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Museum der Erinnerungen – Zwischenfälle

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Inhaltsverzeichnis:

Teil 1: Museum der Erinnerungen
Teil 2: Direktionswechsel
Teil 3: Spießroutenlauf
Teil 4: Zwischenfälle
Teil 5: Ausbruch

Teil: Die Sitzung
Teil: Interview mit einem Museumsdirektor

„Haus“-Besuch

„Folgen sie mir Mister Laval. Das Objekt, wegen dem sie hier sind, wird weiter hinten sicher aufbewahrt.“

„Davon gehe ich aus“, erwiderte der junge Museumsdirektor geistesabwesend, wobei er sich insgeheim bereits fragte, was dieser Kerl wohl unter „sicher“ verstand. Er hatte schon so viele Erinnerungen von Orten geborgen, an denen man glaubte, eine entsprechende Sicherheit eingerichtet zu haben. Dass sie es dann immer noch für nötig hielten ihn zu sich zu rufen, um besagte Erinnerungen schnellstmöglich loszuwerden, sprach wohl für sich.

Der Mann, dem er gerade folgte, hatte ihn vor ein paar Tagen mit der Bitte kontaktiert, vorbeizukommen und ein bestimmten Gegenstand in seine Sammlung aufzunehmen. Worum es sich dabei handelte oder warum er ihn nicht selbst vorbeibringen konnte, hatte er nicht erwähnt. Nicht, dass das ein Problem darstellte, Hausbesuche waren für Nathaniel ja nicht unüblich, obgleich er das Museum und die darin beherbergten Erinnerungen nur ungern verließ.

Kaum das er eingetroffen war, hatte er zudem schon seine erste Antwort erhalten. Bei seinem Führer handelte es sich um einen schmächtigen Kerl, mittleren Alters, mit undurchschaubarer Miene und analytischem Blick, welcher seinen beruflich bedingten eleganten Anzug, vermutlich nicht einmal zum Schlafen ablegte, da sein Beruf sein Leben ausmachte. Mit anderen Worten, er hatte es mit der Justiz zu tun, welche vermutlich wieder einmal lediglich als Vertreter in dieser Angelegenheit fungierte.

Zu Beginn des Museums der Erinnerungen, als es noch vom ersten Direktor geleitet worden und Nathaniel noch nicht einmal geboren worden war, hatten die Dinge etwas anders gestanden. Der alte Mann hatte stätig nur darauf hoffen können, dass geistesgegenwärtige Menschen, ihre dunklen Lasten bei ihm abluden, damit er sie sicher verwahren konnte. Nur selten wagte er es, sie allein zu lassen, um solche Gegenstände selbst zu bergen und wenn, dann kam er häufiger mit dem Gesetz in Konfrontation.

Über die Jahre hinweg jedoch, hatten sich viele Länder, die er in absoluter Regelmäßigkeit besuchte, um seine Ausstellung aufzumachen, an seine Arbeit gewöhnt und ihre Wichtigkeit erkannt. So kam es gar, dass die Regierung mancher Staaten, Kontakt mit ihm aufgenommen hatten, damit er sich einiger Objekte annahm, welchen unangenehme Zwischenfälle oder Ereignisse anhafteten. Alles unter der Hand natürlich und ohne, dass es an die Öffentlichkeit geriet, zumindest solange, bis die entsprechende Erinnerung fester Bestandteil des Museums und so für jedermann einsehbar wurde.

Heutzutage profitierte Nathaniel als nunmehr dritter Direktor von dieser Vorarbeit. In fast jeder größeren Stadt, in die er einkehrte, gab es die eine oder andere Kontaktperson, die ihm neue Ausstellungsstücke zukommen ließ. Meistens legal, wenn auch verschwiegen, hin und wieder auch ein wenig das Gesetz biegend. In Letzteren Fällen war häufig die örtliche Polizei involviert, die Beweismaterial verschwinden ließen, welches für mehr Ärger sorgte, als es wert war. Hin und wieder kam es aber auch vor, dass Zivilisten ihre bürgerliche Pflicht da erfüllten, wo der Staat der Meinung war, es handle sich nur um Humbug.

Denn das Museum wurde nicht allerorts mit offenen Armen empfangen, ganz im Gegenteil. Es gab Ortschaften, in denen es lediglich geduldet wurde, aber auch solche, in denen man ihm gar nicht erst Zutritt gewährte. In eben diesen, mussten dann Mittelsmänner her, die nicht selten eine ganze Stange Geld für ihre Dienstleistung verlangten.

Was tut man nicht alles, für die Sicherheit der Welt, seufzte Nathaniel innerlich. Auch wenn er sich kaum vorstellen könnte, in seinem Leben jemals etwas anderes zu machen, als weiter in seinem Museum zu arbeiten, raubte es ihm hin und wieder doch den Schlaf, sowie den ein oder andern Nerv.

Aber um diese Dinge brauchte er sich dieses Mal ja glücklicherweise keine Gedanken machen, da alles seinen mehr oder minder offiziellen Weg ging. Keine selbsternannten Gesetzeshüter, die sich ihm auf etwaige Arten das Leben schwermachten, keine Verfechter der Logik und des gesunden Menschenverstandes, die glaubten es besser zu wissen, sondern lediglich einige ehrfürchtige Menschen, die zwar keine Ahnung hatten, mit welchen Mächten sie da hantierten, aber wenigstens genug Grips bewiesen, sie in die Hände derer zu geben, die es taten.

Dennoch konnte Nathaniel sich eine gewisse Nervosität nicht absprechen, während seine und die Schritte seines Führers leise von den Wänden widerhallten, an denen sie vorbeiliefen. Sie befanden sich in einer riesigen Lagerhalle, zu deren rechten Seite sich unzählige Metallregale meterhoch in die Höhe arbeiteten. Befüllt waren sie mit hölzernen Kisten unterschiedlicher Größe, in denen sich Gott wusste was befand. Es interessierte den jungen Mann nicht.

Außer ihnen beiden schien derzeit niemand hier zu sein. Dieser Umstand, gemischt mit dem spärlichen Licht, welches von den viel zu hoch hängenden Deckenlampen abgegeben wurde, sorgte für eine leicht drückende Atmosphäre. Oh, und nicht zu vergessen die unnachgiebige Stille, welche selbst ihre hallenden Schritte in den Tiefen des Lagers zu verschlucken schien.

Es war nicht so, dass Nathaniel Angst hatte. Zwar hatte er mit diesem Gefühl schon seine Erfahrungen machen müssen, doch war sie damals wenigstens auch gerechtfertigt gewesen. Stille, Einsamkeit und eine gerade einmal ausreichende Beleuchtung, die den Eindruck erweckte, jeden Augenblick ausfallen und ihn in absoluter Finsternis zurücklassen zu können, gehörten allerdings bei Weitem nicht zu den Dingen, die ihn ängstigten.

Nein, nervös war er nur aus zweierlei Gründen. Zum einen wäre da natürlich die Erinnerung, wegen der er hier war. Er hatte bisher keinerlei Details über sie erfahren, was bedeutete, dass er unvorbereitet an die Sache rangehen musste. Das gefiel ihm schlicht und ergreifend nicht. Er war kein Mensch, der gerne improvisierte, sondern immer einen Überblick über die Situation besaß und entsprechend einen Plan parat hatte.

Hier jedoch sah er sich einer unbekannten Gefahr ausgesetzt. In der Regel verhielten sich die meisten Erinnerungen zwar ruhig, wenn er kam, um sie abzuholen, was meistens daran lag, dass sie vorher schon – zumindest ansatzweise – „sicher“ verwahrt worden waren, aber man konnte es eben nie wissen.

Und dann wäre da noch die Sache mit dem Museum… mal abgesehen davon, dass er es nicht gerne verließ, was nur zum Teil daran lag, dass er es nur ungern aus den Augen ließ, sondern auch daran, dass er sich der Außenwelt nicht mehr richtig angehörig fühlte – falls er das überhaupt jemals getan hat. Nein, es lag auch oder vielmehr vor allem daran, dass er die Erinnerungen während seiner Abwesenheit in die Hände seiner beiden neuen Assistenten gegeben hat. Zwar hatte er ihnen klare Instruktionen erteilt und sie arbeiteten ja nun auch nicht mehr erst seit gestern für ihn, doch waren sie dennoch… nun ja, sie selbst eben.

Während er mit seinem schweigsamen Begleiter durch die nicht enden wollende Lagerhalle schritt, ging dem Direktor ein einziger Gedanke wieder und wieder durch den Kopf: Bitte lass sie nichts Dummes anstellen…

 

Assistenten bei der Arbeit

„Und dieses Stück hier, wie Sie sehen können, eine einfache Bärenfalle, wurde inmitten einer baufälligen Ruine zusammen mit einem halben Dutzend Leichen und diverser anderer Fallen gefunden, welche die armen Seelen dahingerafft haben.“

Die Meute staunte und raunte und tuschelte. Sie schüttelten den Kopf, einige bekreuzigten sich gar, doch den meisten dieser Heuchler war ihre unverhohlene, morbide Neugierde deutlich anzusehen.

James verstand das nicht. Warum standen die Menschen nicht einfach zu ihren Interessen? Es war ja nun kein Geheimnis, dass sie nur wegen all der Gräueltaten, die einst mit diesen Gegenständen begangen worden waren, hierherkamen. Jeder wusste das, niemand sprach darüber, alle taten so, als täten ihnen die Opfer schrecklich leid. Aber womöglich war ihm das Verständnis für derlei Dinge, über die Jahrhunderte auch einfach abhandengekommen. Der Unsterbliche begriff die Welt von heute ohnehin nicht mehr und versuchte es zumeist auch erst gar nicht, da dieses Vorhaben eh zum Scheitern verurteilt war.

Er ließ den Gaffern noch einen Moment, ehe er sie zum nächsten Objekt ihrer Begierde führte. „Wenn sie mir dann bitte weiter folgen mögen.“ Und sie taten es, wie Schäfchen, die ihrem Hirten blindlings hinterhertrotteten, in Erwartung, dass man ihnen Futter und Sicherheit bot; Grundbedürfnisse stillte. Ein amüsantes Gedankenspiel, wie der Mann empfand.

