EigenartigesKonversationenKosmischer HorrorKreaturenLangeLegendenMicroMysteriePsychologischer HorrorTheorie

Simulacrum

Die Katze, die unter Wasser atmen konnte

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Als Kind dachte ich, dass Katzen unter Wasser atmen können. Aber bitte, lasst es mich erklären. Ich dachte bis ins späte Kindesalter, dass Katzen unter Wasser atmen können. Ich weiß, dass das verrückt klingt und dass selbst Kinder den Unterschied zwischen Säugetieren und Fischen kennen. Aber ich versichere Ihnen, eigentlich bin ich ein durch und durch durchschnittliches Kind gewesen. Als ich 15 Jahre alt war, hatte ich das alles längst vergessen. Meine Therapeutin sagt, es sei nicht ungewöhnlich, dass Erinnerungen aus dem Kindesalter während der Teenagerzeit vergessen oder verdrängt werden und erst im Erwachsenenalter wieder auftauchen. Eine Art Schutzmechanismus des Gehirns vor beispielsweise Traumata, um im Wachstum sicherzustellen, dass das Gehirn richtig ausgebildet wird. Als meine Mutter es mir damals erzählte, kamen die Erinnerungen alle auf einen Schlag zurück. Sie schien es damals niedlich zu finden, mit welcher Entschlossenheit ihr 5-jähriger Sohn darauf beharrte, dass Katzen Dinge tun, welche sie nicht tun können. Doch wenn ich nun an den Moment zurückdenke, ist Glück weit von der Erinnerung entfernt. Als sie es mir sagte, fiel mir wieder ein, dass sich Kinder aus meiner damaligen Schule über mich lustig gemacht hatten, weil ich scheinbar dumm genug gewesen war, um nicht zu wissen, was ein Säugetier ist. Einmal hatte unsere Klassenlehrerin, Frau Collins, eine blonde, nette, junge Frau, in welche ich damals ein bisschen verliebt war, mich und einen anderen Jungen, Billy Henderson, trennen müssen, weil wir uns wegen der Katze stritten und uns schließlich deshalb geprügelt hatten. Ich war 7 oder 8 und ich weiß noch, dass ich deswegen nachsitzen musste.

Aber nun endlich zu der Katze selbst. Ich hatte das Glück, auf einer kleinen Farm aufzuwachsen. Es war keine Farm, wie man es sich vielleicht vorstellen würde. Familien mit zehn Kindern, welche von früh an auf den Feldern schuften mussten, damit sie den Winter überleben konnten, aber so war es nicht. Meine Eltern hatten relativ viel Geld und wir waren nie auf Produkte der Farm angewiesen. Es war ein schönes, weißes Haus mit Spuren des Kolonialstils, welches frisch renoviert worden war. Es bot mehr als genug Platz für eine größere Familie und für uns drei war es schon mehr als genug. Wir hatten eine rotweiße Scheune, welche ein paar Dutzend Meter vom Haus entfernt stand und in welcher später Schafe leben sollten. Das ganze Grundstück war zum Großteil umzäunt, was die Weiden vom Gehweg und von den Wäldern um die Farm herum abtrennte. Wir hatten einen Apfelbaum, eine große, alte Kirsche und auch Tollkirschen, welche meine Mutter, so gut sie konnte, im Umkreis einer Meile versuchte zu entfernen. Meine Eltern kamen ursprünglich aus einer größeren Stadt und als sie mich bekamen, beschlossen sie, sich diesen gemeinsamen Traum zu erfüllen und auf eine kleine Farm etwas weiter ländlich zu ziehen, wo ich in Frieden aufwachsen sollte, auch wenn es so nicht kam. Ich war erst ein oder zwei Jahre alt, als wir umzogen, also ist das mein Zuhause gewesen, solange ich denken konnte. Die Farm lag perfekt. Weit genug draußen, um Wälder und Wiesen um sich herum zu haben, und nah genug am Geschehen, um in einer verkraftbaren Zeit in der anliegenden Kleinstadt zu sein.

Oregon ist eigentlich wunderschön. Wie es im pazifischen Nordwesten üblich ist, ist Oregon von wunderschönen, unberührten Wäldern, atemberaubenden Seen, Küsten, soweit das Auge reicht, und Bergketten, welche sich prachtvoll durch die Landschaft ziehen, gesegnet. Selbst öde Wüsten und kilometerlange Canyons gibt es in manchen Teilen von Oregon. Wie Sie sehen, bietet unser Bundesstaat eine hohe Biodiversität an, welche für viele Menschen ein wahrgenommener Traum ist, und doch bringt es auch Schattenseiten mit sich, solch eine Umgebung zu haben. So schön die Natur auch sein mag, verbirgt sie eine Aura der Ungewissheit, tief im Inneren dessen, was ungesehen verbleibt. Viele Wälder und Canyons sind seit Jahrhunderten und vielleicht sogar seit Jahrtausenden unberührt. Wanderer verlieren sich in den Labyrinthen aus Bäumen, welche seit Jahrtausenden über diese Lande wachen. Wir, die modernen Amerikaner, sind gerade einmal ein paar Jahrhunderte auf diesem Kontinent. Wir sind nur ein kleiner Teil des Gesamtbildes, welches von der unergründlichen Kraft der Zeit schon so lange gezeichnet wurde. Wir sind nur ein kleiner Teil der Historie dieser Welt, die sich unsere Vorfahren einst so hart erkämpften.

Wir hatten ein paar Tiere, ein paar Hühner und ein paar Schafe, aber nichts, womit man wirklich einen Lebensunterhalt hätte verdienen können. Und passend zu diesen Tieren hatten wir auch noch eine Katze. Sie war uns von einem benachbarten Hof geschenkt worden und war kein Baby mehr, als wir sie bekamen. Eine orangene Mischlingskatze, welche sich mit mir zufälligerweise den Namen Oliver teilte. Anstatt sie umzubenennen, beschloss meine Mutter, dass sie von nun an einfach Oli genannt werden würde, was sich über die Jahre bei allen in der Familie so etablierte. Ich muss 4 oder 5 Jahre alt gewesen sein, als ich es zum ersten Mal sah. Während mein Vater arbeitete und meine Mutter sich um meinen Babybruder kümmerte, entwickelten wir eine Art Routine. Rückblickend ist es etwas töricht von meiner Mutter gewesen, mich so weit weggehen zu lassen, aber ich schätze, sie wusste es einfach nicht besser.

Der Kindergarten hätte sich für mich damals einfach nicht gelohnt, da es für meinen Vater jedes Mal ein Umweg gewesen wäre, und da meine Mutter ohnehin zuhause mit meinem Bruder beschäftigt war, blieb ich zu Hause, was mich damals auch nicht weiter störte, da ich die warmen, sonnigen Tage des Frühlings damit verbringen konnte, die Weiden und Waldränder um unsere Farm zu erkunden. Meine Mutter saß damals immer auf der Veranda und versuchte mich im Auge zu behalten, während sie meinen Bruder stillte oder im Arm hielt. Ich durfte damals nie weiter als bis zum letzten Pfeiler des Zauns an der Weide neben dem Haus gehen, woran ich mich meistens eher weniger hielt. Ein kleines Stück nach dem besagten Pfeiler fing ein Waldstück an, in welches ich oft vordrang. Wenn ich daran zurück denke, ist es, für ein Kind meines Alters, extrem gefährlich gewesen, da direkt nach ein paar Bäumen eine Art kleiner Teich lag. Es war mehr ein Wasserloch, in welchem sich Regen angesammelt hatte, als ein wirklicher Teich. Es war irgendwas zwischen einer Pfütze und einem Teich, aber nichts, in dem ich nicht hätte stehen können. Dort drin lebte nichts und es kann nicht tiefer als 30 cm gewesen sein. Dennoch etwas, in dem ein 4-jähriges Kind hätte ertrinken können.

Als ich eines Tages mit meiner Mutter nach draußen ging und in Richtung Wald rannte, folgte mir unsere Katze. Ich mochte sie eigentlich immer und sie war mir damals nie negativ aufgefallen. Sie biss oder kratzte mich nie. Auch brachte sie nie Geschenke, die man nicht haben wollte, wie Mäuse, Schlangen oder dergleichen, so wie es Katzen eigentlich nun einmal tun. Auch ließ sie Möbel, obwohl sie eine Draußenkatze war, überwiegend in Ruhe. Sein Fell hatte einen hellorangen Farbton und es hatte ein gestreiftes Muster, welches sich überall auf seinem Körper verteilte. Er war ein schöner Kater, wenn auch nichts Besonderes. Als ich schließlich unter den Rufen meiner Mutter, ich solle aufpassen und nicht hinfallen, in mein heutiges Abenteuer rannte, folgte mir Oli in den Wald.

