beginnt darauf zuzulaufen, während ich wie angewurzelt stehen bleibe. Als er merkt, dass ich ihm nicht direkt folge, dreht er sich zu mir um.

„Was ist los? Es ist nicht mehr weit.“

„Ich weiß… Es ist nur…“, beginne ich, halte aber inne. Ich weiß nicht, was ich sagen soll oder wie ich es erklären soll.

„Seit wir aufgebrochen sind, verhältst du dich merkwürdig. Was stört dich?“

Mein Blick weicht seinem aus.

„Ich habe keine Ahnung… Es ist… nur so ein Gefühl.“

Ich fühle mich plötzlich so unbeholfen. So idiotisch. Warum kann ich nicht einfach in Worte fassen, was mir durch den Kopf geht. Nie hatte ich Probleme damit, also warum ausgerechnet jetzt und in diesem Ausmaß? Kacke!

„Was? Hast du etwa Angst? Willst du umkehren, ist es das?“

Seine Tonlage ändert sich und plötzlich klingt er wütend. Er hat Recht, genau das will ich. Ich habe Angst, vielleicht völlig unbegründete Angst, aber dennoch Angst. Ja, verdammt. Ich will umkehren.

„Nein…“, gebe ich ihm zur Antwort und ohrfeige mich gedanklich selbst. Das ist Emmet, verdammt! Ich will ihn nicht enttäuschen.

„Wir wollten das doch zusammen durchziehen… Also?“

Ich atme kurz durch.

„Wir ziehen das zusammen durch“, antworte ich letztlich.

Das ist Emmet. Ihn im Stich zu lassen kommt nicht in Frage.

Wir sind schließlich wie Brüder.

Diese Bäume jagen mir einen Schauer über den Rücken, aber als ich das Grab erblicke, bin ich wirklich drauf und dran einfach abzuhauen. Ich verstehe es ja selbst nicht. Die Anlage ist gar nicht mal so klein. Alles ist verwildert und wirkt schon sehr lange verlassen. Das Grabmal ragt bedrohlich empor. Dennoch, es wirkt alles normal. Wie ein altes, verlassenes Bauwerk. Mehr nicht. Wir nähern uns dem einzigen Eingang, den wir erkennen können. Über Stock und Stein steigend, begeben wir uns die zerfallene Treppe hinauf. Wir starren in die Dunkelheit vor uns.

„Ich kann kaum etwas erkennen“, gestehe ich, die Augen zusammenkneifend.

„Schauen wir mal“, erwidert Emmet und läuft geradewegs hinein.

„H-Hey!“, rufe ich noch hinterher und folge ihm rasch. Als wenn ich ihn dort alleine hineingehen ließe.

Es riecht modrig. Vereinzelte Sonnenstrahlen fallen durch einige beschädigte Stellen am Mauerwerk. Das sorgt wenigstens für bessere Sichtverhältnisse, auch wenn man den nächsten Abschnitt vor uns nicht sehen kann. Es ist einfach pechschwarz. Wie eine Wand aus bloßer Dunkelheit. Der Gang ist schmal und an den Wänden kann man Schriftzeichen erkennen. Die Wände sind über und über von ihnen bedeckt. Ich kann natürlich nichts davon lesen und vermutlich ist es auch besser so. Dafür haben wir ja die Unterlagen. Die Schriftrollen von Emmets Mutter. Ohne ein Wort zu sprechen, laufen wir in den nächsten Abschnitt, durch die blanke Finsternis hindurch. Wir landen im selben Gang. Moment, war das wirklich derselbe Gang? Emmet muss dasselbe durch den Kopf gehen, denn wir beide sehen uns verwirrt um.

„Wir haben doch gerade den nächsten Abschnitt betreten, oder? Schau mal auf deine Karte, auf den Grundriss!“, verlange ich hörbar ängstlich. Er entfaltet die Seiten und geht sie ruhig durch.

„Ähh… Das verstehe ich nicht“, entgegnet Emmet irritiert. Meine Gesichtszüge erstarren, da ich mir nun sicher bin, dass hier etwas nicht stimmt.

Ich schaue über seine Schulter und starre ebenso wie er auf den Grundriss.

„Das hier ist der Eingang, hier haben wir das Grab betreten“, erklärt er mir und zeigt mit seinem Finger auf die Stelle. Ich nicke zustimmend.

„Und hier hat meine Mutter diesen Strich gezogen. Er symbolisiert die Wand, die ihnen den Zugang versperrt hat.“

Sein Finger gleitet minimal das Pergament hinauf. Er muss gar nicht mehr weitersprechen. Ich realisiere es selbst.

