
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Teil 2.1
Etwas Kaltes, Feuchtes an meiner Nase weckt mich unsanft. Als ich die Augen aufmache, sitzt eine Ratte auf meiner Brust.
Ich schreie auf, schlage nach dem Viech und schleudere es quer durch den Raum. Es knallt mit einem dumpfen Schlag gegen den Bettpfosten, fällt zu Boden und gibt ein Geräusch von sich, das halb Quietschen und halb Fauchen ist. Dann trippelt es zurück zur Matratze und quetscht sich in eines der Löcher.
Es dauert, bis mein Herz sich wieder beruhigt und ich normal atmen kann. Die Brandwunden pochen schmerzhaft. Zwar zittern meine Beine deswegen, doch ich kann stehen. Ich strecke mich durch. Mein Nacken ist verspannt und meine Glieder sind steif. Ich versuche, die Tür aufzumachen— sie schwingt widerstandslos auf.
Der Flur eröffnet sich vor mir und eine tiefe, schwere Lähmung legt sich in meine Glieder. Die Konsequenzen von dem, was ich getan habe, sind so riesig, massiv und schwer. Ich will nicht einmal damit anfangen, sie zu konfrontieren. Es ist einfach zu viel. Ich habe so viel Schaden angerichtet, was könnte ich jetzt noch tun?
Ich sehe an mir herunter. Meine Hose ist an einem Bein beinahe komplett abgebrannt, mein Shirt ist über und über mit Ruß bedeckt und der Saum ist ebenfalls angekokelt. Damit fange ich etwas an. Es ist greifbar. Es ist lösbar.
Der Weg zurück zum Schlafsaal fühlt sich länger an, als er sein sollte. Die Blicke meiner Mitbewohner bleiben massenhaft an mir hängen. Manche drehen sich weg, manche flüstern, andere starren mir mit purer Abscheu hinterher.
„Du Schlange!“, schreit jemand aus der Menge. Als ich zu ihnen hochsehe, drehen sie sich weg und tun so, als hätten sie nichts gehört. Ich schlucke schwer und folge ihrem Beispiel. Als ich an ihnen vorbeigehe höre ich eine andere Stimme ein gehässiges, „Ratte“, zischen.
Der Geruch hat sich über die Nacht in die Flure ausgebreitet. Rauch, verbranntes Holz, geschmolzene Fasern und darüber ein Geruch, der mich beinahe zum Würgen bringt: verbrannte Haare.
Die mit Ruß verschmierte Ruine des Bettes starrt mir anklagend entgegen, als ich den Schlafsaal betrete. Sie türmt so hoch vor mir, dass ich für einige Sekunden vergesse, wieso ich hergekommen bin. Die Gewalt dessen, was ich angerichtet habe, lässt mich abermals abrupt stehenbleiben.
Wie konnte das passieren? Es war alles so schnell. Erst vor ein paar Stunden haben Olivia und ich gemeinsam in der Kantine gesessen. Und jetzt?
Das untere Bett ist vollständig verbrannt, beim oberen bloß der Fußteil. Die Wand dahinter ist geschwärzt, sowie die kleinen Schränke, die links und rechts von dem Bett stehen. Ich öffne die Schublade meines Schranks und nehme alles heraus. Es riecht deutlich nach Rauch.
Meine Lunge fühlt sich eng an, meine Hände sind eiskalt und meine Augen brennen, doch ich halte die Tränen zurück, bis ich alles in mein neues Zimmer gebracht habe. Lieber schlafe ich am Boden neben einer Horde Ratten.
An dem Punkt schmerzen die Brände an meinem Bein und meinen Händen so stark, dass ich alles außer einem Set neuer Kleidung und dem Necessaire auf den Boden werfe. Der Weg zu den Badezimmern ist beinahe unerträglich, denn alle warten darauf, dass ein Zimmer frei wird. Eine der Türen geht auf. Der Junge, der gerade herausgeht, besieht mich mit einem angewiderten Blick. Niemand macht Anstalten, nach ihm in das Badezimmer zu gehen. Zögerlich mache ich einige Schritte darauf zu, haste dann hinein, knalle die Tür hinter mir zu und sperre ab.
Mein Rücken trifft die Tür, dann sinke ich bis auf den Boden und beiße die Zähne zusammen in einem verzweifelten und erfolglosen Versuch, nicht zu weinen. Bevor die Paralyse mich wieder Fesseln kann, zwinge ich mich auf die Beine und lehne mich auf das Waschbecken. Mein Spiegelbild starrt mir entgegen, Augen und Nase gerötet. Wo die Tränen geflossen sind, ziehen sich zwei saubere Linien durch die Asche auf meinen Wangen. Ich greife ein Handtuch und werfe es über den Spiegel.
Ich mache mich fertig, bleibe besonders lange in der Dusche, um kaltes Wasser über die Brände fließen zu lassen. Das Wasser auf dem weißen Enamel ist eine ganze Weile lang grau, bis die ganze Asche von meiner Haut geschrubbt ist. Die Narbe in meinem Gesicht pocht.
Eine Weile lang überlege ich, einfach im Bad eingeschlossen zu bleiben. Es ist nicht so, als würde mich jemand sehen wollen. Nur der Gedanke daran, wie Ms. Elsie endlich für unser „ernstes Gespräch“ auftaucht, ein leeres Zimmer findet und mich dafür bestraft, bringt mich schlussendlich dazu, wieder aufzustehen, mich anzuziehen und das Badezimmer zu verlassen.
Irgendetwas muss meinen Kopf vernebeln, denn ich versuche zu Frühstücken. Die Größe der Masse in der Kantine hätte es eigentlich leichter machen müssen, denn ich hätte darin verschwinden sollen, doch ich bin eine der Letzten. Vor einer Menge sitzender Leute einen Raum zu betreten reicht, um die Aufmerksamkeit eines jeden einzelnen zu erwecken, der direkten Blickkontakt mit mir machen kann.
Ich sitze still und esse schnell. Dadurch, dass mich so ziemlich jeder hier drin anstarrt, bemerke ich seinen Blick erst, als ich aufstehe um meinen halbleeres Teller wegzuräumen. Der vernarbte Junge sieht mir hinterher. Als wir Augenkontakt machen, wird er rot und sieht weg. Obwohl ich dieses Mal ihn beim Starren erwischt habe und nicht anders herum, brennt mein Gesicht vor Scham.
Er denkt dasselbe wie alle anderen.
Zu Mittag knurrt mein Magen laut, doch ich weigere mich trotzdem, wieder in den Speisesaal zu gehen. Lieber verhungere ich, als mich noch einmal so bloßzustellen. Stattdessen nutze ich die Zeit, in der die anderen Bewohner des Heims beim Essen sind, indem ich durch die leeren Flure schleiche, Leitungswasser trinke und Bücher und ein Deck Karten hole, um die Zeit zu vertreiben.
Ich bin gerade bei meinem dritten Spiel Solitär, als ich draußen den Tumult mehrerer Paar Schritte höre. Muss Zeit zum Abendessen sein. Ich wäge ab, ob mein Hunger schon ausreicht, um mich aus dem Zimmer zu zerren. Beim Gedanken an Essen verkrampft sich zwar mein Magen, doch die Vorstellung, mich noch einmal anstarren zu lassen, raubt mir den Appetit. Ich überzeuge mich selbst davon, dass ich es ertragen kann und spiele doch lieber zu Ende.
Die Ratten, die in der Matratze leben, haben sich schnell an meine Anwesenheit gewöhnt und tapsen höflich um die Karten herum. Bei der, die ich heute morgen gegen den Bettpfosten geworfen habe, habe ich mich bereits entschuldigt und sie scheint mir großteils vergeben zu haben.
Das Spiel endet in einer Sackgasse. Ich werfe demotiviert die Karten durcheinander und lege meinen Kopf in den Nacken.
Nicht mal gegen mich selbst kann ich ein Spiel gewinnen.
Gerade in dem Moment klopft es an der Tür. Die Ratten sehen auf und fliehen mit aufgeregtem Quietschen zurück in die Matratze. Ich bereite mich auf eine Schimpftirade vor, denn nur Ms. Elsie sollte wissen, dass ich hier drin bin. Stattdessen taucht das Gesicht von Schwester Martha im Türspalt auf.
Ich blinzle sie an. „Hallo?“
„Hallo“, sagt sie freundlich, „Ich hab dich heute weder beim Mittagessen noch beim Abendessen in der Kantine gesehen. Bist du nicht hungrig?“
Ich beiße mir auf die Zunge. „Nein.“
Ihr Lächeln verrät mir, dass sie meine Lüge sofort durchschaut. Sie holt zwei eingepackte Sandwiches hervor und hält sie mir wortlos entgegen. Ich hole scharf Luft, springe auf, greife eines davon und beginne sofort, zu essen.
„Wie geht es deinen Verbrennungen? Hat sich Ms. Elsie darum gekümmert?“
Ich zucke mit den Schultern. „Nein. Tun halt weh.“
Sie sieht mich perplex an, „Niemand hat deine Wunden behandelt?“
Ich schüttle mit vollem Mund den Kopf. Sie wird etwas bleich um die Lippen, nimmt die Tube Brandsalbe wieder aus ihrer Tasche und reicht sie mir. Mit dem Sandwich zwischen den Zähnen setze ich mich auf den Boden und kremple meine Hose hoch, um die Brandwunden einzuschmieren.
„Wieso setzt du dich nicht auf das Bett, hm?“, fragt Schwester Martha. Noch während sie spricht, hüpft eine der Ratten aus der Matratze und landet mit einem dumpfen Plop am Boden. Martha zuckt zusammen.
„Die tun nichts“, sage ich um das Sandwich herum, „Sind nur hungrig, haben wahrscheinlich das Sandwich gerochen.“ Ich reiße einen Teil des Brotes ab und werfe es der Ratte hin. Sie beginnt daran zu knabbern. Ich schmiere mir die Hände ein und gebe Schwester Martha die Brandsalbe wieder zurück.
„Okay. Du kannst unter keinen Umständen weiter in dem Zimmer bleiben. Hast du da drauf geschlafen?“
Ich schüttle den Kopf. „Am Boden“
Sie seufzt, reibt über ihre Stirn und bedeutet mir, aufzustehen.
„Ich hol nur schnell meine Sachen“, sage ich, aber sie schüttelt den Kopf, öffnet die Schublade des Nachtschränkchens mit einem angewiderten Seitenblick auf die Matratze und macht es selbst. Sie trägt alles den Flur hinunter in ein anderes Einzelzimmer. Das Bett ist dieses Mal bezogen und die Matratze bleibt unbewegt.
„Wieso hast du nichts gesagt?“, fragt Martha und legt den Kleiderstapel und das Necessaire auf das Nachtschränkchen. Ich zucke mit den Schultern. Was hätte ich sagen sollen?
Hungrig beäuge ich das zweite Sandwich, das sie dabeihat. Sie folgt meinem Blick, lächelt wohlwollend und gibt es mir. „Iss ruhig. Ich komm gerade aus der Kantine.“ Sie öffnet die untere Schublade des Nachtschränkchens und wirft etwas herein, das ich als Müsliriegel erkenne.
Ich setze mich neben sie auf die Matratze. Sie sagt nichts, aber ich bin ihr für ihre Anwesenheit dankbar. Auch ich schweige; nur eine einzige Frage liegt mir auf der Zunge.
„Wie geht es Olivia?“
Schwester Martha besieht mich mit einem bemitleidenden Blick. „Ich weiß, dass es nicht Absicht war“, sagt sie.
„Wie geht es ihr?“, wiederhole ich stur.
„Sie ist im Krankenhaus behandelt worden“, sagt sie, „Sie hat Schmerzmittel bekommen, hat sich erholt und kommt bald wieder nach Hause.“
Erleichterung überschwemmt mich. Ich weiß nicht, wie ich mit mir selbst leben hätte sollen, wenn ich ein unschuldiges Mädchen schwer verletzt hätte.
„Du wolltest sie nicht verletzen. Es passieren jedem mal Fehler—“
„Ich weiß“, unterbreche ich sie. „Macht das einen Unterschied, ob ich es wollte oder nicht? Es ist passiert. Und Olivia ist verletzt.“
Schwester Martha schweigt. Ich esse die letzten Bissen, doch sie schmecken nach nichts.
Draußen erhebt sich wieder der Tumult dutzender Paare Schritte. Schwester Martha sieht auf, dann besorgt zu mir. „Ist es okay, wenn ich dich alleine lasse?“
Ich nicke. „Mir geht’s gut. Danke für die Salbe.“
„Ich lass sie dir da“, sagt sie und legt sie auf das Nachtkästchen, „Komm zu mir, wenn du reden willst, ja?“
„Mach ich. Danke“, sage ich kurz angebunden. Schwester Martha zögert, drückt mir tröstend die Hand und geht auf den Flur. Die Tür fällt ins Schloss.
Eine Weile später geht das Licht aus. Ich warte regungslos im Dunkeln, bis draußen alle Schritte verstummen und gehe erst dann ins Bad. Das kalte Wasser fühlt sich nur noch angenehm auf den Wunden an. Ich schmiere die Brandwunden neu ein, dann ziehe ich mir neue Kleidung an— keine Pyjamas dieses Mal, sondern Jeans, Shirt, Schuhe und Jacke— und gehe auf die Flure. Anstatt schlaflos dazuliegen und mich von einer Seite auf die andere zu drehen, schleiche ich die Treppen hoch, vorbei an den verlassenen Sälen und Zimmern.
