ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Teil 4.1
Das Feuer frisst, wächst. Es streckt seine Hände nach mir aus, fleht mich an, zu ihm zu kommen und zurück zur Asche zu kehren. Es breitet seine Arme zu einer warmen Umarmung aus.
Komm zu mir, säuselt es.
Der Rauch wickelt sich um meine Kehle, streicht sanft über meinen Hals zu meinem Gesicht hinauf.
Komm zurück, flüstert er.
Ich drehe mich um und sehe zu der Flammenwand hoch, die sich langsam aber sicher durch den Wald frisst. Der Rauch färbt den Himmel schwarz.
Aaron wird mich nie erwischen, denke ich und reiße mich so aus meiner Trance.
Langsam sinke ich wieder ins Hier und Jetzt. Mein Gesicht pocht und sticht schmerzhaft. Mein Mund schmeckt nach Eisen und die Schnitte auf meiner Zunge und auf der Innenseite meiner Wange brennen. Meine Knie sind geschunden und meine Handflächen zerkratzt, noch dazu habe ich immer noch Blasen an den Fingern.
Als ich versuche, meine rechte Hand zu bewegen, beginnt sie schmerzhaft zu puckern. Ich sehe hin: Meine Knöchel sind dunkelrot, meine Finger angeschwollen. Unter meiner Haut pulsiert mein Blut, schickt stoßweise Schmerzen durch meine Hand. Erst jetzt verstehe ich, dass ich mir wahrscheinlich die Hand gebrochen habe, als ich Samael ins Gesicht geschlagen habe.
Ich reibe mir mit der Linken über die Augen, gräulich schwarze Schlieren bilden sich auf meiner Haut. Neugierig reibe ich meine Fingerspitzen aneinander— sie sind seltsam rau. Ich sehe zum Himmel hoch und sehe Asche, die wie Schneeflocken vom Himmel fällt.
Ein Windstoß, der brennend heiße Luft in meinen Nacken weht, setzt mich wieder in Bewegung. Mittlerweile schmerzen meine Füße bereits und meine Beine sind müde, doch der Waldbrand würde mich innerhalb von Minuten einholen, falls ich eine Pause einlege.
Während der Wanderung klettert langsam die Sonne über den Horizont. Um mich wartet bloß der stille, regungslose Wald. Alles Lebende scheint von dem Feuer geflohen zu sein.
Nach einer Weile erinnere ich mich an das Telefon, das ich Aaron gestohlen habe. Ich ziehe es aus der Tasche und es fällt in Einzelteilen heraus. Irgendwann muss es während dem Kampf mit Samael zerschmettert sein. Ich seufze und lasse es fallen.
Der Tag zieht vorbei. Ich bekomme einen ansehnlichen Vorsprung zusammen und erlaube es mir, eine Pause einzulegen, während die Sonne unter- und der Mond aufgeht. Sobald ich mich wieder orientieren kann, gehe ich weiter. Das Feuer verbreitet sich zu schnell, als das ich nachts schlafen könnte.
Still hoffe ich, dass Quinn und Thana mindestens so schnell sind wie ich.
Während der Wald als undeutliches Band an mir vorbeizieht, kreisen meine Gedanken. Ich gehe durch, was in dem Rucksack an meinem Rücken ist, ob es reicht. Vorsichtig betaste ich geistig das, was ich Samael angetan habe, doch ich spüre keine Trauer wie bei Olivias Tod. Etwas in mir weigert sich, die Schuld dafür anzunehmen.
Tag zwei bricht langsam und schwerfällig an. Mein Körper bettelt nach Ruhe. Es ist mehr als eine Woche her, dass ich eine volle Nacht durchgeschlafen habe. Erschöpfung klammert sich an meine Glieder und zerrt an mir. So lege ich zu viele zu lange Pausen ein und muss mich im Endeffekt beeilen. Das Letzte, was ich möchte, ist dass mich nach meiner halbwegs erfolgreichen Flucht so etwas Dummes wie ein Waldbrand umbringt.
Mein Atem geht schwer und keuchend, als die zweite Nacht anbricht. Ich huste und spucke auf den Boden; mein Speichel ist schwarz.
Das einzig Gute daran, keine Pause machen zu können, ist dass ich in den Nächten Strecke zurückgelegt habe. So treffe kurz nach dem Beginn der zweiten Nacht auf einen Pfad. Ich folge ihm für gefühlt eine Stunde und erreiche eine Straße, die genauso wie ich nach Westen läuft.
Ein Windstoß bringt den Geruch von Rauch und eine Welle Hitze mit sich, die mir in den Nacken schlägt. Obwohl wieder ein ordentlicher Abstand zwischen mir und dem Waldbrand liegt, fühlt es sich so an, als würde er jederzeit meine Haare packen und mich zurückreißen können.
Um mich klären sich die Bäume langsam. Mit der Zeit wird der Wald zu einem Feld, das von einem Maschendrahtzaun begrenzt wird.
Kann ich nicht ein Mal Glück haben?
Ich sehe auf meinen Rucksack, dann auf meine gebrochene Hand hinunter, dann entlang des Zaunes. Geschlagen lasse ich die Tasche von meiner Schulter rutschen, greife den Gurt mit der Linken und schleudere ihn nach oben. Beim ersten Mal knallt er mit einem metallischen Scheppern gegen den Zaun, beim zweiten Mal sieht es für einen panischen Moment so aus, als würde er am Stacheldraht festhängen. Erst beim dritten Mal schaffe ich es, ihn darüber zu bugsieren. Er kommt mit einem dumpfen Knall auf der anderen Seite auf, der Flachmann fällt dabei aus der Seitentasche und rollt einige Meter.
Ich stelle beide Füße in die Maschen und hänge mich mit der linken Hand an den Zaun. Dann hieve ich mich einen Schritt nach oben und greife schnell nach, bevor ich nach hinten kippe. Oben ist nur noch der Stacheldraht. Ich rolle mich darüber, wobei die Jacke den Großteil des Schadens abbekommt, und lande schwer auf der anderen Seite des Zauns. Der harte Aufprall hallt durch meine Knöchel bis in mein Kiefer. Ich hebe den Flachmann und den Rucksack auf und gehe weiter.
Die kleine Wegstraße neben mir wird zu einer Kreuzung, und statt einem Feld sehe ich nur noch Gebäude.
Die Skyline der Stadt ist das Schönste, was ich in meinem Leben jemals gesehen habe. Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke über den Horizont der Großstadt hinweg.
Ich habs geschafft.
Die Erkenntnis trifft mich so schwer, dass sie sich in meinen Knochen festsetzt und an mir zerrt, bis ich auf die Knie falle.
Es ist vorbei.
Teil 4.2
Obwohl ich mich gerne einfach auf den Boden gelegt und geschlafen hätte, muss ich immer noch ein Versteck finden, zumindest für die Nacht. Ungeduldig und erschöpft gehe ich den Rand der Stadt ab. Außer einigen Wohnhäusern, deren Fenster teilweise erleuchtet sind, gibt es nur einige Lagerhallen und ein Firmengelände. Ich überlege mir, in eine der Lagerhallen einzubrechen und dort zu schlafen, dann treffe ich auf wahres Gold: Ein gewaltiges Gebäude, graue, gestapelte Betonklötze mit riesigen, großteils eingeschlagenen Fenstern und gewaltigen Schornsteinen, die aus dem Dach ragen.
Die verlassene Fabrik steht inmitten eines abgezäunten Geländes. Rund um das Gebäude liegen Brocken von Bauschutt, einzelne Ziegel und abgeblätterte Fetzen Farbe, die sich von den Wänden gelöst haben. Sie wäre fast perfekt.
Seufzend gehe ich zum Rand des Geländes, lege den Kopf in den Nacken und stöhne genervt auf. Langsam habe ich Stacheldraht satt.
Ich schlurfe um das Gelände herum. Das Eingangstor ist mit einer Kette und zwei Vorhängeschlössern abgesichert. Der Zaun ist in Beton geankert. Über die Stacheln oben könnte ich nicht klettern, ohne mindestens ein Körperteil zu verlieren. Außerdem werde ich oft auf das Gelände und wieder heruntermüssen, und kann nicht jedes Mal meinen Arm zerfetzen.
Könnte ich irgendwo einen Bolzenschneider klauen?
Ich schüttle den Kopf und setze mich mit dem Rücken an die Maschen gelehnt hin. Nur zehn Minuten Pause…
Eine Idee setzt sich langsam in meinem Kopf fest. Ich scheue mich noch etwas davor, aber einen Versuch ist es wert.
Ächzend setze ich mich auf und lasse den Rucksack auf den Boden fallen, dann falte ich die Hände und denke an Feuer. Einige Sekunden vergehen, ohne dass meine Hände überhaupt warm werden. Ich kneife die Augen stärker zu und versuche, es zu erzwingen. Nichts passiert.
Ich stöhne genervt auf und lehne die Stirn gegen die Maschen. Widerwillig zwinge ich mich zur Ruhe und Geduld. Dann atme ich tief durch, lege die linke Hand gegen den Draht und denke an das, was während dem Kampf mit Samael passiert ist.
Unter meiner Haut bewegt sich etwas. Es windet sich, kräuselt sich und schlägt wild aus. Fast erwarte ich zu sehen, wie sich meine Haut nach außen beugt und dehnt. Ich füttere das Gefühl, lasse es wachsen, bis das lebende Ding sich endlich durch meine Haut gefressen hat und sich an die Drähte klammert.
Begeistert grinse ich, dann brennt der heiße Draht sich in meine Haut. Ich zucke mit einem Aufschrei zurück und stecke mir den Finger in den Mund. Es schmeckt nach Erde und Blut.
Ich fange von vorne an und halte die Hand flach aus. Wieder windet sich das Feuer unter meiner Haut, dann springt es auf meine Handfläche. Eine ruhige kleine Kerzenflamme flackert in meiner Hand auf. Ihr Licht wirft einen sanften aber schummrigen Schein auf mich und die Umgebung. Aufgeregt stelle ich mir ein Inferno vor, eine riesige Feuerwolke, die alles verschlingt. Als Antwort blitzt die kleine Flamme kurz auf, bevor sie zu einer Rauchwolke verpufft.
Okay. Kleine Schritte.
Ich hole das Feuer wieder ins Leben zurück und speise sie vorsichtig, bis sie groß genug ist, um sie an den Draht zu halten. Die Plastikhülle wirft Blasen, wird schwarz und stinkt höllisch, tropft in dickflüssigen Fäden zu Boden. Ich konzentriere mich und lasse das Feuer abermals heißer werden, bis es zischt und faucht und Funken spuckt. Der erste Draht reißt mit einem Schnalzen.
Langsam wird es anstrengend, die Flamme am Leben zu halten. Ich ziehe eine zittrige Linie durch den Zaun, bis der Schlitz groß genug ist, damit er mir hockend bis zum Scheitel reicht. Verschwitzt und keuchend lasse ich die Flamme ausgehen und grinse.
Als ich wieder halbwegs meinen Atem gefunden habe und das Metall einigermaßen abgekühlt ist, packe ich den Rucksack, drücke den Spalt im Zaun auf, schiebe ihn hindurch und krieche hinterher.
Das Gelände war vielleicht einmal gepflastert, aber jetzt sprießt so viel Unkraut aus den Ritzen, dass es mehr oder weniger ein Garten ist. Efeu räkelt sich die Wände nach oben, verwurzelt sich in den Rissen in den Wänden und bedeckt das ewige Grau mit einer dünnen Schicht Grün.
Das Eingangstor sticht mit seinem Kupferbraun aus der grünen Menge heraus. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe zum Dach der Fabrik; mich packt ein Vertigo, das mich davon überzeugt, dass sich das Gebäude über mich beugt. Ich kneife die Augen zusammen und sehe auf den Boden.