 

Und Drache? Was machen wir jetzt? Dort, wohin ich gehe, ist es gefährlich. Shuuu, geh zurück ins Haus“, sagte ich zu dem mich anstarrenden Kater.

 

Die Katze saß vor mir und blickte mich einfach weiter an.

Wie du willst, Drache. Ich habe dich gewarnt.“

 

Und mit den Worten schritt ich weiter in den Wald. Mein Begleiter stets hinter mir. Das Knacken der Äste unter meinen kleinen Schuhen oder das Rauschen des Laubes, auf dem ich lautstark marschierte, ließ die Katze unbeeindruckt. Ich habe später festgestellt, dass Katzen, wenn sie draußen sind und zum Beispiel umliegende Parks oder dergleichen erkunden, eigentlich sehr schreckhaft sind. Es ist ein Instinkt, bei jedem Knacken oder jedem Huschen Kampf oder Flucht abzuwägen. In der heutigen Welt ist vielen Menschen nicht mehr bekannt, wie eine richtige Stressreaktion im Körper aussieht. Das, was heute als Stress empfunden wird, durch Arbeit oder andere Hervorkommnisse der Zivilisation, ist eine Dauerausschüttung von Cortisol und nicht jener Prozess, der sich evolutiv durchgesetzt hat und wegen welchem Sie und ich heute hier sind. Wenn man allein im Wald ist und spürt, dass etwas nicht stimmt, dieses alles durchdringende Gefühl der Angst, die im Magen hochkriecht, und du merkst, dass du beobachtet wirst, dass du kurz vor dem Tod stehst und der Körper sich mit allem versucht zu retten, was er aufbringen kann. Das ist eine wahre Stressreaktion des Körpers. Und das gepaart mit Hoffnungslosigkeit ist Qual. Eine Qual, welche wohl die wenigsten nachvollziehen können. Aber ich schweife ab. Was ich versuche Ihnen zu sagen, ist, dass Katzen eher schreckhaft sind und in freier Natur das erst recht sein sollten. Dieses Verhalten ist für Katzen untypisch und genauso ist es untypisch, dass sie anfangen, unter Wasser zu atmen.

Als ich und mein Drache schließlich an dem kleinen Teich ankamen, welchen ich später den „Dragon Lake“ taufen sollte, geschah etwas, was für mich den viel zu frühen Wendepunkt in meinem doch erst so kurzen Leben darstellen sollte. Die Katze fing an zu schwimmen. Dass Katzen nicht dafür bekannt sind, dass sie Wasser besonders mögen, wusste selbst mein 4-jähriges Ich, also überraschte es mich umso mehr, als die Katze in einem Moment, welcher mir wie eine Ewigkeit vorkam, untertauchte. Das Tier schwamm ohne Luft zu holen für mindestens 10 Minuten unter Wasser und zog Kreise um meine Beine, welche ich ins Wasser gestreckt hatte. Als sie wieder herauskam, war sie komplett trocken und ich sah, wie das Wasser in Form von Perlen an ihrem Fell herunterglitt. Als ich wieder zu meiner Mutter zurücklief, um ihr von meiner Entdeckung zu erzählen, wurde ich mit Ärger begrüßt.

 

Ich habe dir doch gesagt, du sollst da bleiben, wo ich dich sehen kann“, sagte meine Mutter in einem scharfen Ton.

Wie oft muss ich das noch sagen?“ „Heute gibt es kein Fernsehen mehr.“

 

Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf reagiert habe, aber meine Entdeckung behielt ich vorerst für mich. Meine Erinnerungen sind verschwommen und manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, ob nicht ein paar meiner Erinnerungen sich mit damaligen Träumen zu einer nicht mehr separierbaren Masse vermischt haben. Träume und Erinnerungen, welche scheinbar, je älter ich wurde, aus dem Äther in die Welt meiner Gedanken zurückkehrten. Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, wie ich mit meinem 3-jährigen Bruder Hand in Hand Eier von den Hühnern einsammeln gehe. Ich muss circa sieben gewesen sein und besuchte zu der Zeit die zweite Klasse der „Morrisson Creek Elementary“-Grundschule. Der Tag muss ein Sonntag gewesen sein, da mein kleiner Bruder einen Wutanfall bekam, weil er am nächsten Tag nicht mit in die Schule kommen durfte. Mein Bruder war ein verheultes Kind. Er hat, soweit ich mich erinnern kann, schon immer viel geschrien und hat schon als Kleinkind immer versucht, seinen Willen durchzusetzen. Dennoch liebte ich ihn und war glücklich, einen Bruder zu haben. Als James, oder Jamie, wie ich ihn oft nannte, mit mir auf die Mission gegangen war, Eier aus dem Hühnerstall zu holen, lag dort Oli. Er schlief in einer Ecke des Hühnerstalls. Er lag dort allein und alle Hühner waren draußen, was mir damals überhaupt nicht komisch vorkam, aber je mehr ich daran zurückdenke, ein Zeichen war. Hühner mögen es oftmals nicht unbedingt, wenn ihnen die Eier weggenommen werden, aber hier war nicht ein einziges Huhn, welches versuchte, seine Brut zu verteidigen.

Der Selbsterhaltungstrieb, welcher in jedem Lebewesen ein notwendiger Bestandteil seiner Existenz ist, wird oft von vielen Menschen heruntergespielt. Neuronale Muster, welche sich über Generationen in unseren Köpfen eingebrannt haben. Ich habe Veganer sagen hören: „Ich würde niemals Fleisch essen, selbst dann nicht, wenn ich verhungern würde.“ Wenn der Mensch jedoch nicht nur der hypothetischen Verdammnis, sondern einer echten Überlebenssituation ausgesetzt wird, in welcher sich entscheidet, ob man lebt oder stirbt, so gibt der Verstand den Trieben des Körpers nach und selbst Kannibalismus wird in Erwägung gezogen, um zu überleben. Die nicht ganz so berühmte Geschichte, auf welcher der Roman „Moby Dick“ beruht, handelt von schiffbrüchigen Walfängern, welche ausgelost haben, wer sich mit einer Flinte das Leben nimmt, um den Anderen den sicheren Hungertod zu ersparen. Es wird getan, was nötig ist. Das ist der Grund, warum der Mensch der goldene Zenit der zumindest jetzigen Evolution ist. Wir haben eine unbrechbare Kraft in uns, das zu tun, was nötig ist, um zu überleben, koste es, was es wolle. Unsere Instinkte sind stark, doch unser Verstand ist schwach. Das, was einen Menschen tötet, ist Hoffnungslosigkeit, wovon ich noch meinen zu großen Teil abbekommen sollte.

Ich muss ca. 11 gewesen sein, als der erste große Knackpunkt meiner Agonie beginnen sollte. Ich war inzwischen in der Middleschool und bin auch dort recht glücklich gewesen. Ich saß mit Mike Suddney und Charles Conners im Matheunterricht, bei einer Lehrerin, die wir nicht leiden konnten. Poeten gleiche Dialoge schwingend, welcher der beste Mortal-Kombat-Charakter ist, wurde ich plötzlich aus meinem Gespräch mit Mike herausgerissen. Von dem Moment an, in dem es an der Tür klopfte, spürte ich bereits, dass die Verheerung gleich eintreten würde. Nennen Sie es eine Vorahnung vor dem Sturm. Man weiß, dass gleich etwas kommt, was man nicht durchleben möchte. Es klopfte bedeutungsschwanger an der Tür des Klassenraumes und der Rektor trat ein. „Oliver Clark“, rief der Direktor halb fragend, halb anweisend in den Raum. „Pack bitte deine Sachen ein, du gehst für heute nach Hause.“ Ich tauschte einen besorgten Blick mit meinen Freunden aus und schritt wie in Zeitlupe durch die Tür, welche sich wie das Tor anfühlte, dessen Durchschreiten die Besiegelung meines Schicksals bedeutete. Eine Tür, die sich verschließt, nachdem man sie durchschritten hat, egal wie sehr man versucht, sie wieder aufzubrechen. Meine Mutter stand mit rötlichen Augen vor der Schule, um mich abzuholen. Ich wagte es nicht zu fragen, was passiert sei, da ich nicht wusste, ob ich die Antwort haben wollte. Schließlich sprach ich die Worte aus und meine leicht weinende und schluchzende Mutter antwortete nach einer gefühlten Ewigkeit. Die Antwort brachte jedoch nur eine Schwere in meinem Hals und Bauch, wie ich sie vorher noch nie gespürt hatte.

 

James ist heute nicht in der Schule angekommen“, sagte sie unter Tränen.