Zudem ein Gedankenspiel, dass ihn geradewegs an einer Erinnerung vorbeilaufen ließ, was natürlich sogleich entsprechend kommentiert wurde. Eine stark beleibte Frau nahm als erstes den Mut zusammen, ihr Recht einzufordern, das zu verlangen, wofür sie bezahlt hatte: bildhafte Beschreibungen der Schrecken, die hier aufgereiht wurden.

„Verzeihung, Sir? Mir scheint, sie haben dieses Objekt hier ausgelassen.“ Auch wenn ihre Wortwahl Höflichkeit mimte, sprach ihr Ton doch fordernd, um nicht zu sagen, bereits ein wenig bis mittelschwer verärgert.

Bei der ausgelassenen Erinnerung handelte es sich um einen massiven, etwa ein Meter hohen Tresor, welchen James in- und auswendig kannte. Vor allem in. Viele Jahrzehnte hatte er darin eingesperrt verbracht. Eine Information, die seine Zuhörer vermutlich brennend interessieren würde, die er ihnen jedoch vorenthalten musste, da niemand wissen sollte, dass sie es mit einem Unsterblichen zu tun hatten. Mister Laval war in dieser Hinsicht sehr deutlich gewesen.

„Ich erbitte Ihre Entschuldigung Ma’am, Sie haben natürlich absolut recht“, säuselte er so untertänig, dass die Mundwinkel der übergewichtigen Dame sich direkt wieder aufs Höchste erfreut hoben. Stünde er nicht über solchen Dingen, James hätte sich am liebsten ihr üppiges Dekolleté übergeben, so sehr ekelte er sich in diesem Augenblick vor sich selbst.

„Bei diesem Objekt“, setzte er weiterhin professionell an, „handelt es sich um einen schlichten Tresor. Es ist nichts Besonderes daran, außer dass der letzte Erwerber dieses Stücks, bis zur Unkenntlichkeit entstellt aufgefunden worden ist. Ebenso wie zwei Polizeibeamte und ein Hausmeister, welche Tage nach dem Vorfall, die Wohnung betreten haben. Bis heute ist ungeklärt, was sich in der Wohnung abgespielt hat und welche Kräfte dort gewirkt haben, um Derartiges zu vollbringen.“ Eine dreiste Lüge. James wusste natürlich nur allzu genau, was damals geschehen ist, jedoch ging das niemanden der hier Anwesenden etwas an.

Sie gingen auch noch die restliche Ausstellung der dunklen Erinnerungen durch, bis es Zeit wurde, die Menschentraube wieder hinaus zu geleiten. Allein sich auf die Tür zubewegen zu können, stellte für James eine Erleichterung ohne Gleichen dar. Er konnte sich kaum ausmalen, wie Mister Laval diese Aufgabe Tag für Tag überstand, ohne dem Bedürfnis nachzugehen, irgendwann Amok zu laufen. Eigentlich hatte der Unsterbliche seine Zeit des hinterhältigen Mordes ja hinter sich gelassen, da es ihn, wie alles Weltliche, nach einigen Jahren zu langweilen begonnen hat, jedoch begann er sich langsam zu fragen, ob diese Phase nicht einen zweiten Versuch wert sein könnte.

Allerdings würde es Mister Laval vermutlich kaum begrüßen, wenn er auf einmal begann ahnungs- und wehrlose Kundschaft umzubringen, weswegen er sich zusammenriss. Andererseits könnte es vielleicht nicht schaden, ihn zumindest einmal darauf anzusprechen, immerhin wurden Melissa auch einige durchaus fragwürdige Freiheiten gewährt…

„Na Jami, alles gut verlaufen?“

Wenn man vom Teufel spricht, dachte der Unsterbliche, wobei er innerlich die Augen verdrehte, während er noch einmal geflissentlich überprüfte, ob die Tür zu den dunklen Erinnerungen auch wirklich abschlossen war. War sie, wie sollte es auch anders sein? Als ob er jemals unaufmerksam wäre.

Ohne auf die Frage seiner Kollegin einzugehen, schritt er an ihr vorbei, um weiter seinen Verpflichtungen nachzugehen.

Hinter ihm zuckte die junge Frau mit den Schultern. „Das nehm‘ ich mal als nein.“ Dann lief sie ihm wie ein treudoofer Hund hinterher, wobei sie die Arme hinter dem Rücken verschränkte und albern auf und ab hüpfte. „Sind dir die bösen Leute wieder auf die Nerven gegangen? Haben dich nach deiner Vergangenheit ausgequetscht? Nach deiner Ein-Zimmer-Wohnung, ohne Fenster, Küche oder Bad?“

„Melissa“, seufzte der andere, wobei er sein Tempo noch ein klein wenig erhöhte, was allerdings auch nichts brachte, da seine nervige Begleitung trotz ihrer geradezu abgemagerten Statur über eine beachtliche Ausdauer verfügte. „Sei doch bitte zur Abwechslung einfach einmal still“, fügte er deswegen noch genervt hinzu.

„Nah“, winkte sie ab. „Du weißt doch, dass mir das nicht so liegt. Außerdem hast du es selbst zu verantworten, dass ich hier bin, immerhin hast du mich damals zu deiner kleinen Party hier eingeladen.“

Womit sie den kleinen Spießroutenlauf meinte, den er hier veranstaltet hatte, um sich einen kleinen Spaß mit Mister Laval zu gönnen, der darin endete, dass er sich ihm verpflichtete, solange er lebte. Ein Deal, den er bis auf eine Kleinigkeit bisher nicht bereut hatte, da die Arbeit hier zumindest Abwechslung versprach. Bei besagter Kleinigkeit handelte es sich um den Quälgeist, welcher ihm gerade hinterherdackelte und dem er nicht einmal widersprechen konnte. Ja, es war seine Schuld, dass sie ebenfalls hier eingestellt worden ist… Nun, das stimmte nicht ganz. Er hatte sie nur, wie sie sagte, zu seiner „Party“ eingeladen. Wer hätte damit rechnen können, dass Mister Laval sich bereit erklären würde, sie auch gleich einzustellen?

Nun, das Leben hatte so eine Eigenart, mit unerwarteten Variablen daherzukommen, die einem die ganze Gleichung versauen konnten, die man sich so mühevoll konstruiert hat. Nicht, dass James die ganze Sache damals groß geplant und bis ins Letzte durchdacht hätte, es war mehr eine spontane, fixe Idee gewesen. Ein kleiner Zeitvertreib, der in einer Festanstellung bis ans Lebensende seines Arbeitgebers gemündet hat. Schon witzig, wie das – unsterbliche – Leben manchmal so spielte.

Neben ihm klatschte Melissa einmal in die Hände. „Und, was steht als nächstes an der Tagesordnung?“

„Das solltest du eigentlich wissen“, brummte der andere. „Nach der letzten Führung im Raum der dunklen Erinnerungen, haben die Besucher noch eine halbe Stunde, um sich unsere normalen Exponate anzusehen, ehe wir sie darum bitten müssen, das Gebäude zu verlassen, um es abschließen zu können. Dann werden wir…“

„Jaja“, meinte die Jüngere. „Wollte nur testen, ob du alles behalten hast.“

„Ob ich…?“ Er beendete seinen Satz nicht, atmete nur ein paar Mal tief durch und ging dann ohne einen weiteren Kommentar, seiner Arbeit nach. Oder besser gesagt, er hätte es getan, wenn er dabei nicht ohne Unterlass unterbrochen worden wäre.

„Weißt du Jami, du bist viel zu verkrampft. Du musst echt mal ‘n paar Gänge runterschalten, locker werden, du verstehst‘ schon.“

Nein, tat er nicht, aber das musste er auch nicht. Für ihn galt nur, seiner Pflicht als Assistent des Museums der Erinnerungen nachzugehen. Eine Sache gab es allerdings die er verstand und die er ein für alle Mal klären musste, bevor er sich noch vergaß. „Hör auf mich Jami zu nennen.“

„Nein“, erwiderte sie knapp und mit einem Lächeln auf den Lippen, das wohl niedlich sein sollte, in ihrem Fall jedoch nur verstörend wirkte.

„Eines Tages werde ich dir den Hals umdrehen…“

Darüber lachte sie nur, gefolgt von einem eiligen Schritt, der sie vor ihn brachte, wodurch er dazu gezwungen wurde stehen zu bleiben. Dies offenbarte ihr die Möglichkeit, ihm ihren Zeigefinger gegen die Brust zu stoßen und zu verkünden: „Nathi würde das nicht gutheißen, wie du weißt.“

„Genauso wenig wie er es gutheißt, dass du ihm ebenfalls so einen albernen Kosenamen gibst“, knurrte James, wobei er zur Seite auswich und an seiner Kollegin vorbeistürmte. Natürlich ließ sie sich dadurch nicht davon abbringen, ihm auch weiterhin zu folgen und den letzten Nerv zu rauben, wodurch die nicht einmal mehr halbe Stunde, die das Museum noch geöffnet hatte, sich in eine Ewigkeit dehnte. In einem Unsterblichen ein solches Gefühl auszulösen, war eine Kunst, die nur wenige beherrschten…

„So, das wäre es“, meinte James, während er die Eingangspforte des Museums abschloss. Jetzt galt es noch einmal sämtliche Flure und natürlich den Raum mit den dunklen Erinnerungen zu untersuchen und dann auf die Rückkehr von Mister Laval zu warten.

Soweit ist doch alles ganz gut gelaufen. Insgeheim hatte er ja in der Abwesenheit des Direktors mit einer Katastrophe gerechnet, doch war diese bisher glücklicherweise nicht eingetreten. Was nicht ist, kann ja noch werden. Es war natürlich nicht so, dass er sich ein Desaster egal welcher Art und welchen Ausmaßes herbeisehnte, doch haben solche Dinge die unangenehme Eigenschaft immer genau dann aufzutreten, wenn man es am wenigsten gebrauchen konnte.

