Siebzehn
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Original von Dave Taylor
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Edgar hob seinen Kopf von der Brust; den Rücken fest in seinen Lieblingsessel gedrückt, sein ganzer Körper nass von kaltem Schweiß. Er starrte in Schatten in der Ecke des Wohnzimmers, Augen tränenfeucht, indem er den Revolver langsam und wohlüberlegt an seine Schläfe hob. „Siebzehn“, flüsterte er in die Dunkelheit.
Der Zeigefinger seiner rechten Hand hatte schon beim Anheben der Waffe seinen Sitz auf dem Abzug gefunden, er zögerte nicht länger als eine Sekunde; seine einzige Sorge, dass der gewählte Winkel garantiert tödlich sein würde. Er ballte die linke Hand an seiner Seite zur Faust um seinen Willen zu stählern. Er atmete scharf ein. Und ohne weiteren Bedarf an Atem oder Willen ballte er seine rechte Hand.
Dunkelheit blitzte vom Rohr einer 38er Special hell auf als der dumpfe Donner durch den Raum hallte. Die Überreste von Edgar Freeman sackten in dem zusammen, was einst sein Lieblingssessel gewesen war. Der andere Mann bei ihm in der Kammer lächelte sanft, jener in den Schatten, der flüchtig von dem Mündungsfeuer beleuchtet worden war, jener fahle Mann in dem dunklen Anzug mit den blassblauen Augen. Er lächelte, als alles grau wurde.
Edgar schlug um sich und fuhr auf, riss dabei die Decken vom Bett, wie er es immer tat wenn er von diesem gottverdammten Albtraum aufwachte. Nach der vierten Nacht in Folge mit dem gleichen Traum hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, mit brennender Nachttischlampe zu schlafen. Nach der sechsten Nacht in Folge hatte er sie in seiner Raserei beim Aufwachen auf den Boden geschmettert – Birne und Schirm rissen vom Aufschlag. Heute Nacht war die achte, und während er jede Obszönität in die tiefschwarze Dunkelheit rezitierte die er abrufen konnte, schwörte er, er würde sich heute die Zeit nehmen um neue Glühbirnen zu kaufen.
Indem er unfreiwillig an das unpassende Lächeln des Fremden aus dem Traum dachte, erinnerte er sich selbst daran, den Verwalter nach der höchsten Wattleistung zu fragen.
Nach einer warmen Dusche und einigen Minuten des Gedankensammelns auf der Bettkante ging Edgar seinen Tag an. Sein Frühstück umfasste fast geschmackloses Rührei und Kaffee, der ein Segen hätte sein können wenn er geschmacklos gewesen wäre, und er dachte darüber nach, um wie viel besser Haleys morgendliches Mahl gewesen wäre. Was auch immer für andere Probleme sie gehabt hatten: Haleys Kochkunst war ohne Tadel gewesen. Regelmäßig war er zu dem köstlichen Aroma eines nahrhaften Frühstücks aufgewacht, das sie für ihn bereitet hatte – für gewöhnlich Ei auf hellem Brötchen und ein großes Glas Orangensaft – zumindest bevor die Morgenübelkeit begann und sie sich damit beschäftigte, der Porzellangöttin für die erste wache Stunde am Tag zu huldigen. All das, mahnte er sich bitter, war nun Vergangenheit.
Als Marketing-Vizepräsident der zweitgrößten Sportartikelfirma des Landes (und, wie er von sich fand, ein halbwegs attraktiver Mann) war Edgar gelegentiches Flirten – sowohl beiläufig als auch aggressiv – seitens jungen Praktikantinnen und weiblichen Angestellten seiner Abteilung mehr als gewohnt. Es gehörte dazu, und es war nie etwas, das er nicht abweisen konnte. Gedanken daran, es weiter als Flirterei zu treiben oder der Personalabteilung zu melden kamen ihm selten in den Sinn; ersteres wegen seiner schwangeren Frau, letzteres, weil es das Ego streichelte. Vor einem Monat aber hatte Edgar eine Affäre mit einer besonders vollbusigen Hochschulpraktikantin namens Samantha angefangen. Ober- und unterhalb des Büstenhalters war sie nichts besonderes gewesen; bloß ein warmer Körper um die Triebe zu bezwingen, um die Haley sich nicht kümmern wollte oder konnte nachdem sie ins dritte Trimester gekommen war. Sogar der Sex war unbeachtlich.
Ihr erstes Rendezvous fand in einem Motel einige Blocks vom Büro entfernt statt, in der Art von Örtlichkeit mit Erkerfenstern, auf bedingt malerische Fernstraßenüberführungen blickend und wo sogar die Kakerlaken Schwarzlicht benutzen, bevor sie unter die ungemachten Betten huschen. Als ein flüchtiger Wink in Richtung Legitimität ging das Etablissement nicht so weit, Raten pro Stunde anzubieten – ein bekannter Fakt, weil Edgar bei der Anmeldung nachfragte.
Nach jener ersten Begegnung wurden die zwei kühner und weniger scharfsinnig in ihren Fehltritten. Edgars Büro war als nächstes dran, und dieses mal war etwas befriedigender – eine Kombination aus der Gefahr und dem Rock, den Samantha auf seine Bitte hin anbehielt. Aber Kühnheit wurde bald zu Fahrlässigkeit, und Edgar war weniger als zwei Wochen lang ein Lehrling der Untreue, bevor Haley seinen Betrug entdeckte.
Ob es ein Hauch eines unvertrauten Parfums oder ein Anruf einer eifersüchtigen Verschmähten Edgars war, von der die beiden im Büro gesehen wurden: Sein Seitensprung mit Samantha war bald das Thema, zu dem Edgar nach der Arbeit heimkehrte. Der Vorwurf lag in dem Moment auf ihrem Gesicht, in dem er durch die Tür kam. Er war spät nach Hause gekommen, nach besonders wildem Geschmuse mit Samantha, und die Worte von Haleys Lippen verrieten bald genau wie viel sie wusste.