 

Dein Vater hat ihn dort abgesetzt und er wurde von Freunden ganz klar gesehen, aber als der Unterricht begann, war er verschwunden.“

 

Mein Blick wurde starr und ich kann nur noch vage erzählen, wie ich mich während der schlimmsten Autofahrt meines Lebens fühlte. Unsichtbare Hände schienen sich mir um den Hals zu legen und meinen Schmerz als Rechtfertigung zu benutzen, um immer fester zuzudrücken. Als wir nach gefühlten Äonen zuhause ankamen, stand mein Vater im Wohnzimmer und sprach mit dem Sheriff des Countys. Ein älterer Mann, welcher mit meinem Vater befreundet war, und wohl deshalb direkt persönlich vorbeikam. Ich kannte ihn nur als Sheriff Haynes, welchen ich schon mal auf Grillfesten und unter ähnlichen Feierlichkeiten gesehen hatte. Als mein Vater mich sah, warf er mir ein müdes Lächeln zu und sagte irgendwas Nutzloses, in dem Versuch, mich zu beruhigen. Ich wurde auf mein Zimmer geschickt, was mir ziemlich missfiel, wogegen ich jedoch nichts hätte tun können, was geklappt hätte. Nach zwei Tagen, gefüllt von Alpträumen und so viel Spannung, wie es ein Kinderherz nicht hätte ausgesetzt sein sollen, kam die Erlösung in Form eines Anrufs. James war gefunden worden. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter mich packte und sträflich schnell über Landstraßen in die Stadt fuhr. James war, so hieß es zumindest, in den Wald gegangen, um einem Tier nachzulaufen, welches er gesehen hatte. Er wurde letzten Endes von einem Ehepaar entdeckt, welches im Wald mit seinem Hund spazieren ging. Der Hund hatte wohl gebellt und das Paar in eine Richtung gezerrt, woraufhin sie James etwas verwahrlost aussehend im Unterholz fanden und daraufhin die Polizei verständigten. Er war in den zweieinhalb Tagen angeblich unglaubliche 34 Meilen gewandert, was niemand so wirklich glauben konnte. Ein 7-Jähriger, welcher einen zweitägigen Spaziergang in die Nachbarstadt machte, klang für jeden unglaubwürdig. Ich hörte Wortfetzen von dem Gespräch, welches mein Vater leise mit dem Sheriff führte, während meine Mutter meinen Bruder umarmte und küsste.

 

Eine Entführung sei nicht auszuschließen“ und „gebt ihm Zeit“ und Sachen wie „Kontakt aufnehmen“ verstand ich gerade so.

 

Letzten Endes gab der Sheriff meinem Vater eine Nummer, welche rückblickend wohl die eines Kinderpsychologen gewesen ist. Selbst als 11-Jähriger konnte ich die Erleichterung erkennen, die sich unter den Beatmeten ausgebreitet hatte. Mein Vater hatte müde, rote Augen, welche trotz der tiefen Augenringe Erleichterung ausstrahlten. Er war Tag und Nacht rumgefahren und hatte in den Wäldern nach meinem Bruder gesucht. Mein Vater kannte viele dieser Wälder, da er in jenen Wäldern, trotz der Missbilligung meiner Mutter, so viel Zeit mit Jagen verbracht hatte. Ich umarmte meinen Bruder natürlich auch, aber es war mir nicht vergönnt, die Art der Erlösung zu bekommen, welche ich mir die letzten Tage über so sehr gewünscht hatte. James hatte kaum etwas gesagt und war irgendwie steif. Nichts, was allzu ungewöhnlich für einen 7-Jährigen gewesen wäre, welcher gerade verschwunden war und eine zweitägige Durchschlagübung hinter sich hatte, aber ich war scheinbar der Einzige, der wusste, dass etwas nicht stimmte.

Ich habe vorher bereits über Instinkte gesprochen und eine Sache, die mir mein Vater beigebracht hat, war: „Höre auf dein Bauchgefühl.“ „Fühlst du dich beobachtet, dann ist es wahrscheinlich auch so.“ Solche Gefühle sollte man nicht unterdrücken. „Es ist der Körper, der einem sagt, dass etwas nicht in Ordnung ist, auch wenn der Verstand es nicht weiß“, sagte er irgendwann mal zu mir. Wie bereits erwähnt hat mein Vater, trotz dessen, dass meine Mutter es missbilligte, für sein Leben gerne gejagt. Das war etwas, was sein Vater oft mit ihm als Kind gemacht hatte und etwas, das er gerne auch an mich weitergegeben hätte, wäre da nicht meine Mutter gewesen. Meine Eltern haben sich nie wirklich gestritten, jedoch konnte meine Mutter, eine durchaus christliche und doch etwas bestimmerische Frau, den Gedanken nicht zulassen, dass ihr kleiner Junge, welcher dachte, Katzen könnten unter Wasser atmen, mit einem Gewehr voller gefährlicher Munition auf lebende Tiere schoss. Sie verbot es, solange sie konnte, bis mein Vater mich schließlich an meinem 14. Geburtstag mit in den Wald nahm. Meiner Mutter missfiel das sehr, doch mir zuliebe zwang sie ein Lächeln auf und ermahnte meinen Vater mit Nachdruck, dass wir pünktlich zum Kuchenessen zurück sein sollten. Ich hatte mich ewig auf diesen Tag gefreut. Seit ich klein war, hatte ich meinen Vater angefleht, mich doch mitzunehmen und dass Mom es auch sicher nicht erfahren würde, doch auch wenn er es genauso wollte wie ich, tat er es aus Angst vor dem Zorn meiner Mutter nie. Ich saß glücklich im Pickup meines Vaters, im Radio lief ein Country-Song und der Frühling verwandelte sich langsam aber sicher in Sommer. Wenn ich so zurückdenke, war das wahrscheinlich der letzte wirklich glückliche Moment, den ich je hatte.

Wir hatten uns allmählich wieder von James’ Verschwinden erholt und alles war wieder recht normal, zumindest für meine Eltern. James ging erst Monate später wieder zur Schule und meine Mutter ließ mich und, ins Besondere, James nicht mal eine Sekunde mehr aus den Augen. James musste immer mit mir zusammen aufstehen, da meine Mutter mich zur Schule bringen musste, weil Dad eine neue Arbeit hatte und uns nicht mehr bringen konnte. Meine Mutter wäre wahrscheinlich lieber gestorben, als James nochmal irgendwo alleine hingehen zu lassen. Als James wieder seinen ersten Schultag antrat, war sie so nervös, dass sie, als sie zu Hause war, prompt wieder umdrehte und fast einen ganzen Tag im Auto vor der Schule wartete. Fast wäre sie verhaftet worden, weil jemand wegen dem Auto vor der Schule Verdacht auf einen Entführer oder einen Perversen schöpfte und die Polizei verständigte. Meinen Eltern ist nie etwas aufgefallen, aber mein Jamie ist nie aus dem Wald zurückgekehrt. James war kalt und gleichgültig. Meine Mutter schob das auf ein Trauma, was der Psychologe, zu welchem sie wöchentlich mit James fuhr, nur bestätigte. Doch ich wusste, dass James vermutlich tot war. Seine Gangart war anders, sein Lachen sah nicht echt aus, die Falten, welche sich in seinem Gesicht formten, wenn er seine Augen zukniff, passten nicht zu dem früheren Bild, welches ich von ihm hatte. Die Art, wie er nach Sachen griff, die Art, wie er Wasser trank, alles Kleinigkeiten, die für mich aussahen, als stünde jemand vor mir, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Jeder andere hätte dies wahrscheinlich nicht einmal bemerkt. Aber nicht ich. Ich wusste, dass etwas so falsch war, so falsch. Etwas, das eine Verhöhnung gegen die Menschheit selbst war. Dieses Ding war ein Trugbild, eine fast perfekte Hülle, die vorgab, mein Bruder zu sein.

Später las ich auch über neurologische Krankheiten wie das Capgras-Syndrom, aber das war bei mir nicht der Fall, da bin ich mir sicher. Von jenen, welche tanzten, wurde gedacht, sie seien verrückt, von jenen, welche die Musik nicht hören konnten. Ein Sprichwort, welches mir damals lange im Kopf stecken blieb. Meine Mutter hätte wahrscheinlich auch ein Mädchen als ihr Kind angenommen, solange es James geheißen hätte. Ich kann es ihr jedoch nicht vorwerfen. Eine Mutter, welche ihr Kind um jeden Preis wiederhaben will, ist wohl etwas, das jeder von uns nachvollziehen kann. Obgleich wir selbst Eltern sind oder nicht. Dennoch kann ich nicht anders, als ihr zu verübeln, dass sie ihr eigenes Kind nicht wiedererkannt hat, auch wenn ich es nicht will.