Nachts sieht das Jugendheim noch mehr wie ein Spukhaus aus, doch ich lasse mir von der Dunkelheit keine Angst mehr einjagen. Ich brauche eine Weile, um das Zimmer wiederzufinden, das ich letztens entdeckt habe: Ein kleiner Lagerraum, bis zur Decke vollgestopft mit Gerümpel. Ich schiebe mich an verstaubten Kisten und einigen schweren, aufgerollten Teppichen vorbei und komme schließlich an ein winziges Fenster. Ich öffne es, ein Schwall frischer, eiskalter Luft schlägt mir entgegen und prickelt wie Nadeln auf meinem Gesicht. Ich halte mich am Rahmen fest und versuche hinauszuklettern, doch es fällt mir schwer, denn irgendwie stoßen immer meine Knie oder Ellbogen gegen den Rahmen. Mit etwas Quetschen schaffe ich es, mich auf das äußere Fensterbrett zu setzen und schließlich gebückt darauf aufzustehen.
Mein Atem bildet Wolken in der Luft. Ein Blick nach unten lässt mich für einen Moment schwindelig werden, ich klammere mich an dem Fensterrahmen fest und zwinge mich dazu, den Blick vom Abgrund abzuwenden. Links von dem Fenster ist ein Balkon, der sonst nur durch ein verschlossenes Büro zu erreichen wäre. Es liegt nur ein kleiner Spalt zwischen Fensterbank und Balkon, klein genug, um ihn mit einem Schritt zu übergehen, aber mein Herz pocht trotzdem ohrenbetäubend laut, während ich herüberklettere. Ich atme tief durch.
Fast da.
Ich klettere auf das Geländer und kann von dort aus den Rand des Daches greifen. Mit einigen Mühen kann ich mich hochstemmen, obwohl das Dach durch die Kälte gefroren ist und ich mehrmals abrutsche. Schnell komme ich auf die Beine, bevor der Frost schmelzen und meine Knie durchnässen kann.
Ein kalter Windstoß schickt eine Gänsehaut meinen Rücken hinunter. Ich ziehe die Jacke enger um mich und stampfe durch die Schneereste den angewinkelten Teil des Daches hinauf. Oben finde ich einen kleinen Bereich um einen Schornstein, wo kein Schnee liegt. Ich gehe hin, setze mich und lege den Kopf in den Nacken.
Die Sterne sind von hier oben viel näher als von dem kleinen Zimmerfenster aus. Es ist es mir wert, dass schon nach kurzer Zeit in der Kälte alle meine alten Narben wieder zu schmerzen beginnen. Für einen Moment will ich einfach nur draußen sein, frische Luft haben und die hübschen Lichter am Horizont anschauen dürfen. Das ständige Gewicht, das drinnen auf meinem Brustkorb lastet, verfliegt hier oben schell.
Knirschende Schritte lassen mich zusammenzucken. Jemand kommt von der anderen Seite des Schornsteins auf mich zu.
Bin ich erwischt worden?
Panik friert mich fest. Ich habe jetzt schon genug Ärger angerichtet und ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn Ms. Elsie mich hier oben erwischt. Ich überlege zu lange, ob ich weglaufen, mich verstecken oder einfach gestehen soll, und bleibe schließlich wie angewurzelt sitzen. Es ist jedoch weder ein Aufpasser noch eine Nonne, die von dem Schornstein hervortreten, sondern der Freund des vernarbten Jungen. Seine Augen weiten sich kurz, als er mich sieht. Einige Sekunden lang starren wir einander bloß an, dann nickt er mir zu. Ich hebe leicht die Hand und winke.
„Hat dich jemand gesehen?“, fragt er.
„Nein. Wieso, bist du mir gefolgt?“, frage ich zurück.
Er schüttelt den Kopf. „Normalerweise bin ich der Einzige hier oben. Außer Elias hat mal wieder Alpträume.“
„Hey!“, ruft eine zweite Stimme hinter dem Schornstein, „Nicht nur deswegen!“
Der vernarbte Junge, Elias anscheinend, geht zu seinem Freund und boxt ihm gegen die Schulter.
„Wieso denn sonst? Weil es hier oben so unglaublich warm und bequem ist?“, fragt sein Freund und reibt die Hände zusammen.
„Wegen der Aussicht“, murrt Elias und setzt sich neben mich. Sein Freund setzt sich etwas abseits, sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen näher an und fragt, „Du bist doch die Olle, die uns angestarrt hat, oder?“
Mein Gesicht beginnt trotz der Kälte zu brennen. Ich bekomme nur ein „Äh…“ heraus. In dem Moment würde ich gerne vom Dach runterklettern und mich vergraben.
„Red, sei kein Arsch“, zischt ihm Elias zu. „Wie bist du hier hochgekommen?“
Ich deute zum Rand des Daches, „Über den Balkon. Ihr etwa nicht?“
Elias schüttelt den Kopf. „Im Jungsklo gibt’s ein Fenster, das hier hoch führt.“
„Das klingt einfacher…“, seufze ich.
Er grinst. „Wie heißt du?“
Ich weiß immer noch nicht, wie ich auf diese Frage antworten soll. Schließlich zucke ich mit den Schultern.
„Du weißt nicht, wie du heißt?“, fragt Elias.
„Laut dem Psychiater hab ich redo… retrogradive Amnesie?“
„Retrograde Amnesie“, korrigiert mich Red.
„Genau. Das“, stimme ich ihm zu, „Ich erinnere mich nicht. Die Presse nennt mich No-Name, aber…“
„Ja, ich kann sehen, wieso du nicht willst, dass dich jemand so nennt“, sagt Red. Ich kann ihm nichts außer ein schwaches Grinsen zurückgeben.
Elias überlegt für einen Moment. „Wie wär’s mit Nona?“
Ich grinse. „Klingt cool.“
„Nicht wirklich…“, sagt Red halblaut.
„Wenigstens ist ihr Name keine Farbe“, schießt Elias zurück, ohne sich zu ihm umzudrehen. Ich lache leicht. Mir kommt es seltsam vor, dass die beiden mich noch freundlich behandeln. Mittlerweile sollte das ganze Heim wissen, was passiert ist. Vielleicht haben sie auch einfach Angst, dass ich verrate, dass sie hier oben waren.
„Kannst du dich wirklich an nichts erinnern?“, fragt Red. Ich versuche, etwas hochzuholen, das vor dem Unfall passiert ist, doch ich spüre bloß Ruß auf meiner Zunge und Blut in meinem Auge. Ich wende mich von dem Gedanken ab, bevor irgendetwas vor mein inneres Auge springen kann.
„Nein“, antworte ich schließlich, und dann leiser, „Und ich will nicht wirklich darüber nachdenken.“
„Retrograde Amnesie kann reversibel sein“, sagt Red, „Hättest du nicht schon längst mit der Expositionstherapie anfangen sollen?“
„Wahrscheinlich. Aber die Polizei weigert sich, mich in mein Zuhause reinzulassen. Falls es das überhaupt ist.“ Ich seufze und fahre mir durch die Haare, „Ich hab das Gefühl… Wenn ich nur einmal reinsehen dürfte, dann würde ich mich erinnern. Wenigstens würde ich dann wissen, ob das meine Familie war. Aber so…“
„Sekunde“, unterbricht Elias, „Wieso nicht?“
Ich sehe ihn verwirrt an. „Hm? Oh, die Nachbarn haben behauptet, sie kennen nur die Eltern und einen Sohn. Die glauben, dass ich nur zufällig in dem Auto war—“
„Nein, nein, das meine ich nicht,“ sagt Elias, „Wieso darfst du nicht in dein Zuhause zurück?“
„Wegen Beweisen oder so“, sage ich, „Wegen dem… Unfall…“
Noch während ich die Worte ausspreche, verheddern sie sich in meinem Kopf. Das macht doch keinen Sinn. Wenn es ein Unfall war, wieso behandeln sie das Haus dann wie einen Tatort? Wofür brauchen sie dann Beweise?
Wie konnte ich nur so verdammt blind sein.
Es war kein Unfall. Es war Mord. Jemand hat den Zusammenstoß absichtlich verursacht. Aber wer? Mit wem haben sich die Leute in dem Auto so verfeindet?
Dass sie das Haus als Tatort betrachten, schlägt eine noch grausamere Alternative vor: Was ist, wenn alle Verdächtigen bereits im Wagen gesessen sind? Wenn es Mitnahmesuizid war?
„Nona!“
Elias reißt mich aus meinen Gedanken. Sorge ist auf seine Gesichtszüge gemalt.
„Hä?“
„Hast du was im Auge?“
Befremdet nehme ich mein Hand vom Gesicht. Erst jetzt bekomme ich mit, dass ich über mein blindes Auge gerieben habe. „Nein,“ sage ich zu hastig und zu schrill, „Alles gut.“
Elias sieht zwar nicht so aus, als würde er mir glauben, fragt jedoch nicht weiter nach.
Ein Windstoß wirft mir einige Haarsträhnen ins Gesicht und verpasst mir eine Gänsehaut. Ich reibe mir über die Arme, doch es hilft kaum.
„Wieso bist du überhaupt hier oben?“, fragt Elias.
„Aus demselben Grund wie du. Ich kann nicht schlafen und hab ehrlich gesagt keine Lust, mich die ganze Nacht lang im Bett herumzudrehen.“
„Da setzt du dich lieber in die Kälte?“, fragt er.
„Sagst gerade du.“
Er grinst. „Wenn ich schon Alpträume hab, dann hab ich mir danach gefälligst eine gute Aussicht verdient.“
Ich lege den Kopf in den Nacken und lasse meinen Blick über das Firmament wandern. „Kennst du dich mit Konstellationen aus?“
„Nur mit ein paar. Red kennt alle.“ Er hebt die Hand und zieht einige Linien, „Das ist der große Wagen.“
Ich folge seinem Finger mit den Augen. „Sieht aus wie ein Viereck.“
„Er hat auch einen Griff.“
Ich verziehe unwillkürlich das Gesicht. „Das ist ein Einkaufswagen.“
„Meinetwegen. Der große Einkaufswagen.“
„Alkaid, Mizar-Alcor, Alioth, Megrez, Phecda, Merak und Dubhe sind seine Sterne“, zählt Red auf.
„Gehst du die auch mal besuchen?“, fragt ihn Elias. Red nickt ernst.
„Besuchen?“, frage ich nach.
„Red will irgendwann ins All“, sagt Elias und grinst seinen Freund schelmisch an, „Fragt sich nur, wie er das mit seiner Höhenangst anstellen will.“
Red schnaubt, „Mit dem Resthirn, das mir übrig bleibt, nachdem ich mit dir geredet habe.“
„Und trotzdem würdest du mich mitnehmen, wenn du da rauf fliegst.“
Red brummt nur ausdruckslos.
Trotz der Kälte tue ich mein Bestes, die Sterne zu genießen. Auch Elias scheint die Kälte zuzusetzen: Er reibt sich über seine Brandnarben, die wahrscheinlich genauso schmerzen wie meine. Solche Haut ist einfach empfindlich.
Wir genießen die Aussicht in Stille. Red murmelt etwas, das über den Wind nicht verständlich ist, doch sonst sagt niemand ein Wort. Langsam aber sicher werden meine Augenlider schwer.
„Hey. Nona.“
Elias rüttelt mich leicht an der Schulter. Ich zwänge meine Augen auf und stiere ihn verwirrt an. Erst dann verstehe ich, dass ich gegen ihn gelehnt eingenickt bin.
„Beim besten Willen, ich kann dich nicht reintragen, und so gerne ich dich hierlassen würde, ich will mich nicht jede Nacht neben eine Erfrierungsleiche setzen.“
„Wirf mich einfach vom Dach“, murmle ich schlaftrunken. Meine Glieder sind steif, die ganzen alten Narben tun höllisch weh. Wenigstens geben die Brände Ruhe. Ich strecke mich durch und mache mich auf den Weg zurück zum Balkon.
„Hey, wo willst du hin?“, fragt Red.
„Zurück nach drinnen.“
„Über den komplizierteren Weg?“
„Naja… eurer geht übers Jungsklo.“
Red lacht auf, „Was, bist du so zimperlich? Glaubst du, um die Uhrzeit ist noch jemand wach, der dich erwischen könnte?“
Ich verziehe das Gesicht und gehe trotzig auf das andere Ende des Daches zu. „Nein, aber es stinkt dort drin bestimmt.“
„Dann passt du gut rein.“
Elias klopft mir auf den Rücken. „Selbst wenn, du gehst locker als Junge durch, wenn man dein Gesicht nicht sieht“, witzelt er und zerzaust mir die Haare, so sehr wie man einen Zentimeter Haare eben zerzausen kann. Ich weiß, dass er es nicht böse meint, und es ist auch nicht wirklich gemeiner als seine anderen Späße, aber als ich mir die Hand an den Kopf lege bin ich plötzlich so todunglücklich, dass ich es mir beinahe noch einmal überlege, einfach dazubleiben und zu erfrieren.
„Und damit ist sie männlicher als du“, ruft Red. Ich lache laut auf und das Gefühl schwindet. Elias geht Red schimpfend nach. Ich folge den beiden grinsend.
Teil 2.2
Eine Mischung aus Schmerz und Geschrei lässt mich hochzucken. Schlaftrunken suche ich nach dem, was sich in meine Arme verbissen hat, bis mein Gehirn wach genug ist, um zu verstehen, dass es bloß meine Narben sind.