Es wäre sinnlos zu lügen gewesen – sie hatte zu viele Details und er zu wenig Fantasie – so dass er beichtete und einen nachlässigen Versuch machte, sein Verhalten zu rechtfertigen. Sie verfluchte ihn mit einer Härte und Heftigkeit, die Edgar nicht von ihr kannte, und in ihren letzten Worten an ihn stellte sie klar, dass sie ihn verlassen und dass sie sicherstellen würde, dass er niemals in seinem Leben eine Rolle beim Großziehen ihres Kindes spielen könne. Trotz des Liebeskummers angesichts des Verlusts von Haley hatte Edgar zu viel Zeit in einer mörderischen Branche verbracht um Drohungen widerstandslos hinzunehmen, nicht einmal von seiner Frau. Er lachte verbittert und erinnerte sie an die Qualität der Anwälte an seiner Hand. Als er fertig war, sagte er in Worten die er sofort bereute aber unfähig war zu zügeln, dass sie sich glücklich schätzen könne wenn sie ein paar Feiertage mit dem Kind verbringen dürfe.
Das war eine Lüge und er wusste es, aber damals war sein Hauptziel, aus der Defensive zu kommen und die Oberhand in dem Kampf zu gewinnen – vielleicht sogar Haley ihre Entscheidung zu gehen überdenken zu lassen. Er hätte freudig ein paar saftige Checks an einen Paartherapeuten ausgestellt, wenn es ihn vor den wesentlich dickeren in Form von Alimenten und Unterhalt bewahrt hätte. Aber irgendwas in der Weise wie Haley ihn anlächelte deutete an, dass er ihre Absicht falsch verstanden hatte. Und wie er viel zu spät erkannte: Wäre er aufmerksamer gewesen, wäre ihm vielleicht ein leerer Haken am Schlüsselbrett aufgefallen und hätte ihn mit ihrem höhnischen Grinsen in Verbindung bringen können.
Wie er erwartet hatte, war sie nicht auf der Stelle gegangen. Ist das nicht immer, wie es in Filmen und im Fernsehen läuft? Der Typ kommt aus dem Badezimmer oder von der Kneipe zurück, etwas später nach dem Streit, nur um die Koffer des Mädels abgestaubt und prall mit all den teuren Klamotten gefüllt zu finden, die er ihr über den Verlauf ihrer Beziehung gekauft hatte? Sie überheblich und trotzig, er auf den Knien und flehend?
Edgar hätte nie letztere Rolle in seinem Leben gespielt, aber er hatte erstere klar von Haley erwartet. Stattdessen fand er sie, eine Stunde nachdem er von ihrem Brüllduell fortgegangen war um eine dringend nötige Dusche zu nehmen, im Wohnzimmer in seinem Lieblingssessel sitzend (was für ein Miststück), ins Leere starrend und den (verdammt, sie ist echt bald so weit) Babybauch reibend.
Seinetwegen war es das Ende des ersten von voraussichtlich vielen Auseinandersetzungen über das Thema. Er stieg leise die Treppen hoch und schlüpfte ins Bett. Der Tag war lang genug gewesen, und sie ging eindeutig nirgendwohin, ansonsten wäre sie schon weg. Haley kam nie ins Bett, aber er hörte auch nicht wie die Haustür zuschlug bevor er in den Schlaf glitt – es schien also, als hätte sie sich entschieden wenigstens für die Nacht zu bleiben. Alles wird gut, sagte Edgar sich als der Schlaf ihn übermannte. Aber ich bezweifle, dass sie mir die nächsten Tage mein Frühstück machen wird.
Das Geräusch, das ihn aus tiefstem Schlummer riss, kam laut seinem Wecker kurz nach fünf Uhr morgens. Bis das Bewusstsein Fuß fasste war der Laut so schnell verebbt wie er gekommen war. Er stand reflexhaft auf und suchte das Bett mit den Augen ab, die selbst für diese einfache Aufgabe kaum wach genug waren. Schlussendlich befand er, dass Haleys Seite leer war, schlurfte durch die Schlafzimmertür und die Treppen hinunter, um die Ursache des plötzlichen Lärms zu herauszufinden.
Er musste nicht das untere Ende der Treppe erreichen oder seinen Augen mehr Zeit zum Anpassen zu geben um zu wissen, dass sie sich entschlossen hatte, ihn am Ende doch zu verlassen. Ein kurzer Blick ins Wohnzimmer räumte alle Zweifel darüber aus. Es gab keine prallen Koffer oder überhebliche Blicke – nur ein geöffneter Waffenschrank, karminrote Spritzer an der Wand und ein stetiges Tröpfeln des gleichen die Seite seines Lieblingssessels entlang und auf den Hartholzboden daneben.
Nach einem Augenblick der erschütterten Lähmung sprang Edgar in gewaltigen, verzweifelten Schritten zum Telefon. Die Schnelligkeit war nicht Haley zuliebe, durch deren frisch belüfteten Schädel er deutlich flüchtige Eindrücke der präsidialen Debatte im Fernsehen auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes erhaschen konnte, aber um des unschuldigen Passagiers von siebeneinhalb Monaten willen. Er gab die relevanten Informationen an einen Notrufvermittler von zur Weißglut bringender Gleichgültigkeit und wartete in der Diele mit weit aufgerissener Haustür.