Im Winter, als ich 12 Jahre alt war, geschah ein weiteres Ereignis, welches ich damals nicht einordnen konnte, welchem ich jedoch heute große Wichtigkeit zuschreibe. Gedanken verschwimmen und das Gefühl, verrückt zu werden, ist seit Jahren ein allgegenwärtiger Begleiter geworden, aber ich erinnere mich, dass es die Tage um Weihnachten geschah. Es hatte die Tage vorher stark geschneit und draußen lag demnach ein weißes Paradies aus Schnee. Früher hätte ich mich darüber gefreut, aber spätestens als ich nach draußen ging, fingen die unsichtbaren Hände wieder an, sich mir um den Hals zu legen. Ich stand auf der Schwelle vor unserer Haustür und wusste bereits, dass etwas nicht stimmte. Ein Gott, welchen ich nicht kannte, schickte Worte der Vorsicht zu mir, welche ich nicht verstand. Ich sah Fußspuren, große Fußspuren. Spuren dicker, schwerer Stiefel zeichneten die weiße Leinwand, welche der Schnee so sorgfältig aufgezogen hatte und welche so wunderschön ausgesehen hatte. Langsam ging ich auf die Spuren zu und wusste nicht recht, was mir eigentlich Angst machte. Eine Substanz lag verstreut über den Schnee und vollendete das schreckliche Bild, welches jemand unerlaubterweise so sorgfältig auf meine Leinwand gemalt hatte. Es war eine Art Pulver. Gröber als Sand, aber feiner als Katzenstreu. Es hatte eine hellbräunliche Farbe, war aber keine Erde oder Dreck. Da war ich mir sicher.

 

MOM!“, schrie ich ins Haus.

 

War Dad schon draußen?“

 

DAD! hat bis eben neben mir geschlafen“, kam es zurück.

 

Damals kam ich zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich ein Briefträger war und dass er irgendeinen komischen Weg genommen haben musste, da die Spuren ums Haus und Richtung Scheune verliefen, jedoch nicht mehr vom Haus wegzuführen schienen. Ich wusste es einfach nicht besser und habe mir nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, auch wenn mir natürlich die Gedanken an Einbrecher oder Monster durch den Kopf schossen. In solchen Situationen glaubt keine halbwegs rationale Person in ihrem tiefsten Inneren, dass es sich um einen Geist oder eine übernatürliche Macht handelt. Die Meisten würden sich wahrscheinlich mit der Erklärung zufrieden geben, dass sie einen Teil des Bildes nicht gesehen haben, um den Sachverhalt in Gänze zu verstehen. Manche würden vielleicht von einem Einbrecher oder einem Squatter ausgehen. Aber das 12-jährige Kind, das ich nun einmal war, vergaß es einfach, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Es hätte, wenn ich zurückdenke, ein riesiges Warnsignal sein müssen. Aber in der Realität tut man Dinge oft ab, und das besonders als Kind. Niemand würde direkt aus seinem Haus ausziehen, nur weil er denkt, dass es darin spukt. Jeder würde in einer Realität, in der Verpflichtungen wie Arbeiten, Steuern und Rechnungen bezahlen das Leben bestimmen, einen rationalen Ansatz für solche Dinge hervorbringen. So wie ich es auch tat.

Die Welt, in der wir leben, ist nun mal voller Ungewissheit, Schmerz und Angst, womit sich ein Jeder abfinden muss. Woran würden Sie denken, wenn Sie mir die tödlichste Krankheit der Welt nennen müssten? Vielleicht AIDS, Malaria oder doch lieber Krebs? Es gibt viele schreckliche Krankheiten auf unserem Planeten, doch die Tollwut ist rein von der Art, wie das Virus wirkt, die Tödlichste. Wird man mit dem Virus infiziert, beginnt ein schleichender Prozess der Degeneration, welcher fast so wirkt, als wolle der Zufall den sicheren Tod für das arme Individuum, welches von dem Virus infiziert wurde. Tollwut ist ein schleichendes Virus, welches sich langsam über die Nervenbahnen bis hin zum Gehirn ausbreitet. Ist das Virus einmal im Gehirn, so gibt es keine Heilung mehr und der Tod ist gewiss. Kein Impfstoff, keine Therapie kann dich dann noch retten. Du stehst direkt unter der richtenden Schneide des Todes.

Genauso war es bei mir.

Das Geräusch ist schleichend stärker geworden. Erst schien es von draußen zu kommen, dann vom Flur, dann aus den Wänden und schließlich aus dem Inneren meines Schädels. Ein Geräusch, welches außer mir scheinbar niemand hörte. Rückblickend kann ich immer noch nicht mit Sicherheit sagen, was es wirklich war, ich kann lediglich meine Vermutungen mit Ihnen teilen. Seit besagtem Tag im Winter war mein Zuhause von einer Aura der Wehrlosigkeit umgeben, welche scheinbar nur ich spüren konnte. Es war ein Gefühl, welches ich nur schwer in Worte fassen kann, es jedoch am ehesten als das Gefühl beschreiben würde, welches jemand haben muss, der einen Pfad entlangwandert, weiß, dass er beobachtet wird und jeden Moment erwartet, von der Bestie zerfleischt zu werden, welche er nicht sieht, aber dennoch spürt. Das Gefühl, beobachtet zu werden, können wohl die meisten von uns nachvollziehen. Ob es nun ein Instinkt ist oder eine Art metaphysischer Sinn, welcher uns einst vor Raubtieren schützte, kann man nur schwer sagen. Dennoch wuchs dieses Gefühl über die Jahre zu einer riesigen Krankheit, welche sich in meinem ganzen Körper auszubreiten schien. Ich muss auch noch anmerken, dass der Prozess wahrlich schleichend geschah, ähnlich wie eine exponentielle Statistik aussehen würde. Es stieg langsam an und wurde immer stärker, je näher es dem Ende zu kommen schien.

Als ich schließlich 17 geworden war, war es bereits schlimmer geworden. Ich hörte diese Geräusche täglich, obgleich ich meinen Eltern nie davon erzählt hatte. Von der Zeit zwischen 12 bis ca. 13 fragte meine Mutter mich immer wieder, was mir denn Angst mache, wenn ich mich weigerte, allein baden zu gehen oder nach Einbruch der Dunkelheit noch allein nach draußen zu gehen, auch wenn mir das vorher nie wirklich Schwierigkeiten bereitet hatte. Ich wollte es ihr sagen, das wollte ich wirklich, aber dennoch tat ich es nicht, aus Angst, sie würden mir nicht glauben. Schließlich waren sie bereits einmal getäuscht worden. Als die Sommerpause endlich anfing, hatte meine Mutter unter meinem tagelangen Betteln schließlich nachgegeben. Ich hatte mit Mike und Charles schon länger an Plänen gearbeitet, in der Sommerpause einen Roadtrip zur Küste zu machen. Der Plan war gewesen, zwei Tage am Chester-Lake zu verbringen, da dieser dafür bekannt war, dass dort viel gefeiert wurde. Daraufhin wollten wir weiterfahren und Beweisfotos für meine Eltern vom Meer machen und dann wieder zurück nach Hause fahren. Von unserem kleinen Umweg hatten wir unseren Eltern natürlich nichts erzählt. Sie glaubten, dass wir einen kleinen Zeltausflug ans Meer machen wollten und etwas Zeit in der Natur, abseits vom Schulstress, verbringen wollten. Doch Naturverbundenheit war weit weg von unseren Gedanken. Mike hatte von seinen Eltern ein Auto bekommen, welches Charles und ich sehr beneidet haben. Die Eltern von Charles vertraten die Ansicht, dass, wenn er ein Auto haben wolle, er dafür arbeiten müsse, was er auch tat. Jedoch gingen die Früchte seiner Arbeit am Ende meistens doch eher für Gras drauf. Meine Eltern hätten mir vielleicht eins zu meinem 16. Geburtstag gekauft, hätte meine Mutter nicht wiedereinmal interveniert und festgelegt, dass ein 16-Jähriger gerade so ohne seine Mutter geradeaus laufen könne, geschweige denn in der Lage wäre, ein Auto auf öffentlichen Straßen zu fahren.

 

Mit 18 kriegst du allerfrühestens eins“, sagte sie schnippisch und bestimmend zugleich.

 

Dad warf mir einen Blick zu, welcher mir deutlich genug sagte, dass diese Schlacht verloren war, um nicht noch weiter mit meiner Mutter zu diskutieren.

 

Denk daran, wenn ich rausfinde, dass ihr euch da betrinkt, war das das erste und letzte Mal, dass du sowas machst“, sagte sie mir zum hundertsten Mal, als ich zu Mike ins Auto steigen wollte.

 

Ja, Mom, als ob ich mich trauen würde, deinen Hass auf mich zu ziehen.“ „Am Ende werde ich noch gekreuzigt“, sagte ich zu ihr und verabschiedete mich damit.

 

Ich hörte Dad noch etwas sagen wie „Nun lass ihn doch mal“, als wir davonfuhren.

 

Scheiße, Mann, Oliver, was hat da so lange gedauert?“, sagte Charles mit leicht bekifft klingender Stimme.