Seufzend reibe ich mir über die Arme und Hände. Es dauert nicht lange, bis meine Beine ebenfalls zu pochen beginnen, also nehme die Brandsalbe aus dem Nachtschrank und kremple meine Hosenbeine hoch. Beim Kontakt von der Salbe mit meiner Haut lässt der Schmerz fast sofort nach. Gegen die Spannungsschmerzen der Narben kann ich nicht wirklich etwas anrichten.
Dumpf dringt Geschrei durch die Tür und erklärt die zweite Hälfte des Grundes, wieso ich aufgewacht bin. Geräuschlos rutsche ich aus dem Bett, schleiche zur Tür und öffne sie einen kleinen Spalt.
„Nicht nur, dass sie mein Vertrauen missbraucht haben, sondern auch das meiner Kinder!“, höre ich Schwester Martha rufen, „Was fällt Ihnen ein, das arme Kind so zu misshandeln?“
„Sie hat ein Mädchen verletzt!“, schreit Ms. Elsie zurück, zieht scharf Luft, wird aber von Schwester Martha unterbrochen. „Sie haben keine Beweise.“
„Das ist doch dieselbe Geschichte wie mit diesem Elias-Burschen“, faucht Ms. Elsie, „Der hat uns bis jetzt Unmengen gekostet und Sie haben ihm nie Konsequenzen zukommen lassen. So wie Sie ihre verdammten Feuerkinder verteidigen, könnte man glatt auf böse Gedanken kommen!“
„Konsequenzen?“, fragt Schwester Martha wütend, „Eine ganze Nacht am eiskalten Boden zu schlafen war für Sie nicht Bestrafung genug? Was wollen Sie ihr noch antun? Sie verletzt in ein Zimmer einsperren? Sie neben ein Rattennest werfen?“ Ihre Hände zittern. Sie streckt ihre Finger und schließt sie zu Fäusten. Für einen Moment, denke ich— hoffe ich— dass sie Ms. Elsie eine reinhaut.
„Sie—“
„Das reicht.“ Schwester Marthas Stimme ist gezwungen ruhig, zittert aber vor Wut. Selbst Ms. Elsie scheint zu bemerken, dass zu Diskutieren keine gute Idee wäre, denn sie klappt den Mund zu.
„Sie sollten auf Ihr Mundwerk aufpassen. Es ist eindeutig, dass sie für diesen Beruf nicht geeignet sind. Ihre Entlassungspapiere sind bereits unterschrieben. Der Rest Ihrer Zeit bis zur Entlassung ist Zwangsurlaub. Erwarten Sie eine Meldung beim Jugendamt. Gehen Sie. Sofort.“
Ms. Elsie sieht sie empört an. Sie macht den Mund auf, klappt ihn wieder zu und schnaubt. Als sie bemerkt, dass Schwester Martha nicht nachgibt, stapft sie davon.
Ein Grinsen hat sich auf mein Gesicht gelegt. Wahrscheinlich bringt Schadenfreude schlechtes Karma, doch ich kann nicht umhin zu denken, dass Ms. Elsie es verdient hat. Das Ganze gibt mir etwas mehr Schwung und so entschließe ich, den Tag früh zu beginnen.
Beim Rückweg aus dem Bad höre ich schnelle Schritte, die in der Stille des immer noch schlafenden Jugendheimes wie Schüsse klingen. Ms. Elsie, Arme nun vollgepackt mit Habseligkeiten, geht an mir vorbei zum Ausgang. Sie hält inne und starrt mehr überrascht als ärgerlich zu mir zurück. Ich lächle und winke ihr fröhlich. Sie verzieht das Gesicht, als hätte sie in eine besonders saure Zitrone gebissen, dreht sich um und verlässt das Heim.
Den ganzen Morgen über verfolgt mich dieses Gefühl der Gerechtigkeit. Vielleicht werde ich deshalb leichtsinnig, oder vielleicht ist es der Hunger; so oder so, ich mache den Fehler, in den Speisesaal zu gehen, als das Frühstück beginnt.
Olivia sitzt am Ende eines der Tische, um sie schart sich scheinbar das gesamte Heim. Ihre Haare sind kurz geschnitten, ihre Beine sind von Zehenspitze bis Hüfte verbunden, ihre Arme sind voll kleiner Verbrennungen. Neben ihrem Platz am Tisch steht ein Rollstuhl.
Das stetige, vibrierende Brummen von dutzenden Gesprächen erfüllt die Luft, doch es hält nur einige Sekunden an, bevor jemand mich sieht. Es ist wie eine Welle, die sich durch die Menge ausbreitet: der eine stupst den anderen an und alle Blicke drehen sich zu mir.
Es ist totenstill.
Ich sehe an ihnen vorbei zu Olivia. Etwas Schweres und Kaltes legt sich in meinen Magen, gefolgt von Übelkeit. Ihr eben noch entspanntes Gesicht verzieht sich. Panik, Furcht, Wut und Hass spiegeln sich in ihren Augen wieder, ihr Kiefer spannt sich an.
„Warum bist du noch hier?“ Ihre Stimme zittert, ist rauer als vor dem Vorfall, kratzig und heiser. Sie wendet sich an die Menge. „Warum ist sie noch hier?!“
Ich schlucke schwer, gehe einen Schritt auf sie zu. „Es—“
„Bleib weg von mir!“, ruft sie panisch, „Wieso wurdest du noch nicht rausgeworfen?“
Ihre Stimme dröhnt in meinen Ohren. Meine Zunge fühlt sich trocken und gelähmt an.
„Ich—“
„Verpiss dich!“ Olivias Stimme wird schrill. „Du und dein beschissenes Feuer! Wegen dir kann ich jetzt nicht einmal mehr laufen!“
Die Stille um uns wird langsam von Getuschel gefüllt. Ich kann nichts weiter tun, als leicht den Kopf zu schütteln und träge einen Schritt nach dem anderen rückwärts zu gehen.
„Wegen dir haben sie meine Haare abrasiert!“, ruft mir Olivia hinterher, „Ich werde genauso vernarbt wie du! Warum hast du das gemacht? Ich hab dir nie was Böses getan, verdammt! Wieso ich? Was habe ich gemacht, damit du mir sowas antust!?“ Ihr Geschrei geht in Schluchzen unter. „Sag was!“
Tränen laufen meine Wangen hinunter. Unter den Blicken aller mache ich auf dem Absatz kehrt und laufe.
Feigling.
Ich lasse meine Beine mich irgendwohin tragen und denke nicht einmal darüber nach, wo ich bin, bis mir Eiseskälte ins Gesicht schlägt. Irgendwie bin ich in den Hinterhof gekommen.
Blind vor Tränen stolpere ich hinter eine der Mülltonnen und lasse mich auf den Boden sinken. Fast sofort wird meine Kleidung vom schmelzenden Schnee durchnässt, die Kälte frisst sich durch mein Shirt. Eine Jacke habe ich nicht.
Ich hätte dableiben müssen. Ich kann nicht einfach weglaufen.
Verzweifelt kralle ich meine Hände in meine Haare und schluchze hemmungslos.
Irgendwann muss ich den Konsequenzen ins Gesicht sehen.
Eigentlich hätte ich froh sein sollen, dass Olivia wieder da ist. Dass sie nicht lange im Krankenhaus war, sollte bedeuten, dass sie nicht so schwer verletzt war, oder? Genauso weiß ich, dass ich jedes getuschelte Wort und jeden abwertenden Blick verdient habe. Aber trotzdem fühle ich mich miserabel.
Wie soll ich das überleben?
„Nona!“
Ich zucke zusammen und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Da ist sie nicht. Ich hab dir doch gesagt—“
„Und ich hab dir gesagt, dass ich sie gesehen habe.“
Erst als ich die Stimmen als die von Elias und Red erkenne, lässt der Schreck nach. Ich klopfe laut gegen die Mülltonne hinter mir.
„Oh mein Gott, du bist wirklich ohne Jacke draußen!“
Elias hockt sich vor mich hin und wirft mir einen Mantel um die Schultern. Die Kälte ist bereits in meine Knochen gekrochen und mein Hosenboden ist komplett durchweicht, und so hilft es nicht wirklich.
„Lass mich“, bringe ich zwischen schwerem Schluchzen heraus.
„Du hast keine Schuhe an!“, sagt er panisch. Sein Kopf zuckt unwillkürlich. „Komm schon, du musst sofort rein! Dieses Mal erfrierst du wirklich.“
„Das hätte ich verdient!“, schreie ich, „Ich hab sie verletzt! Ich—“ Hastig ziehe ich Luft. Es sticht wie Nadeln in meiner Lunge, doch ich kann nicht mehr normal atmen. „Sie hat— Ich wollte das nicht, ich—“
Red presst plötzlich eine Hand gegen meinen Mund. „Du hyperventilierst,“ sagt er ruhig. „Langsam atmen.“
Für einen Moment verschwindet die Schuld, um für Angst Platz zu machen. Red ist verdammt angsteinflößend, insbesondere wenn er mir gerade die Luft abschnürt. Trotzdem schaffe ich es durch seine Hilfe, langsam wieder normal zu atmen. Mir ist nicht mehr nach Reden zumute, also weine ich schweigend. Elias wickelt trotz seiner Ticks die Arme um mich und wartet, bis ich fertig bin.
Es dauert.
„Mir ist kalt“, nuschle ich schließlich gegen seine Schulter.
Er nickt und hilft mir auf. „Du solltest dich umziehen und etwas essen.“
Mir ist nach keinem von beidem zumute. Ich fühle mich bloß noch erschöpft.
„Ich will da nicht mehr rein“, nuschle ich. „Alle starren mich an, als wollte ich sie verletzen. Glauben die, dass ich das Bett absichtlich angezündet habe?“
„Sie wissen, dass es ein Unfall war. Sie glauben wahrscheinlich, dass du vorsichtiger hättest sein müssen. Oder dass du überhaupt nicht mit Feuer spielen solltest“, sagt Red.
Elias stoßt Red den Ellbogen in die Rippen und zischt, „Das hilft ihr gerade nicht.“
„Ich hatte ja nicht mal ein Feuerzeug“, murre ich, „Oder Streichhölzer. Das Bett hat schon gebrannt, als ich aufgewacht bin.“
Einen Moment herrscht zwischen uns dreien verwirrte Stille. Elias führt mich wieder hinein, meine Glieder tauen langsam wieder auf.
„Du warst es also gar nicht?“, fragt Red.
Ich zucke mit den Schultern. „Olivia sagt, ich war’s. Und ich bezweifle es nicht.“
Es sind zu viele seltsame Dinge passiert. Genauso wie Gabeln nicht glühen, und Decken nicht schmelzen, und ich nicht von Feuer träumen sollte, sollten Betten nicht brennen, ohne dass sie jemand anzündet. Aber es ist nunmal passiert.
Red und Elias wechseln einen fragenden Blick, doch dann schüttelt Elias den Kopf. Es ist offensichtlich, dass sie denken, dass ich wirres Zeug rede, aber mir ist nicht wirklich nach einer Erklärung zumute.
Ich lasse Elias und Red mich bis zu meinem Zimmer begleiten und gebe ihnen dann den Mantel zurück. „Danke. Ich komm alleine klar.“
Elias legt den Arm um meine Schulter. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir dich jetzt alleine lassen, oder?“
Ich blinzle ihn verständnislos an. „…wieso nicht?“
Er blinzelt genauso verständnislos zurück. Bevor er antworten kann, sage ich, „Ihr wisst, was ich angestellt habe. Ich hab ein unschuldiges Mädchen verletzt, und ihr kennt mich, was, seit einem halben Tag?“
„Als wäre ich so viel besser“, sagt Elias und verdreht die Augen. „Wenn du wüsstest, wie viel ich schon angezündet habe.“
„Auch andere Menschen?“
„Ja. Oft.“
Ich wende den Blick ab und starre auf den Boden. Mit der Kälte, den nassen Kleidern, die stetig auf den Boden tropfen, und der Peinlichkeit, von den beiden beim Heulen erwischt worden zu sein, fühle ich mich in etwa so miserabel, wie ich es jemals könnte.
„Ich verstehe einfach nicht, wieso ihr euch mit mir abgebt.“
„Weil wir dich mögen, du Idiot“, sagt Red stumpf.
Der Satz trifft mich komplett unvorbereitet und ich breche in Gelächter aus. Elias klopft mir auf den Rücken. „Komm schon, geh dich umziehen. Dein Arsch ist nass.“
Teil 2.3
Elias und Red bleiben, bis es Zeit zum Mittagessen ist. Sie laden mich ein, mich zu ihnen zu setzen, aber ich habe das ewige Starren in der Kantine satt. Stattdessen bleibe ich in meinem kleinen Zimmer und grabe zwei der Müsliriegel aus der Schublade.
Ich bin gerade bei der Hälfte des Ersten, als jemand an die Tür klopft. Einen Moment fliegt sie auf und Elias und Red kommen mit drei Tabletts ins Zimmer gestürmt. Elias drückt mir eines so schwungvoll in die Hände, dass die Suppe darauf überschwappt.
„Bonne Appetit!“
„Bon Appetit“, korrigiert Red und setzt sich auf den Boden. Elias setzt sich neben mich auf die Matratze. Ich blinzle die beiden an. Für einen Moment will ich fragen, wieso sie das für mich machen. Dann hallt Reds Stimme durch meinen Kopf, Weil wir dich mögen, du Idiot, und ich belasse es bei einem Grinsen. „Danke“, sage ich stattdessen.