Der Schuss hatte eine Schar Frühaufsteher aus der Nachbarschaft zur Auffahrt des Freemanhauses gelockt; ein Phänomen, nicht durch Tapferkeit trotz Gefahr, sondern durch leichtfertige Ahnungslosigkeit über Gefahr verursacht, das ausschließlich Nachbarschaften der Reichen und Behüteten vorbehalten ist. Sie beäugten ihn vorwurfsvoll, keiner mit weniger als vagem Verdacht in den Augen. Edgar wütete deshalb gegen sie; zunächst mit harschen Gedanken, dann mit kehligem Knurren und ohnmächtigem Fuchteln. Sie traten gemeinsam zurück, wenn seine Raserei und Frustration am stärksten wallten und drangen vor, wenn das Gebrüll an Wildheit abnahm – menschliche Gezeiten aus blöden Gaffern.
Das Spektakel wurde kurzfristig von der heulenden Sirene und der anschließenden Erscheinung des Rettungswagens aufgelöst, der Sanitäter nur wenige Minuten nach dem Gespräch mit dem Zuteiler zügig ausspuckte (ein weiteres exklusives Merkmal für den Typus Nachbarschaft, in der Edgar und Haley Freeman wohnten). Die Menge machte den Notfallfahrzeugen Platz, fand aber bald einen neuen Aussichtspunkt auf Edgars Rasen.
Die Sanitäter entdeckten Edgars Frau zusammengesackt in seinem Sessel und schnallten ihren leblosen Körper auf eine Trage. Nachdem sie ordungsgemäß gesichert wurde, schob man sie schnell aus dem Haus und hinten in den Rettungswagen. Edgar sprang ebenfalls hinein und fand keine Zeit, um Fragen zu stellen oder zu beantworten bevor die Mannschaft die Türen zuschlug und zum Bezirkskrankenhaus fuhr.
Zwischen dem Überprüfen der Lebenszeichen und den Bemühungen, um des ungeborenen Kindes willen Sauerstoff in den Körper seiner Frau zu pumpen, bemerkte Edgar die verhaltenen Blicke, die ihm von den Sanitätern zugeworfen wurden – wie auch die blauen Lichtblitze mehrerer Polizeifahrzeuge, die dem Rettungswagen dicht folgten. Ich habe nichts damit zu tun, wollte er sagen – schreien – aber irgendwo wusste er, dass dies nur ein oder zwei Schweregrade davon entfernt war, die tatsächliche Wahrheit zu sein – also schwieg er.
Er hatte gedacht, dass sie ihm Handschellen anlegen würden, sobald sie am Krankanhaus ankämen, aber stattdessen erklärte die Schar Polizisten, dass sie mit Edgar warten würden, während die Ärzte ihr bestmögliches für das Kind taten – und vielleicht einige Informationon von ihm zu bekommen, falls er sich nach reden fühlte. Edgar nickte billigend, weitestgehend weil die Beamten alle Eigenarten von Männern demonstrierten, die Informationen zu bekommen vorhatten, ob er sich nach reden fühlte oder nicht.
Sie standen außerhalb des Operationssaals, in einer Reihe im Zuschauerraum. Die Beamten ließen Edgar Raum; sein Gesicht bloße Zentimeter vom Glas entfernt, vereinzelt Pausen nehmend um das Fenster mit seinem Ärmel abzuwischen, wenn verzweifelter Atem es bis zur Undurchsichtigkeit beschlagen hatte. Sie befragten ihn zögerlich; er antwortete ihnen hastig und wenig auf seine Wortwahl achtend. Seine Sorgen lagen anderswo, und er wusste, dass es nichts gab was er ungewollt ausplaudern konnte um sich selbst zu belasten. Er sah zu, wie der Chirurg einen langen Schnitt an Haleys unterem Bauch setzte (zumindest ist sie dafür betäubt, dachte er irrsinnig) und das Kind aus dem Mutterleib zu heben.
Innerhalb weniger Minuten wussten alle im Zuschauerraum, was sie wissen mussten. Die Beamten wussten, dass Haley offenbar durch ihre eigene Hand gestorben war (die Autopsie würde das entweder bestätigen oder widerlegen), dass sie es wahrscheinlich aufgrund der Untreue ihres Mannes getan hatte, und dass Edgar kaum oder keine Warnzeichen vor dem Suizid wahrgenommen hatte. Edgar wusste andererseits, dass das Kind lebte aber schnell schwächer wurde, dass es ein Junge war (sie wollten, dass das Geschlecht eine Überraschung wäre; eins der wenigen Dinge in denen er und Haley nie unterschiedlicher Meinung waren), und dass als letzten Versuch, sein Leben zu retten, das Kind in einen Brutkasten gelegt wurde.
Edgar stand außerhalb des Raumes, die Polizei hielt nun einen noch größeren Respektsabstand, während er seinem kleinen Sohn beim sterben zusah. Es gab wenig Aufregung darum, und wenig, was die Ärzte dagegen tun konnten. Die Augen des Kindes öffneten sich einmal in der ganzen Zeit, und bevor Edgar sich versah, erklärten sie den Zeitpunkt des Todes um 5:46. Sie hatten ihn gerade um 5:29 aus Haley herausgeschnitten, dachte Edgar verzweifelt. Mein Kind – mein Sohn – lebte für weniger als eine halbe Stunde. Ich hatte nicht einmal Zeit, ihm einen Namen zu geben. Ein Mädchen und Haley gibt ihm einen Namen, ein Junge und ich tue es; das war das Versprechen, das wir uns gaben, weil wir uns nicht einmal über einen scheiß Namen einig sein konnten. Edgar schlug mit der Faust gegen die Wand und fühlte weit entfernt seine Knöchel mahlen. Als er auf die Knie fiel, schmerzte seine Hand weit weniger als die sich in seinen Augen sammelnden, heißen Tränen.