Ich stemme mich gegen das Tor. Die Farbe davon blättert ab und bleibt an meinen Händen hängen, darunter kommt leicht verrostetes Metall zum Vorschein. Für einen Moment scheint es so, als wäre das Tor verschlossen, doch es ist bloß höllisch schwer und die Scharniere stecken fest. Ich schaffe es mit einigem Aufwand, es einen Spalt aufzuzwingen. Es scharrt gegen den Boden und vibriert, ein tiefes, metallisches Ächzen, das in meinem Schädel widerhallt. Staub und Schutt rieseln auf meinen Kopf. Ich streiche mir durch die Haare und zwänge mich hinein.
Vor dem Eingang erstreckt sich eine riesige Halle. In regelmäßigen Abständen stehen Säulen, zwischen ihnen ausgehöhlte Maschinenleichen. Auf dem Boden sind einige Brocken Beton verstreut, die aus der Decke gefallen sind, weitere Ziegelscherben, Müll, leere Farbdosen, Teile des Skeletts der Fabrik. An den Wänden gibt es kaum einen Ort, der nicht von Graffiti bedeckt ist. Das größte davon ist ein detailliertes Scharfschützengewehr, aus dessen Lauf weiße Blumen sprießen. Das Stück ist mit dem Namen Schalk signiert. Zwar wurden einige Tags über das Stück gekritzelt, doch es ist immer noch beeindruckend.
Ich gehe durch das Gebäude und lasse meinen Blick schweifen. Eine Gänsehaut läuft meinen Rücken hinunter. Zwar zeigt der Frühling schon sein Gesicht, doch es ist immer noch kühl, insbesondere im Schatten.
Am Ende der Halle schließt ein Durchgang, der beinahe so hoch und breit ist wie die Halle selbst, an ein höheres Gebäude an. Ich steige über die Schwelle, die die beiden Gebäudeteile voneinander trennt, habe anscheinend nichts dazugelernt und lege noch einmal den Kopf in den Nacken. Wie beim ersten Mal wird mir schwindelig.
Ein Treppenabsatz führt dort in die nächsten Stockwerke, die alle nur einen Teil der Bodenfläche überspannen und in einer Terrasse enden. Manche der Barrieren sind herausgebrochen und liegen vor mir am Boden. Insgesamt gibt es vier Stockwerke.
Ich gehe die quietschenden Treppen hoch. Unwillkürlich zwängt sich die Vorstellung, wie das braune, rostige Metall unter meinen Füßen wegbricht, vor meine Augen. Ich schüttle heftig den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
Die ersten beiden Stockwerke scheinen von einem Brand beschädigt worden zu sein. Es gab anscheinend einmal Trennwände, die jetzt bloß noch Markierungen am Boden sind. Entlang der Seitenwand ziehen sich mehrere, riesige Fenster entlang der Wände. Im dritten Stock liegt etwa zwei Meter unter dem Fensterbrett ein flaches Dach, das von zwei Schornsteinen begrenzt wird. Die Fensterscheiben sind entweder herausgeschlagen oder zerbrochen.
Das vierte Stockwerk besteht bloß aus einem Balkon, der den gesamten Turm, wie ich das höhere Gebäude getauft habe, umringt. Ich gehe nach oben, um sicherzugehen, dass ich alleine bin, doch ein Blick nach unten reicht, um den Schwindel wieder auf Hochtouren zu bringen, also mache ich es mir auf dem dritten Stockwerk gemütlich. Zwar stecke ich hier oben fest, falls jemand die Fabrik betritt, doch hoch oben zu sein und einen Ausblick zu haben beruhigt mich.
Ich wische den gröbsten Dreck vom Boden, kümmere mich nicht einmal um den Schlafsack, lege den Rucksack hin und verwende ihn als Kopfkissen. Kaum dass ich mich hinlege und mich zum ersten Mal seit Wochen wirklich ausruhe, entspannen sich alle meine Muskeln auf einmal. Der Muskelkater von der ständigen Anstrengung trifft mich in einer Welle aus stumpfem Schmerz. Alle Wunden, selbst die alten, die fast verheilt sind, machen sich wieder bemerkbar.
Eine tonnenschwere Erschöpfung fesselt mich an den Boden und lässt nicht mehr los.
Teil 4.3
Ich weiß nicht, wie lange ich so liege.
Tage und Nächte ziehen vorbei. Nur selten, wenn ich mich dazu zwingen kann, etwas zu trinken, oder wenn ich pinkeln muss, bewege ich mich. Ich habe keinen Appetit und esse selbst als mein Magen schmerzt und krampft und mich anfleht, etwas zu essen, nichts.
Ich schlafe viel.
Wenn ich schätzen müsste, vergehen drei oder vier Tage.
Teil 4.4
Als ich mich wieder dazu zwingen kann, mich aufzusetzen, ist der Hunger nur noch purer Schmerz. Ich trinke den Flachmann fast vollständig aus, reiße den Rucksack auf, greife das erste Essbare, das ich finden kann, und stopfe mir den Mund damit voll. Die ersten Bissen verschlimmern den Schmerz bloß und mir wird sofort schlecht, aber jetzt wo ich angefangen habe, zu essen, kann ich nicht mehr aufhören. Ich schaffe es durch mehr als die Hälfte meiner Vorräte, bevor sich mir der Magen umdreht und ich gegen die Wand gelehnt alles wieder auskotze.
Einige Minuten lang kann ich nichts machen als gekrümmt auf dem Boden zu knien, die Stirn an die raue Wand gelehnt, und langsam meinen Atem wiederzufinden. Mein Rachen brennt von der Galle, also nehme ich den Flachmann und wasche mir mit dem Wasser, was übrig ist, den Mund aus. Ich trinke den Rest. Erst dann wird mir bewusst, dass ich somit den Großteil meiner Vorräte aufgebraucht habe.
Ich setze mich weit entfernt von der Sauerei hin, bis die Übelkeit nachlässt. Dann esse ich einige kleine Bissen getrocknetes Fleisch, damit mein Magen nicht leer bleibt.
Vorsichtig strecke ich meine Hand aus und versuche, meine Finger zu bewegen. Stechender Schmerz zuckt meinen Arm hoch. Sieht so aus, als würde ich meine Hand für eine Weile nicht benutzen können.
Ich stehe langsam auf und setze ich den Weg nach unten an. Beim zweiten Durchlauf kommt mir das Gebäude noch riesiger vor, als es ohnehin war. Als ich hoch zum dritten Stocks des Turms sehe, vergleiche ich die Höhe mit dem, wie es oben ausgesehen hat, und stolpere beinahe über meine eigenen Füße.
Turm, denke ich, Wie bei einem Schloss.
Die Fabrik ist zwar alles andere als das, aber ich drehe mich trotzdem im Kreis, als wäre das niedrigere Gebäude ein Ballsaal, wenn ein Ballsaal mit Graffiti von Schwänzen beschmiert wäre.
Ich zwänge mich durch das leicht offenstehende Eingangstor. Kaum habe ich es geschafft, den Rucksack nachzuziehen, höre ich das durch die Entfernung verzerrte Heulen von Sirenen. Panisch ducke ich mich hinter das Gestrüpp, das wild entlang der Mauern wuchert. Die Sirenen werden lauter, bis sie direkt neben dem Gelände vorbeifahren. Ich spähe hervor; es sind keine Polizeiautos, sondern Löschwägen der Feuerwehr. Mein Blick folgt ihnen zum Horizont, der von einer massiven Wolke Rauch vergraut ist. Darunter wütet noch immer der Waldbrand, den ich angezettelt habe. Die Sonne verschwindet gerade hinter den kargen, veraschten Resten von dem, was einmal ein üppiger Wald war. Trotz allem, was mir dort drin passiert ist, bricht mir der Anblick das Herz.
Ich krieche durch den Teil des Zaunes, den ich aufgeschmolzen habe. Irgendwie muss ich ein Geschäft finden, aus dem ich etwas zu Essen stehlen kann. Da ich die Stadt nicht kenne, habe ich nicht viel zu verlieren und gehe einfach blind darauf los.
Die wenigen Leute, die noch auf den Straßen sind, werfen mir seltsame Blicke hinterher. Eine Dame bleibt sogar stehen und zückt ihr Telefon, um ein Foto oder ein Video von mir zu machen. Erst versuche ich es zu ignorieren, doch dann bleibt eine weitere Frau, die gerade mit ihrem Hund Gassi geht, auf der anderen Straßenseite stehen und sieht zu mir herüber.
„Ist alles okay bei dir?“
Ich senke den Kopf, ziehe die Kapuze der Jacke weit in mein Gesicht und gehe schneller.
Kurz danach gehe ich an einer geschlossenen Drogerie vorbei, die gratis Klatschzeitungen in einem Zeitungsständer ausgelegt hat. Ich überfliege im Vorbeigehen die Titelblätter und mir bleibt dabei das Blut in den Adern stehen. Ich ziehe die Zeitschrift heraus.
Kennen Sie dieses Mädchen?
Ein Bild, von einer schlechten Kamera geschossen, ist unter der Überschrift am Titelblatt abgedruckt. Es zeigt mich, das Gesicht aufgeschnitten und mit Blut verschmiert, die kurzen Haare fettig, zerzaust und teilweise verklebt. Mein Blick ist, auch wenn er nicht in die Kamera gerichtet ist, komplett irre.
Ich sehe am Zeitungsstand vorbei in das dunkle Glas des Schaufensters, um mein Spiegelbild darin zu betrachten. Ich sehe dem Mädchen in dem Foto besorgniserregend ähnlich, nur ist das Blut mittlerweile getrocknet. Hastig zerre ich die Kapuze tiefer ins Gesicht und gehe weiter.
Im Gehen überfliege ich den Artikel. Anscheinend hat mich jemand dabei beobachtet, wie ich bei auf der Suche nach einem Schlafplatz durch die Stadt gestakst bin. Anfangs wollte die Polizei die Meldung als Scherz einstufen und ignorieren, bis mehrere Leute dasselbe gemeldet haben und einer davon sogar ein Video hergezeigt hat.
Meinen Spitznamen, „No-Name“, verwenden sie im Artikel nicht, dafür gehen sie deutlich darauf ein, wie seltsam es ist, dass ich gerade dann auftauche, nachdem der Wald zu brennen begonnen hat. Dann theoretisieren sie, ob ich der Verursacher oder ein Opfer des Brandes bin, oder ob ich ein Geist bin. Die letze Annahme bringt mich beinahe zum Lachen. Ich hoffe, sie machen nicht die Verbindung zum Jugendheim.
Als ich wieder von der Zeitung hochsehe, weiß ich nicht mehr, wo genau ich bin. Vor mir liegt eine Sackgasse, die in einem offenen Tor endet. Der Turm einer Kapelle, der über die Mauern ragt, lässt mich schon von außen wissen, dass dahinter ein Friedhof liegt. Anfangs will ich umkehren und weitergehen, entscheide mich dann aber trotzdem, einen Blick hineinzuwerfen.
Das Gelände ist überraschend groß. Hunderte Grabsteine stehen nebeneinander in schlichten Reihen. Der Boden ist mit Kieselsteinen übersäht, zwischen denen Unkraut wächst. Ich sehe nur zwei Leute, die still mit gefalteten Händen vor einem der Gräber stehen und die Köpfe gesenkt haben.
Kaum einige Meter nach dem Eingang liegt das, wonach ich gesucht habe: ein Wasserhahn, unter dem einige blecherne Gießkannen stehen. Ich gehe langsam daran vorbei und beobachte die anderen beiden Gäste, dann stelle ich mich vor irgendein Grab und falte die Hände, obwohl ich kein Gebet kenne und sicher nicht christlich bin. So warte ich, bis die beiden Trauernden den Friedhof verlassen. Dann haste ich zum Wasserhahn.
Erst wasche ich mir gründlich den Mund aus, dann das Gesicht. Das Wasser brennt angenehm an den verschorften Schnittwunden. Braunes, getrocknetes Blut fällt in Schuppen ab oder läuft mit dem Wasser von meiner Haut. Ich ignoriere das Schild, auf dem in großen Lettern „Nicht zum Konsum geeignet“ steht, trinke, fülle den Flachmann an und riskiere es dann, die Jacke auszuziehen und meine Arme zu waschen. Dann schöpfe ich mit den Händen Wasser auf meine Haare, nehme den Kamm, den mir Quinn angedreht hat, und kämme das Blut heraus. Leise danke ich en dafür.
