ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Mit resigniertem, abgeklärtem Blick betrachtete Dr. Clark das eingefallene und seit schätzungsweise fünf Jahren tote Gesicht der Mumie, während die Officer Fotos von den unzähligen und teilweise zerfallenen Büchern machten, die an allen vier Wänden des Raumes in Regalen standen. Der Bart der Leiche war sorgfältig gekämmt worden, vermutlich um die poröse und rissige Haut des Kinns nicht zu beschädigen und die Zähne, die sich jetzt nicht mehr unter Lippenfleisch verstecken konnten, sahen sogar noch weiß aus. Dort, wo vor langer Zeit mal seine Augen gewesen waren, hatte man dem Mann Wachs in die Höhlen gegossen, das selbe, aus dem die roten Kerzen gemacht waren, die um seinen Schaukelstuhl standen. Vermutlich war es die geringe Luftfeuchtigkeit des Raumes gewesen, die den Körper so lange konserviert hatte, vielleicht in Kombination mit der Glycerinlösung. So genau konnte Clark das nicht sagen; er war kein Chemiker und war auch deswegen nicht hierher gekommen. Er war wegen der Bücher gekommen und, natürlich, wegen den losen Seiten, die man der Leiche postmortem an die Brust genagelt hatte.
„Schlimm, nicht wahr?“, einer der Officer, Osborne, trat an Clark heran, die Kamera immer noch in den Händen, „Es wird lange brauchen, bis wir all das gelesen haben, auch mit ihrer Hilfe.“
„Wahrscheinlich“, murmelte Clark, „Haben sie die Familie schon herausgebracht?“
„Dem Mann mussten wir ein Beruhigungsmittel geben, damit er seinen Kopf nicht gegen die Autoscheibe schlägt und die Frau hat die ganze Zeit geschrien. Irgendwas von Knochenmünzen und einem falschen Mond. Den Kindern geht es gut, sie scheinen die ganze Sache nicht zu verstehen. Die Psychologin ist schon auf dem Weg.“
Der Doktor nickte. Er hatte nur einen kurzen Blick auf die Kinder im Vorbeigehen geworfen und trotzdem hatte er die Deformierungen in ihren Gesichtern gesehen. Inzestschäden, das konnte jeder Medizinstudent erkennen. Wahrscheinlich lief dieser Kult also schon seit drei Generationen, der Mann, welcher nun tot vor ihm saß, hatte seine Kinder gezwungen, ihn zu erweitern.
Clark wunderte sich, dass dieses Haus so lange von den Nachbarn unbemerkt geblieben war. Noch gab es keine Zeugenaussagen, aber er konnte sich nur schwerlich vorstellen, dass diese Menschen soziale Kontakte pflegten. Wahrscheinlich wollte niemand das Problem mit diesem Haus ansprechen und man hatte es kollektiv ignoriert, solange wie es möglich war. Das konnte natürlich nicht so weitergehen, als die Haustiere anfingen, zu verschwinden.