Das war vor zwei Wochen. Heute aß Edgar fast geschmackloses Rührei und trank Kaffee, der ein Segen hätte sein können, wäre er geschmacklos gewesen. Acht Nächte lebte er nun mit dem Albtraum von seinem Freitod, der jeden Anflug von Schlaf vernichtete. Acht Nächte nun lebte er mit dem Mann in den Schatten des Albtraums, der über diese Entscheidung lächelte. Glühbirnen, einen großen Karton voll davon, höchste Leistung die der Baumarkt verkauft, heute nach der Arbeit. Edgar mahnte sich an die Besorgung, als er seine Jacke anzog und zur Tür hinaus ging.
Die Arbeit verlief weitestgehend wie immer, nur mit der zusätzlichen Ablenkung und dem morbiden Kaffeeküchenfutter des Suizids seiner Frau. Es war nervig, hauptsächlich.
Edgar wurde bewusst auf die Gestalt eines Mannes aufmerksam, gerade hinter der Schwelle der offenen Tür zu seinem Büro, als er auf die Uhr sah um festzustellen, wie tief in die Nacht er sich in Schreibarbeit verloren hatte. Er kam im Morgengrauen zur Arbeit und wusste, dass es jetzt sicher Abenddämmerung war, mindestens. Der Tag war von üblicher Bürokost für einen leidtragenden Mitarbeiter gewesen – stumfpsinnige Platitüden und ungewichtiges Mitgefühl, leere Phrasen aus leeren Herzen von Leuten, denen gerade genug gezahlt wurde um Sorge vorzutäuschen, aber nicht genug, um das überzeugend zu tun. Es war nicht zu sagen, wie lange der Mann dort still in der Dunkelheit des Flures gestanden hatte, aber Edgar besann sich des Gefühls einige Minuten zuvor, beobachtet zu werden. Alle bis auf den Wachmann der Nachtschicht waren vor Stunden gegangen, was ihm eine willkommene Ruhepause gegeben hatte, um sich mit aufgeschobener Arbeit zu beschäftigen und sie nachzuholen. So dachte er zumindest bis zu dieser neuen Unterbrechung.
„Hallo?“, grüßte Edgar den Eindringling zögerlich, den nächsten von vielen ungeschickten Versuchen in gefühlvollem Zuspruch fürchtend.
„N’Abend, der Herr“, kam die Antwort, knirschend und verschleimt. Seine Auger versuchten noch immer, sich an den drastischen Unterschied in Helligkeit zwischen seinem Büro und dem Flur zu gewöhnen, letzterer nur vom Außenlicht des Mondes durch sporadisch platzierten Fenstern erhellt, und Edgar schätzte aufgrund der fremden Stimme, dass es sich hier um einen Fremden – ein Lieferand vielleicht – oder einen Kollegen mit einer besonders fiesen Erkältung handelte, die er besser nicht verbreitete.
„Kommen Sie rein, ich hab mir von der Lampe hier über die letzten zwei Stunden Löcher in die Netzhäute gebrannt, ich kann nichts da draußen sehen.“
„Kann wirklich nicht bleiben“, stimmte der Mann an, förmlich gurgelnd, „nur auf der Durchreise.“
„Ja, ich weiß, was Sie meinen; ist schon seit Stunden Feierab… kennen wir uns?“ Edgars Augen passten sich an, und ihm wurde mulmig. Der Fremde war noch immer matt und verschwommen, trug aber eindeutig einen dunklen Anzug von unbestimmbarer Qualität. In der nächsten Minute würde klar, dass er eine Art verkniffener Rechnungsprüfer des Hauses vom 14. Stock war, oder ein weiterer Kripobeamter, der nach Haleys Tod herumschnüffelte. Wer auch immer er war, der Anzug verriet ihn als einen Fremden. Freitags war im Büro der lockere Tag, wenn sogar die leitenden Angestellten Polos und Khakihosen trugen. Der Mann machte keine Anstalten zu gehen, daher machte Edgar es zur Aufgabe seiner Augen, herauszufinden, ob er eins von diesen dämlichen Umhängebändern mit Zutrittserlaubnis hatte, die alle im Gebäude tragen mussten.
„Ich bin neu. Ich bin ein Kurier. Ich bin hier, um ein Paket abzuliefern.“
Edgar neigte zweifelnd den Kopf. Ein Kurier in einem dreiteiligen Anzug? Soll er wem anders erzählen. Ausweis – auch nicht. Edgar antwortete nicht, hoffte dass der (Gerichtszusteller? Zeuge Jehovahs?) Fremde sagte was er wollte und weiterging.
„Sie arbeiten so lange. Vermissen Sie nicht Ihre Familie, mein Herr?“
Ein Knoten formte sich in Edgars Kehle, und er saß kerzengerade auf seinem Stuhl. Nachdem der erste Schreck verging, entspannte er seine Haltung, sich selbst von der Harmlosigkeit der Frage überzeugend. Ein Gewerkschaftsrepräsentant – natürlich. Er ist hier in dem Versuch reingeschlüpft, mit den feinen Empfindsamkeiten eines Schlipsträgers zu spielen, über unbezahlte Überstunden und Kinder, die sich selbst ins Bett stecken, zu schwafeln. Versucht bloß, uns zur Abschaffung unseres Gewerkschaftsverbots mit Fabrikarbeitern zu bringen. „Ich bekomme faire Vergütung für meine Arbeit, wie jeder andere unserer Firma. Also nein, kein Bedarf, wirklich. Danke.“ Das sollte deutlich sein, dachte er mit einer gewissen düsteren Befriedigung.
„Oh. Tut mir leid, das zu hören. Naja…“ Der Fremde drehte sich leicht ab, als wolle er gehen, wartete und schob den Kopf zum ersten Mal ins Büro.