Ich zause durch die Strähnen, um etwas von dem Wasser abzuschütteln, wische mir die Haare aus der Stirn und verlasse den Friedhof wieder, aber nicht ohne mich bei dem Toten zu entschuldigen, dessen Grab ich als Ausrede verwendet habe.
Ich ziehe wieder die Kapuze auf, dieses Mal, damit der Wind nicht unangenehm kalt über meine nassen Haare zieht. Mein Weg bleibt weiterhin ziellos, dafür stolpere ich nach wenigen Minuten über etwas, das aussieht wie ein Obdachlosenheim. Ich merke mir den Standort für später, konzentriere mich für den Moment jedoch darauf, einen Laden zu finden, aus dem ich etwas zu Essen stehlen kann, und gehe weiter.
Kurz darauf geht die Sonne vollständig unter. Die Dunkelheit fühlt sich gleichzeitig beruhigend und beunruhigend an; zwar muss ich mir keine Sorgen mehr machen, dass jemand die Narbe sehen könnte und mich erkennt, doch jedes Geräusch ist plötzlich jemand, der nur darauf wartet, mich unter der Deckung der Dunkelheit in eine Gasse zu zerren.
Schlussendlich sind es Lichter, die mich zu einer Einkaufsstraße führen. Einige wenige Läden sind noch geöffnet und beleuchten ihre Auslagen hell, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Einer davon ist eine Tankstelle mit flackernden Neonlampen und nur einem einzigen Arbeiter, der mit den Füßen auf der Theke liegend ein Magazin liest.
Ich gehe hinein. Der Kassierer sieht nicht einmal hoch. Ich gehe die Regale ab und stopfe Haltbares in den Rucksack: Müsliriegel, getrocknetes Obst, Studentenfutter, alles, was nicht gekocht werden muss und nicht schnell abläuft. Ich mache den Rucksack zu, schultere ihn und renne zur Tür. Als der Alarm zu kreischen beginnt, zuckt der Kassierer zusammen.
„Hey!“
Er hat gerade erst die Füße von der Theke genommen, als ich bereits draußen bin und in die Dunkelheit verschwinde. Der Alarm verfolgt mich nur wenige Meter, bis ich in eine Seitengasse abbiege. Obwohl ich hinter mir keine Schritte höre, laufe ich weiter. Würde sich der Kassierer überhaupt die Mühe machen, mir nachzurennen?
Ich halte erst inne, als mir der Atem ausgeht, dann gehe ich langsam zurück zum Fabriksgelände. Das neue Gewicht auf meinem Rücken ist beruhigend, eine Absicherung, dass ich die nächsten Tage nicht hungern muss, solange ich keine zweite Fressattacke bekomme.
Bis ich wieder bei der Fabrik bin, lässt sich der Mond gerade über den Dächern der Gebäude blicken. Ich schlüpfe durch den Zaun, durch das Tor und gehe durch den Saal in den Turm. Meinen Schlafplatz verlege ich aufgrund der Sauerei am dritten Stock auf den zweiten.
Ich wische einige Brocken und Glasscherben mit dem Fuß über den Rand des Balkons und sehe zu, wie sie fallen und im Erdgeschoss zerschmettern, dann lege ich den Rucksack auf den Boden, den Schlafsack daneben und setze mich darauf.
Mein Blick wandert aus dem Fenster, zum Mond, dann zurück in das Innere der Fabrik. Seufzend lege ich mich hin, versuche es mir bequem zu machen, und ziehe das Foto aus der Hosentasche.
Wir sind alle herausgeputzt, Papa in einem besten Hemd, sogar mein Bruder ist schön angezogen. Irgendjemand hat mir vor dem Fotografieren die Haare hinter die Ohren gestrichen, damit die Ohrringe, die ich damals getragen habe, zum Vorschein kommen. Mama trägt Schmuck, der zu ihnen passt; einen Ohrring, der mit einer Kette von der Ohrmuschel zum Ohrläppchen verbunden ist und von dort aus zu einem Ring an der Nase, am anderen Ohr eine größere Version meiner Ohrringe.
Ich betrachte den Hintergrund auf der Suche nach etwas, das mir Teile meiner Vergangenheit wieder vor Augen führen könnte, jetzt wo mein Zuhause nur noch in Asche und in Bildern existiert. Weiße Wände, ein Fenster mit zugezogenen Vorhängen, eine Topfpflanze in der Ecke. Nichts bringt Erinnerungen zurück. Ich senke seufzend die Stirn gegen das Bild und kneife die Augen zu, um Tränen zurückzuhalten.
Das nächste, was ich spüre, sind Rückenschmerzen. Ich bemerke sie kaum, als das metallische Ächzen des Eingangstores mich endgültig aus dem Schlaf reißt.
„Polizei!“, ruft eine tiefe, müde Stimme. Sie hallt von den Wänden des Ballsaales wieder, bis in den Turm hinauf. Ich falte vorsichtig das Foto, stecke es ein, stopfe den Schlafsack in die Halterung des Rucksacks und schultere ihn.
„Das ist Privatgelände! Haben Sie das Schild nicht gelesen?“, ruft eine andere Stimme.
Ich husche entlang des Balkons auf der Suche nach einem Versteck, finde jedoch nichts. Unten im Saal kommen zwei Paar Schritte immer näher, dann ächzen die Treppen. Ich mache es den beiden Polizisten nach und schleiche einen Stock höher. Ich wage einen Blick nach unten: zwei uniformierte Männer sehen sich um und unterhalten sich murmelnd.
„Sie können hier nicht drin bleiben!“, ruft einer von ihnen. Ich laufe zwischen den Maschinenleichen umher, bis ich mich selbst in die Ecke getrieben habe, dann hocke ich mich hin und ducke mich in den Schatten einer Maschine. Keine Sekunde später höre ich die schweren Stiefel der Beamten im dritten Stock.
„Ich sag dir, der hat es nie hier reingeschafft.“
Die tiefere Stimme schnaubt, „Ja, aber wenn einer sagt, dass hier ein Penner drin ist…“
„Ja, ja.“
Ich halte den Atem an. Die Schritte kommen näher, gehen hinter mir vorbei. Ich schleiche mich um die Ecke der Maschine und kann die Schatten der Polizisten sehen, die gerade jede Ecke nach mir absuchen.
„Wir wollen Sie nur eskortieren. Wenn Sie mit uns kooperieren, ist das für uns alle leichter.“
Ich husche zu einem hüfthohen Teil der Wände, der noch steht, und ducke mich dahinter. Die beiden Polizisten kommen mir immer näher. Ich schließe die Augen und warte darauf, erwischt zu werden.
„Da ist niemand.“
„Schau noch rauf.“
Sie gehen hinter meinem Versteck vorbei. Einer von ihnen geht nach oben, der andere nach unten. Ich atme auf und wische mir die schweißnassen Hände an der Hose ab.
„Nichts,“ ruft die höhere Stimme nach einer Weile, „Was hab ich dir gesagt?“
„Schon verstanden, du hast immer recht“, brummt die Tiefere sarkastisch. Ihre Schritte entfernen sich. Ich warte, bis das Eingangstor knarzt, bevor ich mein Versteck verlasse.
Ich bekomme also Besuche von der Polizei, wenn mich jemand dabei erwischt, wie ich die Fabrik betrete. Mit einem genervten Schnauben stehe ich auf und suche die Stockwerke nach einem Versteck ab. Meine Suche bleibt erfolglos. Erst als ich bereits aufgegeben habe, werde ich fündig: Eine Rigipsplatte in der Wand lässt sich zur Seite schieben. Dahinter wartet eine Schicht Dämmwolle auf mich, in die ich mit einigem Aufwand einen Hohlraum hineinarbeiten kann. Er ist gerade groß genug, damit ich hineinpasse. Das Material, das ich dabei herausgerissen und -geschnitten habe, verstecke ich zwischen dem Gerümpel.
Nach dem Schock mit der Polizei habe ich nicht wirklich Lust, die Fabrik heute noch zu verlassen. Nur herumzusitzen und Löcher in die Luft zu starren kommt mir aber auch nicht produktiv vor.
Durch eines der eingeschlagenen Fenster weht ein unangenehm riechender, kühler Windstoß. Die Scherben knirschen unter meinen Schuhen, als ich mich an die Fensterbank stelle und hinausschaue.
Die Fläche des Waldbrands hat sich nicht wirklich vergrößert oder verkleinert. Es beruhigt mich, dass er wenigstens unter Kontrolle zu sein scheint. Ein weiterer Windstoß bringt noch eine Welle des Geruchs von Rauch mit sich. Ich rümpfe die Nase und trete vom Fenster weg.
Ich schlucke schwer, strecke die Hand vor mir aus und starre einige Sekunden lang hohl auf meine Handfläche. Es ist paradox: ich will nicht, dass ich noch einmal unabsichtlich etwas anzünde, aber wenn ich das erreichen will, darf ich nicht vor dem Feuer weglaufen, sondern darauf zu. Was ich brauche ist nicht, mich davor zu verstecken, sondern Übung. Kontrolle.
Ich erlaube mir einen tiefen Atemzug lang zu zögern, dann schließe ich die Augen und denke daran, was ich getan habe, als ich im Wald war. Aber das hier ist anders. Im Wald war das Feuer schon da und ich habe es nur bewegt.
Stattdessen konzentriere ich mich darauf, wie ich den Zaun aufgeschmolzen habe. Zwar war ich etwas deliriös und habe nicht darüber nachgedacht— sonst hätte ich das nicht einmal versucht— doch ich habe es geschafft. Wie schwer kann es denn sein?
Ich versuche, das Bild von Flammen auf mein inneres Auge zu projizieren, doch dadurch passiert nichts.
Ich denke zu viel darüber nach.
Anstatt mich zu zwingen, mir das Feuer bildlich vorzustellen, verlasse ich mich auf das Gefühl. Unter meiner Haut windet sich etwas, das von mir aus dem Schlaf geholt wird. Es drückt von innen gegen mein Fleisch, versucht sich verzweifelt aufzurichten. So kriecht es in Kreisen unter meiner Handfläche, in meinen Fingerkuppen.
Mir läuft eine Gänsehaut auf. Ich weiß nicht, ob ich das Gefühl mag oder nicht.
„Komm schon,“ flüstere ich und spanne meine Hand leicht an. Als Antwort drückt sich das lebende Etwas fester gegen meine Haut. Erst dann verstehe ich: es will raus.
Ich spreize alle Finger. In meiner Hand entflammt eine Stichflamme, die beinahe meine Haare erwischt. Ich zucke schreiend und lachend zurück.
Wieder versuche ich es, dieses Mal in Maßen. So schaffe ich es, eine kleine, unschuldige Flamme auf meine Hand zu holen. Ein weiterer Luftstoß aus dem Fenster bläst mir in den Nacken und nimmt der Flamme das Leben.
Ich gehe wieder zurück zum Fenster und sehe zum Horizont, zum vom Wolken verhangenen Himmel, der von Rauch durchschnitten wird, untermalt von einer beißend roten Wand Feuer. Zögernd richte ich meine Hand darauf und taste danach. Es ist so massiv, dass ich es trotz der Entfernung spüren kann. Unwillkürlich schleicht sich ein Grinsen auf mein Gesicht.
Ich packe die Flammen und versuche, sie zurückzudrücken und zu löschen. Sobald ich auch nur den geringsten Kontakt mit ihnen mache, zerrt die Entfernung an mir. Das Feuer bäumt sich wie ein Monster auf, lacht mich aus und reißt mich von den Füßen.
Mir wird schwarz vor Augen. Ein ungnädiger Schwindel packt mich, meine Hände werden taub und meine Knie knicken ein. Ehe ich mich versehe knie ich in den Glasscherben vor dem Fenster und japse nach Luft.
Okay, verstanden. Schlechte Idee.