„Wenn sie wollen, können wir auch einige Kollegen vorbeischicken, wenn sie Hilfe brauchen, sich durch all das durchzulesen.“, schlug Osborne vor, „Montoro vielleicht, oder Wake.“
„Tun sie das.“, Clark, der den Kollegen Wake insgeheim für einen Stümper hielt, wand sich von der Leiche ab, „Aber nicht heute. Es ist schon spät und viel werden wir heute eh nicht mehr schaffen. Aber die Seiten möchte ich mir gerne ansehen, wenn das möglich ist.“
Osborne schien zu überlegen, dann nickte er einem Mann im weißen Spurensicherungsmantel zu und tuschelte kurz mit ihm. Schließlich sagte er: „Na gut. Aber ziehen sie Handschuhe an. Und sie müssen hier im Raum bleiben, die Luft oben könnte das Papier beschädigen.“
Clark nickte, zog sich ein Paar durchsichtige Gummihandschuhe über die Finger und setzte sich auf einen Klappstuhl, den einer der Officer mit in den Keller genommen hatte. Als der Mann ihm die erst vor kurzem entfernten Blätter reichte, bezweifelte er zwar, dass diese Art von Papier durch steigende Luftfeuchtigkeit Schaden nehmen könnte, sagte aber nichts. Abgesehen von dem Nagel, welcher die neun Seiten an dem Körper des Toten befestigt hatte, waren sie unbeschädigt, jedenfalls in deutlich besserem Zustand als der Rest der Bücher im Zimmer, und zudem nummeriert. Der Text selbst war handgeschrieben, mit dicker schwarzer Tinte, die seit rund fünfzig Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Einige Wörter waren schwer zu erkennen, aber Clark hatte Erfahrungen mit solchen Texten. „Danke.“, sagte er, „Sie können mit ihrer Arbeit fortfahren, Officer.“ Die Männer begannen wieder, Bilder von den Wänden zu machen und Maße von der Mumie zu nehmen, während Clark sich zurücklehnte. Er beschloss, chronologisch vorzugehen, in der Reihenfolge, wie sie von oben bis unten auf dem Nagel gesteckt hatten.
Seite 1: Ein Leben zu halten
Ein Leben ist nicht leicht zu verformen, noch seltener gelingt es, es zu erhalten, wenn der Leib zerfällt. Doch kann es einem Sammler möglich sein, einen Kranken zu retten, ihn zu verändern, wenn er bereit ist, einen Preis zu zahlen.
In manchen Nächten entspringen Steine von grauer Farbe aus dem Grund, die eine unaussprechliche Kraft in sich tragen. Der Sammler kann sie nur im Monat des Fleisches mit sich nehmen, ohne an ihnen zu zerbrechen, denn nur dann ist ihre Kraft irdischer Natur. Er muss sie dennoch mit Wasser und Öl reinigen, ehe sie benutzt werden können. Der Sammler muss zu dem Menschen gehen, dessen Leben er halten möchte und ihm mit dem Stein seine Brust öffnen. Das Blut des Kranken darf nicht die Erde berühren, sonst wird der Mensch sterben, ehe es vollendet werden kann. Seine Schreie dürfen von niemandem als dem Sammler gehört werden, sonst wird er auf ewig sterben, ohne Ende, ohne Tod.
Wenn der Stein in der Brust verschwunden ist, wird die Wunde sich schließen und er wird ein neues Herz haben, was aller Pestilenz trotzt. Doch dieses Herz ist aus Stein und jede Seele wird aus dem Leib des Kranken strömen, ohne die Chance, dass sie zurückkehrt. Grau werden seine Finger handeln und grau wird seine Haut sich färben.
Einen solchen Menschen kann der Sammler nicht erlösen. Gift und Stahl spottet seiner und selbst sein Geist ist unantastbar vor jedem Anblick. Man muss ihn den Wellen überreichen, um seiner los zu werden, doch wird er kämpfen, mit Zähnen und Nägeln, denn er weiß, was ihn erwartet, wenn er die See berührt. Sie wird ihn in eine unbekannte Tiefe ziehen, ohne Nahrung, ohne Sonne, ohne Luft. Manchmal wird die See den Sammler mit sich reißen, manchmal wird sie ihn verstoßen.
Unter den Wassern der Welt wird das Steinherz immer noch schlagen, leise und kalt, bis in alle Ewigkeit, als Mahnmal der Sammler.
Eine Art Ritual also. Clark war ein wenig verwirrt von dem Monat des Fleisches und dem Steinherz, aber es schien ins Schema der Familie zu passen. Außerdem brauchen Wahnsinnige nicht immer Bedeutung für das, was sie aufschreiben. Er las weiter.