„Glückwunsch“, erklärte Melissa sarkastisch. „Und das ganz ohne Todesfall. Fast schon langweilig. Hab‘ Nathi doch gesagt, dass er sich keine Sorgen machen braucht.“

„Warum, weil auf dich so unheimlich viel Verlass ist?“ Während er weiter dem nicht enden wollenden Geplänkel mit seiner Kollegin nachging, erledigte der Unsterbliche bereits seine letzten Pflichten, indem er durch die nunmehr leeren Gänge des Museums schritt und jeden Winkel absuchte, ob auch ja keine verirrte Seele noch hier umherwanderte und womöglich irgendwelche Dummheiten anstellte.

„Aber sicher doch!“, pflichtete die junge Frau ihm bei. „Ich bin die personifizierte Verlässlichkeit, wie du weißt.“

Ach, wusste er das? Auch wenn ihm so manch bissiger Kommentar auf der Zunge lag, biss er sich auf die Lippen. Es brachte ja eh nichts. Was er auch sagte, dieses Plappermaul war nicht zum Schweigen zu bringen, ganz im Gegenteil, jedes weitere auf ihre Worte Eingehen, sorgte nur dafür, dass derer noch weitere aus ihrem Mund sprudelten. Wie ein unendlicher Quell, unsinniger Aneinanderreihungen von artikulierten Lauten.

Schweigen stellte hier allerdings auch keine Lösung dar, da der nicht versiegende Quell sich davon auch nicht aufhalten ließ. Stille wirkte nicht gerade wie ein Damm, eher wie ein Fischernetz, das zusammen mit den Raritäten des Wassers auch gleich jeden nur erdenklichen Müll auffing, von dem es mehr als genug gab. Vor allem wenn er von einer Deponie wie dieser Frau kam.

Umso erleichterter zeigte James sich, als sie sich mit dem Absuchen des Museums dem Ende neigten und bald schon vor der Tür, der zu den dunklen Erinnerungen standen. „Na dann wollen wir mal“, sagte er mehr zu sich selbst als zu seiner Kollegin, die er schon beinahe ausgeblendet hatte. Wenn doch ihre Stimme nur nicht so nervig wäre…

„Jepp“, stimmte sie zu. „Auf ins Getümmel!“

 

Mit oder ohne Schleife?

„Das ist ein schlechter Scherz, oder?“, fragte Nathaniel, der überhaupt nicht zu Scherzen auferlegt war. Vor allem in Anbetracht dieses Monstrums, vor dem er gerade stand.

„Keineswegs“, erklärte der Justiz-Mann. „Im Gegensatz zu der dazugehörigen Mordwaffe, hat die Verwaltung das Fahrzeug erst jetzt, nach langwierigen und – wenn sie mir diese Anmerkung gestatten – völlig unnötigen Untersuchungen, freigegeben. Jetzt, da sie damit nichts mehr anfangen können, bittet man Sie darum, es an sich zu nehmen.“

Die Anmerkung gestattete er dem Mann durchaus, vor allem da sie ihn ein wenig sympathischer werden ließ, obgleich er sich natürlich immer noch stocksteif und bürokratisch gab. Das änderte aber nichts daran, dass der Direktor sich gelinde gesagt, ein wenig verarscht vorkam. „Und wie stellen die sich das bitte vor? Soll ich das Ding in meinem Handgepäck mitnehmen?“

Der andere schüttelte den Kopf und erwiderte trocken: „Nein, freilich verlangt man das nicht von Ihnen, Mister Laval. Für den Transport steht bereits ein Lieferfahrzeug bereit, ebenso einige Beauftragte, die nicht nur die Lieferung, sondern auch den Aufbau in Ihrem Museum übernehmen werden.“

Das klang schon besser. „Und wozu brauchen Sie dann mich?“

„Nun“, der Mann nahm seine Brille ab und mit der anderen Hand ein Tuch aus seiner Tasche, um sie zu putzen, „wir hätten die Lieferung mit ihrem Einverständnis schon längst erledigt, da gibt es nur ein kleines Problem…“

Nathaniel gab ein genervtes Seufzen von sich. „Das da wäre?“

„Die Männer weigern sich, die Arbeit ohne… professionelle Überwachung zu verrichten.“

Der andere hob fragend eine Augenbraue, ehe er sich dem Objekt zuwandte, welches am Ende der Lagerhalle einiges an Platz einnahm. „Das ist nur ein zerstörter Bus, nichts weiter.“

Daraufhin zuckte der Justiz-Mann nur mit den Schultern, als verstünde er dieses ganze Gewese ebenso wenig. „Sie schwören sich in der Nähe des Fahrzeugs unwohl zu fühlen.“

„Kennen sie seine Vergangenheit?“

„Allerdings.“

Er rollte mit den Augen. „Dann ist es ja kein Wunder.“ Unfassbar, wie blind Menschen vor der wahren Gefahr sein konnten, während sie vor offensichtlich harmlosen Gegenständen zitternde Knie bekamen.

Gut, zugegeben, der Bus hatte einiges miterlebt. Man hatte ihn inmitten einer Wüste gefunden, völlig demoliert, darin und darum drei zerfetzte Leichen oder besser gesagt ihre Überreste, sowie ein Beil, in dessen Schaft diverse Kerben geschnitzt worden waren. Nathaniel hatte sich erlaubt hierzu eine etwas sehr fantasievolle Geschichte zu schreiben, was damals tatsächlich geschehen war, wusste er jedoch genauso wenig wie alle anderen.

Das man ihm jetzt diese Schrottmühle überließ, schmeckte ihm eigentlich überhaupt nicht. Die eigentliche Erinnerung – das Beil – hatte er bereits an sich genommen. Wenn er jetzt anfing in dieser Größenordnung zu arbeiten, würde man ihm bald schon versuchen ganze Wohnungseinrichtungen anzudrehen. Andererseits würde dieses Stück vermutlich einiges an Aufmerksamkeit erregen, was die Besucherzahl steigerte, was die Energien der dunklen Erinnerungen stärker durchwirbelte und somit auch weiterhin eine Katastrophe verhinderte. Insofern…

„Packen Sie es mir ein.“

„Sehr gerne Mister Laval, möchten Sie eine Schleife dazu?“

Dem jungen Direktor war immer noch nicht zu Witzen zumute, dennoch rang er sich bei diesem kleinen Scherz zu einem winzigen Lächeln durch.

 

Erinnerungen und andere Funde

Schwungvoll öffnete sich die Tür zu den dunklen Erinnerungen. Dahinter kam nicht ganz das zum Vorschein, was die beiden Assistenten erwarteten.

James regte sich im ersten Moment nicht großartig, sondern legte lediglich den Kopf schief und musterte die unerwartete Variable. Obwohl, so unerwartet war sie ja eigentlich nicht, er hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet, dass irgendetwas schiefgehen würde. Jetzt konnte er die Unbekannte immerhin auch klar benennen.

„Hast du irgendetwas damit zu tun?“, fragte er tonlos an seine Kollegin gewandt.

„Nope“, erwiderte diese prompt. „Du weißt, dass das nicht mein Stil ist.“

Da war was Wahres dran. Dennoch behielt er sich vor, die Kleine im Auge zu behalten. Vorerst begnügte er sich damit, einen Schritt auf den Leichnam zuzumachen, der direkt vor dem Eingang des Raumes lag und sich neben ihn niederzuknien. „Und mit deinem Begleiter hat das hier auch nichts zu tun, nehme ich an?“

„Natürlich nicht“, verneinte Melissa sogleich, wobei sie in keiner Weise durchschimmern ließ, dass das Verhör sie störte. „Wenn dem so wäre, wäre die Leiche bei Weitem nicht so frisch. Außerdem ernährt er sich nur während meiner freien Tage und hat zudem erst vor Kurzem gegessen. So bald wird es also nicht wieder erforderlich sein.“

Ja, so war das. Die beiden „neuen“ Assistenten des Museums entsprangen selbst dunklen Erinnerungen. James, der Unsterbliche, der nach vielen Jahren aus seinem Gefängnis befreit worden war und Melissa, die Opfer und später Schülerin eines fallenstellenden Massenmörders geworden ist. Ihren unfreiwilligen Lehrer hat sie später umgebracht und vollumfänglich seinen Platz eingenommen.

Dieser „Freizeitbeschäftigung“, wie sie es nannte, ging sie dieser Tage nicht mehr so aktiv wie noch vor ihrer Anstellung nach, gänzlich fallengelassen hatte sie sie aber laut ihrer Aussage nicht. Da James sich nicht für das aktuelle Tagesgeschehen interessierte und er deswegen keine Nachrichten verfolgte, konnte er das nicht überprüfen. Nicht, dass er allzu sehr darauf brennen würde, es zu erfahren.

Außerdem beherbergte die Gute seit einiger Zeit noch eine weitere Erinnerung in sich, den „Grinser“. Ursprünglich hatte dieses Wesen sich an eine Künstlerin gehaftet, welche ihm jahrelang als Wirtskörper gedient hat. Über diese Periode hinweg, hat sie jedoch im wahrsten Sinne den Bezug zu ihrer Welt verloren und ist nach und aus ihr entschwunden, weswegen Grinser ein neues Gefäß benötigte. Mister Laval hatte beschlossen, seiner Mitarbeiterin diese Bürde aufzuladen, statt selbst das Opfer zu werden.

Jedenfalls ernährte diese außerweltliche Kreatur sich von der Lebensenergie anderer Wesen – in diesem Fall Menschen. Vermutlich nutzte Melissa ihr Hobby, um ihm die nötige Nahrung zu zukommen zu lassen, immerhin starben wohl nicht alle ihre Opfer durch die ausgelegten Fallen sofort.

Man mochte meinen, dass diese Vorgehensweise – das Zulassen von hinterhältigen Tötungen und das Am-Leben-lassen derartiger Monster – gegen Mister Lavals Prinzipien sprach, doch betrachtete dieser stattdessen das große Ganze, das Gesamtbild. Er nahm diese kleineren Übel in Kauf, um größere, deutlich katastrophalere zu verhindern.