Wir hätten diese Wand längst vor uns haben müssen, nämlich schon gleich nach den ersten paar Metern im Gang davor. Aber da war keine. Wir konnten einfach weiter. Ich entsinne mich, starke Unebenheiten in etwa an der Stelle im Boden gespürt zu haben, aber das kann nicht sein, oder?

„Was ist mit der Seite, auf der die Richtungsangaben stehen?!“

Sofort blättert Emmet die Seiten durch und findet das besagte Stück Papier auch schnell. Wir begutachten es beide.

„Norden, Norden, Osten, Norden, Osten, Osten, We-“, sofort wird Emmet durch ein laustarkes Grollen unterbrochen. Es hallt von den Wänden wieder. Ich schaue zurück. Nichts als Schwärze. Das kann gar nicht sein. Ich müsste zumindest Tageslicht sehen, aber Fehlanzeige. Wir beide starren auf die Finsternis vor uns. Das Geräusch wird leiser, bis es ganz verstummt.

„Was war das?“, erfrage ich vorsichtig.

„Keine Ahnung. Vielleicht… Geröll? Im schlimmsten Fall ist dieses Bauwerk einsturzgefährdet“, entgegnet Emmet.

„Aha… Großartig.“

„Jetzt… stell dich nicht so an! Folgen wir den Richtungsangaben, die uns zum Zentrum führen.“

„Du meinst, führen sollen?“, setze ich dem skeptisch entgegen. Er seufzt leise.

„Emmet, guck!“ Fällt dir eigentlich etwas auf?“, merke ich erneut an und zeige auf die Richtungsangaben. Ich fingere nach dem Papier mit dem abgebildeten Grundriss und halte ihm beide Seiten vor die Nase. Stumm betrachtet er diese im Wechsel. Er schweigt.

Als mir sein Schweigen zu viel wird, schildere ich meine Bedenken.

„Guck hin! Norden, Norden, Osten, Norden, Osten, Osten…“ Ich zeige parallel dazu auf den Grundriss. Mein Finger folgt den Angaben. Erneut seufzt er laut, als er es bemerkt.

„Wir sind hier, ja? Ein Mal sind wir nach Norden gegangen, ein weiteres Mal… dann Osten, Norden, Osten und nochmal Osten. Wie soll das gehen? Laut Grundriss kann man hier nicht zwei Mal nach Osten gehen!“

„Es muss aber gehen!“, ruft er energisch und entreißt mir die Seiten. Fassungslos sehe ich ihn an.

„Okay… Wir sollten uns nicht selbst verrückt machen. Das ist ein Labyrinth und ich vertraue auf die Richtigkeit der Übersetzung meiner Mutter. Bitte, Alistair…“

„Entschuldigung angenommen“, schnaufe ich enttäuscht.

Emmet sortiert die Seiten und wir gehen weiter, nach Norden. Nun befinden wir uns an einer Art Kreuzung. Ein Weg führt geradeaus, ein anderer nach rechts und einer nach links. Wir folgen dem rechten Pfad und landen dieses Mal in einem anderen Abschnitt als zuvor. Diese Strecke führt uns keine gerade Linie entlang, sondern lässt uns in einem Halbkreis laufen. Durch die nächste Schwärze und wir finden uns im selben Abschnitt wie zu Beginn wieder. Dieselben Wände, dieselben Schriftzeichen. Derselbe Lichteinfall an genau denselben Stellen. Danach stehen wir wieder an einer Kreuzung. Natürlich sieht diese genauso aus wie die davor.

Erneut lässt uns ein markerschütterndes Geräusch innehalten. Wir beide drehen uns abrupt um. Es klingt wie stampfende Schritte. Unheimlich laut und aggressiv. Dann folgt ein fürchterliches Schnaufen. Keiner von uns kann sagen, aus welcher Richtung die Laute kommen. Es hallt gleich laut von den Wänden wieder und diese Schritte werden schneller, kommen näher. Wie gebannt stehen wir da. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Wir pressen unsere Rücken gegeneinander. Die Dunkelheit vor mir bringt mich um den Verstand. Ich bilde mir ein, Bewegungen erkennen zu können. Als wäre dies ein schwarzer und undurchdringlicher, wabernder Nebel. Auf einmal ein starkes Grunzen von links. Emmet und ich drehen unsere Köpfe in die Richtung, aus der wir beide dieses Geräusch vernehmen. Ich brauche nicht in Emmets Gesicht zu sehen, um zu wissen, welcher Ausdruck sich nun auf diesem befindet. Es wird derselbe sein wie bei mir. Denn wir beide starren auf dieses Ding, das plötzlich neben uns aufgetaucht ist.