Seite 2: Ein Licht zu fangen
Einer Frau ist es möglich, einmal im Jahr ein Licht einzufangen und es in eine Hülle zu sperren. Sollte ein Mann versuchen, ein Fänger zu werden, wird er scheitern und Flammen werden sein Fleisch verschlingen. Die Fängerin muss am letzten Tag des Monats der Sonne einen Splitter von klarstem Glas in der Mittagsstunde gen Himmel halten und versuchen, ein Feuer zu entflammen. Sollte dies nicht gelingen, muss sie ein Jahr warten, um es erneut zu probieren.
Wenn die Fängerin es aber schafft, Funken zu schlagen, so darf diese Flamme für drei Tage und drei Nächte nicht erlöschen. Die Fängerin muss es bewachen, mit Leib und Leben und ihm immer wieder neues Holz zu Fressen geben. Sie darf in dieser Zeit nichts essen, nichts trinken, nicht einmal schlafen, solange, bis das Feuer in den Abendstunden des dritten Tags von allein erlischt. Sollte sie diese Prüfung nicht bestehen, wird jedes Licht ihren Geist verlassen und sie wird dazu verdammt sein, hirnlos und leer ihr Dasein zu fristen, bis ans Ende ihrer Tage und darüber hinaus.
Wenn sie es aber schaffen sollte, wird die Fängerin augenblicklich in eine tiefe Trance fallen, die ebenfalls drei Tage und drei Nächte andauert. Der Schlaf ist nicht natürlich, seine Wirkung mitunter tödlich. Sollte sie aufwachen, ohne sich im Nichts zu verlieren, wird sie ein Kind in ihrem Leib tragen, welches ein ganzes Jahr braucht, um in ihr zu reifen. Es wird am letzten Tag des Monats der Sonne geboren werden und Licht in sich tragen, pures Licht, denn aus Licht wurde es gezeugt und Licht ist seine Natur. Seine Anwesenheit wird heilende Kräfte haben und Runen von gelber Farbe werden auf seinem Rücken geschrieben stehen. Es wird seiner Mutter Freude bereiten, so wie jedem anderen auch, doch wenn es jemals erwachsen werden sollte, wird das Licht in ihm erlöschen und mit ihm das Leben der Fängerin, denn dieses Licht war ein Teil von ihr.
Seite 3: Ein Wort zu sprechen
In den namenlosen Bergen des Nordens steht ein einzelnes Haus, erbaut von eintausend verschiedenen Händen. Wer ein Wort sprechen möchte, muss dieses Haus aufsuchen. Nur am vierzigsten Tag des Monats der Zungen sind seine Pforten von Mitternacht bis um drei Uhr morgens geöffnet. Der Sprecher muss schweigen, wenn er das Innere betritt. Er wird sich in einer Halle wiederfinden, die so viel größer zu sein scheint als die äußere Fassade der Hütte. Männer und Frauen in eisernen Rüstungen werden singend und trinkend an einer großen Tafel feiern, aber sollte sich der Sprecher zu ihnen setzen, so wird sein Blut ihr Met werden und sein Fleisch ihr Brot und sie werden ihn zerreißen, ehe er sich erheben kann.
Er muss schweigend den einzigen Krieger finden, welcher weder singt noch trinkt, sondern still und trüb auf seinem Platz sitzt. Kein Wort darf die Lippen des Sprechers verlassen, denn das Wort ist noch nicht in ihm gekeimt und es würde zerbrechen, sollte er es versuchen. Wenn er den schweigsamen Krieger finden sollte, so wird er den Sprecher erkennen, ihn als alten Freund begrüßen und ihn dann sein silbernes Schwert anbieten, getränkt mit dem Blut von zehntausend Feinden. Der Sprecher muss schweigen. Der Krieger wird daraufhin verdutzt gucken und ihm stattdessen sein Ross anbieten, namenlos, schnell wie der Sturmwind und so grausam und stark wie das Meer selbst. Der Sprecher muss schweigen. Der Krieger wird wütend werden und auf den Sprecher einschlagen, da er all seine Gaben ablehnt. Zähne werden fliegen und Knochen zerbersten, doch immer noch muss der Sprecher schweigen. Jetzt einen einzigen Laut zu machen wäre so viel schlimmer als das, was die Fäuste des Mannes anrichten können.