 

Er guckte mich durch seine Sonnenbrille halb auf dem Rücksitz liegend an.

 

Du kennst ja meine Mutter“, erwiderte ich.

 

Alkohol ist das Werk des Teufels, geh nicht dahin, mach das nicht.“ „Verlass am besten gar nicht das Haus und lies den ganzen Tag die gottverdammte Bibel“, äffte ich sie mit einer hohen Stimme nach.

 

Sie ist halt stark gläubig“, sagte ich.

 

Das sind wir alle, Mann“, entgegnete mir Charles, welcher inzwischen an die Decke des Luxus guckte.

 

Gut, dass sie nicht in den Kofferraum geguckt hat“, gluckste Mike vom Steuer aus.

 

Was konntest du alles kriegen?“, fragte ich ihn.

 

Ähhh, ein Sixpack Silver Pine Classic, vier Black Creeks und eine halbe Flasche Tequila.“ „Gar nicht mal so ’ne schlechte Ausbeute für die kurze Zeit, die ich hatte“, sagte er stolz.

 

Wir waren schließlich am Chester-Lake angekommen und hatten unser Zelt für die Nacht aufgeschlagen. Charles hatte sich bereits mit anderen Campern angefreundet und eine Einladung für eine kleine Party ein kleines Stück weiter von unserem Zelt erhalten. Wir sahen vielleicht älter aus, als wir es eigentlich waren, und es hat zum Glück niemand bemerkt, dass wir noch lange nicht alt genug waren, um zu trinken. Es waren ca. zwanzig bis dreißig Personen, welche um ein Lagerfeuer versammelt waren, zu Musik tanzten, sich dabei betranken und mit wer weiß was sonst noch für Substanzen betäubten. Es wurde spät und ich muss gestehen, dass ich zu viel getrunken hatte. Jedoch konnten die Erinnerungen, welche sich so tief in meinen Verstand einrennen sollten, selbst vom Alkohol nicht wieder gelöst werden. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren und begutachtete mit Mike, wie die Brüste der Frauen gegenüber von uns in ihren Bikinis hin und her hüpften. Das nächste, woran ich mich erinnern konnte, ist, dass Mike mir lächelnd irgendwas mit Nachdruck mitteilen wollte. Er stand mit zwei Frauen ein Stück von mir entfernt und schien den beiden etwas zu erklären, während er auf mich zeigte. Er kam schließlich mit den Beiden zu mir und sagte irgendwas, was ich nicht verstand. Die Frauen müssen Anfang 20 gewesen sein, und es war rückblickend ziemlich fragwürdig, dass sie sich so an uns ranmachten. Aber das war mir damals so ziemlich egal. Doch was ich verstand, war, dass er wollte, dass ich mit der Frau im roten Bikini ging, welche sich bei mir eingehakt hatte.

Die wildesten Fantasien fingen an, sich in meinem Kopf auszubreiten, so wie sie wahrscheinlich jede 17-jährige Jungfrau in einer solchen Situation bekommen würde. Ich nahm die nächsten Momente eher in Schnappschüssen wahr, aber ich erinnere mich, dass ich mit der Frau redete, trank und mit ihr tanzte. Mike und die andere Frau waren verschwunden, und ich bin trotz der enormen Alkoholmenge unglaublich nervös gewesen. Die Frau nahm mich mit und wir gingen ein Stück abseits in Richtung eines Waldstücks. Ich war aufgeregt, ich zitterte etwas und mein Gesicht glühte und war wahrscheinlich knallrot. Ich stand nun, leicht schwankend, vor der Frau, während sie immer näher zu mir kam und anfing, sich auszuziehen. In dem Moment war ich erregt und dachte, dass ich gleich zum Mann werden würde, jedoch wurde aus der Wunschfantasie einer 17-jährigen Jungfrau ein Alptraum, welcher seinesgleichen sucht. In dem Moment, als die Frau ihr Oberteil ausgezogen hatte, kam in mir das Gefühl auf, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Das Gefühl der Erregung verschwand und wurde durch ein Gefühl ersetzt, wie als ob man sich unbefugterweise auf einem Regierungsgelände befände und fürchte, jeden Moment erschossen zu werden. Ich starrte auf die nackten Brüste der Frau und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Die Frau hatte keine Brustwarzen. Sie lehnte sich vor, um mich zu küssen, doch es fühlte sich falsch an. Selbst in dem dämmrigen Licht konnte ich sehen, wie ihre Lippen fast komplett glatt zu sein schienen. Ihre Hände, welche sie nach mir ausstreckte, waren komplett glatt und ohne eine einzige Falte oder ein Profil. Und als sie schließlich das untere Teil ihres Bikinis auszog, wurde ich auf einen Schlag nüchtern. Ich fing wieder an, klar zu sehen, meine Muskeln füllten sich mit Blut und das Adrenalin verdrängte den Alkohol aus meinem Kreislauf. Das, was dort vor mir stand, hatte kein Geschlechtsteil. Die Haut war einfach glatt. Alles an diesem Ding war unnatürlich glatt.

Ich kann nicht mehr sagen, ob es am Alkohol lag oder ob ich es vorher einfach nicht bemerkt hatte, aber das Gesicht schien keine Falten zu haben, die Augen waren merkwürdig grau und das Gesicht hatte nicht ein einziges Merkmal von Emotion. Die widerlichen, fingernägelosen Hände, die sich um mich schlangen und an meinem Rücken herabglitten, während ich wie eingefroren gegen einen Baum gedrängt dastand, ekelten mich unglaublich an. Mein Körper, an der Grenze des Verzweifelns, entschied sich schließlich dazu, dieses Ding von mir wegzustoßen, was Erleichterung brachte, welche nur von kurzer Dauer war. Dort stand es. Vor mir stand ein Wesen, welches vorgab, ein Mensch zu sein. Nackt und ohne jegliche Regung stand es vor mir und schien zu lächeln, ohne seine falschen Lippen zu bewegen. Das Geräusch dröhnte schmerzhaft in meinem Kopf und schien von innen heraus an meinem Schädel zu kratzen. Und als ich schließlich bemerkte, dass wir nicht allein waren und ich langsam meinen Kopf nach rechts drehte, bot sich mir der zweit widerlichste Anblick, den ich jemals gesehen habe.

Haben Sie schon mal gehört, dass man, wenn man luzid träumt, also einen Traum hat, in welchem der Träumende weiß, dass er träumt, sich niemals selbst nach seiner größten Angst fragen solle? Das Unterbewusstsein kennt deine tiefsten Ängste, wobei es sich hier meiner Erfahrung nach in zwei Teile aufteilt. Es gibt einmal fundamentale Ängste, wie Versagensängste, Ängste vor Reue oder auch die allgemeine Angst vor dem Tod. Und dann gibt es noch das, was ich als „fleischliche Angst“ bezeichnen würde. Ängste, welche die abartigsten und widerlichsten Dinge widerspiegeln, welche unser Verstand hervorbringen kann. Dinge, welche einen Körper in einen Zustand versetzen, welcher nur erlebt und nicht beschrieben werden kann. Genau das habe ich damals gesehen. Ich weiß nicht, warum Abstraktionen der menschlichen Proportionen und Extremitäten so eine fundamentale Angst im Menschen zu erzeugen scheinen. Ich scheine nicht der einzige zu sein, bei dem Darstellungen von Menschen, welche annähernd menschlich aussehen, aber bei welchen die Proportionen nicht stimmen oder Extremitäten extrem lang und unnatürlich sind, solch eine Angst auslösen. Das „Uncanny Valley“, wenn man so will, ist es, was Kreaturen wie den Slenderman oder den Rake so populär gemacht haben. Es scheint eine Angst zu sein, welche in vielen von uns verankert ist. Fast wie eine Urangst.

Mir bot sich ein Bild, welches mich noch heute voll Abscheu und Angst erfüllt und von welchem ich Jahrzehnte später immer noch träume. Neben uns im Wald saß unnatürlich, regungslos ein Mann. Er war riesig und selbst in der Hocke war er größer als ich. Es war nicht nur ein großer Mann, sondern ein Riese. Das Ding war an die drei Meter groß und erfüllte mich so sehr mit Angst, dass es mir, als ich dies schreibe, immer noch kalt den Rücken herunterläuft. Der Mann hatte dunkle Haut und dunkles, geflochtenes Haar. Er hatte eine Art Bemalung auf seinem Körper, welche sich über sein Gesicht bis hin zu seinen Beinen zog. Er hatte irgendeine Art von Schmuck um seinen Hals und seine Schultern hängen, doch es war inzwischen zu dunkel, um wirkliche Details ausmachen zu können. Er hockte, mit einer Hand auf der Erde, als wäre ich seine Beute, welcher er jeden Moment, mit all seiner Kraft hinterher sprinten würde. Er starrte mich an, als würde er mir direkt in die Seele starren. Ich weiß nicht, ob er sich schon die ganze Zeit dort versteckt hielt und auf mich gewartet hatte, jedoch konnte ich in all dieser Zeit, welche ich weit weg und fast durchgehend in Therapie verbrachte, dieses Gesicht und die Art, wie er mich anstarrte, nie mehr vergessen. Was darauf folgte, lief für mich ab wie in Zeitlupe. Ich weiß noch, dass es sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, wie ich dort stand und in meinem Kopf tausend Tode starb. Schließlich rannte ich. Und hörte nicht auf, bis ich wieder Menschen sah und mich auf dem Gehweg übergab. Als ich aufwachte, hatten Mike und Charles mich ins Zelt gebracht und meine Klamotten gewechselt. Ich hatte mich über mich selbst erbrochen und mich zudem scheinbar eingenässt.