Der Kopf gleicht dem eines Wildhundes. Es steht aufrecht auf seinen Hinterläufen. Eingehüllt ist es in dunkle, zerfetzte Lumpen. Doch seine Hände sind die eines Menschen. Kein Zweifel, denn diese umklammern eine rostige Streitaxt. Das Ding fletscht die Zähne. Widerlich aussehender Speichel tropft dabei auf den Boden. Sein spontaner und ohrenbetäubender Aufschrei lässt mich ungeheuer zusammenfahren. Es sprintet auf uns zu und ich spüre, wie der Druck gegen meinen Rücken schwindet. Ich kann Emmets panische Schritte hören, als er flieht. Ich hingegen… bleibe zurück. Die Schockstarre lässt mich regungslos in meiner Position verweilen und zu diesem Ding aufsehen. Es schnüffelt an mir. Das tut es jetzt sicherlich schon mehrere Minuten. Ich kann seinen verfaulten Atem riechen und wünsche mir augenblicklich die Gerüche aus dem Gesindeviertel zurück. Eine warme Flüssigkeit breitet sich in meinem Schritt aus. Dann dreht es sich unangekündigt und für mich völlig überraschend von mir weg und stampft davon. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass es das Interesse verloren hat, aber ich glaube, es sucht nun doch lieber nach Emmet.

Emmet! Nein, ich muss ihn finden! Hektisch sehe ich mich um. Wo? Wohin ist er gerannt? Welchen Weg hat er genommen? Die Angst lähmt mich, als ich einen erneuten Aufschrei dieses Vieches höre. Ich habe Angst. Wirklich große Angst. Aber was wäre ich für ein Freund und Bruder, wenn ich ihn jetzt im Stich lasse? Ohne Emmet kann ich hier nicht weg. Ich zwinge meinen Körper zu handeln und sehe mich erneut um. Da sticht mir diese eine Seite ins Auge. Kurz vor dem nächsten Abschnitt liegt sie vor mir auf dem Boden. Vielleicht diese Richtung? Es ist definitiv eine von Emmets Seiten. Aber ich vergeude keine Zeit. Keinen Blick werfe ich nun auf dieses Papier. Gewillt, meinen Freund zu finden, durchschreite ich die Dunkelheit und betrete den darauffolgenden Abschnitt. Hier gibt es keine Auswahlmöglichkeiten mehr. Ich kann nur noch dem Pfad vor mir folgen.

Und nach einer Weile ist plötzlich Schluss. Ich stehe in einem etwas großzügigeren Abschnitt. Er ähnelt einem Raum. Kein weiterer Weg, doch vor mir scheint es eine weitere Räumlichkeit zu geben. Zögernd stehe ich da und starre auf die Öffnung. Es ist still. Es ist dunkel. Dann wird dieser Raum vor mir offenbar erleuchtet, denn schwaches Licht dringt bis zu meinen Fußspitzen. Jemand muss Fackeln entzündet haben und mein erster Gedanke ist Emmet. Vorsichtig laufe ich auf diesen Bereich zu und erblicke schlussendlich eine Person. Sie dreht mir den Rücken zu. Wie vermutet sind zwei Fackeln entzündet worden, jeweils links und rechts von einem massiv aussehenden, geschlossenen Sarg. Ich ignoriere dieses Bild vorläufig und wende mich der Gestalt zu.

„Emmet?“, flüstere ich verunsichert. Sie dreht sich um und ich blicke tatsächlich in Emmets Gesicht. Er ist es wirklich.

„E-Emmet! Oh, den Göttern sei Dank! Ich dachte… Ich dachte…“, stammele ich vor mich hin. Tränen der Erleichterung füllen meine Augen, als ich ihn fest umarme.

„Geht es dir gut?!“

Ich beginne ihn zu mustern. Ich sehe keine Verletzungen und auch nirgends Blut. Bei den Ahnen, danke! Emmet gibt mir keine Antwort. Er starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an und als sich ein seltsames Grinsen auf seine Lippen legt, weiche ich erschrocken zurück.