Ich bleibe sitzen, bis ich wieder einigermaßen sehen kann und der Schwindel schwach genug ist, damit ich aufstehen kann. Meine Jeans ist an den Knien aufgerissen und die Scherben haben meine Knie aufgeritzt. Langsam gehe ich zurück zu meinem Rucksack und hole die Erste-Hilfe-Tasche heraus. Ich desinfiziere die Schnitte, dann hole ich Nadel und Faden heraus und nähe missmutig die Risse an der Hose. Schön ist es nicht.
Wieder bringt ein kalter Windstoß den Geruch von Rauch mit sich. Die Haare in meinem Nacken stellen sich auf. Ich setze die Kapuze auf und krame nach etwas zu Essen. Nach meinem kleinen Schwächeanfall fühle ich mich vor allem hungrig und müde.
Abermals bläst mir kalte Luft entgegen. Kein Wunder, dass hier drin niemand schläft, wenn die Polizei bei jeder Gelegenheit gerufen wird und es hier so zieht.
Ein dunkles Grollen reißt mich aus den Gedanken. Ein weiteres Mal sehe ich aus dem Fenster; die Wolken sind nicht nur aufgrund des Rauchs grau. Eine Gewitterfront zieht auf.
Der Anblick verbittert mir das Essen. Ich ziehe den Reißverschluss der Jacke zu, wickle meine Vorräte in die Plane ein und hoffe entgegen jeder Logik, dass die Wolken einfach an mir vorbeiziehen, oder dass ein uraltes Gebäude immer noch wasserdicht ist.
Teil 4.5
Die Wolken ziehen sich vor der Sonne zusammen und blockieren jegliches Licht. Zu Mittag ist es bereits so dunkel, als würde die Nacht einbrechen. Die Winde werden stärker, wütender; sie packen die Wände und das Fundament des Gebäudes und zerren daran, bringen sie zum Knacken und Knirschen und Stöhnen, bis ich das Gefühl habe, dass mir jeden Moment die Decke auf den Kopf fällt. Ich kann spüren, wie mit jedem Windstoß das gesamte Gebäude erzittert.
Als der Regen zu fallen beginnt, liege ich eingekrümmt da, Schlafsack zum Kinn hochgezogen, und habe verängstigt die Augen zugekniffen.
Schwere, fette Tropfen klatschen gegen alles, was nicht schnell genug war, um sich zu verstecken. Er fällt durch die Löcher in der Decke und prasselt in Massen bis in das Erdgeschoss. Der einzige Grund, wieso ich nicht sofort durchnässt bin, ist weil ich unter dem Balkon des dritten Stocks liege.
Innerhalb von Sekunden ist der mit Glasscherben bedeckte Boden vor dem zerbrochenen Fenster komplett benässt. Es dauert nicht viel länger, bis das Wasser durch die Ritzen und Risse der Decke und der Wände dringt. Dunkle, dreckige Schlieren laufen hinter der Spalte hervor, wo der Balkon an die Wand geankert ist, die Wände hinunter und auf den Boden.
Als der Tag am Gehen ist, gibt es in der Fabrik keinen trockenen Fleck mehr.
Ich presse die Hände an die Ohren und ziehe die Knie enger an die Brust. Mit jedem Blitz und dem darauffolgenden Donnergrollen zucke ich zusammen. Die Nässe hat sich bereits im Schlafsack verteilt. Langsam zerrt sie an meiner Körperwärme. Ich erschaudere.
Meine Augen werden von einem Blitz Weiß erfüllt, gefolgt ohne Pause durch ein gewaltiges Krachen. Ich schreie auf und schlinge die Arme um meinen Kopf. Einige Sekunden liege ich bloß zitternd da und mache mich so klein wie möglich.
Eiskalter Wind zieht durch die Fenster, wieder läuft mir eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Der Regen ist mit der Zeit bloß stärker geworden. Erst als ich mich nach gefühlten Stunden wieder traue, die Augen zu öffnen, sehe ich, dass es zu hageln begonnen hat.
Ich kann hier nicht bleiben.
Ich strample, bis der Schlafsack von meinen Beinen rutscht, dann rolle ich ihn auf und befestige ihn mit einigem Aufwand wieder am Rucksack. Abermals zieht eine Windböe durch die Fabrik und streicht ungehindert über meine nasse Kleidung. Angetrieben durch die Kälte packe ich den Rucksack, werfe ihn um eine Schulter und laufe los.
An den Treppen rutsche ich aus, falle nach hinten und knalle mit dem Oberschenkel gegen eine Stufe. Ich beiße die Zähne zusammen, nehme den Schmerz in Kauf und laufe weiter, dieses Mal etwas langsamer auf den Treppen.
Als ich das Erdgeschoss erreiche und von der letzten Stufe steige, spritzt das Wasser bis zu meinen Knien hoch. Der Regen hat sich bis zu meinen Knöcheln angesammelt, läuft in meine Schuhe und durchweicht meine Socken. Ich stöhne auf und gehe mit großen Schritten zum Tor, das den Turm und den Ballsaal verbindet, über die kleine Schwelle dazwischen, die es dem Wasser ermöglicht hat, sich anzusammeln.
Ich haste durch den Saal, der mehr Löcher in der Decke hat als der Turm, dann aus dem Eingangstor, durch den Schlamm zum Zaun, durch die Öffnung und auf die Straßen.
Gestern bin ich über ein Obdachlosenheim gestolpert und habe mir selbst gesagt, mir den Standort zu merken, doch jetzt erinnere ich mich nicht mehr. Ohne eine andere Option laufe ich in die Richtung, die ich für richtig halte.
Die Hagelkörner und der Regen schlagen auf mich ein, treffen meinen Kopf, meinen Rücken. Das spritzende Wasser von den Pfützen, durch die ich laufe, hilft nicht gerade.
Wieder schlägt in der Nähe der Blitz ein. Ich schrecke zusammen und bedecke meinen Kopf mit den Armen, als würde mich das von dem Regen, dem Hagel oder von einem Blitzschlag schützen.
Die Straßen sehen durch den grauen, nassen Schleier des Gewitters komplett anders aus, und so verirre ich mich vier Mal, bevor ich den Weg zum Obdachlosenheim finde. Ich sprinte die letzten Meter und komme keuchend und mit brennender Lunge an.
Ich reiße die Tür auf und stolpere hinein. Bevor ich überhaupt von der Türmatte komme, sagt eine ruhige aber strenge Stimme, „Schuhe abwischen und Jacke abschütteln, bitte.“
Vor mir liegt ein senfgelb gestrichener Raum mit verdrecktem, nassen Boden. Rechts ist eine Tür, links davon ein Fenster, dahinter ein Schreibtisch, wiederum dahinter eine junge Frau. Sie trägt einen Hijab, ihre Augen sind braun und auf ein Kreuzworträtsel konzentriert.
Ich tue wie angefordert, dann gehe ich zur Rezeption.
„Äh… Entschuldigung?“, sage ich leise, dann sehe ich auf das Namensschild der Frau, „Maryam?“
Ohne hochzusehen oder zu antworten nimmt sie einige Papiere von einem Stapel auf ihrem Schreibtisch und legt sie mit einem Stift vor mich hin. Ich überfliege das Formular. Name, Geburtsdatum, überweisende Stelle, Fallmanager, überweisende Person, Datum, Telefonnummer oder andere Kontaktmöglichkeit…
Ich fülle aus, was ich kann und lasse den Rest— den Großteil— leer.
„Entschuldigung? Maryam?“, frage ich noch mal, „Was schreib ich bei Sozialversicherungsnummer hin?“
Maryam sieht nicht auf, hält aber einen Moment inne, zieht die Augenbrauen hoch und scheint sich einen Moment fassen zu müssen, bevor sie die scheinbar dumme Frage beantwortet. „Deine Sozialversicherungsnummer. Was denkst du?“
Mein Gesicht wird heiß. Ich senke die Stimme. „Ich hab keine.“
Zum ersten Mal sieht Maryam hoch. Sie wirft einen Blick auf mein Gesicht, meine Augen, dann meine Kleidung. Ihr genervter Gesichtsausdruck wird weicher.
Sie sieht auf das Papier herunter, zurück zu mir hoch, dann seufzt sie, nimmt die Formulare und steckt sie in einen Schredder unter ihrem Schreibtisch, der die Papiere laut brummend zerschnipselt.
„Ich kann dir so kein Bett geben, Süße.“
Ich beiße mir auf die Lippe und packe den Riemen des Rucksacks fester. Beschämt senke ich den Blick und nicke.
„Ich werd dich aber auch nicht rausschmeißen“, sagt sie und winkt mich hinein, „Mach keinen Ärger, ja? Bleib da, bis der Regen aufhört.“
Ich bringe für den Engel hinter dem Schreibtisch ein wackeliges Lächeln zustande. „Danke“, flüstere ich. Sie lächelt zurück.
Die Tür rechts führt auf einen Flur, genauso senfgelb gestrichen wie die Eingangshalle, dafür ist der Boden nicht annähernd so dreckig und nass. Rechts entlang des Flurs sind Zimmer, an denen links und rechts an den Wänden jeweils zwei Stockbetten stehen. Darauf schlafen Leute, ihr Gepäck und ihre Habseligkeiten über die Bettrahmen gehängt oder am Boden liegend. Anstatt entgegen Maryams Gutmütigkeit zu gehen und mich trotzdem in ein Bett zu legen, setze ich mich auf den Flur, den Rücken gegen einen lauwarmen Heizkörper gepresst. Ich schäle die nasse Jacke ab und hänge sie darauf, dann ziehe ich die Schuhe aus und stelle sie darunter. Eine Weile überlege ich, ob es eine gute Idee ist, dann ziehe ich die Socken auch noch aus, hänge sie an den Heizkörper und suche mir ein neues Paar aus dem Rucksack. Glücklicherweise hat die Plane dichtgehalten und meine Vorräte sind großteils trocken. Der Rucksack selbst ist jedoch durchweicht.
Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Meine nasse Kleidung raubt mir noch immer die Wärme, und obwohl ich endlich aus dem Regen und der Kälte bin, bleiben meine Zehen taub.
Vorsichtig öffne ich mein gutes Auge einen Spalt um nachzusehen, ob mir jemand zusieht, dann halte ich die Hände zusammen, als würde ich Wasser schöpfen, und lasse darin eine Flamme aufleben. Ich speise sie, lasse sie wachsen, bis ich ein kleines Lagerfeuer halte. Die Wärme, die davon ausgeht, durchdringt schnell die Nässe und Kälte. Solange ich aufpasse, wo ich meine Finger hinhalte, ist das Feuer eigentlich… friedlich.
Wir leisten uns Gesellschaft, bis meine Kleidung halbwegs trocken ist und mir wieder warm ist. Danach bin ich so erschöpft, dass ich das Kinn auf die Brust fallen lasse und einschlafe.
Teil 4.6
Am folgenden Morgen verlasse ich das Obdachlosenheim und finde eine kleine Gruppe von Leuten, die es sich in der Sonne bequem gemacht haben. Einige von ihnen rauchen, andere sind nur zum quatschen da.
„Komplettes Katastrophenwetter“, murrt einer von ihnen und tritt eines der Hagelkörner, das noch nicht die Gelegenheit hatte, zu schmelzen, vom Gehweg auf die Straße.
„Wenigstens brennt jetzt der Wald nicht mehr“, brummt ein weiterer um eine Zigarette herum.
„Hoffentlich sind die ganzen Monsterviecher verbrannt…“
„Diese Monsterviecher hast du vor fünf Jahren gesehen, nachdem du den ganzen Tag Farbverdünner geschnüffelt hast.“
„Hab ich nicht! Ich war schon clean!“
„Das bist du bis heute nicht.“
Ich kichere, gehe an ihnen vorbei. Die Sonne scheint so, als wäre nie etwas passiert. Zerstörte Windschutzscheiben von parkenden Autos, abgebrochene Äste von Bäumen und einige Ziegel, die von den Dächern geschlagen wurden und zerbrochen auf dem Gehweg liegen, erzählen jedoch eine andere Geschichte.
Mein Weg zurück zur Fabrik ist, verglichen mit dem, was gestern passiert ist, unglaublich schön. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne wärmt mein Gesicht, es geht nicht einmal Wind. Der Spaziergang gibt mir die Ruhe, um nachzudenken.