Was nicht bedeutete, dass James nicht durchaus die Meinung vertrat, die Kleine könnte bedenkenlos entlassen werden. Zumindest hatte er selbst, ihren Nutzen bisher nicht erkannt, dafür sehr wohl die Schäden, die sie anrichtete. Vor allem an der geistigen Stabilität des Unsterblichen.

„Also wie ich das sehe“, erläuterte James, während seine Augen weiterhin über den Körper der erkaltenden Leiche wanderten, „ist der Mann mit einem präzisen Messerstich zwischen die Rippen getötet worden. Der Angriff hat das Herz erwischt. Weitere Verletzungen kann ich nicht ausmachen.“ Er legte seinen Handrücken auf die Stirn der Leiche. „Er ist noch warm, noch nicht allzu lange tot.“

„Aber nicht hier umgebracht worden“, merkte Melissa noch an, die sich mit vor der Brust verschränkten Armen an den Türrahmen lehnte.

„Nein. Keine Lache oder andere Blutspuren. Der Körper muss woanders ausgeblutet und erst dann hierher gebracht worden sein.“

„Die Mordwaffe?“

Der Unsterbliche sah sich in näherem Umkreis um, fand jedoch nichts. „Nicht in der Nähe. Die Erinnerungsstücke scheinen außerdem unberührt zu sein.“

„Wie hoch steht deiner Meinung nach die Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder eine Leiche während unseres Streifzuges durch die Gänge transportieren konnte, ohne dass wir es bemerken?“

„Gering, aber nicht unmöglich. Allerdings gibt es etwas anders, das mir zu Denken gibt.“

„Die Tür?“

Er nickte. „Allerdings. Sie war verschlossen. Das heißt der Täter hatte entweder einen Schlüssel, oder aber er ist noch hier.“

„Oder…“

Sie kam nicht einmal dazu den Satz zu beenden. „Wir haben es mit nicht-menschlichen Kräften zu tun.“

„Hey, das wollte ich gerade sagen!“, protestierte die junge Frau, was James geflissentlich ignorierte.

„Gehen wir doch Möglichkeit für Möglichkeit durch. Bleib bei der Tür, während ich mich hier ein wenig umsehe.“

Melissa verdrehte die Augen. „Also bitte! Ich kann von hier aus sehen, dass niemand außer uns hier ist. Aber wenn du meinst, deine Zeit verschwenden zu müssen, will ich dich natürlich nicht aufhalten.“

Nicht, dass es etwas geändert hätte, hätte sie es doch gewollt. Denn James hatte sich bereits wieder aufgerichtet und schritt an den dunklen Erinnerungen vorbei. Schaute hinter und neben jeden Aufsteller, betrachtete jeden Glaskasten und die darin enthaltenen Gegenstände, womit er neben der Suche nach dem Täter auch gleich sicherging, dass wirklich keines der Exponate entwendet, ausgetaucht oder manipuliert wurde. Mit anderen Worten, im Gegensatz zu seiner verhassten Kollegin, nahm er seinen Beruf sehr ernst.

Die Tatsache das jemand im Museum einen Mord begangen hatte, beunruhigte ihn deutlich weniger als die Vorstellung, dass gleichzeitig mit den Erinnerungen Unfug getrieben worden sein könnte. Wenn Mister Laval davon erfuhr, würde er aus der Haut fahren.

Natürlich beschäftigte der Tote ihn dennoch. Fragen über Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. War der Mörder nach Schließung im Gebäude geblieben oder erst wieder eingedrungen? Handelte es sich bei dem Opfer um einen Besucher? War der Zeitpunkt dieser Tat Zufall oder beabsichtigt in der Abwesenheit des Direktors gewählt?

Früher oder später würden sie wohl Antworten erhalten, das hieß, solange sie umsichtig und vorsichtig vorgingen. Beides Eigenschaften, deren Erlangung seine Kollegin sich nicht gerade bestrebt zeigte. Nichtsdestotrotz konnte er nicht leugnen, dass ihr extravaganter Lebensstil sich in diesem Fall als hilfreich erweisen konnte. Immerhin hatte sie ebenso wie James schon öfter mit dem Tod zu tun gehabt und so zumindest einige Kenntnisse errungen, die hierbei gebraucht wurden. Dass sie dazu in der Lage war, ihre Konzentration genug zu fokussieren, um einige sinnige Anmerkungen von sich zu geben, hatte sie ja bereits bewiesen.

Die Reihen der Erinnerungen boten zumindest schon einmal keine Auffälligkeiten. Der Tresor war leer, der Stuhl unberührt, die eiserne Jungfrau stumm. Insbesondere Letzteres ließ den Mann Erleichterung verspüren. Nicht, weil er sich vor dem Folterinstrument oder was sie beherbergte fürchtete – ohne die Fähigkeit zu sterben, verlor man irgendwann jegliche Angst –, sondern weil von diesem Objekt die größte Gefahr ausging. Nun… seit kurzem die zweitgrößte. Mutmaßlich zumindest. Außer Mister Laval wusste schließlich niemand etwas von dem Gegenstand, den er während seines Interviews mit Mister Ferral erlangt hatte.

Mister Laval behielt stillschweigen darüber. Alles was James und Melissa wussten, hatten sie aus der Tonbandaufnahme des Direktors erfahren. Vermutlich hätten sie nicht einmal diese hören dürfen. Fakt war, dass die Erinnerung von Mister Ferral, zusammen mit seiner Leiche irgendwo weggesperrt worden waren. Ein klarer Verstoß gegen die Grundsätze des Museums, in diesem speziellen Fall aber wohl notwendig, da es sich um ein Artefakt oder dergleichen handelte, dass schon allein durch Wissen über es, zur Gefahr wurde. Zudem hatte es Kontakt zu der eisernen Jungfrau oder besser gesagt ihrem Inhalt aufgenommen, welche seither jedoch – wie sonst auch – schwieg.

Ob der heutige Vorfall etwas mit der Sache zu tun hatte? Sie würden es noch früh genug erfahren. Oder vorher sterben. Nun, Melissa und Mister Laval und die gesamte Menschheit, wenn alles richtig schief geht. Nur nicht ich, versteht sich. Wobei sich dem Unsterblichen einmal mehr ein unangenehmer Gedanke aufdrängte.

Es gab nämlich doch etwas, dass er fürchtete: Wenn nichts und niemand, keine menschliche oder „übernatürliche“ Kraft ihn töten konnte, was geschah dann mit ihm, wenn die Welt irgendwann und sei es auch erst in tausenden von Jahren, gänzlich vernichtet wurde? Ob nun durch eine von Menschenhand ausgelöste Katastrophe, durch außerweltliche Mächte oder aber, weil die Erde einfach in die Sonne fiel und verglühte. Was wurde dann aus ihm? Würde er selbst das überleben?

Sein Körper konnte vernichtet werden, das wusste er, jedoch regenerierte er sich bis zu einem gewissen Grad immer wieder. Wie wäre es wohl, zu verbrennen, zurückzukehren und dann wieder zu verbrennen? Und das wieder und wieder und wieder, weil er einfach nicht von dem glühend heißen Stern wegkam? Eine grausige Vorstellung, denn auch wenn er wohl kaum Schmerzen dabei empfinden würde, wäre er doch für die Bruchteile von Sekunden immer zu aufblitzenden Gedanken fähig. In eine Ewigkeit gestreckt, würde ihn das vermutlich den Verstand kosten.

Apropos Ewigkeit: War das Universum ewig? Oder würde auch dieses unendliche Konstrukt irgendwann in sich selbst zusammenstürzen? Was würde dann aus einem unsterblichen Wesen? Würde seine Existenz einfach aufhören? Wäre dies seine Erlösung? Könnte er darauf hoffen und würde diese Hoffnung den spiralförmigen Abstieg in den Wahnsinn nur verstärken? Gott, er musste wirklich aufhören, darüber sinnieren…

Trotz seiner innerlichen Versunkenheit untersuchte er weiter den Raum nach Auffälligkeiten, entdeckte jedoch keine und fand sich schon bald wieder bei Melissa ein, welche nun seiner statt neben dem Leichnam hockte und ausgiebig seine Brieftasche durchsuchte, welche sie ihm wohl abgeluchst hatte.

„Irgendwas Interessantes?“

„Nein“, erwiderte die junge Frau, ohne aufzublicken. „Der Typ war arm wie ‘ne Kirchenmaus.“

„Ich meinte auch eher so etwas wie einen Ausweis“, erklärte James gereizt. „Irgendetwas halt, was uns vielleicht einen Hinweis darauf gibt, warum man den Kerl bei uns abgeladen hat.“

„Du meinst abgestochen“, korrigierte Melissa.

„Nein, meinte ich nicht.“

Diese Aussage bewegte sie nun doch dazu, aufzublicken. „Willst du damit etwa behaupten, es wäre sogar möglich, dass man ihn außerhalb des Museums umgebracht und dann erst hierhergebracht hat?“

James zuckte mit den Schultern. „Kannst du mir im Augenblick das Gegenteil beweisen?“

Das Gesicht leicht verziehend gestand sie ein: „Nein.“ Dann warf sie ihm die Brieftasche hin, welche er galant auffing. „Eigentlich ist mir aber auch egal, wer oder was hier passiert ist, solange wir es nur aufhalten, bevor Nathi nach Hause kommt.“

„Was denn, Angst um deine Anstellung?“ Während James eher beiläufig dem Gespräch folgte, durchsuchte er die Brieftasche nach etwaigen Hinweisen. Er fand tatsächlich einen Ausweis, der Name des Toten sagte ihm jedoch nichts und er bezweifelte, dass Melissa etwas mit ihm anfangen konnte. Zumindest fand er so aber heraus, dass der Mann ganz in der Nähe gewohnt hatte. Die Adresse befand sich nur wenige vom aktuellen Standort des Museums entfernt, ob das etwas zu bedeuten hatte, würde sich erst noch zeigen müssen.