„Irgendwas musst du ja essen. Du bist ja kaum Haut und Knochen.“
Mein Tablett ist mit Tellern vollgeräumt, sodass fast kein Platz darauf ist. Ich stelle die Hälfte davon auf den Nachtschrank und esse zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Elias findet schnell das Deck Karten, das ich aus einem der Aufenthaltssäle gestohlen habe. Red schlägt ein Spiel namens Arschloch vor. Er erklärt die Regeln und ich bemerke, dass ich es schon einmal mit Olivia und ihren Freundinnen gespielt habe, nur unter dem Namen Angeschmiert. Ich tue so, als würde ich die Regeln noch nicht kennen. Vielleicht verschaffe ich mir so einen Vorteil, wenn sie mich unterschätzen.
Nach einigen Runden, von denen ich die meisten verliere, wird klar, dass das nicht funktioniert.
Red und Elias bleiben selbst dann, als wir fertig gegessen haben, und als Nachtisch Müsliriegel hatten, und als wir aufhören, Karten zu spielen. Wir reden über alles und nichts. Elias erzählt von einigen Bränden, die er verursacht hat, wahrscheinlich dafür, dass ich mich wegen Olivia nicht mehr so schuldig fühle. Ich kann zur Unterhaltung nicht viel beitragen; da mein Leben vor circa zwei Wochen mehr oder weniger begonnen hat, habe ich keine Geschichten. Elias mag es jedoch zu reden, und ich mag es, zuzuhören. Red ist schweigsam, aber ich schätze seine Anwesenheit genauso.
Elias erzählt gerade, wie er Schwester Marthas Rock angezündet hat, als er ein Kind war, als sich vor der Tür lautes Getümmel erhebt.
Elias sieht überrascht aus. „Schon Abend?“
Red sieht auf die Uhr und nickt.
„Geht ruhig“, sage ich, „Ich hab nicht wirklich Hunger.“
„Wir bringen dir was!“, sagt Elias freudig.
„Ich meins ernst. Geht schon in Ordnung.“
Red sieht erst mich an, dann Elias. „Ich hab keinen Hunger. Ich bleib da. Außerdem ist die Kantine zu laut.“
Elias nickt. „Ich auch.“ Er wirft sich zurück auf die Matratze und erzählt weiter, ohne mir Zeit zum Zurückreden zu geben. Kurz sehe ich die beiden verwirrt an, doch als Elias meinen Blick ignoriert und Red nur mit den Schultern zuckt, lasse ich mich so wie Elias in die Kissen fallen und grinse.
Teil 2.4
Der folgende Tag verläuft bemerkenswert ereignislos. Red kommt zum Frühstück vorbei und bringt mir etwas aus der Kantine mit. Als ich ihn frage, wo Elias ist, zuckt er bloß mit den Schultern.
Zu Mittag geht er kurz zurück in die Kantine, um mir etwas zu Essen zu bringen. Zusätzlich hat er noch zwei Bücher mit, damit ich in dem kleinen Zimmer nicht an Langeweile sterbe. Von Elias ist immer noch keine Spur.
Zwar bin ich dankbar für Reds Anwesenheit, weiß aber nicht, wie ich mit ihm reden soll. Er ist sehr schweigsam und sein Gesicht ist unlesbar. Ich weiß nie, ob ich ihn langweile oder ob er wirklich zuhören möchte. So vergehen unsere Mahlzeiten großteils in Stille.
Ich lasse das Abendessen ausfallen und klettere stattdessen auf das Dach. Das Jungsklo ist glücklicherweise leer. Ich musste mich darauf verlassen, dass jeder in der Kantine ist.
Insgeheim hoffe ich, dass Elias am Dach ist, doch es ist leer. Ich setze mich trotzdem hin und starre in den Himmel. Vielleicht kommt er noch nach?
Mir sitzt die Kälte bereits tief in den Knochen, als ich hinter mir Schritte höre. Ich stehe hastig auf und sehe vorfreudig an dem Schornstein vorbei, doch es ist Red, und er ist alleine.
„Hey“, sage ich etwas luftlos. Er nickt. Ich setze mich wieder hinter den Schornstein, er setzt sich etwas abseits. Eigentlich verändert sich durch seine Anwesenheit nicht viel, doch ich habe das Gefühl, dass ich etwas sagen sollte, nur weiß ich nicht was.
„Du siehst angespannt aus.“
Fast wäre ich zusammengezuckt. Es ist selten genug, dass Red ein Gespräch anfangt, geschweige denn dass er mich mit einem einzigen Satz durchschaut.
„Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll“, gebe ich verlegen zu.
„Wieso musst du was sagen?“
„Die Stille ist ein bisschen unangenehm, nicht?“
Er schüttelt den Kopf. „Für mich nicht“, sagt er, „Ich mag Stille eher als Lärm.“
Ich sehe ihn neugierig an, obwohl ich sein Gesicht genauso wenig lesen kann wie vorher. Sein Blick ist irgendwo weit weg, wo ich nicht hinkann. Erst jetzt verstehe ich, dass Red nicht versucht, kalt oder unhöflich zu sein. Er ist einfach so.
Ich denke über seine Worte nach. Wieso muss die Stille peinlich sein?
Eine Weile kreisen meine Gedanken, aber ich finde keinen Grund dafür. Schlussendlich lehne ich mich zurück und starre wieder hoch in den Himmel. Anstatt mich um Red unwohl zu fühlen, rechne ich ihm seine Schweigsamkeit hoch an. Dadurch bedeutet jedes Wort aus seinem Mund viel mehr. Vielleicht sollte ich sie zu schätzen wissen lernen.
Es fühlt sich schnell viel bequemer an, zu schweigen. Ich bleibe draußen, bis mir der kalte Wind auf den Narben zu viel wird. Bevor ich meinen Rückweg antrete, berühre ich Red leicht an der Schulter. Er fällt aus den Gedanken und blinzelt mich an.
„Ich geh rein. Du solltest das auch bald, es ist kalt draußen.“
Er nickt. Ich richte mich wieder auf und gehe zurück zum Fenster. „Gute Nacht“, rufe ich noch.
„Gute Nacht“, sagt Red, und dann, zu meiner Verwunderung, „Sei vorsichtig.“
Teil 2.5
Kaum ist das Wochenende vorbei, taucht Elias kommentarlos wieder auf. Ich will ihn fragen, wo er war, doch er spricht nicht von alleine auf das Thema an. Zusätzlich mit Reds Reaktion auf mein Nachfragen lässt mich das erraten, dass er nicht darüber reden möchte.
Elias und Red leisten mir während des Frühstücks beide Gesellschaft, doch beim Mittagessen bin ich mit Elias alleine.
„Gestern verschwindest du, und heute ist es Red. Was ist mit euch?“, frage ich ihn zwischen zwei Bissen.
„Red wollte eigentlich am Wochenende schon weg, aber wir wollten dich nicht alleine lassen. Du wärst uns noch verhungert, so wie du dich vor der Kantine fürchtest“, stichelt er.
Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird. „Ich fürchte mich nicht davor!“
„Ja, ja“, sagt er sarkastisch. Ich verziehe das Gesicht und verkneife mir eine Antwort. „Wo ist er?“, frage ich stattdessen.
„Internetcafé“, sagt er kurz angebunden. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Er würde jede wache Sekunde dort verbringen, wenn er könnte. Er will unbedingt lernen, wie man programmiert, Code schreibt und so was.“
Ich nicke. Fast fühle ich mich schuldig dafür, ihn übers Wochenende festgehalten zu haben.
„Bist du eigentlich wirklich die ganze Zeit hier drin?“, fragt Elias nach einem Moment.
„Wo soll ich sonst hin?“, frage ich ihn. Er scheint kurz nachzudenken. „Die Aufenthaltsräume gehen gar nicht“, erläutere ich für ihn, „Genauso wenig die Kantine. Ich kann Nachts herumwandern und mit euch aufs Dach, und das war’s.“
Elias wirft sein Besteck auf seinen Teller und springt auf, „Ich weiß, wohin wir können. Komm mit.“
„Kann ich vorher fertig essen?“
„Nein“, sagt er und zerrt an meiner Hand, sodass mir das Tablett fast aus dem Schoß fällt.
„Bring wenigstens die Tabletts in die Kantine zurück!“
„Die verderben nicht! Komm schon, zieh dich an. Wir gehen raus.“
Während Elias ungeduldig auf und ab läuft, ziehe ich mir Schuhe und einen Mantel an. „Und? Wohin gehen wir?“
Elias grinst mich verschmitzt an, „Wir gehen Zeugs in die Luft jagen.“
Er schafft es, mich die Hälfte des Flurs entlangzuziehen, bis mir etwas einfällt. „Warte. Ich glaube, ich hab was, das dir gefallen wird.“
Statt zum Ausgang zu gehen führe ich ihn zu dem Abstellraum, den ich gefunden habe. Ganz hinten ziehe ich den Karton heraus, auf dem KONFISZIERT steht und öffne den Deckel, der dank meiner nächtlichen Erkundung bereits offen ist. Als Elias die Raketen darin sieht, funkelt es in seinen Augen. Er packt meine Schultern, sieht mich ernst an. „Nona. Du hast Gold gefunden.“
Wir verstecken die Feuerwerkskörper unter unseren Mänteln und schleichen dann so schnell wie möglich aus dem Heim.
Elias rennt voraus durch die Straßen. Unsere Atem bilden kleine Wolken vor unseren Mündern und die kalte Luft brennt in meiner Lunge, aber keiner von uns beiden will langsamer laufen.
„Red würde mich einen Idioten nennen“, keucht Elias, „Würde sagen, dass ich mich in die Luft jagen werde.“
„Er ist ja nicht hier“, sage ich grinsend, „Und ich sag’ dir das sicher nicht.“
Im Endeffekt ist es ein kurzer Weg, kaum zwei Gassen weit. Wir kommen an einem Feld an, das von Schneematsch bedeckt ist. Die Erde ist nass und locker und unsere Schuhe sind bereits nach wenigen Schritten bis zum Knöchel voll Schlamm.
„Uns kann nichts passieren. Hier ist alles zu nass, um zu brennen“, sagt Elias und zieht einige Dinge aus seinen Taschen: einen Pappzylinder, mehrere kleine Plastikröhren, einige unförmige Objekte, die von Klebeband umwickelt sind.
„Außer wir“, sage ich. Elias zögert für einen Moment. Ich kichere, „Ach komm, hast du wirklich Angst?“
„Ich hab’ Haare, die brennen könnten“, murrt er.
Er nimmt eine der Plastikröhren und stopft eine Zündschnur hinein. Ich räume währenddessen meinen Mantel aus und werfe die ganzen Feuerwerkskörper in einen Haufen zusammen.
„Bereit?“, fragt Elias. Ich nicke. Er hält die Flamme an die Zündschnur, bis sie Feuer fängt. Er wirft die kleine Bombe so weit wie er kann. Einige Sekunden vergehen. Dann noch einige mehr.
„Gut gemacht, du Genie“, sage ich sarkastisch. Kaum sind die Worte ausgesprochen, geht die Bombe mit einem gewaltigen Knall in die Luft und reißt Klumpen aus der Erde. Ich zucke zusammen und ein Schrei entfährt mir.
Elias lacht mich aus. Er versucht es nicht einmal zu verstecken.
„Arschloch!“, zische ich ihn an. Er schnappt nach Luft und hält mir das Feuerzeug entgegen. Ich nehme es und sehe ihn verwirrt an.
„Du bist dran“, sagt er und legt mir den Pappzylinder in die Hand, „Oder hast du Angst?“
Ich schüttle den Zylinder leicht. Es fühlt sich an, als wäre es mit Sand gefüllt und die Lunte ist bereits angesteckt. Ich halte ohne zu zögern die Flamme daran und werfe dann den Zylinder, so weit ich kann. Er kommt mit einem dumpfen Pochen einige Meter weiter am Boden auf und explodiert keine Sekunde später. Eine riesige, grüne Flammensäule sticht heraus. Der Anblick ist seltsam schön.
Elias jubelt und springt herum. „Ich wusste doch, das es funktioniert!“
„Hast du mehr davon?“, frage ich. Ich fühle mich seltsam aufgeregt.
Er schüttelt den Kopf. „Das war ein Experiment. Hätte theoretisch auch in deiner Hand hochgehen können, deshalb musstest du ihn ja werfen.“
Ich verdrehe die Augen und boxe ihm gegen die Schulter. „Ja, sicher“, sage ich ungläubig, bin mir aber nicht sicher, ob er mich wirklich nur damit aufziehen wollte.
Er hält die Hand nach seinem Feuerzeug aus, doch ich greife eine der Raketen und stecke sie in den Boden.
„Hey!“
„Du hast mich fast in die Luft gejagt, du wirst es ertragen, dass ich ein Feuerwerk anzünde“, sage ich bissig und halte die Flamme an die Lunte. Die Rakete zischt ab und explodiert im Himmel in ein schönes Rot. Ich lege den Kopf in den Nacken und schiele hinauf.
„…Nachts ist es beeindruckender“, sage ich enttäuscht.
Ich sehe zu Elias hinunter. Er hockt neben unserem Haufen Feuerwerksraketen und werkt mit einem Taschenmesser und etwas Klebeband, und hält mir einen Moment später einen Sprengkörper entgegen. „Drei Feuerwerke in einem“, sagt er stolz.
Ich nehme die kleine Bombe und stecke sie in die Erde. Elias legt seine Hand auf meine und nimmt das Feuerwerk weg. „Das könnte genauso gut sofort hochgehen“, sagt er und zieht es aus der Erde. Er geht einige Meter weg, steckt es wieder hinein, zündet die Lunte an und rennt dann so schnell er kann zu mir zurück. „Außerdem wollte ich es anzünden.“
Wir beobachten, wie die Funken der Lunte in den Sprengkörper verschwinden. Wieder vergeht viel zu viel Zeit.