Ich weiß, dass ich nicht ewig hierbleiben kann. Irgendwo muss ich anfangen, mein Leben wieder aufzubauen.
Und Leidinger zu suchen.
Hoffnungslosigkeit setzt sich mit Eiseskälte in meinen Magen. Es scheint mir unmöglich, von der Straße zu kommen und dann noch jemanden zu finden, von dem ich gerade mal den Nachnamen und seinen Beruf weiß.
Von diesen beiden Tatsachen ist nur eine tatsächlich sicher. Die Unterhaltung mit Aaron hat keinen Sinn ergeben: Aaron wurde von Leidinger angeheuert. Leidinger arbeitet für ZEFHA, wird aber gleichzeitig von ihnen gejagt? Außer Leidinger arbeitet gar nicht für sie, sondern weiß von mir, weil er die Akte gestohlen hat, was auch erklären würde, wieso die ZEFHA hinter ihm her ist. Was auch immer das Ziel dieser Organisation ist, sie arbeiten im Geheimen und halten auch Kreaturen wie mich unter Verschluss— wieso sonst hätte ich noch nie von Dingen wie dem Nicht-Reh gehört? Von Menschen, die Feuer kontrollieren können, höre ich auch nicht oft. Es wäre also verständlich, wieso sie ihre Akte und denjenigen, der sie gestohlen hat, fangen wollen.
Mir wird bewusst, dass wahrscheinlich eine gewaltige Menge von weitaus seltsameren Dingen dort draußen ist, gefährlicher als ich, gefährlicher als ein Reh mit Reißzehnen. Ich erschaudere.
An der Fabrik angekommen schlüpfe ich unter den Zaun und durch das Tor, das von dem Hagel einige Dellen abbekommen hat. Im Ballsaal fallen stetig Tropfen von den Stützbalken und den Löchern in der Decke, und treffen mit verzerrtem Wiederhall den Boden oder die metallenen Teile der Maschinen. Das Gemälde des Gewehrs mit den weißen Blumen ist leicht verwaschen worden.
Hinter der Schwelle zum Turm reicht mir das Wasser noch immer bis zum Knöchel. Ich ziehe meine Schuhe aus, hänge sie mir an den Schuhsenkeln um den Hals, stecke meine Socken ein und kremple meine Hose hoch, bevor ich durch das Wasser zur Treppe wate. Kurz bevor ich heraufsteige, sehe ich, dass unter der ersten Stufe ein Riss in der Wand ist, der von Kieselsteinen, Gerümpel und Blättern verstopft wird. Mit einigem Aufwand und nassen Händen schaffe ich es, das Leck zu lösen. Das Wasser fließt langsam aus der Fabrik und in den Garten.
Vorsichtig erklimme ich die immer noch nassen Stufen. Mein Oberschenkel schmerzt von dem Sturz gestern immer noch.
Weiter als in den ersten Stock will ich nicht gehen. Je weiter oben ich bin, desto nasser sind die Stockwerke, also ziehe ich mich um, hänge ich meine Kleidung zum trocknen auf und setze ich mich an eines der Fenster, um mein Frühstück zu essen. Dabei wäge ich meine Möglichkeiten ab: Ich kann Leidinger nicht suchen, wenn ich mir jeden Tag Gedanken darüber machen muss, was ich esse, trinke, wo ich pinkeln gehen kann und wo ich schlafe. Also muss ich irgendwo ein stabiles Leben anfangen.
Die Stadt, in der ich bin, ist mir zu nahe am Jugendheim dran. Wenn sich die Gerüchte verbreiten und jemand den Geist mit dem zerschnittenen Gesicht mit der lebenden Jane Doe verbindet, werden sofort alle Strafverfolger hinter mir her sein. Ich muss weg, weit weg, und neu anfangen, irgendwo, wo niemand die Geschichte von dem vernarbten Mädchen mit Amnesie kennt. Dann irgendwie zurück in die Register kommen, mit einer komplett neuen Identität. Mir wird bewusst, dass ich mir einen neuen Namen aussuchen muss, weil ich meinen eigenen nicht kenne.
Eine Weile denke ich darüber nach, doch meine Gedanken bleiben immer wieder bei dem Namen Ishan stecken. Erst als ich ihn zum hundertsten Mal wiederholt habe und über meine Zunge rollen lasse, erkenne ich ihn als den Namen meines Bruders wieder.
Ich ziehe das Foto wieder heraus. Er lächelt mich breit an.
„Ishan“, flüstere ich, und schwöre mir selbst, seinen Namen nicht einmal zu vergessen, wenn ich tot bin.
Teil 4.7
Es vergehen zwei ruhige Tage, nur gestört dadurch, dass ich endlich mal wieder duschen will. Ich vermeide es, tagsüber das Fabriksgelände zu verlassen, spähe aber nachts die Ränder der Stadt aus. In eine Richtung verlaufen nur Zugschienen, eine weitere ist von dem Wald begrenzt, der durch den Sturm mittlerweile nicht mehr brennt. Die letzte hat nur eine Landstraße, die scheinbar ins Nichts führt, umrundet von Feldern. Es beunruhigt mich, denn es lässt mir nur zwei Möglichkeiten.
Entweder ich riskiere einen Anhalter, der mich erkennen könnte oder ein allein reisendes Mädchen ausnutzen will. Selbst wenn diese beiden Umstände mich nicht zurückhalten würden, könnte mich jedoch niemand zwingen, noch einmal in ein Auto zu steigen. Das Kreischen der Flammen und das Gefühl eines Stücks Schrapnell, das in meinem Schädel steckt, sind noch frisch in meiner Erinnerung.
Oder ich gehe zu Fuß. Das bedeutet, dass ich Proviant brauche, lang genug um den Weg zu gehen, eine neue Siedlung zu finden, mich irgendwo einzunisten und eine neue Vorratsquelle zu finden.
Die zwei Tage habe ich mich nicht noch einmal getraut, etwas zu stehlen, und habe sie mit dem verbracht, was ich im Rucksack hatte. Am dritten Tag bekomme ich wieder Besuch von der Polizei. Ich verwende mein Versteck, das zwar sehr gut, aber auch sehr kratzig ist, und warte, bis die Beamten wieder verschwinden.
Zu Abend zieht wieder Wind auf. Anstatt die ganze Nacht lang zu frieren und zu zittern, schleiche ich mich hinaus und mache mich wieder auf den Weg zum Obdachlosenheim.
Ich winke Maryam beim Vorbeigehen zu. Sie schenkt mir ein Lächeln.
Bevor ich mich wieder auf den Flur setze und so einschlafe, werfe ich einen verstohlenen Blick in die Zimmer. Wenn genug Betten frei sind, wird es sicher niemanden stören, wenn ich mich hinlege, zumindest für eine kurze Weile.
Es sind zu viele Leute da, um mir das zu erlauben. Jedes einzelne Bett ist belegt, nur im letzten Zimmer liegt niemand, und das nur, weil ein Arbeiter das Bettzeug auswechselt.
Die letzte Tür am Flur führt jedoch nicht zu einem Zimmer, sondern auf einen weiteren Flur. Angrenzend sind Türen, bestückt mit Schildern, die scheinbar zu den Toiletten und Duschen führen.
Ich gehe in die Frauenduschen und werde von warmer, leicht muffiger und vernebelter Luft begrüßt. Nur ein einziger Duschvorhang ist zugezogen, hinter dem Wasser läuft. An der gegenüberliegenden Wand stehen Garderoben. An einem der Haken hängt ein Mantel, darunter steht eine Sporttasche.
Ich stelle meinen Rucksack einige Plätze daneben ab, hänge meine Jacke auf, ziehe mich aus und lege meine Kleidung daneben. Aus dem Rucksack hole ich die Hygieneartikel, die ich mitgenommen habe, dann nehme ich die Duschkabine in der Ecke. Überraschenderweise gibt es warmes Wasser.
Ich lege den Kopf in den Nacken und lasse das Wasser durch meine Haare fließen. Einige Sekunden lang warte ich bloß, bis die Wärme durch mein Fleisch gesickert ist und endlich meine Knochen erreicht, dann sehe ich an mir herunter und mache Bestandsaufnahme von meinen Wunden.
Jegliche Blasen, die sich durch das ständige Gehen gebildet hätten, sind längst von dicker Haut abgelöst worden. Mein Oberschenkel ist von der Hüfte bis zum Knie dunkelblau und schmerzt, wenn ich meine Haut anfasse. Meine Knie sind immer noch zerschunden, doch die Wunden sind verschorft. Meine rechte Hand ist immer noch unbenutzbar, doch solange ich sie nicht bewege, schmerzt sie nicht. Ich ziehe mit der Zunge die leichten Narben in meinem Mund nach, wo die Glasscherbe in meine Wangen geschnitten hat. Vorsichtig betaste ich mein Gesicht; die Schnittwunden sind nicht mehr tastbar, also nehme ich an, dass sie zumindest verheilt sind.
Es ist etwas umständlich, mir mit nur einer Hand die Haare zu waschen. Dann wasche ich gründlich die Wunden aus, dann mein Gesicht und meinen Hals, falls ich etwas von dem getrockneten Blut übersehen habe.
Als ich aus der Dusche trete, fühle ich mich wie ein neuer Mensch. Ich trockne mich ab, ziehe mich an, und habe gerade mein Shirt in der Hand, als jemand die Duschen betritt.
Das Wasser in der Kabine neben mir geht aus.
Ein junger Mann mit dünnen, schulterlangen rotbraunen Haaren, vielleicht zwanzig Jahre alt, sieht auf mich herunter. Einen Moment später erkenne ich ihn als den Arbeiter, der die Betten überzogen hat. Er zieht hinter sich die Tür zu.
Hastig ziehe ich mein Shirt über. Mein Gesicht brennt.
„Was macht eine so junge Dame wie du alleine in einer Unterkunft, hm?“
Ich schlucke schwer, trete einen Schritt zurück. Gedanklich taste ich nach dem Messer in meiner rechten Hosentasche und bereue, es nicht in die linke gesteckt zu haben.
Als ich keine Antwort gebe, geht der Arbeiter auf mich zu. „Minderjährige dürfen hier gar nicht rein. Jetzt muss ich dich leider rauswerfen…“
Weiterhin starre ich ihm still in die Augen. Ich erwarte Angst, Panik, vielleicht Verwirrung zu spüren, doch seltsamerweise fühle ich mich ruhig und konzentriert wie selten. Die einzige Regung in mir ist ein dimmes Glühen von Wut, das immer heißer wird, je näher er kommt.
Anscheinend unzufrieden damit, dass ich ihm keine Antwort gebe, lehnt er sich näher an mich heran und grinst ein Haifischgrinsen. „Außer, wir können einen kleinen Deal machen. Du darfst bleiben, und ich…“
Er legt seine Hand auf meinen Arsch.
Ich remple ihn mit meinem vollen Körpergewicht an, er stolpert, ich haste zur Tür. Gerade als ich die Finger um die Klinke schließe, wickelt er seinen Arm um meinen Körper und pinnt meine Ellbogen an meine Seiten.
„Nicht so schnell.“
Ich strample, trete um mich. Der Arbeiter kommentiert es nur mit einem Lachen. Ich hole tief Luft und schreie.
„Halt die Klappe“, faucht er und presst seine Hand gegen meinen Mund. „Niemand muss von uns beiden wissen. Bleib einfach leise.“
Der Bund meiner Hose wird locker, als er den Knopf löst. Ich strample stärker, finde endlich den Boden unter meinen Füßen, beuge mich nach vorne um auszuholen und knalle meinen Hinterkopf gegen seine Nase. Er keucht auf, seine Hand an meinem Mund lockert sich. Ich reiße meinen Kopf zur Seite, nach oben, und jage meine Zähne in seinen Arm, bis sie sich in der Mitte treffen.