„Nein… eigentlich nicht“, antwortete Melissa ihm auf seine Frage, während sie sich wieder aufrichtete und erst einmal genüsslich streckte. „Vor allem nicht, nachdem er mich seinem grinsenden Freund vorgestellt hat. Schätze diese Erinnerung, würde er gerne weiter im Auge behalten. Aber er ist so unglaublich leicht reizbar, wenn es um sein kostbares Museum geht. Führt sich immer schrecklich auf, wenn mir ein Fehler unterläuft. Fast schon nerviger als du. Außerdem…“

Plapper, plapper, plapper, dachte der Unsterbliche genervt. Da er nicht erwartete, noch gehaltvolle Aussagen von ihr zu erhalten, blendete er sie einfach aus und widmete sich stattdessen aktiver seiner Untersuchung. Wesentliches entdeckte er allerdings nicht mehr. Einen Führerschein, einen längst abgelaufenen Bibliotheksausweis, diverse Kundenkarten von irgendwelchen Geschäften, deren Besitz er vermutlich notorisch vergessen hatte, das Foto einer Frau seinen Alters, die ihn vermutlich schrecklich vermissen würde, wenn sie erst einmal erfuhr, dass ihr Mann nicht mehr unter den Lebenden weilte. Das hieß, sofern sie selbst denn noch lebte und das Gebäude nicht noch einen zweiten, bisher noch unentdeckten Leichnam beherbergte.

Das alles gab zwar Aufschluss über das Leben des Mannes, der zu James Füßen lag, nicht jedoch über seinen Mörder oder den Grund für diese Tat. Freilich konnte allein das Leben des Toten schon etwas mit seinem Tod zu tun haben – eifersüchtiger Liebhaber Beispielsweise, ein zeitloser Klassiker, wie James zu gut wusste –, allerdings gab es aufgrund der aktuellen Informationslage einfach zu viele Möglichkeiten, um zu einem klaren Schluss zu gelangen.

„… Hörst du mir eigentlich zu?!“

Die letzte Frage erreichte tatsächlich wieder James Ohren, sehr zu deren Leidwesen, da der schrille von, in dem sie gestellt wurde, ihm regelrecht Schmerzen bereitete. Auf mehreren Ebenen gleichzeitig… „Nein“, erwiderte er ehrlich, wobei er an ihr vorbei und hinaus auf den Gang lief. Der tote Mann hatte keine Geschichten mehr zu erzählen, es wurde Zeit weitreichendere Nachforschungen anzustellen.

„Hey du ignorantes, mieses…“

Weiter kam sie nicht, da der Unsterbliche ihr bereits wieder ins Wort fiel. „Melissa!“

Zumindest brachte sie das lange genug aus der Fassung, damit er ihr den Ernst der Lage deutlich machen konnte. Was die junge Frau jedoch nicht daran hinderte, noch ein gereiztes „was?!“ von sich zu geben.

„Das“, erwiderte er nüchtern und deutete auf etwas, weiter hinten im Gang.

Schließlich trat sie ebenfalls hinaus, um noch irgendetwas Unverständliches grummelnd, in die gewiesene Richtung zu schauen. Dabei entglitten ihr leicht die Gesichtszüge, was bei ihr schon etwas zu bedeuten hatte. „Was-zur-Hölle-ist-das?!“

 

Wartezeit

Ungeduldig mit dem Fuß trippelnd, blickte Nathaniel auf die Uhr. Er hatte schon viel zu viel Zeit hier verbracht, oder anders gesagt, seine durchaus zuverlässigen, aber hin und wieder etwas schludrigen Assistenten allein gelassen.

Melissa war zwar eine durchgeknallte Massenmörderin und zudem mittlerweile Gefäß eines menschenfressenden Wesens, dafür aber unter den richtigen Umständen oder eher unter dem Druck einer ihrer Meinung nach ihr entsprechenden Herausforderung, mit einem scharfen Verstand gesegnet, welcher sich auf das Wesentliche beschränkte, ohne dabei auf irrationale, unpraktische Gefühlsregungen zu hören, die sie ohnehin abgetötet hatte.

Und James zeichnete sich natürlich durch sein langes Leben und seinem damit verbundenen, unschätzbaren Erfahrungsschatz aus. Allerdings sorgte dieser auch dafür, dass er sich nur allzu leicht in den Untiefen seines Verstands verlor, der so unendlich viele Eindrücke zu verarbeiten hatten, die kein sterblicher Mensch sich jemals vorstellen konnte. Dafür sind ihm über die Jahrmilliarden hinweg ebenfalls, die ein oder andere seelische Regung abhandengekommen, welche ihm somit nicht mehr im Weg standen.

Eine weitere Sache, die die beiden gemein hatten, war ihr Mangel an Angst. James, weil er sich vor dem Tod nicht fürchten brauchte und Melissa, weil… nun, sie verrückt war. Dieser Vorteil – kein Trüben der Sinne in lebensbedrohlichen Situationen – wurde dafür durch den Nachteil ausgeglichen, dass sie ebensolche Momente gerne mal falsch einschätzten und entweder überheblich wurden oder nicht genug Umsicht in Bezug auf ihre Umwelt walten ließen, die zu schützen sie sich mit der Einstellung bei ihm eigentlich geschworen hatten.

„Wird das noch lange dauern?“, ergriff Nathaniel nach langer Zeit erstmalig wieder das Wort.

Der Justiz-Mann, antwortete so prompt, dass es den Anschein machte, er hätte nur auf diese Frage gewartet. „Die Männer tun ihr Bestes, aber sicher verstehen Sie, dass solch schwere Arbeiten, mit ausreichender Sorgfalt erledigt werden wollen.“

Ja sicher, dass hatte garantiert auch nichts damit zu tun, dass die Arbeiter sich vor einem hoffnungslos zerstörten Bus fürchteten. Der junge Direktor sah ja ein, dass das noch an der zerbrochenen Fensterscheibe neben dem Fahrersitz klebende, aber schon lange getrocknete Blut, manch einem schwachen Magen Unbehagen bereiten konnte, aber von dem stählernen Gefährt selbst, ging nun wirklich keinerlei Gefahr aus.

Wenigstens verlangte man von ihm nicht, schon während diesem Prozedere anwesend zu sein. Obgleich er sich langsam zu fragen begann, ob das nicht die bessere Alternative wäre. Abgesehen davon, dass die Männer sich dann vielleicht ein wenig sicherer, aufgrund der „professionellen“ Überwachung fühlten, müsste er dann nicht in diesem stickigen, kleinen Zimmer zusammen mit dem Verwaltungs-Typen sitzen, der ungefähr so spannend war wie eine öffentliche Toilettenkabine. Man fand vielleicht die eine oder andere, ganz witzig anmutende Schmiererei im Inneren vor, wollte im Grunde aber nur sein Geschäft erledigen und danach so schnell wie möglich wieder aus ihr raus.

Gerade als er schon überlegte, kurz rauszugehen, um sich die Beine zu vertreten, trat ein breitschultriger, unsicher dreinblickender Kerl ein. „Sir, wir… wir wären dann soweit.“

„Sehr schön“, nickte der Justiz-Mann. „Kommen Sie, Mister Laval, ihr Paket ist fertig.“

Das hatte er auch verstanden und der Witz wurde beim zweiten Mal nicht besser. Kein Witz tat das. Aber das war kein Grund sich zu grämen, denn immerhin bedeutete es gleichwohl, dass es nun endlich weiterging.

Mit gezwungenem Lächeln erhob er sich aus seinem unbequemen Stuhl. „Na dann wollen wir mal, nicht wahr?“

 

Ungebetener Gast

James?“

„Ich habe dich durchaus verstanden“, erwiderte er leise. Warst‘ ja auch kaum zu überhören. Doch das war es nicht, was ihn im Augenblick wirklich beschäftigte. Vielmehr galt seine Aufmerksamkeit dem ungebetenen Gast, der mitten im Museum Position bezogen hatte.

Wobei „Gast“, schon weit hergeholt klang. Es ließ vermuten, dass es sich bei dem Wesen um ein menschliches Wesen handelte. Dabei war das einzig Menschliche an dem Ding, die Konturen, die entfernt an einen etwa eins Meter achtzig großen Mann erinnerten, dabei jedoch unentwegt hin und her waberten. Denn die nur halb körperliche Gestalt, bestand aus unzähligen, durch die Gegend fliegenden Punkten, welche ein unablässiges Summen von sich gaben.

Fliegen, erkannte James leicht erschrocken. Allerdings, bei näherem Hinsehen erkannte er, dass es sich um tausende von Fliegen handelte, die dem Ding seine Form gaben. Freilich hatte der Unsterbliche schon Seltsameres und Groteskeres, ja auch wesentlich Schrecklicheres gesehen, doch ließ ihn der Anblick dennoch staunen und zu seiner Überraschung, gar ein wenig schaudern.

„Es hat ein Messer in der Hand“, erklärte Melissa nüchtern. Offenbar hatte sie sich bereits wieder beruhigt.

„Wie bitte?“

Sie nickte in Richtung der rechten „Hand“ des Wesens. „Da.“

Wahrlich, jetzt bemerkte er es auch, wie hatte ihm das vorher nur entgehen können? Eine im dämmrigen Licht leicht funkelnde Klinge, welche von den Ausmaßen her, perfekt zu der Wunde der Leiche passte, die sie kurz zuvor erst entdeckt hatten. „Schätze wir haben unseren Täter gefunden.“

„Allerdings“, knurrte die junge Frau. Ja, sie hatte ihren anfänglichen Schock gänzlich abgelegt und war nun bereit, sich dem Monster entgegenzustellen. Mit allen Mitteln. Denn niemand, nicht einmal eine außergewöhnliche Kreatur wie diese, sollte es wagen, Unfug an ihrem Arbeitsplatz zu treiben. „Wie gehen wir vor?“

James wusste es zu schätzen, dass die Kleine nicht nur genug Geistesgegenwart besaß, nicht sofort loszustürmen, sondern ihn sogar nach einem Plan zu fragen, damit sie sich abstimmen konnten. Jedoch wusste er ebenso gut, dass ihr seine Antwort nicht gefallen würde. „Wir gehen hier überhaupt nicht vor, du verschwindest.“

Wie bitte?!“

Wie erwartet…, seufzte er. Faszinierenderweise blieb das Fliegen-Wesen während ihres ausbrechenden Disputs vollkommen regungslos stehen. Nun, regungslos natürlich nicht, immerhin wirrte es unentwegt hin und her, doch es kam nicht auf sie zu, um sie ebenfalls zu erstechen oder Dergleichen.