 

Alter“, sagte Charles, als ich mit höllischen Kopfschmerzen aus meinem Alptraum erwachte.

 

Ich dachte, du stirbst“, sagte Mike erleichtert, dennoch hörte ich die Sorge in seiner Stimme.

 

Wie viel hast du denn getrunken, Mann?“ Ich antwortete nicht und versuchte mich aufzurichten.

 

Wir müssen gehen“, sagte ich, als ich mich schwankend versuchte aufzurichten.

 

Whoa, whoa, whoa, mach mal langsam.“ Mike wollte mich sanft wieder auf die Isomatte drücken, doch ich schlug seine Hand weg.

 

Was ist denn los?“, fragte Mike. Ich konnte Unsicherheit in seiner Stimme ausmachen.

 

Wo willst du denn so eilig hin?“, fragte Charles.

 

In dem Zustand kann sowieso niemand von uns fahren.“

 

Als ich meine Sachen in meinen Rucksack gestopft hatte, versuchte ich ihnen meine Situation zu erklären, aber ich merkte schnell, dass sie mir nicht wirklich glaubten. Mit zu schnellen Schritten lief ich leicht schwankend Richtung Auto, während die beiden, sich fragend anguckend, hinter mir herliefen.

 

Mann, hör dir doch mal selbst zu, Oliver“, sagte Mike.

 

Du hast gestern einfach zu viel getrunken und irgendein Scheißzeug genommen.“ „Da kann so was schon mal vorkommen“, sagte Charles.

 

Ich habe überhaupt nichts genommen“, schoss ich zurück, und mir entging es nicht, wie die beiden sich anschauten.

Gegen Mittag willigte Mike endlich ein, dass wir gehen mussten. Mein Gerede hatte den Tag über auf Mike abgefärbt und er war langsam auch unruhig geworden, und ich glaubte, dass er sich schuldig fühlte, weil er mir gestern mein Alptraum-Rendezvous in die Wege geleitet hatte. Wir fuhren früher nach Hause und machten einen Zwischenstopp auf einem McDonald’s-Parkplatz, auf welchem wir im Auto schliefen. Wir entschlossen uns, den Tag noch komplett auszunüchtern, und waren schließlich am dritten Tag wieder zu Hause, anstelle von den geplanten Vier. Ich hatte beschlossen, meinen Eltern zu sagen, dass der Strand für das Zelten gesperrt worden war und wir uns entschlossen hatten, den Trip irgendwann zu wiederholen. Ich wusste nicht, wie ich mit dem Erlebten umgehen sollte. Meine Mutter ahnte etwas, jedoch hat sie es nie herausgefunden. Ich bereue zutiefst, wie letzten Endes die Dinge zwischen mir und meinen Eltern ausgegangen sind. Wie wahrscheinlich jeder, dessen Eltern kein Teil mehr seines Lebens sind, wünschte ich, ich hätte meine Mutter noch einmal umarmt, meinem Vater gesagt, wie sehr ich ihn liebe, und meinem Bruder gesagt, wie bedeutend er für mich ist. Doch diese Gedanken sind wie Wasser, welches einem Verdurstenden vor der Nase gestohlen wird. Ich kann nicht zurück und ich kann nichts mehr ändern und dennoch kann ich nicht loslassen.

Ich habe meinen Eltern nichts gesagt, aber sie haben natürlich bemerkt, wie erschöpft und müde ich von dem Zeitpunkt an aussah. Ich schlief die meisten Nächte nur 4–5 Stunden und das Kratzen wurde immer und immer lauter. Ich verschlechterte mich in der Schule und schloss die Highschool mit einem unterdurchschnittlich schlechten Notenschnitt ab. Doch der Höhepunkt meiner eigenen Tragödie sollte sich ein paar Jahre später ereignen. Ich war 20 und war inzwischen vorläufig von zu Hause ausgezogen und ging auf ein College, welches ein paar Stunden entfernt lag. Meinem Körper kam das zugute, da das Kratzen schwächer wurde, und auch wenn es nicht verschwand, konnte ich wieder besser schlafen. Schlaf ist etwas, von dem man erst merkt, wie sehr man es braucht, wenn man es nicht mehr hat, und ich kann Ihnen versichern, dass alles im Leben schwerer wird, wenn Schlaf etwas ist, was man nicht mehr mit Erholung, sondern mit Panik assoziiert.

Es war schließlich Sommerpause, und ich fuhr mit einem flauen Gefühl im Magen über den Highway nach Hause. Es war fast zwei Jahre her, als ich das letzte Mal an dem Ort war, zu welchem ich gerade zurückkehrte. Den Ort, welchen ich in meinem Kopf schon lange als Zuhause abgeschrieben hatte. Das Einzige, was mich dorthin zurückbrachte, waren meine Eltern. Ich hatte sie vermisst und als meine Mutter vorschlug, dass ich doch für ein oder zwei Monate wieder nachhause kommen könnte, willigte ich schließlich ein. Für die ersten drei Wochen verlief alles relativ gut, obwohl ich öfter mal Kopfschmerzen zu beklagen hatte und mein Schlaf zwar tief, aber dennoch nicht so erholsam war, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich hatte lange nicht mit James gesprochen, doch als ich ihn wieder zum ersten Mal sah, verflog jeder Zweifel, den ich über die letzten zwei Jahre gehabt hatte. Ich hatte an mir selbst und meiner Zurechnungsfähigkeit gezweifelt und habe meine Wahrnehmung oft in Frage gestellt, aber in dem Moment, als ich ihn sah, wusste ich, dass ich nicht falschgelegen hatte. Ich habe mich oft gefragt, wie eine Mutter ihr eigenes Kind nicht erkennen kann. Einfach alles an ihm war falsch. Ich hatte meinen Bruder vor all den Jahren in meinem Kopf beerdigt, und das, was hier mit mir am Esstisch gegenüber saß, war eine Abscheulichkeit eines menschlichen Abbilds. Doch ich war machtlos.

Die Nacht, in der es schließlich geschehen sollte, war unangenehm warm. Die Luftfeuchtigkeit schien ins Unermessliche anzusteigen und mein Kopf pochte. Ich kam mir an dem Abend, bereits vor den Ereignissen, vor wie im Delirium, doch es sollte noch schlimmer werden. Ich konnte nicht schlafen und wachte von Schweiß durchnässt auf. Ich hatte unglaubliche Kopfschmerzen und das Kratzen war so laut wie noch nie. Das Geräusch, es schien von überall zu kommen, von draußen, aus den Wänden und sogar aus dem Inneren meines Schädels, kratzte es gegen meine Schädeldecke im verzweifelten Versuch, rauszukommen. Der Schmerz trieb mich schließlich dazu, aufzustehen, und als ich mit beiden Händen gegen meinen Kopf gepresst in meinem dunklen Zimmer stand, drang ein gedämpftes Geräusch durch das Kratzen. Ich drehte mich um und sah in dem dämmrigen Licht, welches die Lampen vor unserer Haustür so unermüdlich ausstrahlten, wie Oli auf dem Gehweg saß und in mein Fenster starrte. Er miaute. Es war kein wuterfülltes Miauen und auch kein klägliches. Es war neutral. Und doch schien es mir zu befehlen, zu dem Kater, welcher mich schon so lange begleitet hatte, herunterzugehen. Ich schien auf dem Weg nach unten durch das dunkle Haus zu schweben. Alles wirkte, als ob es an mir vorbeigleiten würde. Ich öffnete die Tür, und da saß er. Mich mit seinen gelben Augen anblickend, saß er etwa 2 Meter von mir entfernt. Es kam mir vor, als sei die Zeit stehen geblieben. Sein Fell strahlte leicht im schwachen Mondlicht. Es war immer noch genauso prächtig wie an dem Tag, als ich es vor all den Jahren zum ersten Mal sah. Ich beugte mich langsam mit dem Kopf voran herunter und erwiderte den alles durchdringenden Blick der Katze. Er stand auf und ging langsam den Weg hinunter, welchen ich in meiner Kindheit so oft gegangen war. In meiner Trance schien es das einzig Richtige zu sein, ihm hier und jetzt zu folgen. Die kleinen Steine des Gehwegs stachen in meine nackten Füße, aber es kümmerte mich nicht. Ich wusste, dass ich gehen musste und mein Begleiter würde mich führen. Bevor wir angekommen waren, glaubte ich bereits zu wissen, wo die Reise enden würde. Ich sollte recht behalten, zumindest für einen kurzen Moment. Das Wasserloch sah noch genau gleich aus, wie ich es von vor all den Jahren in Erinnerung hatte. Ich glitt auf die Knie und sah mein verzerrtes Spiegelbild in der sich im Wind bewegenden, spiegelnden Oberfläche des Wassers. Das Mondlicht strahlte schwach durch die Bäume und bot mir gerade genug Licht, um etwas sehen zu können. Ich fühlte mich nicht schlecht, sondern fast wie erlöst. Der Wind kühlte die Glieder meines ermüdeten Körpers und die Schmerzen in meinem Kopf ließen nach. Das Kratzen fühlte sich nicht mehr so schmerzhaft an, doch was gegeben wird, wird auch wieder genommen werden.