Der Arbeiter schreit auf und versucht mich abzuschütteln, doch ich verbeiße mich fester und reiße an einem Fleisch. Warmes Blut spritzt in meinen Mund, läuft meine Kehle hinunter und füllt meine Zunge und meine Nase mit dem Geruch und Geschmack von Eisen. Ich greife mit der Linken in meine Tasche, packe mein Jagdmesser, fahre die Klinge aus und ramme es rückwärts in den Oberschenkel des Arbeiters.
Er schreit abermals auf und lässt endgültig von mir ab. Ich renne los, aus der Tür, den Flur entlang vorbei an Maryam und auf die Straßen. Meine Schritte tragen mich in eine der dunklen Seitengassen. Erst dort komme ich zum stehen, spucke das Stück Fleisch aus und wische mir energisch über den Mund. Würgend greife ich in meinen Mund und ziehe ein Haar zwischen meinen Zähnen heraus, dann spucke ich ein weiteres Mal auf den Boden, um den Geschmack loszuwerden.
Ich stemme die Hände auf die Knie und atme tief durch. Die blutige Klinge wische ich an meinem Shirt ab, das zwar verbleicht, aber immer noch rot ist. Wenigstens fallen die Flecken nicht so einfach auf. Ich kneife die Augen zusammen und erlaube es mir, für einen Moment aus komplettem Ekel zu erzittern und seltsame Geräusche zu machen. Erst dann kann ich mich dazu bewegen, meinen Weg zurück zur Fabrik fortzuführen.
Ein Windstoß schickt Gänsehaut meinen Rücken hinunter. Ich reibe mir über die Arme und bemerke erst dann, dass ich meine Jacke und den Rucksack mit wortwörtlich allem, was ich besitze, im Obdachlosenheim gelassen habe.
Ich bleibe stehen und sehe unentschieden zurück. Kann ich jetzt überhaupt noch zurück? Haben sie bereits die Polizei gerufen? Verschwende ich wertvolle Zeit, indem ich hier herumstehe und nicht weglaufe?
Ich schüttle den Kopf und gehe weiter, wickle meine Arme um mich und versuche nicht zu zittern. Irgendwie muss ich die Nacht mit leeren Händen überstehen. Morgen kann ich das Nötigste stehlen und dann…
Meine Zähne knirschen, als sich mein Kiefer unwillkürlich verkrampft. So sehr ich es will, ich kann mich jetzt nicht der Hoffnungslosigkeit hingeben. Dann ist meine einzige Option, mich auf die Straße zu legen und zu warten, bis ich sterbe. So verführend dieser Gedanke auch ist— es gibt jemanden, der sterben muss, bevor ich es tue.
Teil 4.8
Ich schlafe die Nacht über keine Minute.
Der leichteste Windstoß reicht aus, um mich zum Zittern zu bringen. Das Gebäude behält keine der Wärme, die sich über den Tag hinweg aufgebaut hat, und als es zu nieseln beginnt, wird mir wieder schmerzhaft bewusst, wie undicht die Fabrik ist. Der raue, kalte Beton zieht an meiner Körperwärme und egal wie ich mich hinlege, es ist nie bequem.
Schlussendlich sitze ich die ganze Nacht mit einem Feuerchen in den Händen da, um nicht zu frieren. Wenn schon nichts anderes, ist es zumindest Ausdauertraining. Schlafen kann ich so jedoch nicht.
Ich kann durch die eingeschlagenen Fenster dem Mond zusehen, wie er langsam über den Horizont kriecht. Währenddessen verfliegt immer mehr die Idee, dass ich jemals lang genug mit leeren Händen durchkommen könnte, um von vorne anzufangen. Stattdessen wird mir immer mehr bewusst, dass ich zurück zur Unterkunft laufen und riskieren muss, verhaftet zu werden.
Rein und raus. Bevor irgendjemand bemerkt, dass ich da bin.
Danach kann ich Vorräte stehlen, zur Landstraße laufen und bin aus der Stadt, bevor die Polizei von mir weiß.
Als die Sonne aufgeht und den Himmel hinter den riesigen, kirchenähnlichen Fenstern des Ballsaales in ein gleißendes Rot taucht, schleiche ich mich wieder raus. Zwar beleuchtet die junge Sonne meinen Weg bereits, doch sie gibt keine Wärme ab.
Glücklicherweise wartet keine Polizei vor dem Heim, doch ich bin viel zu früh dran und es hat noch nicht offen. So warte ich in einer Seitengasse, gehe auf und ab, damit mein Blut fließt und mir nicht so schnell kalt wird, bis Maryam die Tür aufschließt und die Lichter drinnen angehen.
Ich kann mich noch lange genug zum warten zwingen, bis die erste Welle von Leuten schlaftrunken aus der Unterkunft kommt. Gerade als ich aufstehe, um hineinzuschleichen, sehe ich einen rotbraunen Haarschopf, der sich durch die Menge kämpft.
Langsam schleiche ich mich an und spähe durch die Fenster. Der Arbeiter von gestern ist auf Krücken gelehnt, sein Bein und sein Arm sind verbunden, seine Nase ist angeschwollen.
Ich öffne leise die Tür und schleiche mich an ihm vorbei.
„Du solltest gar nicht hier sein“, sagt Maryam genervt
„Ich will den Namen wissen, Maryam“, spuckt der Arbeiter, „Sie muss doch ein Formular ausgefüllt haben, oder? Wegen ihrem Alter hat sie bestimmt auch gelogen, damit sie hier reinkann. Dann haben wir sie wegen schwerer Körperverletzung und wegen Dokumentfälschung.“
„Sie hat kein Dokument ausgefüllt.“
„Und du hast sie trotzdem reingelassen?!“
„Es hat geregnet. Und sie ist ein Kind.“
„Das ist ein wildes Vieh. Du hast gesehen, wie mein Arm aussieht!“
Schadenfroh grinse ich und schlüpfe durch den Türrahmen. Ihren Streit kann ich immer noch hören, bis ich die Frauenduschen betrete. Wunder müssen echt sein, denn meine Jacke hängt immer noch am Haken, mein Rucksack steht darunter und der Rest ist immer noch unberührt daneben verstreut. Ich ziehe mir die Jacke über, zerre mir die Kapuze ins Gesicht, drücke mir die Ärmel and die Wangen und fühle mich sofort sicherer.
Ich packe alles zusammen. Das Gewicht meiner Tasche ist vertraut und beruhigend. Zwar ist es schade, dass ich mich gerade erst eingelebt habe und sofort weitermuss, doch ich kann nicht riskieren, dass die Polizei mich einholt. Was der Rotschopf nicht weiß ist, dass ich nicht nur für schwerer Körperverletzung eingebuchtet werde, sondern auch für Brandstiftung und Mord.
Ich husche durch den Flur und will genau so, als würde ich etwas stehlen, einfach schnell aus dem Gebäude rennen und nicht stehenbleiben, bis ich entkommen bin.
„Du!“
Eine Krücke knallt gegen die Tür und schneidet mir den Weg ab.
„Das ist sie doch! Die mit der Narbe in der Fresse.“
Ich beiße mir auf die Zunge, hebe den Kopf und starre ihm trotzig in die Augen. „Lass mich durch.“
„Du räudiger Hund hast mir den Arm abgebissen“, faucht er und schlägt mit der Krücke nach mir. Ich weiche einen Schritt zurück. Er wackelt auf einem Bein und fällt beinahe um, was ziemlich komisch aussieht.
„Reiß dich zusammen“, sagt Maryam und geht zwischen uns. „Ich will immer noch ihre Seite von der Geschichte hören.“
„Was?“, fragt der Rotschopf ungläubig, „Das kann nicht dein Ernst sein.“
Maryam ignoriert ihn und wendet sich zu mir. „Wie heißt du?“
In einem Moment der Panik fällt mir kein Name ein, also stottere ich, „Ishan.“
„Also Ishan, was ist passiert?“
Ich starre zum Rotschopf hoch und verziehe ungewollt das Gesicht. „Er war in den Frauenduschen, hat mich begrapscht und mich festgehalten. Dann-“
„Die lügt doch! Verdammt, Maryam, wie naiv bist du?“
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. „Die Kleine sagt die Wahrheit. Ich hab’s gesehen.“
Ich zucke zusammen und sehe hoch. Eine Dame mit leicht verstrubbelten, kurzen grauen Haaren, brauner Haut, Falten um den Augen und einem Blick, der einen Berg in die Knie gezwungen hätte, steht mir zu Seite.
„Ich war gerade in einer Kabine und hab alles gesehen“, wiederholt sie, „Der Perverse hat sie begrapscht und hat versucht, sie zu vergewaltigen.“
Der Rotschopf macht ein empörtes Geräusch. „Das ist doch…“
„Wenn das nicht passiert ist, warum warst du dann überhaupt in den Frauenduschen?“, fragt die Dame, „Dein Blut verpestet immer noch den Boden. Keine Sau hat sich darum gekümmert, das sauber zu machen.“
Maryam sieht von der Dame zum Rotschopf, dann geht sie in Richtung der Duschen. Der Rotschopf folgt ihr, so schnell es auf Krücken eben geht, und spuckt dabei Proteste.
„Vielleicht wird er jetzt endlich rausgeworfen“, sagt die alte Dame und legt eine Hand auf meinen Rücken, „Komm schon. Bleib bei mir, bis das alles vorbei ist.“
Sie schenkt mir ein sanftes Lächeln. Ihre braunen Augen funkeln gutmütig. Ich grinse zurück. Wir setzen uns auf eines der Stockbetten, auf dem scheinbar die Besitztümer der Frau gelagert sind.
„Also“, sagt sie, „Wie heißt du wirklich?“
Ich blinzle sie überrascht an.
„Man stottert nicht, wenn man seinen Namen sagt, Kurze.“ Sie hält ihre Hand aus. „Ernestine“, stellt sie sich vor, „Aber nenn mich Erna.“
Ich schüttle ihre Hand. „Nona“, sage ich.
„Und was machst du alleine hier draußen?“
Ich schlucke. „Das… ist eine lange Geschichte.“
Bevor sie die Chance bekommt, nachzufragen, hallen schwere, wütende Schritte den Flur entlang, gefolgt von schlurfendem Humpeln. Begleitet wird das alles von Maryams wütender Stimme, die in einer Sprache spricht, die ich nicht verstehe; trotzdem kann ich durch ihre Tonlage erraten, dass es wahrscheinlich Flüche und Beleidigungen sind.
Maryam und der Rotschopf rauschen draußen am Flur vorbei. Erna und ich werfen uns einen amüsierten Blick zu und lachen hinter vorgehaltener Hand.
„Kein Wort mehr! Raus! Du bist gefeuert, und verdammt noch mal, erwarte eine Anzeige.“
Wir hören das scharfe Einatmen eines versuchten Widerspruchs, doch Maryam schreit dazwischen, „Geh. Sofort!“
Erna und ich kichern Schadenfroh, zu dem extent, dass wir uns die Münder zuhalten müssen.
„Oh, Karma ist manchmal so eine wundervolle Bitch“, säuselt Erna.
Kaum haben wir uns gefangen, steht Maryam mit zwei Schüsseln in den Händen im Türrahmen und räuspert sich.
„Ich… nehme an, ihr habt es gehört?“
„Oh ja, und es war glorreich“, sage ich grinsend. Erna kichert.
Maryam lächelt verlegen. „Ich weiß, es macht nichts wieder gut, aber…“ Sie hält die Schüsseln aus, „Ich hab die von der Suppenküche gebracht.“
Wir nehmen die beiden Schüsseln Eintopf.
„Danke“, sage ich. Erna lächelt dankbar. Maryam nickt und geht wieder zu ihrem Posten.
Ich wende mich an Erna, „Danke, dass du mich verteidigt hast.“
„Hör mal, wenn ich nicht gerade nackt gewesen wäre, wäre ich dort rausgesprungen und hätte den Bastard selbst erdrosselt. Aber du scheinst das ganze ja ziemlich gut unter Kontrolle gehabt zu haben.“
Ich stelle die Schüssel Eintopf in meinen Schoß und tue mein Bestes, mit der Linken zu essen. Müsliriegel, Studentenfutter, getrocknetes Fleisch und Ähnliches waren noch einigermaßen machbar, doch das Besteck scheint sich einfach nicht führen lassen wollen.