„Sie werden aber von ihr vermisst.“
Die Worte schabten wie Eiszapfen Edgars Rückgrat hinauf, ergriffen seinen Schädel mit Ranken, kalt wie ein Grab. Das Gesicht war so schnell aus dam Sichtfeld verschwunden wie es gekommen war – die Gestalt des Mannes ebenso – aber die hässliche Fratze blieb in Edgars Hirn eingebrannt, und in den Winkeln seines Kopfes war ihm überaus bewusst, dass es dort bis zu seinem letzten Atemzug eingeätzt bleiben würde. Die Augen von einem milchigen blau, so bleich und fern, dass sie Blindheit nahelegten, die aber Edgars mit einem solch sicherem Blick begegneten, der besagte, dass er ihn sehr wohl sah. Der Rest des Gesichts war von solchen Zeichen der Lebenskraft unbelastet. Seine Haut war fahl und kränklich und hatte selbst auf Entfernung den Anschein von abgenutztem Leder. Die Wangen und Augenhöhlen des Mannes waren eingefallen; das Fleisch hing an diesen Stellen, lag jedoch straff über dem Schädel und den Bereichen um Stirn und Mund. Ausgemergelt und leichenhaft; jedes Merkmal, von dem fettigen, verfilzten Haar bis zum bebenden Flechtwerk aus Fleisch wenn er sprach war identisch mit dem des dunklen Fremden in Edgars kürzlich entstandenen Albtraum. Aber alles andere war nebensächlich im Vergleich zu dem Schrecken, den er beim Anblick dieser verfluchten Augen gefühlt hatte. Es gab etwas unangenehm bekanntes darin, etwas furchtbares, das er bei aller Macht nicht benennen oder erklären konnte.
Nachdem er die Kontrolle über seine eingefrorenen Glieder wiedererlangte, stürzte er zum Durchgang, wo der Mann Augeblicke zuvor gestanden hatte. Der Fahrstuhl hatte noch nicht mit einem Klingeln seine Ankunft angekündigt, und der störrische Riegel an der Treppenhaustür hatte nicht das für jedes Öffnen und Schließen übliche, hörbare Klacken verlauten lassen. ‚Er ist noch irgendwo in diesem Stock‘, dachte Edgar hektisch. Die Vorstellung gab ihm Kraft, aber keine Klarheit über sein Ziel. Er wusste bloß, dass er bestätigen musste, dass die Anwesenheit des Fremden mehr war als das bloße Resultat seines überforderten Verstands und schlechten Gewissens. Kein Schreibtisch, keine Toilettenkabine, keine Abstellkammer blieb ununtersucht, als Edgars wilde Nachforschungen ihren fieberhaften Höhepunkt erreichten. An die Wand geheftete Motivationsposter von anmaßend sympathischen und geradezu verdächtig unterschiedlichen Geschäftsleuten, die da lächelten und einander die Hände umschlossen, schienen ihn zu verspotten, stille Verschwörer gegen Edgar auf seiner Suche. „Natürlich wissen wir, wer er ist und wohin er ging“, sagten sie in Edgars Kopf, „aber wie sind zu sehr damit beschäftigt, unsere Synergien optimal zu nutzen und wertschöpfendes Interfacing zum Austauschen über unsere Initiative zu betreiben.“ Er schob beide Hände durch sein Haar, büschelweise griff er hinein und zog leicht daran. Sein Besucher, wenn denn mehr als eine Einbildung, hatte sich ungesehen und ungehört entfernt. Edgar konnte das wilde Schlagen seines Herzens fühlen, scheinbar gegen die Innenseite seines Brustkorbs wuchtend. Er hielt nur an um seinen Aktenkoffer zu greifen, bevor er die Treppen hinuntersprintete, um der immer beklemmender werdenden Leere des Büros zu entkommen.
Das Managerparkdeck hatte keine Fenster und war daher sogar dunkler als das Gebäude, das er gerade verlassen hatte. Es war bis auf ihn und seinen Lexus verödet und war es vermutlich auch, seit der Wachmann vor Stunden seine letzte Runde hindurch gemacht hatte – und alle bis auf die Notlichter von der Wache auf dem Weg nach draußen ausgeschaltet wurden. Trotz dieser kleinen Gewissheit bemerkte Edgar, dass er verstohlene Blicke über beide Schultern warf und seinen Gang jedesmal beschleunigte, wenn sie einen deutlichen Mangel an Grund dazu gaben. Er war nie ein abergläubischer Mann gewesen; jede Furcht vor Ungeheuern war längst von den Gräueln beigesetzt worden, die des Tags schamlos unter Menschen wandeln. Studienkredite, Versicherungsprämien, Entlassungen, Hypothekenzahlungen – das Leben, so lernte Edgar über Jahrzehnte, trägt Fänge und Klauen, die jene von den Vampiren und Werwölfen zu Lachnummern machen; von Wesen, die der Mensch sich ausdachte, um mit dem Leben zurecht zu kommen. Und dennoch schimpfte er mit sich, während er nervös nach seinen Schlüsseln fingerte; es braucht ist nur einen kleinen Schubser der Einbildung, um die Urängste zu wecken – um unbewohnte Dunkelheit mit Dingen zu bevölkern, die kein Recht zu existieren haben.
Er war zwei Meter von seinem Wagen entfernt und hatte ihn gerade mit der Fernbedienung an seinem Schlüsselbund aufgeschlossen, als er den Schrei hörte. Er war hoch, frauenhaft, entsetzt, und hallte aus Richtung der Büroräume hinter ihm wider. ‚Hat Haley so geschrien, kurz bevor sie abdrückte?‘, dachte Edgar wüst. Er blieb auf der Stelle stehen, drehte sich schnell um, und sah nichts. Dann, wie als Antwort auf seine stille Prüfung, kam der Schuss. Edgar griff nach dem Handy in seiner Tasche, krampfhaft 112 zum zweiten Mal in genauso vielen Wochen wählend. Er klappte es an seinem Ohr auf, aber der nach der Art des Notfalls fragende Vermittler klang wie tausende Meilen entfernt. Die klackenden, schlurfenden Schritte, die aus dem Flur, aus dem der Schuss stammte, in Richtung der Managerparkplätze kamen, klangen wiederum sehr nah. Edgar ließ das Handy fallen und hechtete förmlich in sein Auto. Sein Fuß war schneller auf dem Gas als dass er einen Gang einlegen konnte.