Trotz des fast schon Einhämmerns meiner Mutter, den christlichen Glauben irgendwie in meinem Kopf festzusetzen, glaubte ich doch nie wirklich an einen Gott, geschweige denn an einen Himmel oder eine Hölle. Doch wenn es eine Hölle gibt, dann habe ich sie dort gefunden. Der Ort, an dem ich aufwachte, war erfüllt von einer unbeschreiblichen Hoffnungslosigkeit. Ich konnte mich kaum bewegen und nur noch verschwommen sehen. Das Kratzen war nun so heftig angestiegen, dass es sich anfühlte, als drohte mein Schädel von innen heraus aufzubrechen. Es war dunkel und an den Ort drang kaum Licht. Das einzige Licht, welches diese Höhle berührte, kam aus dünnen Löchern, welche wohl bis an die Oberfläche gereicht haben mussten. Die Höhle schien nicht mehr als ein paar Meter tief zu sein und schien schätzungsweise unter der Farm zu verlaufen. Die gesamte untere Hälfte meines Körpers war von einer Art Pflanze umschlungen, welche ich am ehesten als eine Art schwarze, feste Wurzel beschreiben würde. Die Wurzel hatte eine recht glatte Oberfläche und es sah aus, als ob Adern unter ihrer Oberfläche verliefen. Diese Wurzeln waren überall und hingen sogar von der Decke des Hohlraums, in dem ich mich befand. Das Einzige, was ich dort unten hören konnte, waren Knackgeräusche der Wurzeln und die gedämpften Schluchzer meiner eigenen Agonie. Ich wusste, dass ich dort unten nicht allein war. Und als ich schließlich auf einen Überrest von etwas stieß, diesen aufhob und als Knochen ausmachte, brachte mich der Schmerz und die Gewissheit, dass ich sterben würde, fast schon in jenem Moment um.

Das menschliche Gehirn weigert sich, absolute Dunkelheit wahrzunehmen. Es sträubt sich davor, uns zu zeigen, was sich in der Dunkelheit verbirgt, und fängt an zu halluzinieren. Das Gehirn fängt an, uns falsche Dinge sehen zu lassen, als wäre das, was sich im Äther der Dunkelheit versteckt hält, nicht für unsere Augen bestimmt. Es ist schwer für mich, die Hölle, in der ich mich befand, in Worten wiederzugeben. Es sind inzwischen mehr Schnappschüsse, an welche ich mich erinnere, anstatt ein zusammenhängendes Bild. Und selbst jetzt verschwimmen die Gedanken an jene Nacht noch ineinander. Halluzination und Restlicht paaren sich in einer Orgie des Abschaums, zu einer schmerzhaften, nebligen Erinnerung. Die Existenz selbst scheint zu verschwinden, Zeit wird außer Kraft gesetzt und die Welt hört einfach auf. Und doch bist du dort, zusammen mit dem, was es nicht ist. Wir versuchen, der Dunkelheit zu entkommen, doch sie verfolgt uns wie ein Schatten, welcher auch bei Nacht nicht verschwindet. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Ist dort etwas oder ist dort nichts. Lovecraft hat es damals schon erkannt. Angst ist die stärkste Emotion im Menschen und die stärkste Angst ist die Angst vor dem Unbekannten. Die Mutter aller Ängste und der Kern jeder Verzweiflung. Und was steht mehr für das Unbekannte als die Dunkelheit selbst.

Der Zenit meiner Schmerzen war erreicht und ich dachte, ich würde brechen, doch dann sah ich es. Langsam schlich es die Tunnel entlang und glitt schließlich qualvoll in mein Blickfeld. Ich wollte es nicht sehen, ich wollte nicht wahrhaben, dass es hier ist. Die Kreatur stand gebeugt. Sie war meinen Schätzungen nach etwas über zwei Meter groß und blickte mich an. Die orangefarbenen Augen schienen in dem schwachen Licht, welches sich den Weg in die Höhle so mühevoll erkämpft hatte, zu glühen. Mit ihm schien eine Art dicker, klebender, gelblicher Qualm oder Nebel in die Gänge zu ziehen. Fast wie eine giftige Aura, die dieses Monster umgab. Er brannte in meiner Nase und meinen Augen, was mir die Sicht zusätzlich erschwerte. Die Kreatur hatte eine Hautfarbe, welche dem Farbton von dunkler Asche gleichkommen würde. Ich kann die Oberfläche seiner Haut, so seltsam es auch klingen mag, am besten mit der Oberfläche von Steinen vergleichen. Uneben und irgendwie kantig. Versuchen Sie, es sich so vorzustellen, wie die Haut eines Tintenfisches, welcher versucht, sich in Steinen auf dem Meeresboden zu verstecken und sich dementsprechend zu tarnen. Seine Glieder waren dünn und knorrig und obgleich es die Physiologie eines humanoiden Wesens zu haben schien, unterschied sich der Aufbau der Muskelstränge des Körpers von dem eines Menschen. Die Kreatur war sehr dürr und es schien, als könnte man die Knochen unter ihrer Haut ausmachen. Die Wurzeln schienen sich immer fester um meine Beine zu schlingen und ich fühlte, wie sie in meine Beine stachen und scheinbar versuchten, sie zu zerquetschen. Die Kreatur schritt langsam immer näher. Sie bewegte ihre riesigen Arme langsam und bedacht, während sie durch den Tunnel ging. Sie musste gebeugt gehen, da die Höhle viel zu klein war, als dass sich das Biest hätte aufrichten können. Sie schlich komplett lautlos auf mich zu und starrte mich an, als seien wir die einzigen Konstanten in dieser dunklen Leere. Ich lag dort, ertrinkend in meiner Monomanie.

Jener Moment ist die klarste Erinnerung, welche von jener Nacht in meinem Kopf überlebt hat. Es war wie ein Jumpscare, welcher nicht aufhört. Ich sah es und sah auch, wie es sich auf mich zubewegte, doch ich konnte es nicht begreifen. Ich konnte nichts machen. Ich konnte nur versuchen, an den Qualen meiner Selbst in diesem Moment nicht unterzugehen. Es berührte mich und ich konnte mich nicht bewegen. Es drückte mich auf den Boden und ich spürte, wie eine Flüssigkeit auf meinen Körper tropfte. Ich weiß nicht, wie es geschah, und ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, doch ich biss mit aller Kraft zu. Ich hatte in eine der verdrehten Hände gebissen, welche die Kreatur auf meinen Kopf gedrückt hatte. Es schien nicht wirklich Schmerzen zu haben, doch versuchte es, seine Hand aus meinem Kiefer zu lösen. Die Wurzeln lockerten sich und die Haut des Monsters war aufgerissen. Unter ihr kamen orangene Schnüre zum Vorschein, welche sich um den Finger schlugen, welchen ich fast abgebissen hatte. Die Kreatur starrte mich an, seine Hand hing schlaff an seinem Arm. Ich versuchte aufzustehen und mein Körper entschloss sich endlich dazu, einen letzten Rettungsversuch vorzunehmen. Der biochemische Cocktail aus Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol versetzte meinen Körper in einen Rausch, welchen keine Droge dieser Welt je replizieren könnte. Ich rannte in eine Richtung, von welcher ich nicht wusste, wohin sie führte. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwo im Wald rauskam und stundenlang weiter rannte.