„Manchmal brauchen gute Dinge einfach etwas länger“, sagt Elias schulterzuckend, um die Stille zu füllen. Trotzdem schießt das Feuerwerk nicht.
„Soll ich irgendwas abwertendes zu dir sagen, damit die Ironie wieder zuschlägt?“, frage ich.
„Versuch’s.“
„Äh… Deine Bombe funktioniert nicht. Idiot.“
Keinen Moment später funkt es unter der Rakete. Elias beginnt wieder zu jubeln. Das Feuerwerk schießt ab, dreht sich zur Seite und fliegt auf uns zu. Elias springt zu mir, reißt mich zu Boden und drückt mir dabei die Luft aus den Lungen. Die Rakete schlägt zwei Mal auf und rast mit genügend Abstand an uns vorbei.
„Gut gemacht. Jetzt tun mir die Rippen weh, und ich bin nass und dreckig“, sage ich, schubse Elias unsanft von mir herunter und rapple mich auf.
„Ich hab’ versucht, dein Leben zu retten!“, regt er sich auf, verstummt aber, als er meinen Gesichtsausdruck sieht. Er folgt meinem Blick und wird somit Zeuge davon, wie sein zusammengebastlter Sprengkörper sich in den Haufen Feuerwerke vergräbt.
„Fuck“, sage ich, bevor mich Elias abermals von den Füßen reißt.
Folgend ist eine Mischung aus Zischen, Pfeifen und einem Knall, der die Erde zum Zittern bringt und das Kreischen, das alles andere ausblendet, in meinen Ohren zurückbringt. Obwohl ich die Augen fest geschlossen und die Arme vors Gesicht gerissen habe, kann ich helle Blitze durch meine Augenlider sehen. Es regent Funken auf uns ein, die meinen Nacken treffen und sich dort brennend verewigen. Elias zieht mich näher zu sich und bedeckt meinen Kopf mit seinen Armen.
Die Stille, die darauf folgt, ist trotz meines Tinnitus herrlich. Elias löst sich langsam von mir und wir setzen uns auf. Dort, wo unser Haufen Sprengkörper war, ist nun ein Krater, dessen Durchmesser in etwa so groß ist wie ich.
Elias und ich werfen uns einen Blick zu. Wir brechen in schallendes Gelächter aus.
Wir lachen, bis uns die Tränen in den Augen stehen, bis wir uns am Boden krümmen. Der Schnee und der Matsch ist mir egal.
„Das war Wahnsinn!“, sagt Elias aufgeregt und rappelt sich auf. Auf seinen Händen sind einige Verbrennungen, seine Jacke hat einige Flecken und sein Hosenboden ist von Schlamm überzogen, aber in seinen Augen funkelt etwas, das ich vorher noch nie dort gesehen habe.
Ich springe auf und werfe mich Elias in die Arme. Wir springen kindisch herum, spritzen Schlamm auf unsere Hosen und schütteln uns gegenseitig.
Elias hält inmitten von seinem Gejubel inne. „Warte, Scheiße, ich hab’ ganz vergessen! Geht’s dir gut?“
„Ja, ja! Nur leicht was im Nacken. Du?“
„Hände.“
Ich deute in Richtung des Heims. „Wir sollten zurück nach Hause.“
Elias nickt.
Den kurzen Weg zurück zum Heim verbringen wir grinsend, obwohl mein Nacken brennt und sich die Kälte schnell durch den nassen Stoff meiner Hose frisst. Es wird schnell zu einem Wettrennen, und Elias und ich hechten schlussendlich keuchend und mit roten Gesichtern die Eingangstreppen des Heims hoch. Wir laufen durch die Flure, ohne uns um die Blicke der anderen zu scheren. Ich komme als erste an meinem Zimmer an, schlüpfe hinein und versuche, die Tür hinter mir zuzumachen und Elias auszusperren. Er bekommt vorher seinen Fuß zwischen Tür und Türrahmen.
„Hey!“
„Ich will mich umziehen. Was, willst du zusehen?“
Elias wird hochrot und stottert herum. Ich grinse, schubse ihn leicht und mache die Tür zu.
Meine dreckige Kleidung werfe ich auf den Boden, darum kümmere ich mich später. Ich ziehe mich um und werfe mich auf das Bett. Kurze Zeit später klopft jemand an die Tür.
„Du hast noch nie geklopft“, sage ich amüsiert.
Elias öffnet die Tür, nun ebenfalls in frischer Kleidung. „Ich wusste nicht, ob du gerade nackt bist.“
Ich strecke ihm die Zunge heraus und werfe ihm die Brandsalbe zu. „Kannst du?“, frage ich und deute auf meinen Nacken.
Elias schmiert sich die Hände ein, setzt sich dann hinter mich und verteilt etwas von der Salbe über die Brände.
„Wenn wir so weitermachen, sind wir durchgebraten, bevor wir dreißig sind“, witzelt Elias. Gleich darauf klopft es wieder an der Tür.
„Red?“, frage ich laut. Elias sieht mich an und schüttelt den Kopf. Ich stehe auf und öffne die Tür.
Schwester Martha lächelt freundlich. „Red ist also wieder im Café?“
Das Hallo stirbt auf meiner Zunge. „Woher…?“
„Ich habe die Explosion gehört“, sagt sie ruhig, „Seid ihr verletzt?“
Ich schüttle den Kopf und trete einen Schritt zurück. Elias zeigt schuldig die Hände her. Martha schnalzt mit der Zunge.
„Nona und ich haben uns schon verarztet!“, sagt er schnell. Schwester Martha wirft mir einen kurzen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Ich senke schuldig den Kopf.
„Ich bin nur froh, dass es euch beiden gut geht“, sagt sie und öffnet die Arme. Ohne zu zögern springt Elias vom Bett auf und umarmt sie.
Verlegen stehe ich daneben und lasse meinen Blick auf den Boden gerichtet. Martha winkt mich zu ihr. „Komm her.“
Zögerlich gehe ich zu ihr und lasse mich umarmen. Ich vergrabe mein Gesicht im Stoff ihrer Robe und schließe die Augen. Sie streicht mir über den Kopf.
Kurz fühlt es sich ungewohnt, sogar seltsam an, dann sinkt das Gefühl langsam unter meine Haut. Die Zuwendung erinnert mich an etwas, das ich seit Ewigkeiten nicht mehr kannte, etwas das wahrscheinlich in einem Autowrack gestorben ist.
Ich kneife die Augen fester zu und lasse die Tränen in den Stoff ihrer Robe versinken.
Teil 2.6
Der letzte Lichtstrahl vom Flur verschwindet, als ich die Tür zur Kantine schließe. Der Saal wird in Dunkelheit getaucht. Ich halte den Atem an und horche auf Schritte, doch die Stille bleibt. Nur mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und lassen mich die Umrisse der Tische und Bänke erkennen. Ich schleiche zwischen ihnen entlang. Die Tür zur Küche will ich nicht öffnen, um das Quietschen zu vermeiden. Stattdessen klettere ich durch das Servierfenster. Blind taste ich nach dem Rand, verfehle ihn um einige Zentimeter, verliere den Halt und knalle auf den Boden.
„FUCK.“
Ich reibe mir die Schulter und komme ächzend wieder auf die Beine.
So viel zur Heimlichkeit.
Ich lasse mir nicht mehr viel Zeit, husche zum Kühlschrank, mache ihn auf und werde vom Licht darin geblendet. In der untersten Schublade finde ich, wonach ich gesucht habe: Ein industriegroßer, markenloser Becher neapolitanisches Eis. Aus einer anderen Schublade stehle ich noch dazu drei Löffel und husche mit meiner Beute wieder aus der Küche und zurück auf die Gänge.
Ich sollte eigentlich dem Lichtschein folgen, doch ich höre Elias und Red schon zwei Flure entfernt streiten, also folge ich einfach ihren Stimmen. Die beiden sitzen in einem chaotischen Haufen Kissen auf dem Boden vor dem kleinen Fernseher im Aufenthaltsraum. Ich halte das Eis hinter dem Rücken, stelle mich vor den Fernseher und warte still, bis ich ihre Aufmerksamkeit habe. Dann hebe ich feierlich den Container in die Luft und werde mit übertriebenem Gejubel empfangen.
Grinsend werfe ich Elias und Red einen Löffel zu und lasse mich zu ihnen in die Kissen fallen. „Noch ein bisschen lauter und wir können das alles gleich vergessen.“
Elias sieht es als Herausforderung und holt tief Luft, aber bevor er das halbe Heim aufwecken kann hält ihm Red den Mund zu. Elias schleckt ihm über die Hand.
„Du bist so ein Schwein!“
Elias lacht, Red boxt ihm gegen die Schulter. „Red will schon wieder Die Goonies schauen, aber ich will mal was neues.“
„Du schaust dir es doch auch ständig an!“
„Aber nicht jedes Mal!“
Ich durchsuche die Kassetten. „Ich such einen aus, bevor ihr beiden euch an die Gurgel geht.“ Ich entscheide mich für den schrecklichsten, billigsten Horrorfilm, den ich finden kann, und lege ihn ein.
„…ernsthaft?“
„Was? Ihr habt euch nicht entscheiden können.“
Elias verdreht die Augen, Red steht kommentarlos auf und verlässt den Raum.
„Red. Red! Komm zurück!“, lache ich, doch er reagiert nicht. Kurz darauf kommt er mit einem kleinen Löffel aus der Küche zurück. Ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Große Löffel kommen aus der Hölle“, sagt er, als wäre es selbstverständlich, und macht sich über das Schokoladeeis her. Elias übernimmt den Vanille-Teil und überlässt mir Erdbeere.
Ich verbringe seit einigen Tagen Zeit mit Elias und Red. Sie bringen mir weiterhin Essen aus der Kantine, zumindest bis sich der größte Sturm legt und ich wieder mit Olivia im selben Raum sitzen kann. Wir klettern fast jede Nacht zusammen aufs Dach, manchmal mit gestohlenen Snacks aus der Kantine, reden, beobachten die Sterne.
Der Film ist zwar als Horrorfilm angeschrieben, aber die Schauspieler sind so grottenschlecht und die Special Effects so lächerlich, dass es mehr als Komödie herüberkommt. Jedes Mal, wenn eine Szene kommt, die spannend oder gruselig sein soll, macht einer von uns irgendein blödes Geräusch und wir müssen lachen. Wirklich verängstigt sind wir nicht.
Red ist mit seinem Eis im siebten Himmel. Er sieht zum ersten Mal wirklich entspannt und glücklich aus, summt vor sich hin, wiegt den Kopf und tritt leicht mit den Füßen. Wie Elias’ Ticks scheint er es unterbewusst zu machen, aber während Reds Bewegungen eher von Freude zu kommen scheinen, passieren Elias’ Ticks normalerweise nur, wenn er nervös oder verängstigt ist.
Irgendwann verliere ich das Interesse an dem Film, verliere mich im Eis und komme viel zu schnell am Boden an. Heimlich stehle ich einige Löffel Vanille von Elias.
Red macht ein unzufriedenes Geräusch und Elias tut so, als würde er würgen. Ich sehe hoch: am Bildschirm machen die beiden Protagonisten herum.
„Muss das immer sein…“, murrt Elias.
„Du bist nur neidisch, weil dich niemand ranlässt.“
Elias macht ein beleidigtes Geräusch. Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen und ernte einen giftigen Blick von ihm. „Als wärst du so viel besser dran!“, sagt er schnippisch.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, ob ich schon mal jemanden geküsst hab. Du weißt, dass du’s noch nie geschafft hast.“
„Die Person, die dich freiwillig küsst, musst du mir erst mal zeigen“, schießt er zurück.
„Als wäre das bei dir anders.“
„Um was wetten wir, dass mindestens das halbe Heim mit mir herummachen will? Die sind einfach nur zu schüchtern, um es zuzugeben.“
Ich lache auf, „Na sicher!“
Elias nickt, als wäre es selbstverständlich. Ich grinse ihn an, „Gut. Ich wette einen Zehner, dass du’s nicht schaffst, jemanden bis morgen Abend zu küssen. Sollte ja laut dir nicht so schwer sein, oder?“
Elias’ Mund klappt auf, dann wieder zu. Er zuckt unwillkürlich mit dem Kopf, seine Hände finden automatisch sein Feuerzeug.
„Also?“, frage ich mit einem fiesen Grinsen, „Gibst du’s zu? Oder verlierst du Geld?“
Elias tickt wieder, dann klappt er das Feuerzeug zu, wirft es vor sich auf den Boden und zieht mich zu sich. Ich realisiere erst dann, was passiert, als seine Lippen schon auf meinen sind. Unsere Zähne stoßen zusammen.
Elias lässt mich los und setzt sich mit hochrotem Gesicht und ständigen Ticks zurück in die Kissen. „Da. Du schuldest mir was.“
Mein Gehirn kommt nicht ganz nach. Ich stottere herum, bis ich ein empörtes „Das zählt nicht!“ zusammenbekomme.
„Wir können es gerne noch mal versuchen. Und zwar richtig!“
Ich grinse ihn an und zerre ihn am Kragen näher, „Feigling. Das traust du dich nicht.“
„Ihr seid beide so primitiv!“, beschwert sich Red empört und stoßt mir den Ellbogen in die Seite. Elias und ich werfen uns einen einzigen Blick zu und machen es den Protagonisten im Film nach, mit den widerlichen Geräuschen.