Schließlich wird sich der Krieger beruhigen und dem Sprecher zur Versöhnung seinen eigenden Krug anbieten. Er wird gefüllt sein mit tiefschwarzer Tinte, die bitter und sauer schmeckt, aber der Sprecher muss sie bis auf den letzten Tropfen leeren. Erst dann kann er die Halle verlassen, ohne zerrissen zu werden.
Von nun an wird alles, was der Sprecher sagen wird, der Wahrheit entsprechen, denn Tinte ist in seinem Blut und Tinte spinnt Wahrheit. Was vorher eine Lüge war, wird zur Wirklichkeit und der Sprecher wird die Macht haben, die Realität selbst zu formen. Er trägt nun etwas in sich, was uralt ist und wird es in sich behalten, bis sich seine Lippen auf ewig versiegeln.
Die Krieger werden von nun an über ihn wachen und seine Taten bewerten. Sollte er jemals diese Macht missbrauchen, werden sie zu ihm kommen und einfordern, was ihnen gehört. Ein Narr mit Tinte im Blut ist ein zu gefährlicher Narr, um ihn am Leben zu lassen. Mit Met und Brot werden sie zurückkehren, singend und tanzend, in ihren Hallen aus Gold…
„Sir?“, die Stimme der Frau ließ Clark zusammenschrecken. Sie stand nicht weit von ihm entfernt: ein junger Officer mit kurzen braunen Haaren und kräftiger Knochenstruktur. Ihre Augen verrieten ihm, dass sie sich ungern an diesem Ort befand, sie zuckten unruhig von Wand zu Wand und immer wieder zurück zur Leiche. Auf ihrer Marke stand der Name Cooper.
„Ich wollte nur sicher gehen, ob es ihnen gut geht, Sir. Sie sehen etwas blass aus.“
„Es geht schon, danke.“, entgegnete er knapp, „Sagen sie: Haben sie oben vielleicht so was wie einen Kalender gefunden. Kein… gewöhnlicher, er sollte Monate enthalten, die beispielsweise über vierzig Tagen andauern.“
Cooper schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, Sir. Wir suchen das Haus immer noch nach den Hunden und Katzen ab, aber wenn sie wollen, kann ich mich noch mal umsehen.“
Clark bemerkte auf einmal, dass sich nur noch wenige Leute im Raum befanden. Abgesehen von Cooper waren nur noch zwei Polizisten damit beschäftigt, die Kerzen genauer zu untersuchen. Von Osborne fehlte jede Spur, er schien mit seinen Fotos fertig zu sein. Hatte er wirklich so lange für drei Seiten gebraucht?
Cooper verabschiedete sich höflich und stieg eilig die Treppe hoch, froh darüber, diesen Keller zu verlassen. Die Anzahl der Personen hatte sich damit um ein Viertel verringert, aber das machte Clark nichts aus. Er konnte sich sowieso besser konzentrieren, wenn er alleine war.
Seite 4: Eine Gefährtin zu finden
Die Einsamkeit ist ein Geschwür, welches den Geist zermürben kann. Menschen irren im Licht, Menschen irren in Finsternis, aber das Alleinsein bringt jeden nach einiger Zeit um den Verstand. Doch ein Sucher kann eine Gefährtin finden, wenn dies sein Wunsch ist. Er muss allein in die Wildnis gehen, in den Morgenstunden eines Tages im Monat der Milch. Die Wälder müssen grün sein und erfüllt von den Schreien neugeborener Brut. Geht der Sucher in einem anderen Monat auf seine Reise, wird er niemals Gesellschaft finden.
Wenn der Sucher eine Stelle gefunden hat, an der die Sonne den Boden berührt, muss er gen Osten schauen, ein Blutopfer tun und drei Tropfen von reinster Milch auf das Laub vergießen. Dann muss er solange verweilen, bis seine Einsamkeit ihm Tränen in die Augen treibt. Sollten die Tränen anderer Natur als purer Verzweiflung sein, wird sie nicht kommen.