„Hatte schon einige Kämpfe hinter mir“, sage ich ausweichend.
„Ist deshalb deine Hand kaputt?“
Ich nicke mit einem Mund voll Essen.
Erna scheint sich einen Moment lang auf ihren Eintopf konzentrieren, dann seufzt sie und sieht mich mit leicht hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ich fühl mich echt unwohl dabei, dass du komplett alleine auf der Straße bist.“
„Rate mal, wie ich mich dabei fühle.“
Sie lacht auf. „Sehr lustig.“
„Ich komm klar“, winke ich ab, „Du hast gesehen, wie ich den Perversen zugerichtet hab.“
„Das meine ich nicht“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Kennst du das Sprichwort, Es gibt immer einen größeren Fisch?“
Ich schüttle den Kopf.
„Egal, was für ein abgebrühter Krimineller du bist, egal wie gut du kämpfen kannst, wie viel Gebiet du hast oder wie viele Geschäfte oder wie viel Geld: Es wird immer jemanden geben, der dich mit einem Biss verschlingen kann.“ Sie hält ihre Hand aus, als würde sie eine Schattenmarionette machen. „Und genau das ist dort draußen. Große Fische. Riesenfische. Haifische.“ Sie schnappt ihre Hand zu.
„Haifische“, wiederhole ich ungläubig.
Sie sieht mir meine Zweifel an und seufzt tief. „Wir leben hier drin von Gerüchten. Wo haben sie schon wieder Stacheln hingelegt, damit wir dort nicht schlafen oder sitzen können? Wo gehen oft Polizisten herum? Welche Gebäude sind gut fürs übernachten?“ Sie winkt mit ihrem Löffel herum und bringt sich selbst zurück zum Punkt. „Ich kenne die Geschichten. Hab sie viel zu oft gehört. Irgendjemand verschuldet sich bei einem Fisch und verliert seine Hand. Jemand hört etwas, das er nicht hätte hören sollen, und taucht in Einzelteilen wieder auf. Leute assoziieren sich mit dem Falschen und… verschwinden einfach.“
Erna deutet anklagend mit ihrem Löffel auf mich. „Und deshalb musst du von der Straße runter. Ich war schon Prostituierte, hab Steuerhinterziehung und Drogensucht und mehrere Faustkämpfe hinter mir. Ich weiß, dass ich hier draußen überleben kann, aber du nicht.“
Ich senke den Blick und starre in meine Schüssel. „Wenn’s so einfach wäre.“
„Geh zurück zu deiner Familie, Schätzchen. Egal wie schuldig du dich fürs Weglaufen fühlst, alles ist besser als das.“
Ich stocke, ziehe die Augenbrauen hoch. „Erna, ich bin nicht weggelaufen. Ich hab keine Familie mehr.“
Ihre Augen weiten sich, dann übernimmt Mitleid ihren Gesichtsausdruck. „Das… tut mir Leid.“
Ich zucke mit den Schultern. Mein Appetit ist von dem Satz von meiner Zunge gewaschen worden.
„Kannst du nirgendwo hingehen?“
Ich schüttle den Kopf. „Es gibt niemanden mehr, der mich bei sich haben möchte.“
Erna seufzt tief. „Komm heute wieder hier zurück. Halt dich an mich. Ich sieh zu, dass du ein Bett bekommst.“
Ich lächle sie an. „Danke, Erna.“
Sie winkt ab. „Maryam und ich kennen uns seit Ewigkeiten. Ist keine große Sache.“
„Es ist eine große Sache für mich. Mein Rücken fühlt sich schon an, als wäre ich siebzig.“
Erna lacht. Ich grinse.
Teil 4.9
In dieser Nacht schlafe ich zum ersten Mal seit mehreren Wochen in einem Bett.
Maryam stellt anstatt des Rotschopfes einen höflichen, aber schweigsamen jungen Mann ein. Mittlerweile erkennt sie mich und traut sich zu, mir ein Bett zu geben, was wahrscheinlich auch mit Ernas Zutun zu begründen ist.
Erna selbst hat es sich zur Verantwortung gemacht, auf mich aufzupassen, oder mich zumindest am Leben zu halten. Jeden Abend stellt sie sicher, dass ich etwas zu Essen habe, dass ich getrunken habe und dass ich regelmäßig meine Haare kämme, was ich gerne vergesse.
Wir verschweigen, wo das Essen herkommt. Theoretisch könnte ich betteln, doch das Risiko, dass mich jemand erkennt und die Polizei alarmiert, oder dass ich einfach verhaftet werde, weil ich „herumlungere“, ist mir zu groß. Auch Erna hat mir davon abgeraten.
So vergehen die Tage. Ich werde ich mutiger, fast schon kühn, bis ich es satt habe, dass meine Schuhe mit jedem Schritt auseinanderfallen, in ein Schuhgeschäft gehe, mir ein brandneues Paar anziehe und damit einfach aus dem Geschäft spaziere.
Erna zeige ich an dem Abend stolz meinen „Fund“. Sie kommentiert es mit einem beinahe stolzen Grinsen.
„Gut gefunden, Kurze“, sagt sie und verstrubbelt meine Haare.
„Danke, Mama“, sage ich und krame im Rucksack nach etwas zu Essen. Eine Pause vergeht zwischen uns.
„…was?“
„Danke, Erna“, sage ich hastig und senke den Kopf, damit die Röte nicht so auffällig ist. Erna lacht, sagt aber dazu nichts weiter.
Fünf Wochen vergehen, in denen das Wetter weniger unvorhersehbar und weitaus wärmer wird, bis ich meine Jacke den ganzen Tag im Rucksack habe.
An meinem Plan, endlich aus der Stadt zu verschwinden und weiterzuziehen, habe ich noch nicht gearbeitet, und langsam wird es Zeit dafür. Trotz aller Ausreden, die ich für mich selbst und Erna ausgedacht habe, gibt es wirklich keinen rationalen Grund, wieso ich noch immer hier bin. Was mich festhält sind bloß zwei Gefühle: Komfort und Angst.
Ich kenne mich in dieser Stadt aus. Ich habe einen Schlafplatz, ein Versteck, sogar zwei Leute, die ich mich beinahe traue, Freunde zu nennen. Weiterzuziehen würde bedeuten, alles zurückzulassen und mich ins Ungewisse zu stürzen. Nur Ernas Bestehen darauf, dass ich nicht hierbleiben kann, dass die Stadt zu gefährlich ist, hat mich schlussendlich dazu motiviert, dem Plan doch noch zu folgen.
Vielleicht bin ich einfach noch nicht lang genug hier, oder ich bin nicht genug draußen, doch von dieser Gefahr bemerke ich nur Gerüchte. Erst als ich im Bett liegend Pläne mache, am nächsten Tag neue Kleidung zu stehlen, realisiere ich, dass ich ein Teil dieser Gefahr bin. Auch wenn es nur geringfügiger Diebstahl ist; es ist immer noch ein Verbrechen.
Trotz dieser Enthüllung mache ich mich am nächsten Tag auf den Weg zu dem Kleidungsgeschäft, das ich am Tag davor ausgesucht habe. Es ist eine riesige Boutique, die Preise sind lachhaft hoch, doch sie scheinen schönen Umsatz zu machen, also werden sie eine ordentliche Hose und einige Shirts nicht vermissen.
Als ich die edlen Granitstufen zur Glastür hochspringe, fällt mir ein Poster auf, das gestern noch nicht dort war.
Nach einer Reihe von Diebstählen im Umfeld hat die unten abgebildete Person Ladenverbot.
Darunter ist ein unscharfes Bild einer Sicherheitskamera aus dem Schuhgeschäft, die mein Gesicht unter der Kapuze erwischt hat. Wiederum darunter ein weiterer Schriftzug:
Sollte diese Person das Geschäft erneut betreten, werden wir ohne Zögern die Behörden kontaktieren.
Ich halte mit der Hand bereits an der Türklinke inne. Ich lese den Text ein zweites Mal, als müsste ich sichergehen, dass ich ihn mir nicht nur vorgestellt habe.
Im Laden bleibt einer der Arbeiter stehen, sieht mich, erkennt mich. Seine Augenbrauen schießen zu seinem Haaransatz hoch. Ich sehe ihn genauso überrascht an, winke ihm zu, drehe mich am Absatz um und laufe weg.
Ich verstecke mich zur Sicherheit den Rest des Tages in der Fabrik. Sollte der Angestellte die Polizei gerufen haben, will ich nicht auf der Straße oder im Heim erwischt werden. Ich verbringe die Zeit damit, meinen Rucksack aufzuräumen, mir zum ersten Mal die Woche die Haare zu kämmen und zu üben, Flammen ins Leben zu rufen und wieder ausgehen zu lassen. Über die letzten Wochen habe ich, wann auch immer ich sonst nichts anderes zu tun hatte, geübt.
Ich lasse das Feuer zur Stichflamme werden und versuche, es so lange zu halten wie möglich. Das Gefühl unter meiner Haut ist immer noch seltsam, aber mittlerweile vertraut.
Die Flamme verpufft nach einigen Sekunden zu Rauch. Neugierig richte ich meine Hand und meinen Fokus auf einen kleinen Haufen Dämmwolle, die ich für mein Versteck aus der Wand gerissen habe. Nach einigen Sekunden beginnt sie zu schwelen, dann erwacht darin eine kleine Flamme zum Leben.
Aufgeregt richte ich mich auf und versuche, sie wachsen zu lassen. Die Entfernung ist zwar spürbar, doch auf die wenigen Meter nicht unmachbar. Es ist weitaus leichter, das Feuer aufrecht zu erhalten, da es außer der Energie, die ich ihm gebe, ja auch die Dämmwolle zum Fressen hat.
Innerhalb weniger Momente ist die Wolle nur noch ein kleiner Haufen Asche. Ich grinse und beginne, in der Fabrik nach brennbaren Sachen zu suchen.
Bis ich die Fabrik wieder verlasse, ist es draußen dunkel und es stinkt schrecklich nach Rauch und geschmolzenem Plastik. Der Weg bis zum Obdachlosenheim ist mir mittlerweile vertraut.
Kaum finde ich Erna in einem der Zimmer, wirft sie mir ein verpacktes Sandwich zu. „Die Schweinchen haben heute nach dir gesucht. Was hast du angerichtet?“
„Einen großen Scheiß habe ich angerichtet!“, sage ich entnervt und werfe mich neben ihr aufs Bett. „Ich wollte nur eine Jeans, die nicht aus Flicken besteht“, sage ich und hebe demonstrativ ein Bein hoch, „Und jetzt kennt jedes Schuhgeschäft und alle Kleidergeschäfte mein Gesicht!“
Erna klopft mir auf den Rücken und lächelt mich nachsichtig an. „Dafür sind deine Schuhe sehr cool!“
Ich verziehe das Gesicht. Erna kichert und streicht mir über den Kopf, drückt meine Haare in mein Gesicht und lässt erst dann ab, als ich zu Lachen beginne.
„Daran musst du dich gewöhnen. Ich hab Hosen, die älter sind als du.“
„Das kommt davon, wenn man hundert Jahre alt ist.“
Sie tut so, als wäre sie empört und schubst mich leicht. Ich kichere.
„Ich hab dir gezeigt, wie du dein Zeug in den Duschen wäscht.“
„Ja, meine Sachen sind ja auch sauber… halbwegs. Aber sie sind kaputt.“
Eines meiner Shirts war so zerrissen und hat schon begonnen, sich aufzulösen, also habe ich es zerrissen und benutzt, um Löcher in meinen Jeans zu stopfen. Eine meiner Jeans war zu lang, also bin ich ständig auf den Bund getreten, der sich abgewetzt und aufgetrennt hat. Nun reicht die Hose gerade noch zu meinen Knöcheln. Die dritte Hose ist die, mit der ich in die Glasscherben gefallen bin. Alle von ihnen haben irgendwo Flicken.
„Manche Leute zahlen teuer Geld für zerrissene Jeans“, sagt Erna.