Es war inzwischen hell geworden und ich lief eine Landstraße entlang. Meine Gedanken ratterten unablässig und ich konnte nicht klar denken. Mein Körper hatte immer noch den Trieb zu entkommen und ich löste mich nicht davon. Ich nahm zwar noch Geräusche wahr, jedoch war ich auf das Gehen fixiert. Ich wachte irgendwann später im Krankenhaus auf und man sagte mir, ich sei von einem Trucker gefunden worden, welcher sofort den Notruf rief. Man sagte mir außerdem, dass meine Eltern bald eintreffen würden und dass ich mich entspannen solle. Man habe Spuren von Scopolamin in meinem Blut gefunden, hieß es, als ich versuchte, in einer glaubwürdigen Weise zu erklären, was mir passiert war. Scopolamin ist ein Delirant, welcher in hohen Dosen realistische Halluzinationen auslösen kann. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Wirkungsweise durchaus zu meinem Erlebten passen würde und für einen Außenstehenden eine perfekte Erklärung darstellt, weiß ich, dass es nicht stimmt. Ich habe noch nie in meinem Leben irgendeine Art von Drogen genommen, geschweige denn etwas konsumiert, in dem Scopolamin enthalten gewesen sein könnte. Außerdem wäre die Dosis nicht annähernd hoch genug gewesen, um eine Halluzination bei mir auszulösen. Ich weiß nicht, wie dieser Stoff in meinen Körper gelangt ist, und ich weiß auch, dass ich mich nicht gerade in dem vertrauenswürdigsten Zustand befand, als sich die Geschehnisse abspielten. Aber ich weiß, dass es real war. Ich hatte mittlere Kontusionen und Stiche an meinen Beinen, welche die Ärzte mit einem Sturz und dem leicht bekleideten Rennen durch den Wald erklärten. Doch die Muster meiner Verletzungen passten eins zu eins auf das, was mir passiert war.

Das Kratzen war immer noch da, wurde jedoch schlagartig stärker, als jene, die mir Erlösung spenden sollten, mir jedoch verderben brachten, den Raum betraten. Als meine Eltern eintrafen, wusste ich in dem Moment, als sie den Raum betraten, bereits, dass sie tot waren. Wahrscheinlich gefangen in der gleichen Hölle, welcher ich knapp entkam, oder gefressen von denselben Kreaturen, welche die Plätze meiner Eltern eingenommen hatten. Ich spielte mit und wartete auf einen Moment, in welchem ich entkommen konnte. Die Imitate erklärten mir, dass gestern Nacht ein Teil der Farm in Brand geraten war und sie sich Sorgen um mich gemacht hatten. Sie hätten nach mir gesucht und sie dachten, ich sei womöglich im Haus gefangen oder aus Angst weggelaufen. Ich konnte sie nicht angucken. Ich wollte diese abartigen Kreaturen nicht ansehen, in dem Wissen, dass meine Eltern tot sind. Ich floh schließlich. Ich möchte hier nicht weiter auf Einzelheiten meiner Flucht eingehen, aber ich befinde mich inzwischen nicht mehr in den USA. Nach langen, schmerzerfüllten Sitzungen mit meiner Therapeutin sind wir zu dem Schluss gekommen, dass mein Zustand am ehesten zu denen von Soldaten nahekommt, welche beispielsweise in Schützengräben und an den Frontlinien des ersten Weltkrieges Zeugen von menschengemachten Abscheulichkeiten wurden, welche nie ein Mensch hätte mit ansehen müssen. Ich weiß, dass es nie mehr so sein kann wie früher. Ich denke nicht, dass meine Therapeutin mir wirklich glaubt, aber es hilft mir, mit ihr zu reden, und das soll mir vorerst reichen.

Es waren mindestens zwei, wobei es wahrscheinlich mehr sind, jedoch habe ich nur maximal zwei auf einmal gesehen. Ich habe viel gelesen und viel nachgedacht und mir sind die Navajo-Legenden des Yee Naaldlooshii wohl bekannt, obgleich diese zu den populäreren Legenden von Skinwalkern oder Formwandlern gehören. So gut wie jede Kultur hat ihre eigene Interpretation von Formwandlern. Die bekanntesten sind nun mal die Legenden der amerikanischen Ureinwohner, jedoch findet man in Europa Geschichten wie zum Beispiel die von Werwölfen und anderen magischen Kreaturen, welche sich in jeweils einheimische Tiere verwandeln können, zuhauf. Die Legenden von Skinwalkern gibt es auf der ganzen Welt, aber es sind immer mythische Kreaturen mit magischen Fähigkeiten, welche immer, in jedem einzelnen Fall, auf ein Mittel heruntergebrochen werden können, welches Kindern gewisse Werte vermitteln soll. Die amerikanischen Kontinente waren von der globalen Zivilisation lange unberührt, und vielleicht haben sich Dinge evolutiv durchgesetzt, welche es auf dem Rest der Welt nicht geschafft haben. Während sich Völker in Europa schon früh auf den ganzen Kontinent ausbreiteten und auch darüber hinaus, trat diese Art der globalen Gesellschaft in Amerika erst Jahrhunderte später ein. Hinzu kommt, dass es Gebirge, Wälder und andere Orte gibt, wie beispielsweise die Appalachian Mountains, welche seit Jahrmillionen gleich geblieben sind und nur selten von Menschen berührt worden sind oder werden. Besagte Legenden werden Sie sicherlich kennen, wenn Sie das hier lesen. Der Gedanke an uraltes Leben, vielleicht älter als der moderne Mensch selbst, geht mir schon lange nicht mehr aus dem Kopf. Die modernen Amerikaner sind gerade einmal ein paar Jahrhunderte auf diesem Kontinent. Wir sind nur ein kleiner Teil der Historie.

Ich denke oft daran, dass wir als Menschheit im Allgemeinen nur einen kleinen Teil der Lebensgeschichte unseres Planeten abdecken. Wir haben nicht jeden Winkel erforscht und jedes Bisschen gesehen, was diese Welt zu bieten hat. Täglich werden neue Spezies entdeckt, auch wenn sie unbedeutend sein mögen, sie werden entdeckt. Es gibt selbst indigene Stämme von Menschen, welche seit Jahrtausenden unberührt sein müssen. Die Wälder sind alt. Und auch wenn Menschen vor mir bereits durch sie gestreift sind, sie kartografiert und erkundet haben und Aufnahmen mit Satelliten gemacht haben, so sieht doch niemand, was sich unter dieser Tarnung aus Blättern verbirgt. Dort ist niemand, dort sind keine Wanderwege, keine Straßen. Dort ist nichts. Sie könnten dort sein. Vielleicht waren sie schon immer da. Instinkte, welche sich in einem jeden von uns über Generationen hinweg festgesetzt haben. Die Fähigkeit, unterbewusst Verhaltensweisen zu erkennen, Gangarten wahrzunehmen und Mikroexpressionen in Gesichtern zu sehen. Als hätten nur jene überlebt, welche sich angepasst haben, sie zu erkennen. Als ob unser Körper etwas abstößt, was versucht, in diesen wundervollen Organismus einzudringen und Sand zwischen die Zahnräder zu streuen. Dieser Gedankengang begleitet mich schon lange und raubt mir den Schlaf.

Legenden von kannibalistischen Riesen tauchen des Weiteren auch immer wieder in Erzählungen von indigenen Stämmen überall in Nordamerika auf. Der Anblick, welcher mich wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage verfolgen wird, geht mir dazu einfach nicht aus dem Kopf. Die Gestalt, die ich damals auf meinem Trip zum See gesehen habe. Es passt fast zu perfekt auf Beschreibungen dieser Riesen. Hierbei handeln die Legenden auch eher von eine wirklichen Spezies als von mystischen Kreaturen. Das gibt vielleicht einen Einblick, wie alt diese Geschöpfe sein könnten. Das Kratzen ist fast noch ein größeres Rätsel als die Kreaturen selbst. Ich kann mir rückblickend kaum vorstellen, wie ich es damals ausgehalten habe, geschweige denn damit leben konnte. Ob es eine Art Ultraschall oder Wellen waren, welche diese Kreaturen aussenden konnten, oder ob es eine Art Kommunikation war, kann ich weder sagen noch werde ich die Antwort jemals mit Sicherheit herausfinden. Das Einzige, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass diese Geräuscherscheinungen, seitdem ich die USA verlassen habe, nie wieder stattgefunden haben. Manchmal frage ich mich, ob Oli immer noch irgendwo durch diese gottverlassenen Wälder streift, aber das sind alles Fragen, auf welche ich die Antwort niemals haben werde. Ich denke nicht, dass ich in diesem Leben noch einmal Frieden finden werde. Meine Erinnerungen holen mich schneller ein, als ich davonlaufen kann. Manchmal denke ich, ich bin nie rausgekommen. Ich stecke immer noch in diesem Loch, aus dem es kein Entkommen gibt. Erlösung ist ein Wunsch, von dem ich weiß, dass er sich nicht erfüllen wird.

 

Bewertung: 0 / 5. Anzahl Bewertungen: 0

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"