Sollte sie von den Opfern des Suchers beeindruckt sein, wird sie ihm erscheinen, am ersten Tag des Monats des Blutes. Ihr Körper wird hochgewachsen und wohlgeformt sein, ihr Gesicht so frisch und lieblich wie ein Rosenstrauch und ihr Atem so kalt wie der Regen des Winter. Sie wird in Seide und Pelze gekleidet sein und an ihren Armen werden Reifen von Silber und Gold hängen. Ihre Natur ist nicht menschlich; der Osten allein ist ihre Domäne und aus der Erde stammt sie. Von diesem Tag an bis zu ihrem letzten wird sie tun, was der Sucher von ihr verlangt, sie wird ihm Gesellschaft leisten, sein Bett teilen und ihn sogar lieben, wenn er dies wünscht. Doch sei gewarnt: sollte ihre goldene Haut jemals etwas anderes tragen als Seide und Pelz und ihr schwarzes Haar jemals mit etwas anderem gewaschen werden als Honig und Milch, so wird sie sich ihrer Natur bewusst werden und beginnen zu verschlingen, alles zu verschlingen, so lange, bis sie selbst ein Mensch ist. Sie kann von da an nicht getötet werden, außer, wenn der Sucher am dritten Tag des Monats der Hybris am Ort seiner Tränen zurückkehrt und erneut Milch und Blut mit Blick gen Westen vergießt. Sie wird wieder zu der Erde zerfallen, aus der sie einst kam und die Welt wird ihrer vergessen.
Der Sucher ist nun ein Wanderer. Er muss in Bewegung bleiben, stets gen Westen ziehen, denn der Osten wird nicht vergessen, wer sein Geschenk zurückweist.
Seite 5: Eine Haut zu wechseln
Niemand weiß, warum der Mensch die Anwesenheit der Anderen nicht erkennen kann. Vielleicht liegt es an den Splittern in seiner Seele oder dem Loch in seinem Herzen. Vielleicht an etwas anderem.
Wenn dich dennoch danach verlangt, deine Sinne zu erweitern, musst du den Weg des Wechslers beschreiten. Es ist ein kurzes, dreckiges Leben, aber es dürfte dafür jedwede Neugier befriedigen.
Ein Wechsler muss eins mit einem Tier werden, um ein Wechsler zu sein. Er muss in die Einöde gehen, wo jedes Leben zu Staub zerfällt, in der mittleren Woche des Monats der Bestien. Das Tier, welches er erwählt hat, muss ihn begleiten, sonst ist die Reise vergebens. Es darf in keinem Käfig stecken und keine Ketten an seinen Beinen tragen, denn nur mit einem freien Geschöpf wird es funktionieren. Wenn der Wechsler und das Tier allein sind und keine Kreatur zuhört, muss er ihm von all dem erzählen, was ihn ausmacht, das Gute und das Böse, das Noble und das Feige, das Schöne und das Hässliche. Die Anderen werden nach einiger Zeit erscheinen, unsichtbar, unantastbar und unbesiegbar und hören, was für ein Mensch ein Wechsler werden will. Sollte er auch nur eine Lüge erzählen, werden die Anderen einen tiefen Groll in dem Tier erwecken und es wird versuchen, den Wechsler zu zerfleischen.
Doch wenn alles der Wahrheit entspricht, werden der Wechsler und seine Bestie eins werden. Die Metamorphose ist schmerzhaft, aber kurz. Das Band, was sie von nun an verbindet, ist fester als Fleisch, fester als Zeit. Sie werden in der Lage sein, die Gestalt des jeweils anderen anzunehmen, wann und wo sie wollen, doch wird das Tier darin wenig Nutzen sehen und die meiste Zeit in seiner eigenen Haut verweilen. Der Wechsler wird die Sinne der Bestie annehmen und das Tier die Stumpfheit des Menschen, aber sonst wird sich nichts an ihrem Wesen verändern. Nur die verbleibenden Jahre der beiden werden gemischt und gleichmäßig verteilt, sodass der Wechsler unmöglich so lange leben kann wie ein normaler Mensch, außer, er wählt ein Wesen, das noch über eine lange Zeitspanne verfügt.