„Wie stellst du dir einen Kampf, gegen dieses Wesen vor, Melissa?“ Allein die Nennung ihres Namens, ließ die junge Frau leicht zusammenzucken, da er sie nur höchst selten so ansprach. „Es ist quasi körperlos. Wir können es nicht frontal attackieren, es uns aber sehr wohl. Eine falsche Bewegung und du bist tot, wonach es dann an mir hängen bleibt, Mister Laval diesen unglücklichen Umstand erklären zu müssen. Mir hingegen, kann kein ernsthafter Schaden zugefügt werden. Wenn ihr also die Güte hättet, mich meine Arbeit machen zu lassen?“

Deine Arbeit?“, fauchte sie. „Zufälligerweise ist das hier auch mein Arbeitsplatz! Abgesehen davon, habe ich doch längst durchschaut. Du willst doch nur die Lorbeeren für dich selbst einheimsen!“

Oh, Herr im Himmel, womit habe ich das verdient? Am liebsten hätte er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Aber für solchen Unsinn hatten sie jetzt keine Zeit.

„Ähm, James?“ Plötzlich klang seine Kollegin nicht mehr wütend, sondern leicht verunsichert, was seine Alarmglocken schrillen ließ. Es gab nicht vieles, was diese Verrückte so leicht aus der Fassung bringen konnte.

„Was?“

„Ich kann mich nicht bewegen.“

Gerade als er sie fragen wollte, was das zu bedeuten hatte, merkte er es selbst. Sein Körper stand starr an Ort und Stelle fixiert, er konnte ihn nicht regen, lediglich seine Lippen und Augen war dies noch vergönnt. Damit wir den Schrecken, der uns heimsucht, erblicken und darüber schreien können… Als ob es nur darauf gewartet hätte, dass diese Erkenntnis in ihren Verstand sickerte, wirkte das fremde Wesen auf einmal so, als würde es breit grinsen und das, obwohl es überhaupt kein erkennbares Gesicht besaß.

Wie auf Kommando, setzte es sich nun in Bewegung. Kam quälend langsam auf sie zu, schien jeden Schritt auszukosten. Ihre Wehrlosigkeit, ihre aufkeimende… Nur dass sie keine Angst hatten, James zumindest nicht. Melissa wirkte soweit er das beurteilen konnte, ein wenig beunruhigt. Aber welcher Sterblicher täte das in einer solchen Situation nicht?

Dein Glück, dass ich in solchen Dingen bewandert bin. Tatsächlich war es nicht das erste Mal, dass James sich einem Feind entgegensah, der sein Körper zu manipulieren versuchte. Es war alles eine Frage der Willenskraft, eine derartige Beeinflussung zu brechen. Aus diesem Grund schloss er die Augen und begann in tiefste Konzentration zu verfallen.

Neben sich hörte er noch, wie seine Kollegin protestierte. „Hey, das ist wirklich der falsche Moment für ein Nickerchen? Oder hast du dich in dein Schicksal…“ Den Rest hörte er nicht mehr.

Gleich darauf, so schien es ihm zumindest, öffnete er die Augen wieder. Gerade drangen die letzten Ausrufe Melissas an seine Ohren. „Verdammt James, wenn ich heute draufgehe, mache ich dich dafür verantwortlich!“ Es waren mehrere wertvolle Sekunden vergangen, wie er daran erkannte, dass das Wesen bedrohlich weit nähergekommen war. Nur noch drei oder vier Schritte trennten es von ihnen.

James ließ spielerisch seine Schultern kreisen, ein siegessicheres Lächeln umspielte seine Lippen. Ja, das fühlte sich schon deutlich besser an. An seine Kollegin gewandt erklärte er: „Sobald du dich wieder bewegen kannst, bereite den Stuhl vor.“

„Was?“

Er antwortete ihr nicht mehr, dafür blieb ihnen keine Zeit. Stattdessen preschte er plötzlich vor und direkt auf das Fliegen-Wesen zu, wobei er jedoch auf seine rechte Seite zusteuerte. Wenn die Kreatur über einen Verstand verfügte, der weiter reichte, als rein Instinkt gesteuertes Handeln, dann zeigte es dies nicht, denn es erwies sich fast schon als zu leicht, ihr die Klinge im Vorbeigehen zu entwenden und ein paar Meter weiter zu rennen.

Nachdem er genug Abstand zwischen sich und dem Wesen gebracht hatte, drehte er sich wieder zu ihm um. Wie erwartet, stand es ratlos da, hob seine nunmehr leere Hand, betrachtete sie aus nicht vorhandenen und gleichzeitig tausenden Augen, ehe es sich erbost umdrehte, James erneut fixierte und losmarschierte. Schneller dieses Mal. Ja, definitiv nur Instinkt-gesteuert.

Der Unsterbliche nahm nun selbst wieder die Beine in die Hand, rannte den Gang runter und scheinbar ziellos weiter, in der Erwartung, dass das Wesen ihm folgen würde, da es sein geliebtes Spielzeug zurückerlangen wollte. Er sollte nicht enttäuscht werden. Wenn alles nach Plan verlief, würde Melissa durch die Abwesenheit des Fremden aus ihrer Lähmung befreit werden und konnte nun entsprechende Vorbereitungen treffen. Hoffentlich hat sie verstanden, was ich von ihr verlangte…

Melissa hatte im ersten Moment überhaupt nichts verstanden, hatte nur mit ansehen können, wie ihr arroganter, überheblicher, polierter… ihr lagen noch unzählige Begrifflichkeiten auf der Zunge. Ihr Kollege. Fokus, ja, sie musste das Wesentliche im Auge behalten. Nathaniel dürfte nicht enttäuscht werden. Noch gedachte sie ihm zu gefallen, damit er sie noch eine Weile länger bei sich beschäftigte. Noch bot ihr die Arbeit hier genug Abwechslung, damit es nicht langweilig wurde. Eines Tages dann, wenn es ihr genug war, würde sie ihre Kündigung einreichen.

James hatte es mit seinem Spielchen damals vorgemacht, sie würde es auf die Spitze treiben: Das Museum in eine Todesfalle verwandeln. Ihr letzter Akt, ihre letzte Konstruktion, geschaffen, um einen einzigen Mann zu Fall zu bringen. Immerhin hatten sie noch eine Rechnung zu begleichen, nicht? Die Sache mit seinem grinsenden Freund hatte sie nicht vergessen, wie auch, war er doch zu ihrem steten Begleiter geworden. Aber selbst wenn dieser Umstand nicht existieren würde, liefe sie vermutlich Gefahr, irgendwann das Interesse an ihrer Arbeit hier zu verlieren. Und wer wäre sie schon, wenn sie sich nicht mit einem großen Knall verabschiedete?

Klar, damit ging sie das Risiko ein, große Teile der Menschheit oder gleich die gesamte Welt zur Hölle zu schicken, aber im Zweifel sollte bis dahin ja immer noch James da sein, der größeres Übel verhindern konnte. Und selbst wenn nicht, was kümmerte sie das? Mal ehrlich, welch ein irrsinniger Geist, war waghalsig oder dumm genug, eine völlig Durchgeknallte wie sie an einem Ort wie diesem zu beschäftigen? Da brauchte man sich nicht wundern, wenn früher oder später die Apokalypse eingeleitet wurde.

Aber zurück zum Wesentlichen. Wo waren sie? Ach ja, James hatte dem Ding seine Waffe geklaut und war weggerannt. Tatsächlich war es ihm blindlings gefolgt. Schien nicht sehr helle zu sein, das Kerlchen. Jedenfalls konnte sie sich jetzt wieder bewegen und…

Moment, sie konnte sich wieder bewegen! Ein Wunder ist geschehen, wahrlich, ein Wunder! Sie kann gehen, frohlocket, sie kann gehen!

Ok, genug der Albernheiten, was hatte Jami noch mal vor seinem Abgang gesagt? Ach ja, „bereite den Stuhl vor“, was auch immer er… Oh, natürlich. Sie erkannte seinen simplen und doch genialen Plan augenblicklich, hätte sie auch selbst drauf kommen können, war nichts Großes dabei, eine Kleinigkeit… Gott, wie sie diesen Kerl verachtete.

Wenn Nathi erst mal zurückkam, würde er sich vermutlich groß aufspielen. Nicht offensichtlich natürlich. Ganz nüchtern würde er vortragen, was geschehen war. Professionell. Insgeheim würde er aber über die einfältige Melissa lachen, die sich hatte gefangen nehmen lassen, die er rumkommandiert hatte, die…

Konzentration Mädel! Wenn er zurückkommt und du immer noch tatenlos hier rumstehst, wird er erst recht Grund haben, sich aufzuspielen. Auch wieder wahr, außerdem lief sie Gefahr, von dem Ding, dass ihn verfolgte getötet zu werden, während es auf ihn tausend Mal einstechen konnte, ohne ernsthaft an seinen Lebensgeistern zu kratzen. Das war so unfair!

Andererseits hatte Unsterblichkeit vermutlich auch jede Menge Nachteile. Wo blieb da der Nervenkitzel? Ohne ernsthafte Gefahren, war das Leben doch langweilig. Langweiliger als ohnehin schon. Melissa verstand ja so schon kaum, wie die meisten Menschen in diesem grauen Einerlei, Tag ein Tag aus existieren konnten, ohne dabei einzugehen.