„Emmet? Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?“

Keine Antwort. Emmet steuert auf mich zu, zumindest versucht er es. Seine Bewegungen sehen verkehrt aus. Holprig und irgendwie unsicher. Die Vorstellung eines Kleinkindes, welches seine ersten Schritte tut, kommt mir in den Kopf. Es hat Ähnlichkeiten. Als würde er sich erst daran gewöhnen müssen, einen Schritt nach den nächsten zu setzen.

„H-Hoppla. Mi-Mir geht es guuuut“, antwortet er schließlich. Nun auch das. Die Art, wie er spricht, wie er sich bewegt. Als sei dies alles neu für ihn. Völlig unbeholfen und irgendwie degeneriert. Das Gegenteil von dem, wie er zuvor war.

„Der Schatz“, sagt er und deutet auf einen großen Haufen vor dem Sarg. Er war mir zuvor nicht aufgefallen, doch dort liegt eine Menge Schmuck, einige Goldbarren, unzählige Münzen und sogar mit Edelsteinen verzierte Kelche. Die glänzenden und schimmernden Gegenstände faszinieren mich. Ich eile hinüber und stopfe alles, was ich tragen kann, in meinen Stoffbeutel. Danach sehe ich mir den Sarg an. Auch dieser ist verziert und auch auf diesem befinden sich dieselben Schriftzeichen wie überall hier. Meine rechte Hand berührt den Sarg.

„Nein!“, ruft Emmet plötzlich hinter mir. Verdutzt sehe ich ihn an.

„Da gibt es nichts. A-Alles, was darin war, habe ich… auuusgeräumt“, erklärt er und scheint sich zu einem Lächeln zu zwingen.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, erfrage ich erneut besorgt. Er nickt zustimmend. Ich lasse vom Sarg ab. Jetzt, wo ich Emmet gefunden habe, will ich einfach nur noch hier raus.

„Lass uns von hier verschwinden, Kumpel!“

„I-Ich weiß… wo lang… Komm mit!“

Er nimmt mich an die Hand und eilt mit mir aus diesem unheimlich wirkenden Raum. Wir gehen denselben Weg zurück, bis zu dem Punkt, an dem uns das Ding überrascht hat. Plötzlich führt mich Emmet geradeaus, ich war mir sicher, nach links zu müssen. Er sah nicht ein Mal auf die Aufzeichnungen. Als würde er sich hier auskennen. Dennoch bin ich sicher, dass wir diesem Weg nicht gefolgt sind. Auf einmal blendet mich helles Licht. Schützend halte ich mir eine Hand vor die Augen und blinzele mehrmals. Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln. Langsam geht es und meine Augen gewöhnen sich wieder an die Sonne.

Moment…

Sonne?

Verwirrt schaue ich mich um. Kein Scherz. Wir sind draußen. Wieder draußen. Ich schreie vor Freude auf. Aber wie? War es wirklich so einfach? Und ganz ohne Richtungsangaben? Zugegeben, es ist mir gerade scheißegal. Ich bin einfach nur glücklich, wieder Tageslicht zu sehen und frische Luft zu atmen. Noch dazu gemeinsam mit Emmet. Ich schaue zu ihm hinüber. Aufgeregt sieht er sich um. Seine Augen wandern wild hin und her. Wie jemand, der dies alles zum ersten Mal erblickt. Ich erschaudere und gleichzeitig vergeht meine Freude. Noch immer läuft er so… stockend, vorsichtig, als würden seine Beine bei einer falschen Bewegung wie Zweige auseinanderbrechen.

Auch spricht er noch immer so eigenartig. Er betont Worte unheimlich klingend oder zieht sie unangenehm in die Länge. Seine Stimme klingt auch seltsam. Stellenweise bricht sie ab oder er hört sich heiser an. Etwas stimmt nicht und ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Wir folgen dem Fluss zurück. Er läuft hinter mir und jedes Mal, wenn ich daran denke, durchfährt mich ein Schauer. Ich bleibe stehen und mache ihm Platz.

„Geh schon mal vor! Ich muss noch schnell etwas erledigen“, sage ich und lege den Beutel ab. Ich krame in ihm und gerade, als ich ihm seinen Anteil der Beute übergeben will, läuft er, mich ignorierend, einfach an mir vorbei.

„Hey? Dein Anteil?“

Er dreht sich stockend zu mir um.

„B-Brauch ich nicht. Behalt es ruuuhig! Ich habe alles.“

Mit diesen Worten entfernt er sich langsam. Kann es noch seltsamer werden? Langsam überkommen mich Zweifel, ob das wirklich mein Emmet ist. Ich stecke mir einige Münzen in die Tasche und vergrabe dann den Stoffbeutel. Mit diesen Wertgegenständen brauche ich gar nicht erst zurückzukehren. Man würde mich bestehlen oder mir im Schlafe die Kehle durchtrennen, um an das Gold zu gelangen.