Es empfiehlt sich, das Tier zur Sicherheit mit sich nach Hause zu nehmen, um es zu bewachen und zu pflegen. Sollte es vor dem Wechsler sterben, so wird dieser in der Gestalt gefangen sein, die er zu jenem Zeitpunkt gewählt hat. Die Schuld ist beglichen und die Sinne werden ihm genommen werden.
Seite 6: Ein Sohn zu werden
Kinder können aus Ehre und Liebe geschaffen werden, die meisten aber entstehen aus Gier und Lust und wissen nicht, wo ihre Wurzeln liegen.
Wenn ein Kind erfahren möchte, wessen Blut in seinen Adern fließt, so muss es zum wandernden Alten mit den Tausend Masken gehen. Sein Ursprung ist ungewiss. Sein Ende ist ungewiss. Neuneinhalb Tausend Leben lang kroch und rannte er über den Staub dieser Welt, über die ersten Felder von Roggen, über die Knochen von sämtlichen Schlachten, die je geschlagen wurden. Blut von unzähligen Leibern floss an seinen Füßen vorbei, Blut von hohen Kaisern und Königen, Blut von Bettlern und Bastarden, Blut von Männern, die keinen Namen tragen. Niemand weiß so gut wie er, dass sich Fleisch so leicht verändern lässt.
Seine Hilfe hat einen Preis: Das Kind muss ihm zwei Schalen von seinem eigenen Blut darbieten, eine aus Eisen, eine aus Keramik, für Vater und für Mutter. Es kann an jedem Tag des Jahres funktionieren, doch am wahrscheinlichsten erscheint der Alte im Monat des Staubes. Er wird vom Blut trinken und wenn es ihm schmeckt, wird er dem Kind den Stammbaum seiner Ahnen zeigen, bis in die dreizehnte Generation vor seiner Geburt. Sollte das Kind das einer Fängerin sein, wird der Alte das Blut nicht trinken wollen und es zurück schicken, denn Licht liegt jenseits von seinem Verständnis.
Wenn das Kind jedoch einen Blick auf seine Ahnen geworfen hat und zufrieden ist, wird der Alte gehen und beide leben ihre Leben weiter. Doch sollte es mehr verlangen, so kann er die Vorfahren des Kindes anpassen. Haut, Haare und Augen werden sich verändern, genauso wie die Wirklichkeit selbst, doch der Verstand des Kindes wird derselbe sein. Das Kind ist jetzt kein Kind mehr sein, sondern Sohn und Erbe der Männer und Frauen, welche erwählt wurden.
Der wandernde Alte wird von nun an jedes Jahr am neunten Tag des Monats des Staubes erscheinen und Blut verlangen, solange, bis die Schuld beglichen ist. Doch wehe dem, der das Opfer aus welchen Gründen auch immer nicht bieten kann. Der Alte wird zornig werden und seine Finger in das Gesicht des Sohnes schlagen, um sich eine neue Maske zu machen. Der Sohn wird dies überleben, doch sein Verstand wird zerschmettert werden, zwischen der Zeitlinie die war, und der, die ist.
Seite 7: Ein Monster zu töten
Es gibt Monster in der Welt. Uralte Kreaturen, deren Verstand klinisch und kalt agiert. Sie verstecken sich in den Köpfen der Menschen, nehmen ihre Körper in Besitz und nähren sich vom dem Leid, welches sie selbst anrichten. Sie spielen das lange Spiel, seit Millionen und Milliarden von Jahren und haben bereits ganze Zivilisationen von dem Planeten gelöscht. Früher waren sie einfach zu erkennen; kein Haar wächst auf der fahlen Haut eines ihrer Wirte. Doch mit der Zeit haben sie angefangen auch diesen Makel mit künstlichen Fasern und Formeln abgedeckt.