„Ihr seid ekelhaft!“, schreit Red, springt auf und schlägt mit einem Kissen nach uns. Elias bekommt einen Lachanfall, während ich kichernd Reds Schlägen ausweiche. Ich bekomme ein Kissen ins Gesicht geworfen, Elias bekommt eines an den Hinterkopf.
Der Horrorfilm ist bereits aus, es laufen nur noch die Widmungen über den Bildschirm. Red steht auf und durchsucht die Kassetten. Ich nehme die Gelegenheit, beuge mich zum immer noch lachenden Elias herunter und küsse ihn ein letztes Mal, ohne Zähne, ohne übertriebenes Schmatzen. Er blinzelt mich überrascht an.
„Angeschmiert“, sage ich, „Ich hab gar kein Geld.“
Die ersten paar Sekunden eines Films dringen an unsere Ohren und Elias wird aus den Gedanken gerissen. „Nicht schon wieder!“
„Hättest du nicht Spucke getauscht, hättest du einen anderen Film einlegen können“, sagt Red nonchalant und lässt sich in die Kissen fallen.
Die Goonies zieht in einem unsinnigen Band an mir vorbei. Mein Kopf schwirrt etwas, die Müdigkeit zerrt an meinen Augenlidern. Der Zuckerschock vom Eis ist vorbei und hat mich bloß noch müde gemacht.
„Ich geh schlafen“, murmle ich zu Elias und Red. Keine Antwort. „Hm? Leute?“ Ich sehe zu ihnen und sehe, dass sie eingeschlafen sind, Red in die Kissen gekuschelt, Elias gegen meine Schulter gelehnt. Ich lächle leicht, lege mich zurück in die Kissen und schließe die Augen.
Teil 2.7
Ich träume weiter von Feuer.
Fast jede Nacht wartet der Funke auf mich, blinzelt mir fröhlich entgegen. Ich habe meine Lektion endlich gelernt und beobachte ihn bloß. In den Nächten bleibt der Funke ein Funke.
In manchen Nächten vergesse ich jedoch, dass ich meine Finger davon lassen sollte. Dann fange ich ihn zwischen meinen Händen, wo er wächst, von der Kerzenflamme zum Inferno. Ich wache auf, weil der Geruch zu viel wird, oder wegen der Schmerzen, oder aufgrund der Angst.
An den Tagen ist es am wahrscheinlichsten, dass ich etwas Brennendes finde. Meine Bettdecke und mein Kopfkissen riechen nach Rauch, ich finde Asche, wo sie nicht hingehört, meine Finger sind rußverschmiert.
Elias und Red schaffen es normalerweise, mich davon abzulenken. Obwohl ich meistens in meinem Zimmer feststecke, verbringen sie Zeit mit mir. Hin und wieder gehen wir hinaus in die Stadt, doch da Elias die ständigen Wetterumschwünge zusetzen und mir die Kälte, kommen wir meistens nicht weit. Elias braucht an den schlimmsten Tagen Krücken oder einen Gehstock. Ich halte die chronischen Schmerzen mit dem gelegentlichen Schmerzmittel aus, bleibe aber doch lieber drin.
Der Schnee schmilzt, die Winterferien gehen vorbei. Elias und Red gehen zurück zur Schule, ich nicht. Da die Sache mit meiner Identität noch immer nicht geklärt ist, muss ich daheim bleiben. Ich frage mich, wer für den Papierkram verantwortlich ist, und wie unfähig diese Person nur sein kann.
Ohne Elias und Red muss ich in die Kantine, wenn ich etwas zu Essen möchte. Mittlerweile ist die größte Welle von Gerüchten und Hass vorbei, so ist es erträglich, solange ich den Kopf gesenkt halte. Ich sehe Olivia nur selten, denn ich achte darauf, mich so weit weg von ihr zu setzten, wie ich kann. Ihre Wunden scheinen restlos verheilt zu sein, sie verwendet weder Rollstuhl noch Krücken. Es ist ein erleichternder Anblick, sie wieder lächelnd zu sehen.
Die Wochenenden sind meine Lieblingstage, denn Elias und Red sind den ganzen Tag bei mir. Manchmal ist Red jedoch wieder im Internetcafé, und alle zwei Wochen verschwindet Elias Samstags und Sonntags, jedes Mal ohne Erklärung.
Ich spreche ihn nicht darauf an, genauso wie er und Red mich nicht auf mein seltsames Verhältnis gegenüber Feuer ansprechen. Wir haben ein gegenseitiges Verständnis, dass manche Dinge im Schweigen einfach besser liegen.
Das Bewusstsein, dass der „Unfall“ nicht wirklich ein Unfall war, liegt die ganze Zeit in meinem Hinterkopf und drückt gegen meine Gedanken wie ein Stein unter der Matratze. Für die ersten Tage nach der Erkenntnis haben Red und Elias es geschafft, mich davon abzulenken; in ihren Augen bin ich wahrscheinlich noch wegen Olivia traurig. Doch je mehr Zeit vergeht, desto schwerer wird dieses Wissen. Ich weiß nur nicht, was ich damit anfangen soll.
So kommt es, dass Red, Elias und ich an einem besonders schönen Frühlingstag draußen sind und durch die Straßen spazieren; sie laufen aufgeregt von Auslage zu Auslage und diskutieren, was sie kaufen möchten, ich gehe hinterher und bin in Gedanken versunken.
Die Polizei sollte sich darum kümmern, oder? Muss ich warten, bis der Fall gelöst ist, bevor ich dieses Haus sehen kann? Bis ich wissen darf, ob es nur ein Haus ist, oder mein Zuhause? Und wer war es? Wer hatte es auf uns abgesehen? War es Mord? Mitnahmesuizid?
Elias schnippt vor meiner Nase herum. „Erde an Nona!“
Ich zucke zusammen. „Hä?“
Red verdreht die Augen. „Bitte, kannst du diese blöde Diskussion beenden—“
„Es ist Suppe, oder?“, unterbricht ihn Elias.
Ich seufze. „Das ist das, was, dritte Mal die Woche, dass ihr darüber streitet?“
„Müsli ist Milch, und in der Milch ist was drin. Daher ist es Suppe.“
„Suppe wird gekocht“, sagt Red kopfschüttelnd.
„Also ist kalte Suppe keine Suppe mehr?“
„Nona.“
Ich hebe die Hände. „Enthalte mich der Stimme.“
Elias setzt zum Gegenargument an, doch Red winkt ab. „Sind wir uns einfach einig, dass wir uns uneinig sind.“
Elias seufzt. „Meinetwegen.“
Die beiden gehen eine Weile in friedlicher Stille nebeneinander her. Ich folge ihnen mit einem Grinsen, warte etwa eine Minute, und frage dann aus dem Nichts heraus, „Ist ein Hotdog ein Sandwich?“
„Ja“, sagt Red.
„Nein“, sagt Elias.
Beide seufzen und werfen mir tödliche Blicke zu. Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen.
Das Wetter bleibt schön, und so gehen wir länger als normalerweise. Red möchte unbedingt an einem Modellbaugeschäft vorbeischauen, das eine Rakete ausgestellt hat, die mir vom Boden aus fast bis zum Kinn reicht. Elias geht währenddessen in die Drogerie nebenan, um sein Feuerzeug auffüllen zu lassen.
Mir wird schnell langweilig und ich beschließe, ohne die beiden etwas die Stadt zu erkunden. Ich wandere ziellos durch die Straßen, genieße einfach die frische Luft, ohne einmal wegen der Kälte Schmerzen zu haben. Es ist zwar kühl, vernebelt, und dichte Wolken hängen am Himmel, doch deswegen sind die Straßenlaternen und Lichter der Geschäfte immer noch angeschalten. Es ist ein seltsam schöner Anblick, das orangene Licht auf grauem Hintergrund.
Ich biege in eine Seitenstraße ein und gehe an einem Edelschuhgeschäft vorbei, mache mich gedanklich über die Preise und die Designs lustig und komme an einer Hauptstraße wieder hinaus. Zwar sind hier mehr Leute, die mich anstarren— anscheinend sind kurze Haare und eine Narbe sehr interessant— doch ich bin es bereits vom Heim gewohnt und weiß mittlerweile, wie ich sie effektiv ignoriere.
Mir fällt ein Antiquitätenladen auf der anderen Straßenseite ins Auge. Ich bleibe stehen und starre irritiert in die Auslage. Der Inhalt ist nichts sonderlich ungewöhnliches, besonders für die Art von Laden, die es ist, doch trotzdem hält er mich fest.
Ich gehe einen Schritt näher und versuche herauszufinden, welches der ausgestellten Stücke mich so stört. Ein bronzenes Fernglas, eine Skulptur, die kein Recht hat, so teuer zu sein, eine Lampe mit einem gläsernen Lampenschirm, zwei Gemälde. Nichts davon reizt mich.
Ein Auto hupt laut. Ich zucke zusammen und stolpere einen Schritt zurück, es fährt vorbei, während der Fahrer eine unfreundliche Geste in meine generelle Richtung wirft. Ohne es wirklich zu bemerken, bin ich auf die Straße gelaufen.
„Nona! Da bist du. Renn nicht einfach weg.“
Elias packt mich an der Schulter und schüttelt mich übertrieben.
„Ja, ja, schon verstanden“, sage ich mit einem unsicheren Lächeln. Mein Blick flackert wieder zum Laden.
„Ist was?“, fragt Red.
„Sekunde“, sage ich abwesend und sehe mich dieses Mal nach Autos um, bevor ich über die Straße gehe. Erst als ich direkt vor dem Laden stehe, erkenne ich das Gefühl: Déjà-vu.
„Ich war hier schon mal. Aber irgendwas stimmt nicht.“
Elias und Red werfen sich einen Blick zu. Ich gehe rückwärts wieder zurück auf die Straße, ohne mich um Autos zu kümmern.
„Nona, bist du wahnsinnig?“, ruft Red, doch ich kann meinen Blick nicht abwenden, sonst verfliegt dieses Gefühl. Erst als ich mitten auf der Fahrbahn stehe, klickt es. Ich kenne nicht das Zeug in der Auslage, sondern den Laden. Und nicht nur den Laden, sondern die ganze Gasse, mit allen Läden und Geschäften. Und das nur von dem Fenster eines Autos aus.
„Ich bin hier früher vorbeigefahren.“
Red packt mich am Arm und zerrt mich zurück auf den Gehsteig. „Das ist kein Grund, dich überfahren zu lassen.“
Ich winde mich aus seinem Griff und gehe die Gasse entlang. Jeder einzelne dieser Läden kommt mir bekannt vor, der Antiquitätenladen war einfach der Auffälligste. Je länger ich gehe, desto vertrauter kommt mir alles vor, bis ich mich wieder so gut auskenne, dass ich mit Sicherheit sagen kann, dass ich rückwärts gehe. Normalerweise sind wir in die andere Richtung gefahren.
Wer ist „wir“?
Elias läuft vor mich und stellt sich mir in den Weg. Ich blinzle ihn an. Er blinzelt zurück.
„Kontext?“, fragt er.
„Ich kenn mich hier aus“, sage ich, „Wir sind hier langgefahren. Ich war hier nie zu Fuß. Immer nur im Auto. Und ich gehe zurück. Ich weiß nicht, zu was, aber ich gehe zurück. Ich will wissen, was da am Ende ist.“
„Wenn du weiter so stur rennst, wirst du vorher überfahren. Du bist über zwei Zebrastreifen gelaufen, ohne dich ein einziges Mal umzusehen. Bleib mal kurz stehen und beruhig dich mal“, sagt Red.
Ich nicke. „Okay. Okay, das kann ich.“
Elias zerzaust mir die Haare, mittlerweile sind sie dafür lang genug. „Wir haben alle Zeit der Welt. Wie wär’s, wenn wir gehen, anstatt zu laufen?“
Ich nicke wieder, obwohl ich viel lieber gerannt wäre.
Die Auslagen ziehen viel zu langsam an uns vorbei. Ich klammere mich an das Gefühl von Déjà-vu, das sich langsam in eine Erinnerung festigt, und versuche ihm zum Ende dieser Straße zu folgen, doch es ist, als würde ich Rauch greifen wollen.
„Hey.“ Elias stupst mich an und reißt mich wieder aus den Gedanken. „Schau“, sagt er und deutet auf eines der Schaufenster. Dahinter liegt eine kleine Sammlung kunstvoll dekorierter Feuerzeuge, die so viel kosten, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass sie jemals jemand kaufen würde.
„Welches würdest du wollen?“, fragt Elias.
Ich lasse meinen Blick schweifen und deute auf eines in Form eines Drachen das, wenn angezündet, so aussieht als würde er Feuer spucken. „Das da. Aber ich weiß nicht, wie lange ich sparen müsste, bis ich mir das leisten könnte.“
Elias kichert und deutet auf ein einfaches, schwarzes Sturmfeuerzeug. „Ich will das.“
Ich will ihn fragen, wieso er sich inmitten von juwelenbesetzten und dekorierten Feuerzeugen so ein simples aussucht, doch meine Frage stirbt auf meiner Zunge.
„…Nona?“
Elias’ Stimme klingt seltsam gedämpft. Sein besorgter Blick trifft mich durch die Spiegelung des hochpolierten Glases, doch meine Augen sind an das gefesselt, was hinter ihm ist. Ich stehe auf und drehe mich mit schwerem, sinkendem Gefühl im Magen um. Mein Mund ist plötzlich trocken, meine Hände eiskalt. Der Nebel hat sich gelichtet und die Wolken haben sich verdünnt. Eine dunkle, dichte Rauchsäule durchschneidet den graublauen Himmel wie eine Wunde.