Nach getaner Arbeit hole ich Emmet ein. Dieser steht orientierungslos in der Gegend herum.

„Was ist? Wieso gehst du nicht weiter?“

„I-Ich weiß nicht… wo lang…“

Erneut durchfährt mich ein eiskalter Schauer. Meine Angst kehrt zurück und kriecht mir erneut in die Knochen. Er weiß nicht, in welche Richtung wir gehen müssen?

Ich bringe Emmet nach Hause und renne dann selbst zurück zum Waisenhaus. Verängstigt sitze ich auf meinem versifften Bett. Mein Körper hört nicht auf zu zittern. Langsam kommen mir die unterschiedlichsten Gedanken. Als wir ankamen, war es laut Emmet ungefähr Nachmittag. Ich hab keine Ahnung, wie lange wir uns in diesem Grab aufgehalten haben, aber… hätte die Sonne nicht zumindest untergehen müssen? Es war hell. Strahlender Sonnenschein, wie als wir dort eintrafen. Dann fällt mir noch etwas auf. Jetzt, wo ich wieder über Emmet nachdenke. Er trug seine Tasche nicht bei sich. Die Tasche, in der er den Proviant und die Unterlagen seiner Mutter aufbewahrt hat. Davon mal abgesehen, dass er sich so puppenartig bewegt und so unheimlich spricht. Er hat auch nichts von dieser Kreatur erzählt. Ich habe auch nicht nachgefragt, weil mir so viel durch den Kopf ging und ich einfach nur noch dort raus wollte.

Ich werde ihn demnächst darauf ansprechen. Moment, Unterlagen? Schriften? Ich habe doch diese eine Seite gefunden und eingesteckt. Hastig fingere ich in meiner Hosentasche herum und ziehe das Stück Papier hervor. Zitternder Finger entfalte ich es und starre auf die Worte. Was hab ich auch erwartet? Etwa, dass ich plötzlich lesen kann? Ich seufze. Das nicht, aber ich kann ja einen Mutterersatz fragen. Ich springe von meinem Bett auf und renne durch den Flur, vorbei an den Kleinen, zu einem Gemeinschaftsraum. Zögernd frage ich diese Henne, ob sie mir den Inhalt vorlesen kann. Skeptisch starrt sie auf das Papier und schnaubt verächtlich. Dann beginnt sie dennoch vorzulesen.

Keine Frau und auch kein Greis,

alles in der Welt hat seinen Preis.

Weder dick noch dürr,

weder krank noch wirr.

Jung und stark, so muss es sein,

öffnet Pfad um Pfad, bis zu mein Gebein.

Tage sind vergangen und noch immer denke ich viel über diese Zeilen nach. Nach wie vor sehe ich Emmet. Anders als sonst sitzt er vor seiner Haustür und lächelt. Er beobachtet die Menschen in seiner Umgebung. Wir treffen uns nicht länger am Fluss. Ich treffe mich eigentlich gar nicht mehr mit ihm. Aber jetzt bin ich auf dem Weg. Ich brauche einige Antworten. Er sitzt wieder vor seinem Haus. Ein Mann gestikuliert wild vor ihm. Regt sich wohl über die Wucherpreise auf, und Emmet… Ich beobachte ihn dabei, wie er dessen Bewegungen nachahmt. Seinen Gesichtsausdruck nachahmt und ihn in seiner Gangart imitiert. Das ist nicht Emmet! Dieses Ding dort muss erst noch lernen, sich wie ein Mensch zu verhalten. Wie einer zu sprechen und zu gehen.

Aber… Wo ist dann mein Emmet? Wo ist mein bester Freund?

Er hört nicht einmal damit auf, als ich vor ihm stehe. Weiter imitiert er die Personen, die sich auf dem Markt herumtreiben.

„Hey… Kumpel?“, beginne ich zögerlich. Er blickt mich an und grinst.

„Hallo, Freund!“, schreit er praktisch schon und ich schäme mich etwas.

„Ja… Hey, da gibt es etwas, was ich dich fragen möchte…“

Er setzt sich wieder auf die Stufe und hält nach wie vor Blickkontakt.

„Im Grab, da… war doch diese Kreatur. Dieses ekelhafte Ding, das-“

Ich werde von seinem Gelächter unterbrochen, doch es klingt nicht wie Gelächter. Es hört sich so an, als würde er es einfach ablesen.