Die Straßen um das Büro wurden einzig von Straßenlampen und dem gelegentlichen Lichtstrahl eines vorbeifahrenden Autofahrers beleuchtet. Die Sonne war vor Stunden hinter dem Horizont verschwunden – als Leute in Khakis oder zweckmäßigen Röcken in vierzehnstündige Pausen davon gingen, sich für die Kinder oder die gastrointestinalen Komplikationen anderer zu interessieren vorzugeben und Edgar mit zwei Wochen underledigten Papierkram zurückließen. Stress, versuchte Edgar sich zu überzeugen, kann dich Dinge sehen lassen. Stress, rationalisierte er, kann dich Dinge hören lassen. Emotionales Trauma. Nichts davon nahm den Druck von seinem Gemüt oder dem Gaspedal während er nach Hause raste.
In seiner hektischen Ankunft wusste Edgar, noch bevor er durch die Tür stürmte, dass etwas nicht stimmte. Er hatte keine Lampen ausgeschaltet seit die Albträume angefangen hatten, geschweige denn wenn er bis nach Sonnenuntergang außer Haus zu sein erwartete, und doch fand er sich in der Dunkelheit seiner Diele nach dem Lichtschalter tastend wieder. Als er in seinem blindem Gefummel endlich über den Schalter strich, überraschte es ihn kaum, dass der Knopf abgebrochen war – den Ereignissen des Tages folgend wäre es eine größere Überraschung gewesen, wenn der Schalter intakt gewesen wäre. Sein Instinkt sagte ihm, umzudrehen und aus dem Haus zu flüchten, aber die rot leuchtende Nummer „eins“ auf seinem Anrufbeantworter rief mit größerer Eindringlichkeit.
Trotz des angespannten Zitterns seiner Hand traf Edgars Finger den Abspielknopf mit unbeirrter Präzision, eine Bewegung, die ihm über den Verlauf der letzten zwei Wochen wohlbekannt geworden war. Leute, mit denen er nicht gesprochen oder an die er nicht gedacht hatte, seit er Haley kennenlernte, hatten ihn offenbar nicht vergessen, und sie hatten das Intervall zwischen dem Tod seiner Frau und jetzt damit verbracht, anzurufen und ihr Beileid zu bekunden. Ihre Sorge diente aber nur dem Erschweren seiner Schuldgefühle mit jeder Nachricht – was hatte er getan um solch treue Freunde zu verdienen? Er rechnete gänzlich mit einem weiteren Fall der gleichen Art Trost, bis eine der letzten Stimmen, die er erwartet hätte, aus der Maschine klang.
„Edgar?“, kam die Stimme von sonst munterem Singsang, mit einem unmissverständlichen Hauch von Vorsicht gefärbt. „Hier ist Samantha. Ich weiß, ich sollte nicht anrufen. Ich bin wohl die letzte Person auf der Welt, von der du jetzt hören willst, und ich kann kaum sagen, wie leid es mir tut was passiert ist.“ Es kam eine Pause und etwas, das wie ein Schluchzen klang. Edgar dachte, dies wäre wohl die echteste orgasmusfreie Emotion, die er je von Samantha gehört hatte seit sie sich zum ersten Mal trafen. „Es tut mir alles so leid, wirklich. Ich… wir… wir konnten nicht wissen wie das endet. Aber ich weiß, dass ich kein Recht hab‘ anzurufen. Ich mach‘ mir bloß Sorgen um dich, das ist alles. Ich bin nicht zur Arbeit, weil ich gehört hab‘, dass du heute zurück kommst, und ich dachte, dass du es nicht verdient hast auch noch mich neben all dem sehen zu müssen… Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es gerade für dich sein muss… und um ehrlich zu sein, hatte ich Angst davor, dich zu sehen. Angst, dass du auf mich zeigen könntest wann immer jemand fragte, oder so… Ich weiß, das ist dumm. Und egoistisch. Aber ich bin gerade ins Büro um etwas Schreibarbeit für zu Hause zu holen, und ich hab dein Auto in der Garage gesehen…
Edgar schielte auf den Zeitpunkt der Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Sie hatte irgendwann zwischen seiner verzweifelten Durchsuchung des Büros und seiner Ankunft am Auto angerufen. Was bedeutete, dass sie da war während…
Die Stimme hatte weitergeredet und Edgar erwischte sich dabei, dass er nun aufmerksamer als vorher zuhörte, seine Knöchel vom festkrallen in die Küchentheke weiß wurden.
„…hab‘ gesehen, dass das Licht in deinem Büro an war, aber du warst nicht da. Und Mann… hier sieht’s aus als wäre eine Bombe eingeschlagen. Jemand hat sich hier echt ausgetobt. Ich hab sofort an dich gedacht, darum rufe ich an. Ich weiß nicht, ob das schon lang überfällig ist, oder ob ich besser einen schnellen Abgang gemacht hätte um einen neuen Job zu finden und dich nie wieder anzurufen, oder sowas… Ich meine, was wäre jetzt anständig? Ich kann nichts mehr in Ordnung bringen, aber… es tut mir so leid, Edgar. Bitte ruf mich an, wenn du das hier kriegst. Ich vermisse…“
‚Vermisse‘ war das letzte von Samantha gesprochene Wort – es sei denn, man zählt einen haarsträubenden Schrei, der dem folgte, was das Geräusch werden würde um das verstummen zu lassen, was kommen sollte. Der Schuss ertönte wie ein Donnerschlag und verlor nichts seiner furchtbaren Wirksamkeit durch die Telefonkabel zu Edgars Anrufbeantworter. Die anschließende Stille war ohrenbetäubend, und Edgar stand steif vor der Maschine, vorgebeugt und sie angestrengt anstarrend – als ob er erwarten würde, dass sie bildhafte Hinweise dafür abspielte, was passiert war. Er bekam nur Ton.