Heute ist es schwer, einen von ihnen auszumachen und noch schwerer, sie zu töten. Die Macht der Runen und Münzen prallt an den Netzen ihrer Nervenzellen ab und ihre Kraft gleicht der einer Maschine. Doch wenn ein Mensch gewillt ist, sie zu jagen, muss er zuerst eine Reise antreten, tief in das Herz des Nordmeers. Dort steht eine Insel, die nur zwei Mal im Jahr erscheint, im Monat der Öle und im Monat der Salze. Auf ihr wachsen die letzten Angehörigen eines Volkes, welche die Monster vor zehn Millionen Jahren beinah ausrotteten. Sie wissen nichts von dieser Insel und sollten sie je von ihr erfahren, werden sie sie zerstören und niemand wird sie aufhalten können.
Verbringe drei Wochen auf dem blanken Stück Fels, aber fische nicht in seinen Gewässern und esse nichts von seinem Boden. Die Bäume, die zuvor nichts als Säulen aus Frost waren, werden beginnen aufzutauen und rote Adern werden anfangen, sich durch ihre Rinde zu ziehen. Sie werden beeindruckt sein vom dem, der auf diesem Eiland überleben kann und ihm eine Krone aus ihren Ästen machen. Der Jäger muss nun die Insel verlassen und wieder gen Süden ziehen, wo die Monster zu finden sind.
Die Krone wird dem Jäger ermöglichen, die Monster im Kopf ihrer Opfer zu sehen und macht ihn immun gegen ihre Sporen. Ein Schuss zwischen die Augen wird das Restliche tun.
Der Jäger ist nun gekrönt und sollte seine Krone niemals ablegen.
Seite 8: Ein Wandler zu sein
Die Zeit selbst muss betrogen werden, um ein Wandler zu sein. Ratsam ist es dennoch nicht.
Es wird in jedem Monat funktionieren, außer im Monat des Chaos. Tue es niemals im Monat des Chaos, wenn du dein Selbst behalten willst. Der Wandler muss rein sein von jeder Ablenkung, damit es funktioniert. Er darf kein Sprecher, kein Wechsler, kein Jäger oder sonstiges sein, sonst wird er scheitern. Er muss einen Raum auftreiben, der gefüllt ist mit eintausend Uhren, die alle eine unterschiedliche Zeit angeben. Sollte auch nur ein Paar gleich sein, wird es nicht funktionieren. Das Schlagen und Ticken wird den Wandler nach einer Weile das Gefühl für die echte Zeit nehmen und irgendwann wird er schließlich vergessen, ob es Tag oder Nacht ist. Wenn dies geschehen ist, muss er mit geschlossenen Lidern für einen Zeitraum verweilen, der sich wie eintausend Sekunden anfühlt. Sollte er seine Augen zu früh öffnen, wird er in einer gefrorenen Welt gefangen sein, gezwungen, durch das Nichts zu streifen, bis alle Dinge enden. Sollte er sie zu spät öffnen, wird sein Körper in Sekunden zu Staub zerfallen, bis nichts von seinem Fleisch mehr übrig ist.
Doch sollte er den richtigen Zeitpunkt einfangen, wird eine Kraft in seinen Körper fahren, durch seine Knochen, in jede Adern, bis zu den Fingerspitzen. Es wird weh tun, mehr, als er sich vorstellen kann, aber er muss verweilen, darf nicht schreien, nicht weinen, nicht atmen. Wenn der Schmerz vorbei ist, werden seine Finger die Kraft besitzen, die Zeit zu dehnen, sie zu verlangsamen, sogar gänzlich anzuhalten, wenn dies sein Wunsch ist. Doch die wenigsten gehen so weit, denn die Welt jenseits der Zeit ist grau, ein kalter, farbloser Spiegel der Realität der jedem, der ihn betrachtet, nach und nach alles entzieht, was er vor diesem Dasein kannte.