Ich weiß, was am Ende der Straße liegt.
Meine Füße bewegen sich von selbst. Ich denke nicht nach, sondern renne nur. Bremsen kreischen und Hupen dröhnen. Eines der Autos kommt nur einige Zentimeter vor mir zum Stillstand, der Fahrer öffnet das Fenster und ruft mir Beleidigungen hinterher, doch ich höre ihn kaum, genauso wie ich Elias’ und Reds Rufe nicht mehr verstehe.
Die Gassen ziehen an mir vorbei, mein Blick ist an die Narbe im Himmel gefesselt. Nach wenigen Schritten kann ich den Rauch bereits riechen. Er brennt in meiner Nase, verklebt meinen Rachen, lässt meine Augen tränen und stachelt das Monster an, das eines seiner Augen aufreißt. Meine Haare stehen in Flammen, meine Kleidung ist verkohlt und geschmolzen und versengt meine Haut.
Ich schmecke den Ruß, bevor ich das Feuer sehe.
Die Erinnerungen und die Gegenwart verschmelzen. Es ist eine gewalttätige Quälerei, wo sie sich überschneiden, und in dieser Falte in meinem Schädel liege ich in einem Autowrack und starre gleichzeitig hilflos auf mein Zuhause, das vor meinen Augen verbrennt.
Die Flammen kreischen.
Ich knie am Asphalt, doch ich kann mich nicht erinnern, wie ich dorthin gekommen bin.
Welche Farbe auch immer die Wände einmal hatten, jetzt sind sie schwarz. Flammen schlagen aus dem eingestürzten Dach und den Fenstern. Der Vordergarten ist von Trümmern übersäht. Das gleißende Licht der Flammen sticht in meinem Auge, doch ich kann nicht wegsehen, nicht blinzeln.
Ich glaube, jemand ruft meinen Namen, doch ich verstehe es über das Klingeln und Kreischen in meinen Ohren nicht. Jemand hält mir die Hand hin. Als ich nicht reagiere, werde ich am Arm auf die Beine gezogen. Dann sitze ich, jemand legt eine Hand auf meinen Rücken, und erst dann sehe ich die Feuerwehr- und Polizeiautos, die blinkenden Lichter und die rußbedeckten Gesichter.
Worte dringen an meine Ohren, die wahrscheinlich Fragen sein sollten, doch ich verstehe kein einziges. Schwester Martha redet mit einem der Polizisten— seit wann ist sie hier?
Etwas in der hohlen Ruine des Hauses bricht aus und spuckt eine neue Wolke Flammen. Die übergebliebenen Fenster zerbersten, der Boden bebt. Über dem überraschten Geschrei der Zuschauer brüllt das Feuer ohrenbetäubend.
Etwas baut sich aus der Wolke auf. Schultern. Arme. Ein Kopf. Zwei Münder, die den Namen rufen, den ich vergessen habe.
Komm her, sagt es. Für einen Moment will ich der Aufforderung folgen. Wie schön es doch wäre, in das Feuer zu laufen, zu verbrennen, zurück zur Asche zu kehren. Wie sanft die Umarmung doch wäre. Vielleicht würde sie mir die Wärme schenken, die mir niemand sonst geben kann.
Die Feuerwolke löst sich in Rauch auf, der Schutt legt sich. Meine Sinne kommen langsam zu mir zurück. Das Kreischen in meinen Ohren ebbt ab. Erst jetzt spüre ich das Stechen an meinen Armen, wo ich meine Fingernägel in meine Haut gegraben habe, das brennen an meinen Knien, die ich an der Straße geschunden habe. Die blinkenden Lichter füllen meine Augen mit roten und blauen Flecken, hinter denen ich nur schemenhaft die Umrisse von anderen Leuten sehe. Ich suche nach Elias und Red und finde sie etwas abseits von mir. Red sitzt auf der Ladefläche eines Krankenwagens und hat eine Hand auf Elias’ Rücken gelegt, der langsam vor und zurück schaukelt. Seine Augen sind weit und glasig, er tickt immer wieder und murmelt etwas, das ich über den Tumult nicht hören kann. Ich will nach ihnen rufen, aber meine Stimme schafft es nicht aus meiner Kehle. Einer der Polizisten legt die Hand auf meine Schulter. Er sagt etwas, seine Lippen bewegen sich, doch die Worte kommen nicht in meinem Kopf an.
Jemand nimmt meine Hand. Ich drehe mich um. Red fragt mich etwas. Hinter ihm versucht einer der Sanitäter, Elias zu beruhigen. Es scheint nicht zu funktionieren.
Meine Hand wird gedrückt. Meine Wangen sind nass.
Teil 2.8
Ich sitze auf meinem Bett und starre ein Loch in die Wand.
Langsam verstehe ich, dass ich wieder im Heim bin. Ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin oder wie lange ich schon sitze. Meine Kleidung riecht nach Rauch und meine Hände sind mit Asche verschmiert.
Die Stille wiegt schwer auf meinen Ohren. Ich blinzle, bemerke erst dann, dass meine Augen trocken sind, und sehe mich um, doch ich bin alleine in meinem Zimmer. Langsam hebe ich die Hand und wische mir übers Gesicht. Es macht es nicht sauberer.
Die Flure sind leer und totenstill. Wie in Trance gehe ich ins Bad, wasche mir die Hände und dann das Gesicht. Das Licht lasse ich abgedreht.
Ich gehe weiter, die Treppen hoch, durch die Jungstoilette und hoch aufs Dach. Obwohl es ein milder Frühlingsabend ist, ist mir eiskalt. Ich schlurfe bis zum Schornstein und finde, wie erwartet, Red und Elias.
„Hey“, sage ich trocken. Die beiden winken kurz.
„Geht’s ein bisschen besser?“, fragt Red. Ich zucke mit den Schultern. „Du warst katatonisch.“
„Und deswegen habt ihr mich alleine gelassen?“
Red legt den Kopf leicht schief. „Elias war kurz vor der nächsten Panikattacke. Er hat frische Luft gebraucht. Ich wollte gerade nach dir sehen.“
Mein Zuhause ist abgebrannt und er ist derjenige, der Panik hat?, denke ich spitz, verkneife mir den Satz jedoch. Ich setze mich still hin.
„War das dein Zuhause?“, fragt Elias vorsichtig, „Das Haus?“
Ich zucke mit den Schultern. Es war es zwar definitiv, doch ich will nicht darüber reden.
Wenigstens weiß ich jetzt, dass meine Familie tot ist, murrt der zynische Teil von mir.
Wir sitzen, schweigen.
„Bist du hungrig?“, fragt Red und hält mir einen Müsliriegel hin. Ich starre ihn an, sage nichts, sehe wieder weg. Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie sich er und Elias einen Blick zuwerfen.
„Du benimmst dich seltsam“, sagt Elias schließlich. Er will wahrscheinlich fürsorglich klingen, aber ich fühle mich nur verarscht.
„Wirklich“, sage ich trocken.
„Red hat mir erzählt, wie du das Feuer angestarrt hast“, sagt er, „Nicht so, als wärst du verängstigt. Als würdest du dich darüber freuen.“
Ich beiße mir auf die Zunge. Wie kann er ernsthaft glauben, dass ich das genossen habe?
„Du hast uns den Vorfall mit Olivia nie erklärt. Du hast ständig neue Verbrennungen, aber ich sieh dich nie mit einem Feuerzeug.“
Ich halte mich selbst davon ab, weitaus gehässigere Dinge zu sagen, und frage stattdessen bloß, „Und?“
„Wir machen uns Sorgen um dich.“
Ich schweige ihn an. Ich hab immer noch keine Lust auf eine Erklärung.
„Nona, was ist los?“
Ich wende meinen Blick ab, doch er lässt nicht locker.
„Wir wollen dir nur helfen, aber wir können das nicht wenn wir nicht wissen, was das Problem ist. Wenn du—“
„Du willst also über Probleme reden? Wo verschwindest du denn alle zwei Wochen hin, hm?“
Er zuckt zusammen, seine Augen weiten sich. Selbst Red sieht mich schockiert an. Ich weiß zwar, dass es echt scheiße von mir war, ihn darauf anzusprechen, doch ich schlucke eine Entschuldigung und belasse es bei trotzigem Schweigen.
Elias tastet nach seinem Feuerzeug. Es spukt Funken, ohne eine Flamme zu zünden. Sein Kopf zuckt. „Ich rede nicht viel über meine Eltern“, sagt er langsam. „Das hat einen Grund.“ Seine Augen werden groß und glasig, sein Blick hängt an etwas fest, das ich nicht sehen kann. „Sie haben unser Haus angezündet“, sagt er, seine Stimme zittert. Ein weiteres starkes Zucken jagt durch seinen Körper. „ Sie… sie waren in einem Kult. Sie wollten ewige Glückseligkeit erreichen. Wollten verbrennen. Und mich gleich mit.“
Ich denke zurück daran, wie verschreckt er ausgesehen hat, als mein Zuhause abgebrannt ist. Mitleid zerrt an mir, aber ich will es nicht haben. Ich will nur noch wütend sein, dann muss ich nichts anderes spüren.
„Der Kult hat irgendwas geregelt, als ich ein Kind war. Bis ich volljährig bin, muss ich zu ihren Versammlungen. Schwester Martha hat versucht, irgendwas daran zu rütteln, aber es geht nicht. Selbst die Heimleitung kann nichts ausrichten.“ Seine Stimme bricht. „Ich muss es aushalten, bis es vorbei ist.“
Schuld legt ihre Hand um meine Kehle und drückt zu. Das Schweigen zwischen uns dehnt sich, bis es sich anfühlt, als würden Kilometer zwischen uns liegen. Zwar macht es jetzt Sinn, wieso Elias unter dem Hausfeuer so leidet, aber es fühlt sich an, als würde er eine Grenze überschreiten. Das war mein Zuhause, meine Familie, mein Leiden.
„Ich bin müde“, sage ich mit hohler Stimme und stehe auf.
„Schlaf gut“, sagt Red.
Ich antworte nicht.
Teil 2.9
Mein Bruder sitzt am Boden und spielt. Er macht Flugzeuggeräusche, was sehr lustig ist, denn er lässt gerade einen Plüschdrachen durch die Luft segeln.
Ich hocke mich neben ihn und versuche, sein Gesicht zu finden, doch es steigt stetig dunkler, dichter Rauch aus seinem Kragen und umschwärmt seinen Kopf. Ich versuche, ihn wegzuwischen. Er lacht.
Er nennt mich beim Namen, sagt, dass ich lustig bin. An seine Stimme kann ich mich erinnern, doch der Name kommt nicht in meinem Kopf an. Wieder versuche ich, den Rauch von seinem Gesicht zu bekommen. Er kichert.
Ich nenne ihn ebenfalls beim Namen. Auch daran kann ich mich nicht erinnern. „Kannst du mir dein Gesicht zeigen?“
Wieder kichert er. Dann nimmt er meine Hand und legt etwas hinein, steht auf und läuft weg. Neugierig entfalte ich die Finger, um zu sehen, was in meiner Handfläche liegt.
Ein Funke. Bis ich verstehe, was das bedeutet, hat die Hitze sich bereits ausgebreitet, trifft mich in einem Schwall, trocknet meine Lippen aus und legt den scharfen Geruch von Rauch in meine Nase. Auf meiner Zunge liegt der altbekannte, bittere Film aus Asche, Ruß weht in meine Augen und bringt sie zum tränen. Ich blinzle, öffne die Augen.
Ich bin wach. Das Feuer bleibt.
Meine Lunge krampft, ich muss husten. Der Rauch füllt alle meine Sinne, trocknet meinen Rachen in einem Atemzug aus. Keuchend presse ich mir den Ärmel über Mund und Nase, rolle mich vom Bett herunter und lasse mich auf den Boden fallen. Instinkt sagt mir, auf dem Boden zu bleiben, weg von dem dunklen, dichten Rauch, der an der Decke kreist. Panik schreit wiederum, dass ich sofort hier raus muss.
Ich haste zur Tür und greife die Klinke. Sie ist kochend heiß, doch bis ich das bemerke, steht die Tür bereits offen und meine Hand brennt höllisch. Am Flur warten mannshohe Flammen, die bis zur Decke reichen. Ich stolpere zurück, gehe stattdessen zum Fenster. Ich greife den Rahmen, der genau wie die Klinke glühend heiß ist, und zerre daran. Er bewegt sich nicht.
Ich halte die Schmerzen nicht lange aus und lasse schreiend los. Kurz kann ich nichts tun als zu warten, bis die erste Welle Schmerz vorbeigeht. Ich suche nach etwas, mit dem ich das Fenster einschlagen kann, doch außer dem Bett, dem Nachtschrank und meiner Kleidung ist nichts im Raum.
Zu Kriechen ist mir zu langsam, also renne ich auf den Flur. Der brennend heiße Boden hinterlässt kurze, schmerzhafte Eindrücke auf meinen nackten Fußsohlen. Ich erlaube es mir nicht, stehenzubleiben oder nachzudenken, nehme den schnellsten Weg zum Ausgang, doch ein Teil der Decke ist eingebrochen und versperrt den Flur. Ich biege ab und versuche es über eine andere Route, zurück ins Heim, weiter ins Zentrum der Flammen. Mittlerweile ist mein Atmen bloß noch ein verzweifeltes Keuchen. Jede Lunge voll Luft fühlt sich an, als würde ich innerlich verbrennen, doch ich kann nicht stehenbleiben.