„Vermisse dich, ja. Du wirst sehr vermisst, in der Tat.“ Die männliche Stimme, zweifelsohne dieselbe wie früher den Tag, gurgelte, als sie in den Hörer kicherte. Die Maschine piepte und eine dauerhafte, rote Null informierte ihn darüber, dass er nun keine ungehörten Nachrichten mehr hatte. Aber für Edgar vertrat diese Null mehr als das. Sie schien eine Antwort nicht nur darauf zu sein, wie viele Nachrichten er hatte, sondern auf alle wichtigen Fragen. Was, warum, wer, wie? Was ist übrig, was ist wichtig, was wird morgen bringen? Nichts außer null, natürlich. Nur eine große, blutrote Verneinung.
Edgar lockerte seinen eisernen Griff von der Theke und tastete sich seinen Weg zum Wohnzimmer. Er ging an einem weiteren Lichtschalter vorbei, bemerkte ohne wirkliches Interesse, dass auch er abgebrochen war, und fiel dann in seinen Lieblingsessel. „Ich habe“, flüsterte Edgar in die Leere des Hauses, das nie wieder ein Heim sein würde, „einen sehr harten Monat gehabt.“ Die Antwort auf seine mutmaßlich empfängerlose Aussage kam in Form eines Kicherns aus einer dunklen Ecke des Zimmers. Edgar fühlte jeden Muskel anspannen, und er verlor jegliche Kontrolle über seine Blase. Letzteres konnte ihm kaum egaler sein, er starrte bloß in die Dunkelheit und wartete auf was auch immer als nächstes kommen musste, während sich die Wärme in der Vorderseite seiner Hose ausbreitete.
Der Mann in den Schatten trat vor und Edgar zuckte zurück, so tief in den Plüschsessel versinkend wie er sich hineingraben konnte. Der Fremde, einfach gesagt, sah nicht bloß so aus als würde sein Fleisch sich darauf vorbereiten, sich von seinem irdischen Gefängnis zu befreien – sondern als ob es diese Aufgabe auch bewerkstelligt hätte. Edgar starrte Gesicht und Körper eines Mannes an, der im Begriff war, sehr beträchtliche Stücke seiner selbst zu verlieren. Wie in einem warmen Raum schmelzende Butter kam ein Teil von ihm los, als er planvoll aus der Dunkelheit trat.
„Ich weiß, du wunderst dich, warum ich hier bin, und warum die letzten Wochen dein Leben außer Kontrolle zu geraten schien. An diesem Punkt läuft es auf Schicksal hinaus. Das Schickal ist wie Tauziehen mit einem bedeutend stärkeren Gegner: Es gibt immer Momente, in denen du fühlst, wie sich das Seil langsam in deine Richtung bewegt, in denen deine Fersen in den Boden gestemmt und deine ernsten Anstrengungen den Erfolg bringen, für den da so hart gearbeitet hast; den Sieg den du verdienst. Aber selbst in den Momenten, in denen du die meiste Kontrolle zu haben glaubst, den festesten Boden, selbst dann korrigiert dein Kontrahent bloß seinen Griff. Aber das schließt nicht das aus, was du vielleicht freien Willen nennen würdest; die von Menschen gemachten Entscheidungen sind, was das Schicksal in Bewegung setzt, und das sind die ausschlaggebenden Augenblicke.“
Er hielt inne, dann wie ein Nebengedanke: „Wie du, als du das Motelzimmer gemietet hat. Sehr wenige Dinge waren von jenem Moment bis zu diesem in deiner Hand, und nichts davon von Bedeutung. Deine Hure ist jetzt tot, und von deiner eigenen Pistole getötet. Ihr rechtes Auge sieht jetzt sehr wie dein Anrufbeantworter aus. Nur eine große, rote Null. Keine neuen Nachrichten. Bis zum Morgengrauen bist du in einer Zelle. Deine Frau hat von dir und deiner Hure vor ein paar Wochen erfahren. Vielleicht hat sie ihr eigenes Leben genommen, vielleicht hast du darin eine Rolle gespielt. Die Hure aber… die wurde ermordet. Es gibt keine Jury in der Welt, für die deine Schuld etwas anderes als eine ausgemachte Sache wäre.“
„Warum.“ Edgar atmete die Frage flach, zu Tonfall unfähig. Er hatte sich sein ganzes Leben noch nie so müde gefühlt – so gänzlich erschöpft und leer. Mit jedem vom bleichen Fremden gesprochenen Wort strahlte ein tiefes Brennen von jedem Muskel in Edgars Körper aus, und dennoch blieb das krampfhafte Hasten seines Verstandes so schnell wie eh und je in dem verzweifelten Versuch, diese ihm gefühlt so vertrauten Augen einzusortieren.