„Das war der W-Wächter. Willst du ein… Geheimnis wissen? Du hast dein Leben einer Verkettung glücklicher… Zufälle zuuuu verdanken.“

Als er erneut mit diesem unheimlichen Gelächter beginnt, wende ich mich ab und laufe ohne zu zögern zum Gasthaus. Hier treiben sich oft Söldner herum. Ich hole meinen Emmet zurück! Die Tür stoße ich auf und erkenne die Männer anhand ihrer Anstecknadeln. Es sind zwei, die sich gerade genüsslich ihrem Bier und einem Kartenspiel widmen. Ein dicker Kerl und ein sehr Schlaksiger. Ich knalle ihnen zehn Goldmünzen auf den Tisch.

„Ich heuere euch an!“, brülle ich und ziehe damit sämtliche Blicke auf mich.

Die beiden tauschen einen Blick aus und schaufeln sich das Gold in die Taschen.

„Worum geht’s denn?“, fragt der Fette. Ich sage ihnen, dass ich nach meinem Freund suche, und will, dass sie das Grab untersuchen. Dazu gebe ich ihnen die Wegbeschreibung und gebe ebenfalls eine Beschreibung zu Emmet ab. Ich hoffe, dass ihnen der falsche Emmet nicht aufgefallen ist. Sie nehmen den Auftrag an und begeben sich sofort auf den Weg.

Ich muss es wissen. Mit Abstand folge ich den Beiden. Leise und unauffällig. Diese Route erneut zu nehmen, löst die verschiedensten Gefühle in mir aus, aber das stärkste Gefühl, das ich empfinde, ist, dass ich ihn einfach schrecklich vermisse.

Die Söldner betreten die Anlage, wie auch wir zuvor, und nähern sich dem Eingang. Mir ist es jetzt scheißegal, ob sie mich entdecken oder nicht, ich laufe hinterher. Als ich auf der Treppe stehe, höre ich, wie die Männer grummelnd kehrtmachen. Als sie mich erblicken, verfinstert sich ihre Miene.

„Willst du uns verarschen, oder was?!“, brüllt der Dicke. Verwundert lasse ich durchscheinen, dass ich nicht weiß, wovon der da spricht.

„Da geht’s nicht rein! Ist ’ne massive Mauer! Also wenn es sonst keinen Eingang gibt, war’s das jetzt.“

Fassungslos starre ich an ihnen vorbei. Mich interessiert es nicht, dass sie dabei sind zu verschwinden. Mich interessieren ihre Beleidigungen nicht. Nichts davon ist wichtig.

Ich steige die Stufen hinauf, laufe wie damals schon einige Meter hinein, und da ist sie. Die Wand. Unpassierbar. Kichernd sinke ich auf die Knie. Ich presse meinen Rücken gegen die kalte Wand. Das kann doch alles nicht wahr sein. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Das war’s. Jetzt, wo ich so öffentlich das Gold präsentiert habe, kann ich nicht mehr zurück. Die kennen mich. Alistair aus dem Gesindeviertel. Die kennen mich doch fast alle. Noch heute werde ich Kerheen verlassen. Ich grabe meinen Schatz aus und folge dem Fluss. Genau. Durch Dörfer und an Wäldern vorbei. Immer weiter dem Fluss folgen, so gelange ich irgendwann nach Weisswasser. Und was dann? Keine Ahnung. Aber darum kann ich mir Gedanken machen, wenn ich dort angekommen bin.

Ein undefinierbarer Laut unterbricht meine Gedanken.

Meinen Atem anhaltend, lausche ich angestrengt. Da war es schon wieder. Nein… Nein! Das kann nicht sein! Ruckartig drehe ich mich zur Wand um und presse mein rechtes Ohr dagegen. Die Kälte ignoriere ich.

Da! Ganz deutlich! Und plötzlich wird es klarer. Ungläubig öffne ich meinen Mund, bekomme aber keinen Ton heraus.

Stattdessen lausche ich einfach nur diesen gedämpften Schreien aus dem Inneren.

Ich lausche Emmets Stimme, der neben angsterfüllten und panischen Hilferufen…

Auch immer wieder meinen Namen schreit.

Autor

Dianart18

Die Geschichte Bewahrer zeigt dir auf, was hier passiert sein könnte.

Bewertung: 0 / 5. Anzahl Bewertungen: 0

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Überprüfen Sie auch
Schließen
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"