Aaaaber gut, auch das waren Dinge, mit denen sie sich später noch beschäftigen konnte. Das hieß, wenn es ein später gab und sie nicht mit einem ähnlichen Loch in der Brust, wie der Kerl neben ihr endete. Das wäre tragisch. Würde man um sie trauern? Sie würde es. Nur das sie dann ja tot wäre. Nein, das dürfte nicht passieren. Nicht heute. Und auch sonst nicht. Nicht ungeplant zumindest.

„Okay, okay, ich mach ja schon!“, fauchte sie sich selbst, oder besser gesagt die Stimme in ihrem Inneren an, die ihr zuflüsterte, dass ihr die Zeit wie Sand durch die Finger rieselte. Was für eine unnötig bildhafte Beschreibung dafür, dass sie am Arsch war, wenn sie nicht einen Zahn zulegte, in die Gänge kam… Was auch immer.

Mit einem lauten, melodramatischen Seufzer, wandte sie sich dem Raum mit den dunklen Erinnerungen zu, wobei sie sich erst noch einmal ein wenig streckte. „Na dann wollen wir mal.“

 

Unterwegs

Quälend langsam schob sich der Lastenkraftwagen, durch den abendlichen Verkehr, welcher sich glücklicherweise verhalten zeigte. Dennoch würden sie bei diesem Tempo vermutlich noch mindestens eine halbe Stunde bis Stunde brauchen, ehe sie das Museum erreichten. Und dann musste die Fracht ja auch noch abgeladen werden. Allzu früh, würde Nathaniel sein Bett jedenfalls nicht begrüßen dürfen, nicht, dass es jemals anders war.

Die nagende Ungeduld, vor allem aber die innere Unruhe, aufgrund der Ungewissheit, was wohl gerade in seinem Museum vor sich ging, machten ihn wahnsinnig. Natürlich hätte er einen Kontrollanruf tätigen können, doch würde James sich dann nur wieder in einem ellenlangen Monolog darüber echauffieren, dass er ihm und seinen Fähigkeiten, nicht genug vertraute. Viel schlimmer jedoch, wog die Vorstellung, was er wohl tun würde, wenn niemand ranging…

Gegen diese und andere Bilder, wehrte er sich schon die ganze Zeit über. Vergebens. Seine Vorstellungskraft reichte von einem Raub im Museum, bei dem sämtliche Exponate gestohlen worden waren, während seine beiden Assistenten betäubt und gefesselt in der Vorratskammer lagen, bis hin zu einer Kraterlandschaft, dort, wo vorher das Gebäude stand, weil eine der Erinnerungen unkontrolliert entfesselt wurde. Freilich besaß er keinen Gegenstand, mit solch explosiver Kraft, doch änderte dies nichts an der albtraumhaften Vision.

Wenigstens war er den Justiz-Mann und seine halbgaren Witze endlich los und der Fahrer des Gefährts, neben dem er gerade saß, zeigte sich als noch verschwiegener, was vermutlich aber eher an der Ehrfurcht und unbegründeten Angst lag, die er verspürte. Ehrfurcht vor dem jungen Direktor, der einen solch erschreckenden Beruf ausübte und Angst, vor der Fracht, die er transportierte.

Trotz seiner Verschwiegenheit ging der Mann Nathaniel mit seinem ständigen, zu ihm rüber-schielen auf die Nerven. Noch ein Grund mehr, sich schnellstmöglich an ihren Bestimmungsort zu wünschen…

 

Von der Vergangenheit eingeholt

Melissa stieg über den regungslosen Leichnam, ohne ihn zu beachten. Wozu auch? Er war ihrer Aufmerksamkeit nicht länger würdig, hatte nichts mehr an sich, was sie noch interessierte. Das Leben, das er einst geführt hatte, war ihm genommen worden und mit ihm, alles was sie an ihm hätte begehren können. Obgleich sie die Gesellschaft der Toten mehr zu schätzen wusste, als die der Lebenden – was schlicht daran lag, dass sie sie nicht nerven konnten – langweilten sie sie gleichermaßen, weil sie nichts mehr besaßen, was man ihnen noch nehmen konnte.

Endlich wieder ein bisschen klarer denkend, marschierte sie an den Erinnerungen vorbei, hin zu dem Stuhl, welcher sie hoffentlich retten würde. Auf dem Weg lief sie nahe der Bärenfalle entlang, ihrer eigenen, ganz persönlichen Erinnerung. Ein schwaches Gefühl der Wehmut überkam sie dabei, welches sie jedoch gleich wieder abschüttelte. Dies gehörte der Vergangenheit an, einem anderen Leben, einem, das schon lange beendet worden war.

Nur noch wenige Meter trennten sie von dem Stuhl, als es geschah. Plötzlich knallte sie gegen weiches und doch festes Material, welches wie von Zauberhand direkt vor ihrer Nase erschienen war und stolperte ein paar Schritte zurück.

Erst erkannte sie nicht, was da geschehen war oder wollte es vielmehr nicht erkennen. Das Objekt, dass durch ihren Zusammenprall leicht vor- und zurückschwang, ehe es wieder zum Halten kam. Als ein einziges Wort, oder vielmehr ein Name durch den Kopf der jungen Frau schoss, konnte sie sich der Realität jedoch nicht mehr entziehen. Vince.

Ja, ganz recht, Vince, ihr Freund aus einem längst vergangenen Leben. Einem Leben, in dem sie noch ein unschuldiges, unwissendes Mädchen gewesen war, dass zusammen mit ihren Freunden auf die dumme Idee kam, ein verlassenes, längst verfallenes Schuldgebäude zu betreten. Ein Schild hatte noch davor gewarnt: „Betreten verboten!“ Hätten sie doch nur drauf gehört.

Sie waren alle gestorben, selbst Melissa, obwohl sie überlebt hatte. Das, was sie einst ausgemacht hatte, hatte sie an diesem Ort zurückgelassen. Sie hatte sich einem neuen Leben gewidmet, einem, dass der Dunkelheit angehörte.

Seitdem dachte sie kaum mehr an die Vergangenheit, eben weil sie nur das war: Schall und Rauch einer längst verstrichenen Zeit, die keine Bedeutung mehr besaß, da alle Bedeutung zusammen mit den Leben ihrer Freunde ausgelöscht worden war.

Grimmig betrachtete sie den Leichnam von Vince, der an hauchfeinen Drähten gespannt, mit offenen Armen, als wolle er sie umarmend empfangen, vor ihr hing. Die Kapuze seines Pullis, trug er tief ins Gesicht gezogen, so das nur Schatten erkennbar waren, wo vermutlich ein modriger Schädel ihr aus toten Augen entgegenglotzte.

Es war genauso wie damals und doch völlig anders. Damals war sie ein anderer Mensch gewesen, war in Verzweiflung und Angst vergangen, hatte gelitten und geschrien. Ihre Seele hatte bluten müssen, bis kein Tropfen mehr in ihr steckte. Heute betrachtete sie das leblose Ding vor ihren Augen aus der Distanz, regungslos. Mitleidlos.

Doch wem machte sie etwas vor? Wen sie könnte, sie würde es rückgängig machen. Zumindest für ihn, Vince, der am wenigstem mit der ganzen Sache zu tun gehabt hatte. Der nur ihretwillen mitgekommen war. Sie hatte sich selbst überreden lassen und dann ihn mit sich ins Verderben gezogen. Er war ihr erstes Opfer gewesen. Die erste Stufe, der ewig langen Treppe, die sie hinab in die unendliche Finsternis geführt hatte.

Mit vor Tränen schimmernden Augen, näherte sie sich ihrem toten Freund, streckte die Hand aus, zog die Kapuze zurück und legte ihre Hand auf seine kalte, schlierige Wange. Blass war er und kalt, außerdem verbreitete er einen unangenehm beißenden Geruch. Sein Mund stand dümmlich offen, die Augen blickten dumpf und leer ins Nichts.

„Es tut mir leid“, flüsterte Melissa in die Stille hinein. Doch auf Vergebung konnte sie nicht hoffen. Nicht sie, oh nein. Nicht die Melissa, die sie heute war. Aber das tat sie auch gar nicht. Sie gewährte ihrem alten Selbst, diese letzte Regung, diesen Abschied, ehe sie es dahin zurückschickte, wo es hingehörte: Ins Reich der Vergessenen.

Ihre Tränen versiegten und ein makabres Lächeln legte sich auf ihre Lippen, welches ihr Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzog. „Du hättest halt auf die Warnung hören sollen, die hing da nicht ohne Grund“, säuselte sie kichernd. Just in diesem Moment, riss der Leichnam den Kopf hoch und löste sich so aus ihrer Berührung. Ehe er jedoch noch mehr tun konnte, schlug die junge Frau auch schon frontal zu, ihm mitten auf die Nase, so dass sie mit einem lauten Klirren zerbrach.

Plötzlich sah Melissa sich nicht länger dem Toten entgegen, sondern lediglich einem mannshohen Spiegel, welcher ihr eigenes Antlitz nunmehr mit tiefen Rissen widerspiegelte. Oh ja, sie war innerlich zerbrochen, doch da sie das wusste und akzeptierte, konnten ihr ihre Dämonen nichts anhaben.

Dennoch musste sie sich fragen, woher dieser Spiegel, der einem nun ja, den Spiegel vorsetzte, auf einmal herkam. Bisher war er kein Teil der hiesigen Erinnerungen gewesen. Eine weitere Überraschung also, ausgerechnet an dem Tag, an dem Nathi einen Ausflug machte. Seltsam das Ganze, aber nichts, worüber sie sich jetzt Gedanken machen konnte. Viel wichtiger war es…

„Melissa!“, brüllte eine nur allzu vertraute und gleichwohl verhasste Stimme hinter ihr. Als hätte sie es nicht geahnt… „Habe ich dir nicht gesagt…?“

„Jaja“, rief sie zurück, wobei sie sich von dem zerbrochenen Spiegel entfernte und mit eiligen Schritten auf den Stuhl zuging, welcher nur wenige Meter von ihr entfernt stand. „Komm runter und mach es dir bequem. Du bist viel zu verspannt!“ Dabei nahm sie die Erinnerung von ihrem Podest und stellte sie mitten in den Raum, so dass James sich nur nach darauf werfen musste, was er auch sogleich tat. Beinahe hätte er sich, mitsamt dem Sitzmöbel umgeworfen, wäre da nicht Melissa gewesen, die die Lehne in ihrem festen Griff gehalten hatte. Ein Kraftakt, den man ihrer zierlichen Gestalt vermutlich überhaupt nicht zutraute.