„Was, warum? Warum du von deiner Frau abgewichen bist, die dich einst liebte? Da kann ich dir nicht helfen. Nicht, dass es zu wissen irgendetwas für uns beide ändern würde. Aber das ist nicht das wichtigste ‚warum‘ für dich, nicht wahr? Du willst wissen, warum das hier dir passiert, warum ich das tue. Aber aus irgendeinem Grund hast du Angst davor, mich zu fragen wer ich bin; die wahre Frage hinter dem ‚warum‘, über dass ich dir nur sagen kann, dass du für uns beide antworten musst.“
Der Fremde setzte seinen schwerfälligen Gang in Richtung Edgar fort, stockend und ungeschickt schwankte er immer näher. Edgars Verstand war tief in sich selbst vergraben, um die halb wiedergefundene Erinnerung an etwas abzurufen, das er vor Jahren auf dem morgendlichen Weg über den Parkplatz zur Arbeit gesehen hatte. Ein zerfetzter Birkenspanner, am Fuß einer Straßenlaterne verstorben; eine gerichtsmedizinische Untersuchung hätte zweifellos einen akuten Fall von Sich-wiederholt-gegen-eine-domartige-elektrische-Miniaturplastiksonne-schmeißen aufgedeckt. Dann kam eine steife Brise und trug die Motte in die Luft, flatternd und taumelnd auf Edgars Pfad über den Parkplatz. Die Brise flaute ab und die Motte wurde wieder ein völlig ruhender Körper; wie alle toten Dinge es sein sollten, meinte Edgar, solange nicht von einer äußeren Kraft beeinflusst. Eine unsichtbare Kraft, im Falle der Motte; und, meinte Edgar wieder, in dem Fall des vor ihm stehenden Mannes. Denn in seinen Bewegungen sah Edgar diese Motte sehr deutlich. Diese waren Bewegungen von etwas das einst lebte und nun von einer gänzlich anderen, unsichtbaren Kraft beeinflusst wurde – eine, die nur ansatzweise die Mechanismen des Gefäßes verstehen konnte, das sie nun kontrollierte. Der Wind war der Name jener Kraft gewesen, welche die Motte zuruck in eine Perversion des Lebens getrieben hatte, aber einer Kraft einen Namen zu geben, die zum gleichen mit einem Mann fähig war?
Nach einem Augenblick der Stille, der sich über Stunden zu ziehen schien, sah Edgar mit dem letzten Fetzen Mut in sich in die blassblauen Augen des Fremden. „Tod?“
Dann, etwas überzeugter: „Du bist der Tod.“
Der Fremde lachte brüllend, seine hagere Gestalt schüttelte sich im Rhythmus mit seinem trockenen, giemenden Lachen. Das verwitterte Fleisch seines Gesichts dehnte sich von geschwärztem Zahnfleisch und viel zu weißen Zähnen weg in der abscheulichsten Annäherung an ein Lächeln das Edgar sich vorstellen konnte. Nachdem das Gelächter abklang, sprach der dunkle Mann, nicht vorhandene Tränen wegwischend. „Du verstehst mich falsch. Es war nicht meine Absicht, kryptisch zu sein; ich bat bloß darum, dass du mir einen Namen gibst. Diesen Körper nähere ich an. Es ist der Körper, den ich vielleicht gehabt hätte, hätte ich gelebt um hineinzuwachsen. Nur die Augen, sie sind Spiegel zur Seele, sagen sie, und ich hatte gehofft du würdest dich an meine erinnern. Doch ich vergebe dir. Du hast mich bloß flüchtig und unter Druck gesehen. Aber du hättest mir einen Namen geben sollen. Ohne einen Namen zu sterben war der schlimmste Teil.“
Begreifen, grausamer als die Verwirrung je war, hatte angefangen in Edgar zu brüten als ein eisiger, allumgreifender Schauer ihn überkam. Der Mann klopfte ihm sanft auf die Schulter und lehnte sich vor, um zwei Kilogramm kalten Stahl in Edgars offene Hand zu legen. „Ich sagte dir, ich sei ein Kurier, und nun ist meine Pflicht erfüllt. Mama bat mich, dir das zu geben. Sie mahnte zur Eile. Sie verspricht, nicht zu hart mit dir ins Gericht zu gehen, wenn du bald heim kommst.“
Edgar zitterte hilflos. Seine Augen hatten angefangen zu tränen und zu brennen, nach jeglichem Zeichen von Zuspruch in denen seines Sohnes suchend. Er öffnete die Lippen wie um zu sprechen, fand aber die Worte nicht. Die Antwort auf seine stille Bitte kam in dem vermutlich mitfühlendsten Ton, den sein Besucher fertigbrachte: „Es ist nicht schlimm da, es ist bloß…“ Der Kopf des Leichendings neigte sich zur Seite, ein sehr jungenhafter, weltfremder Ausdruck in diesen blassblauen Augen. „Grau. Es ist grau dort. Zeit vergeht viel langsamer, wenn überhaupt. Sie zeigen dir Dinge. Sie haben mir alles gezeigt was ich in dem Leben gekannt hätte, dessen deine Taten mich beraubt haben.“ Gift nun in dieser faulenden Stimme, und Edgar wusste: Selbst abzudrücken würde heute die einzige gewährte Gnade sein.
Der Besucher wandte sich um, schwankte unbeholfen in die Dunkelheit hin zur Ecke des Raumes, während Edgar saß und den geladenen Revolver untersuchte. Sein fast-Nachkomme war beinahe ganz außer Sicht und sprach ohne erkennbare Emotion. „Eines noch. Nachdem sie mich herausschnitten haben, wie lange lebte ich in dem Kasten? Sie weiß es nicht, aber ich dachte, du vielleicht. Ich gab mein Bestes, durchzuhalten, aber es kann nicht lang gewesen sein. Fünfzehn Minuten? Zwanzig?“
Edgar hob seinen Kopf von der Brust; den Rücken fest in seinen Lieblingsessel gedrückt, sein ganzer Körper nass von kaltem Schweiß. Er starrte in Schatten in der Ecke des Wohnzimmers, Augen tränenfeucht, indem er den Revolver langsam und wohlüberlegt an seine Schläfe hob. „Siebzehn“, flüsterte er in die Dunkelheit.