Es ist nicht ratsam, ein Wandler zu sein. Keiner von ihnen wird älter als ein halbes Menschenleben. Auch ohne das Anhalten der Welt zerrt etwas an ihnen, zerreißt sie, verdünnt sie bis auf den letzten Tropfen, denn Zeit wird nicht gerne betrogen.
Dem Wandler ist es jedoch egal. Er weiß nun, dass es schlimmere Sachen gibt als Verfall. Schatten und Gelächter, tief verborgen im Monat des Chaos.
„Dr. Clark?“
„Verdammt noch mal, erschrecken sie mich doch nicht so!“, er hatte nicht gemerkt, dass Osborne den Keller betreten hatte und noch weniger, dass sie ansonsten allein waren. Clark hatte nicht beabsichtigt, so laut zu schreien; es war einfach passiert, wie, wenn man sich den Zeh an einer Tür stößt. Osborne zog erschrocken den Kopf zurück.
„Ent… Entschuldigung, Dr. Clark, aber ich muss sie bitten, den Keller zu verlassen. Die Jungs von der Pathologie möchten die Leiche heraus schaffen und brauchen dafür Platz, falls sie porös sein könnte.“
„Ja“, murmelte Clark, nur halb anwesend, „Lassen sie… Lassen sie mich nur noch die letzte Seite zu Ende lesen. Ich komme dann nach oben, wenn… wenn ich fertig bin.“
„Na gut. Ich soll ihnen von Officer Cooper sagen, dass sie keinen Kalender gefunden hat. Ebenso wenig wie die Tiere…“
Clark hörte nicht mehr zu. Er dachte über die Personifizierung des Ostens von Seite 4 und den wandernden Alten von Seite 6 nach. All diese Rituale ergaben keinen Sinn, die meisten waren zu abstrakt, um sie in irgendeiner Form durchzuführen. Von diesen absurden Monaten ganz zu schweigen. Wahrscheinlich hatte nichts davon eine tiefere Bedeutung, ja, das musste es sein. Clark schüttelte den Kopf, als er seufzend, aber auch neugierig zur letzten Seite blätterte. Vielleicht würde diese ja ein paar Dinge aufklären.
Seite 9: Einen Schlafenden zu wecken
Wenn das Blut aufhört zu fließen und Maden beginnen, die Haut zu fressen, kann ein Mann dennoch gerettet werden, sofern er zu Lebzeiten in den Wegen der Monate unterrichtet war. Sein Körper muss präpariert, seine Kleidung gepflegt und so viel Gewebe wie möglich gerettet werden damit er zurückgeholt werden kann. Wenn seine Augen in sich zerfallen sollten, müssen ihre Höhlen mit rotem Wachs gefüllt werden.
Fünf Jahre muss er so verbringen. Jeden Tag müssen Kerzen an seiner Seite entzündet werden und jeden Monat muss jemand ein Tieropfer vor seinem Blick verbrennen; anfangs reichen schon Fliegen, Spinnen und anderes Gewürm, danach Ratten, Mäuse und Singvögel bis hin zu Katzen und stattlichen Hunden. Am letzten Tag, muss ein Mensch geopfert werden. Er muss freiwillig zum Schlafenden gehen und aus eigenem Willen einen Bruchteil der Monatsrituale lernen, damit es funktioniert. Er…
Weiter konnte Clark nicht lesen. Seine Finger ließen das Papier kraftlos fallen, während er seinen Kopf langsam zu dem toten Mann auf dem Schaukelstuhl drehte. Das, was von der Mimik der Leiche übrig geblieben war, verzog sich zu einem Lächeln. Finger, die sich seit einem halben Jahrzehnt nicht mehr bewegt hatten, lösten sich mit einem knackenden Geräusch von den hölzernen Lehnen. Ein tiefes, krächzendes Stöhnen fuhr durch die zerlöcherte Kehle, aus der sich schließlich ein Wort herauskristallisierte.
„Endlich…“