Die Flure vor mir biegen in Korridore und Räume ab, die ich beim Erkunden des Heims bereits gesehen habe. Aber wie komme ich zum Ausgang? Gibt es eine Abkürzung?
Meine Schritte führen mich hektisch in die Richtung, die ich für richtig halte. Das Heim ist glücklicherweise wie leergefegt, die restlichen Bewohner sind anscheinend geflohen.
Mit jeder Sekunde, die ich hier drin verbringe, wird mir schwindeliger, die Panik steigt mir zu Kopf. Meine Augen tränen vom Rauch, ich stolpere mehrmals und kann mich nur wegen der Angst, in etwas Brennendes zu fallen, aufrecht halten. Der penetrante Geruch hat sich so tief in meine Nase gegraben, dass ich das verbrannte Fleisch erst rieche, als ich bereits vor ihr stehe.
Ihr Gesicht ist angeschwollen, ihre Haut gerötet und verkohlt, ihre Haare versengt, ihr Torso verbrannt.
Olivia.
Ich würge, weiche zurück. Der Schwindel zwingt mich auf die Knie.
Die Träume. Das Feuer im Schlafsaal. Glühendes Besteck. Die Flammen, die mich in die Ruine meines Zuhauses gerufen haben. Asche und Ruß und unerklärliche Feuer.
Ich war das.
Ich habe ihr das angetan. Ich habe das Feuer gelegt, das Heim in Brand gesetzt, ein Zuhause zerstört.
Ein pfeifendes Geräusch zerschneidet die Stille. Sie atmet noch.
Sie lebt noch.
Mein Magen dreht sich um, ich spucke Galle. Das Gewicht von dem, was ich Olivia angetan habe, fesselt mich auf den Boden. Nur schwerfällig kann ich mich zuerst auf die Knie, dann auf die Beine heben, auch wenn ich schwanke. Wenn ich nur den Ausgang finden könnte…
Und dann was?
Ich kann nicht einfach aus der Vordertür spazieren.
Ich war das.
Sie würden es wissen. Ms. Elsie würde gegen mich aussagen. Martha weiß es. Jeder weiß, wer das Stockbett angezündet hat. Sie würden mich verhaften, für etwas, das ich nicht einmal erklären könnte. Dafür, dass ich Olivia getötet habe.
Das pfeifende Zischen holt mich wieder zurück ins Jetzt. Wieso getötet? Sie lebt noch.
Weil ich sie liegen lassen muss.
Die Übelkeit, als es mir bewusst wird, ist schlimmer als die, als ich sie gefunden habe. Ich kann ihr nicht helfen. Entweder, ich lasse sie liegen, oder ich verbrenne mit ihr.
Es gibt keine Hoffnung mehr für sie, rede ich mir selbst ein, Selbst wenn ich sie hier herausbringe überlebt sie das nicht.
Langsam weiche ich von ihr zurück. Erst als ich Hitze im Nacken spüre, drehe ich mich um und laufe. Ich mache mir falsche Hoffnungen, dass Feuerwehrleute sie bestimmt retten werden. Oder dass sie lange genug überlebt, bis sie das Feuer löschen.
Es hilft nicht.
Ich heule, bis ich schon wieder in eine Sackgasse laufe, eingesperrt von Feuer. Dann knie ich wieder, hemmungslos schluchzend. Die Asche auf meiner Haut saugt meinen Schweiß auf und macht meine Haut klebrig, kochend heiß und dreckig. Meine Hände und Knie braten auf dem Boden, doch ich kann mich nicht mehr aufrichten.
Ich habe es verdient, mit ihr zu verbrennen. Wenn ich ein guter Mensch wäre, würde ich mich hinsetzen und tief Rauch atmen.
Energisch wische ich mir Tränen aus den Augen, sehe mich nach einem Ausweg um. Hinter den Flammen, die vor mir schlagen, erkenne ich eine der Abstellkammern, von der ich weiß, dass sie ein Fenster hat. Mich trennen nur wenige Meter und eine Flammenwand, die kaum darauf warten kann, mich zu verschlingen.
Meine Zähne graben sich tief in das Fleisch meiner Zunge und der Geschmack von Blut übertüncht den der Asche. Mit zitternden Knien hieve ich mich hoch, nehme einige Schritte Anlauf und renne auf das Feuer zu. Die Hitze knistert vertraut um mich herum, wie ein Wesen mit zwei Mäulern, wie ein Autowrack, wie ein brennendes Zuhause. Ich kneife die Augen zu, springe durch die Flammen, falle zu Boden und warte auf den Schmerz.
Nichts passiert.
Zögerlich öffne ich die Augen und finde mich inmitten der Flammenzungen wieder, doch sie schmiegen sich an die Wände, als würden sie von mir zurückweichen. Ich rapple mich auf, mache zwei weitere Schritte. Vor mir tut sich das Feuer wie ein Vorhang auf, und hinter mir schließt es sich wie einer.
Mein Denken setzt aus und ich renne bloß noch. Die Türklinke ist brennend heiß und verewigt sich in meiner Haut, doch ich bemerke den Schmerz kaum noch. Das Gerümpel in dem Abstellraum, der mich hinter der Tür erwartet, beginnt gerade erst zu brennen. Ich quetsche mich durch, zum Fenster, reiße es auf. Eine Welle eiskalter Luft schlägt mir entgegen. Der frische Sauerstoff stachelt das Feuer hinter mir an, eine Welle Hitze trifft meinen Rücken, als das trockene, staubige Gerümpel des Abstellraums vollständig in Flammen aufgeht. Ich kann einen Schrei nicht unterdrücken.
Es ist mir egal, dass der Fensterrahmen wie die Türklinke brennend heiß ist. Ich packe ihn, hieve mich hoch, steige aufs Fensterbrett und lasse mich fallen.
Meine Beine wollen mein Gewicht nicht mehr tragen. Ich breche in der Hintergasse zusammen und bleibe liegen, Augen zusammengekniffen, nur darauf konzentriert, den nächsten Atemzug zu tun.
Einatmen.
Jede der Verbrennungen auf meinem Körper pocht schmerzhaft.
Ausatmen.
Ein kalter Windstoß zieht etwas von der Hitze von meinem Körper.
Einatmen.
Die Flammen, die aus den Fenstern des Heims schlagen, schicken eine unangenehme Wärme über mich.
Ausatmen.
Ich versuche mich zu bewegen, doch mein Körper weigert sich.
Einatmen.
Es gibt nur eines, das mich von den Flammen wegbringt.
Aufstehen.
Ich zerre meine Knie unter meinen Körper und hieve mich auf alle viere. Zwei weitere Atemzüge. Langsam hebe ich meinen Oberkörper, hieve mich schließlich vollends hoch. Mein Arm und mein Bein pocht, obwohl die Hitze bereits großteils vergangen ist. Beim Fall aus dem Fenster scheine ich sie geprellt zu haben.
Die Gasse ist zu eng für Feuerwehrwägen und für Gaffer zu nahe am Feuer. Jegliche Stimmen, die ich über das Getöse des Hausbrandes hören kann, kommen von der anderen Seite des Hauses. Mit einer Hand an den Arm gepresst humple ich die Straße entlang, bis sich aus den Stimmen Geschrei, Weinen und Schluchzen herauslöst. Sie stehen zu Dutzenden vor dem brennenden Heim: besorgte Nachbarn, Kinder, Aufsichten, alle mit Ruß bedeckt und im schlimmsten Fall mit Brandwunden.
Ich war das.
Der Kloß in meiner Kehle schnürt mir die Luft ab. Ich suche in der Menge nach Schwester Martha, Red und Elias. Martha finde ich vor einer Gruppe verängstigter Kinder, doch Red und Elias sind nirgendwo zu sehen. Eine Weile lang suche ich verzweifelt nach ihnen, muss aber schließlich einsehen, dass sie nicht da sind.
„Ihnen geht es gut,“ murmle ich, „Ihnen muss es gut gehen. Es muss ihnen gut gehen. Sie müssen überlebt haben.“
Ich mache kehrt und humple in eine der Seitenstraßen, die vom Jugendheim wegführt. Meine bloßen Füße werden vom Asphalt zerschunden, beginnen bald zu bluten, doch ich bleibe nicht stehen.
„Sie leben. Sie müssen leben.“
Straßen ziehen formlos an mir vorbei. Hin und wieder wirft mir ein Passant einen besorgten Blick hinterher, doch ich ducke mich entweder in Gassen oder gehe auf die andere Straßenseite.
Die Taubheit durch das Adrenalin lässt nach. Ich erreiche den Rand der Stadt mit schmerzenden Füßen, trockenen Lippen, brennender Lunge, pochender Hand und zerbissener Zunge. Vor mir erstreckt sich eine Landstraße, beidseitig mit Feldern begrenzt. Der Mond ist hinter Wolken verdeckt, was die Dunkelheit so komplett macht, dass ich kaum die eigene Hand vor Augen sehen kann. Meine einzige Lichtquelle sind die Scheinwerfer der herankommenden Autos, die mir für ein paar Momente den Weg zeigen.
Ich gehe im Grünstreifen neben der Straße. Zwar besteht der Boden großteils aus Kieseln und sandiger Erde und zerschneidet meine Fußsohlen mehr als der Asphalt, doch ich kann es mir nicht leisten, von einem Auto angefahren zu werden, nur weil ich mir einbilde, mitten auf der Straße gehen zu müssen.
Die Felder enden abrupt an einem Maschendrahtzaun. Dahinter stehen vereinzelt Bäume, die mit wachsendem Abstand immer dichter stehen, bis ich neben einem eingezäunten Waldstück hergehe. Mittlerweile bin ich schon so weit von der Stadt entfernt, dass das Feuer bloß noch ein gelber Fleck am Horizont und eine massive Rauchsäule ist.
Das Brummen eines weiteren Motors kommt auf mich zu, doch anstatt an mir vorbeizufahren, bleibt das Auto einige Meter vor mir stehen. Der Fahrer setzt den Blinker. Als ich daran vorbeigehe, kurbelt er das Beifahrerfenster hinunter.
„Wo gehst du hin?“
Ich beiße mir auf die Zunge, vermeide Augenkontakt und gehe schneller.
„Komm her, du kannst mitfahren“, ruft der Fahrer noch einmal. Ich höre eine der Türen aufgehen, hinter mir seine Schritte, die mir immer näher kommen.
„Was macht ein kleines Mädchen wie du mitten in der Nacht auf der Straße, hm?“
Ich kann die Panik nicht mehr unterdrücken und fange an, zu rennen.
„Hey! Komm zurück!“
Ich lege einen Zahn zu, trotz meiner brennenden Lunge. Meine Füße stechen höllisch, als sich etwas Scharfes in sie vergräbt, aber trotzdem zwinge ich mich dazu, weiterzulaufen. Hinter mir höre ich den wieder startenden Motor des Wagens und weiß, dass es keinen Ausweg gibt. Die Scheinwerfer kriechen mir bereits hinterher, dann wird der Motor lauter, kommt immer näher, und in einem Moment der Klarheit springe ich auf den Maschendrahtzaun und klettere. Ich versuche, irgendwie über den Stacheldraht zu greifen, zerschneide daran meine Hände. Als ich mich darüberwälze, reißt mein Shirt auf und meine Schulter beginnt zu bluten.
Ich lande schwer auf allen Vieren und laufe sofort weiter. Das Scheinwerferlicht folgt mir durch die Bäume. Ich weiß nicht, ob mich der Fahrer gesehen hat, ich weiß nicht, ob er mir folgen wird, aber ich bleibe nicht stehen.
Unter den dichten Blättern ist es so dunkel, dass ich nicht einmal meine eigene Netzhaut sehen kann. Ich sehe Äste erst, als sie mir ins Gesicht schlagen, stolpere über unebenen Boden, pralle gegen Baumstämme.
Als ich mich durch hüfthohes Gebüsch kämpfe findet mein Schritt plötzlich keinen Halt mehr. Ich knicke um, überschlage mich und schlittere den Rest des Weges ein steiles Gefälle hinunter. Ich presse meine Hände in die Erde, um meinen Fall zu stoppen, doch sie löst sich unter meinen Fingern und ich schlage ungebremst am Fuß des Abhangs auf. Der Knall jagt mir den Atem aus den Lungen, vor meinen Augen explodieren weiße Funken.
Ich japse nach Luft. Mein Hinterkopf brennt höllisch, das Kreischen in meinen Ohren wird um das hundertfache lauter, alles dreht sich, meine Zunge fühlt sich taub an, ich schmecke Blut. Flach atmend schaffe ich es, mich auf den Rücken zu drehen, doch das ist alles, was ich schaffe.
Müde stiere ich in die Schwärze. Die Erschöpfung und die Schmerzen holen mich alle auf einmal ein und ich denke nicht, dass ich auch nur meine Finger bewegen könnte, wenn ich wollte.
Der Tinnitus weicht, die Schwere in meinen Gliedern nicht. Ich höre dem Rascheln der Blätter, dem Flüstern des Windes zu und schließe die Augen.
Teil 2.10
Mein Kopf liegt weich. Ich werde gewiegt. Erst als ich Schritte höre, begreife ich, dass ich getragen werde.
Die Dunkelheit und die Wärme rufen mich zu sich zurück. Sanft legen sie ihre Arme um mich und zerren mich zurück in das schöne, zähe Nichts, wo ich keine Schmerzen habe und alles ruhig ist.
Jemand pfeift eine Melodie.
Ich gebe nach und sinke.