Die ganze Aktion erfolgte keine Sekunde zu früh, denn das Fliegen-Wesen war dem Unsterblichen dicht auf den Versen gewesen. Gerade als er den Kopf neigte, um die Realität ein bisschen zu biegen, stand es keinen Schritt von ihm entfernt, direkt vor ihm, nur um plötzlich zu verschwinden und für einen Podest, samt kleinem Glaskästchen Platz zu machen, in dem eine einzelne Fliege gerade eifrig ihre Flügel putzte.

„Das war knapp“, schnaufte James. „Was zum Teufel hast du hier drinnen getrieben?“, verlangte er gleich darauf zu wissen.

„Hatte meinen eigenen Kampf auszutragen“, erklärte Melissa leichthin. „Schon gut, brauchst‘ mir nicht dafür danken, dass ich mich darum gekümmert habe, allerdings fürchte ich, dass wir noch einen weiteren Platz, für ein neues Exponat gebrauchen könnten.

„Ein neues…“, setzte der Unsterbliche an, ehe er endlich dazu kam sich umzusehen und zu erkennen, was sie meinte. Nachdem er aufgestanden war und das Objekt einige Sekunden lang gemustert hatte, meinte er lediglich. „Interessant.“

„Interessant?“, fragte die andere entsetzt. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

„Was willst du von mir hören? Gut gemacht kleine Mel? Oder soll ich dir jetzt noch den Kopf tätscheln? Dir einen Leckerli zuwerfen? Du hast deinen Job gemacht, getan, was man von dir erwartet, also bleib auf dem Teppich.“

Den letzten Teil hatte sie schon gar nicht mehr gehört, da ihr immer noch bei der Vorstellung schauderte, wie Jami ihr liebevoll den Kopf tätschelte. Der Typ könnte ihr Ur-ur-ur-ur-ur…-viele viele weitere Ur’s – sein, das war… Da traf sie plötzlich wie ein Blitz, ein anderer Gedanke. „Hast du eigentlich Kinder?“

„Was?!“, platzte es aus dem Mann aufgrund des plötzlichen Themawechsels heraus.

Die Frage brachte sie jedoch überhaupt nicht aus dem Konzept, da sie nur weitere anstieß, die wie Blasen aus einem Sumpf aufstiegen und nacheinander aufplatzen. „Und sind diese dann auch unsterblich? Oder nur halb? Wie kann man halb unsterblich sein? Hat man dann ein ungewöhnlich langes Leben, stirbt aber trotzdem irgendwann? Ist man gegen Krankheit und Alter gefeit, aber nicht gegen Gewalteinwirkung? Bist du überhaupt zeugungsfähig?“

Und noch viele, viele weitere. Das James ihr schon lange nicht mehr zuhörte, bemerkte sie überhaupt nicht. Das dieser sich daranmachte, aufzuräumen, die Leiche zu entsorgen und das Blut im Raum der Männertoilette zu wegzuwischen, in der der Unschuldige offenbar umgebracht worden war, ebenso wenig.

Während er die Aufräumarbeiten erledigte, machte sie sich zur Aufgabe, ihm bei der Schufterei im Bereich niedere Arbeiten zuzusehen und daraus unterbewusst, ihre Freude zu ziehen. Außerdem kümmerte sie sich darum, ihre verletzte Hand zu bandagieren, da diese beim Zerbrechen des Spiegels – welcher mittlerweile auf magische Weise wieder in altem Glanz erstrahlte, sie würden das Ding mit einem Tuch verdecken müssen – einige Schnitte davongetragen hatte, welche empfindlich bluteten. Gut möglich, dass sie Narben davon beibehielt, die sie für den Rest ihres Lebens an den heutigen Tag erinnern würden. So leicht, wurde sie ihre Vergangenheit wohl doch nicht los.

Der – beinahe – ursprüngliche Zustand des Museums war gerade rechtzeitig wieder hergestellt worden, denn gleich darauf kam Nathaniel mit seiner neuesten Errungenschaft zurück. Jetzt mussten die beiden sich nur noch einfallen lassen, wie sie ihm ihre Neuzugänge erklärten, ohne zu riskieren, nie wieder ohne Überwachung allein gelassen zu werden…

 

Heimkehr

Endlich, dachte der junge Direktor, als sie in die Straße einfuhren und zum Stehen kamen, in der das Museum derzeit residierte. Zu seiner Erleichterung war das Gebäude nicht durch einen tiefen Krater ersetzt worden und brennen tat es ebenso wenig. Blieb nur abzuwarten, wie es im Inneren aussah.

Er wandte sich dem Fahrer zu und erklärte: „Der Lieferantenzugang ist hintenrum, ich erwarte Sie dort.“ Mit diesen Worten schnallte er sich ab und stieg aus, ehe der Mann zu einem Protest ansetzen konnte. Dieses letzte Stück würde er schon schaffen, da hatte Nathaniel großes Vertrauen. Und wenn nicht, dann wäre das auch nicht sein Problem.

Als er die steinerne Treppe zu der Eingangspforte emporstieg und der Lastenkraftwagen hinter ihm sich wieder in Bewegung setzte, machte sich bereits ein mulmiges Gefühl im Inneren des Mannes breit. Etwas war geschehen, das spürte er regelrecht. Nur die Ausmaße des Ganzen, konnte er noch nicht bestimmen.

Nur wenige Augenblicke später, wollte er gerade den Schlüssel hervorholen, um die Türen zu öffnen, da wurde sie bereits aufgerissen. Dahinter begrüßten ihn sogleich seine beiden Assistenten, James, mit einem höflichen Nicken und verhaltenem Lächeln, Melissa, mit hektischem Gewinke und einem viel zu breiten Grinsen.

„Gab es während meiner Abwesenheit irgendwelche Zwischenfälle?“, fragte er geradeheraus und ohne jede Begrüßungsfloskel, während er eintrat.

„Nein“, erwiderte Melissa viel zu schnell.

„Nun“, sagte James indes gedehnt, während er hinter ihm wieder abschloss. „In Ihrer Abwesenheit, sind uns zwei neue Erinnerungen zugekommen, Mister Laval.“

„Dunkle?“

„Allerdings.“

Er nickte, da steckte noch mehr dahinter, aber da die beiden unbeschadet zu sein schienen… halt. „Was ist mit deiner Hand passiert, Melissa?“

„Hm, was?“, fragte sie hektisch, ehe sie ihre dick bandagierte Hand betrachtete, als hätte sie jetzt erst gemerkt, dass damit etwas nicht stimmte. „Oh, dass…“ Sie winkte ab. „Nicht der Rede wert. Kleiner Unfall. Beim äh… Putzen. Ja.“

„Beim Putzen?“, fragte er ungläubig.

Sie nickte eifrig.

Mit einem tiefen Seufzer tat Nathaniel die Sache ab. Sie log wie gedruckt und das nicht einmal gut, doch würde er aus ihr vermutlich eh nichts rausbekommen, also konnte er es auch gleich bleiben lassen. Am besten war es, er überzeugte sich selbst davon, was geschehen war. Das hieß, wenn das Geschehen Spuren hinterlassen hatte. Wenn nicht, auch gut, dann waren seine Mitarbeiter wenigstens fähig genug, ihre Schluderei zu verwischen und selbst im Angesicht ausbrechenden Chaos, für Ordnung zu sorgen. Dafür hatte er sie schließlich eingestellt.

„Am Lieferanteneingang sollten bereits ein paar Männer auf Instruktionen warten, geht doch schon mal vor und kümmert euch darum.“

„Sicher doch, Mister Laval“, sagte James und verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung.

„Noch mehr Arbeit?“, ächzte Melissa, ehe sie ihm widerwillig folgte.

Kopfschüttelnd sah der junge Direktor seinen Mitarbeitern nach. Warum hatte er sich noch einmal dazu bereit erklärt, die beiden einzustellen? Weil sie trotz ihrer Verfehlungen, nicht zu verachtende Fähigkeiten besaßen, lautete die Antwort. Trotz dessen sie ihm zu Weilen mächtig auf den Geist gingen, wollte er sie irgendwie nicht mehr missen. Gott allein wusste, warum er tatsächlich so etwas wie Sympathie für die beiden empfand. Auf eine sehr verdrehte, perverse, fast schon krankhafte Art verstand sich.

Mit diesen und anderen Gedanken, wollte er sich jedoch später noch einmal ausgiebiger befassen, jetzt galt es erst einmal herauszufinden, was die Brandung des Vergessens, an seine Küste der Bewahrung angespült hatte.

Wenig später stand er vor einem Schaukasten, in dem eine einzelne Fliege emsig ihre Bahnen zog. Er beobachtete das Insekt eine Weile lang, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches daran erkennen. Weitere Nachforschungen würden hierzu erforderlich sein. Ebenso wie zu der Tatsache, dass ihm beim Eintreten in den Raum der dunklen Erinnerungen, der schwache Geruch von Tod in die Nase gestiegen ist.

Vorerst wollte er sich allerdings der zweiten Erinnerung widmen, die in weiser Voraussicht mit einem Tuch bedeckt worden war. Nathaniel, der keiner der dunklen Erinnerungen mit Furcht begegnete – nicht, weil er es für töricht, wohl aber für einen Fehler hielt, da Angst diesen Dingen nur Macht über einen gab – griff, ohne zu zögern nach dem Stück Stoff und zog es herab.

Darunter kam ein einfacher Spiegel zum Vorschein, dem an sich nichts Besonderes anhaftete. Erst als der junge Mann das Bild erblickte, dass sich darin spiegelte, riss er erschrocken die Augen auf. Das Blut gefror ihm in seinen Adern und zitternd, presste er eine einzige Frage hervor: „Du?“

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