„Was? Wieso?“
„Ist anscheinend in der Mode.“
„Sieh mich an, ich bin Model“, sage ich stumpf. Erna kichert.
„Du kannst bald von hier weg“, sagt sie beruhigend. „Hast du schon was zu Essen für die Reise?“
Ich werde leise und schiebe verlegen meine Füße am Boden hin und her.
„Nona?“
„Ich hatte Panik, okay?“, sage ich defensiv, „Mich hat ein Arbeiter in dieser Boutique gesehen und ich hab gewusst, dass er die Polizei ruft, also hab ich mich versteckt und mich nicht mehr getraut, rauszugehen.“
Erna versucht, nicht zu lachen, und versagt miserabel.
„Das ist nicht lustig!“
„Ein bisschen“, sagt sie.
Ich seufze.
„Hey, ist okay.“ Sie wirft die Verpackung ihres Essens weg und stupst mir mit den Ellbogen in die Seite. „Jetzt komm, leg dich hin. Morgen holst du dir was zu Futtern und dann verschwindest du aus diesem Kaff, bevor noch irgendwas passieren kann.“
Ich seufze und lehne meinen Kopf an ihre Schulter. Sie legt einen Arm um mich und zieht mich in eine Umarmung. In mir schreit etwas Verletztes auf.
„Ich werd dich vermissen“, flüstere ich und vergrabe mein Gesicht im Stoff ihrer Jacke.
„Ich dich auch, Kurze.“
Ich schnüffle. „Bist du wieder bei den Rauchern gesessen?“
Erna lacht laut auf. „Das bist du! Du miefst so, als wärst du verbrannt.“
Ich grinse. „Ups.“
Nicht lange danach gehen die Lichter aus und wir legen uns hin. Eine ganze Weile lang verwehrt mir die Aufregung den Schlaf. Ich höre den anderen Leuten im Zimmer beim Atmen und teilweise beim Schnarchen zu, bis ich wieder in der Dunkelheit sitze.
Vor mir schwebt ein Funke.
„Oh. Du schon wieder.“
Ich behalte meine Hände im Schoß und sehe ihm eine Weile beim Flackern zu.
„Sag mal, musst du dich eigentlich immer so aufführen, wenn ich hinfasse?“, frage ich.
Der Funke antwortet nicht.
Ich halte meine Hand darunter, berühre ihn jedoch nicht. Dann konzentriere ich mich und lasse ihn etwas wachsen, bis eine Kerzenflamme in meiner Handfläche sitzt und mich verschmitzt anfunkelt.
„Du hast nur darauf gewartet, dass ich das kann, oder? Nerviger kleiner Bastard“, sage ich, doch es liegt keine wirkliche Schärfe hinter den Worten.
„Jetzt husch und lass mich schlafen. Ich brauch morgen einen kühlen Kopf“, sage ich, schließe die Hand und ersticke die Flamme unter meinen Fingern.
Teil 4.10
Nach einer Reihe von Diebstählen hat die unten abgebildete Person Hausverbot. Sollten Sie das Geschäft noch einmal betreten, werden wir ohne Zögern die Polizei kontaktieren.
Ungläubig starre ich auf das Poster, das fast genauso aussieht wie das, was an der Tür der Boutique gehangen ist. Anscheinend hat mich die Tankstelle auch erwischt, auch wenn das Bild weitaus verschwommener ist. Meine Narbe ist trotzdem schrecklich erkennbar.
Ich stöhne genervt auf, packe das Poster, reiße es herunter und werfe es auf den Boden. Die Tankstelle war immer ein gutes Ziel, weil sie klein ist, billige Kameras hat und die Kassierer nicht genug bezahlt werden, um mich zu verdächtigen, wenn ich mit meiner übergroßen, geflickten Hose, einem Shirt, das aussieht als hätte ich es zwei Monate in der Sonne liegen gelassen und verstrubbelten Haaren die Regale ausgeräumt habe. Würde ich heute nicht aus der Stadt verschwinden, würde ich es nicht einmal riskieren, aber jetzt muss ich von einem wirklichen Lebensmittelgeschäft klauen.
Insgesamt kenne ich drei. Nach Ernas Rat meide ich die beiden größeren, dessen Arbeiter es lieben, verdächtigen „Kunden“ in den Nacken zu atmen. Als ich den kleinsten betrete, werde ich trotzdem verdächtig angeschaut.
Ich gehe durch die Reihen der Regale und stopfe schamlos Essen in den Rucksack. Meine Kapuze ist aufgesetzt, damit mein Gesicht nicht von den Kameras erwischt wird, doch ehrlich gesagt kann es mir egal sein. Ich bin spätestens heute Abend aus der Stadt.
„Entschuldigung?“
Die Stimme ist gezwungen höflich. Wer auch immer dahinter steckt, denkt dass ich Abschaum bin und will mir das passiv-aggressiv, aber direkt vermitteln. Ich sehe nur einen Fleck der roten Uniform des Angestellten und renne sofort, bevor er mich davon abhalten kann.
Die Alarmanlage springt an, heult laut, doch ich bin bereits auf der Straße. Zwar ist mein Rucksack nun schwerer, doch ich konnte weitaus weniger mitnehmen, als ich wollte.
Ich laufe durch die Straßen zum Obdachlosenheim. Zwar werde ich heute Abend losgehen und habe nicht vor, darin zu schlafen, doch ich will mich von Erna und Maryam verabschieden.
Als ich das Heim betrete, wartet nicht Maryam auf mich, sondern der neue Angestellte. Ich habe mit ihm kaum zehn Wörter gewechselt, also wundert es mich, als er den Kopf hebt und, „Komm mal her“, sagt.
Verwirrt komme ich näher. Er legt zwei Zettel vor mich hin. Ich nehme sie und verziehe das Gesicht; es sind Kopien der Poster von der Tankstelle und der Boutique.
„Ich kann dich nicht mehr reinlassen“, sagt der junge Mann leise.
Ich schlucke und lege die Zettel wieder hin, dann gehe ich zum Türrahmen und rufe nach Erna.
„Sie ist nicht da“, sagt der junge Mann leise.
Ich beiße mir auf die Zunge und trete von einem Fuß auf den anderen.
„Ich kann dich nicht mehr reinlassen“, sagt er noch mal.
„Ich weiß, ich bleib ja draußen.“
„Nein, ich…“ Er sieht nervös zur Seite und kratzt sich am Hinterkopf. „Eigentlich… eigentlich sollte ich die Polizei rufen?“
„Kannst du Erna etwas ausrichten?“
Er blinzelt. „Äh…“
„Vergiss es. Gib mir einen Zettel“, sage ich, und nach einem Moment der Stille, „Bitte.“
Er reicht mir Zettel und Stift.
Erna,
Mir geht es gut. Ich bin endlich weitergelaufen. Es tut mir Leid, dass ich dich nicht mehr sehen konnte. Frag an der Rezeption nach mir und du weißt, wieso. Danke, dass du mich am Leben gehalten hast. Ich hoffe deinem Rücken geht es gut.
– Nona
Ich falte den Zettel und schreibe zur Sicherheit noch einmal groß ERNA auf die Rückseite, dann gebe ich ihn dem Arbeiter.
„Gib das bitte Erna.“
Er nickt. Sein Blick zuckt zum Telefon. Ich seufze tief.
„Du musst nicht die Polizei rufen. Niemand wird dich einsperren, wenn du so tust, als hättest du mich nicht erkannt.“
Er scheint sich etwas zu entspannen, doch ich riskiere lieber nicht, dass er sich es anders überlegt und mache mich direkt auf den Weg zurück zur Fabrik. Auf dem Weg gehe ich an der Straße vorbei, an der das Lebensmittelgeschäft liegt. Ein Polizeiwagen steht vor der Tür.
„Arschlöcher“, murmle ich und haste weiter.
Leise fluchend krieche ich durch den Schlitz im Zaun, quetsche mich durch das Eingangstor und stolpere in den Ballsaal hinein. Dort angekommen bin ich viel zu aufgekratzt, um mich noch hinzulegen und auszuruhen, also gehe ich auf und ab.
Jede Faser in mir will einfach loslaufen, noch bei Tageslicht auf dem Weg sein und wahrscheinlich Nachts in der nächsten Stadt ankommen, doch ohne die Deckung der Dunkelheit rauszugehen ist ein Risiko, das ich nicht eingehen will. Wenn mich jemand auf der Landstraße erkennt, gibt es nirgendwo, wo ich mich verstecken könnte.
Eine Weile lang trete ich eine Kuhle in den Boden, bis die Nervosität einigermaßen geschwunden ist. Ich atme durch, bringe mich zur Ruhe, setze mich an die Fensterbank und übe zur Ablenkung etwas mit dem Feuer, während ich der Sonne beim Untergehen zusehe.
Gerade als das Licht vollständig verschwunden ist und ich mich langsam sicher genug fühle, um loszugehen, fährt vor dem Fabriksgelände ein Auto ein. Ich seufze genervt und stehe auf; gerade das hat mir noch gefehlt! Ein Besuch von den Schweinchen mit den blauen Lichtern.
Ein weiterer Wagen fährt an. Beide halten vor dem Tor der Fabrik.
Ich schleiche mich zum Tor und spähe hinaus. Die Türen der Wägen öffnen sich und eine kleine Gruppe Menschen steigt aus. Sie bewegen sich auf seltsam koordinierte Weise auf das Tor zu. Ich zähle vier Leute, die vor dem Tor stehenbleiben. Sie sind nur schwer zu erkennen, doch eines ist deutlich: die Umrisse von Gewehren, die sie mit sich tragen.
Einer von ihnen an der Spitze der Truppe holt einen Bolzenschneider heraus und macht sich an den Schlössern am Gatter zu schaffen. In dem Moment mache ich kehrt und renne durch den Ballsaal.
Ich springe über die Schwelle zum Turm und haste zu den Treppen. Das Eingangstor geht tief dröhnend auf, doch anscheinend haben sie meine nachhallenden Schritte am quietschenden Gestell trotzdem gehört, denn sie richten ihre Taschenlampen auf den Fuß des Turmes aus. Ich kann gerade noch rechtzeitig auf den Balkon stolpern.
Ihre Schritte hallen durch den Ballsaal durch den Turm. Sie kommen immer näher.
Ich zerre die Platte an der Wand zur Seite, halte aber inne, bevor ich hineinklettere. Es ist nicht Neugierde, die mich dazu bringt, vom Balkon hinunterzusehen, sondern Verwirrung.
Was zur Hölle ist hier los?
Die Gruppe geht in Formation, jeder füllt den blinden Winkel eines anderen aus. In den kurzen Blitzen ihrer Taschenlampen sehe ich ihre Uniformen: Helme, Westen, Handschuhe. Es passt nicht zu der Uniform eines Beamten, der einen Obdachlosen vertreiben soll. Kurz darauf folgen ihre Stimmen, kurze Anweisungen, gebellt in verzerrten Stimmen.
„Weitergehen. Tor am Ende.“
„Gesichert.“
„Unter den Treppen.“
„Gesichert.“
„Geländer.“
Ich erkenne erst zu spät, was er sagt. Mich erwischt der Schein einer Taschenlampe nur kurz am Bein, doch es reicht.
„Oben!“
Ich stolpere zurück, bevor der Rest der Lampen mich erwischen kann. Während im Erdgeschoss das Chaos von vier Paar schweren Stiefeln ausbricht, die ein rostiges Geländer hochsteigen, zwänge ich mich in den Hohlraum und schiebe die Platte wieder vor.
„Erster Stock?“
„Gesichert.“
Ich wische mir die Handflächen an der Hose ab, presse eine Hand gegen den Mund, lege den Kopf in den Nacken und drücke mich weiter in die kratzige Dämmwolle hinein.
„Moby?“
Ein Moment herrscht Stille.
„Weiter.“
Metallenes Pochen ertönt. Ich zucke zusammen, als mich der Schein der Lampen durch den Spalt trifft, den die Platte zwischen sich und der Wand bildet. Zögerlich sehe ich hinaus, beobachte sie, wie sie jeden dunklen Winkel ausleuchten.
Einer von ihnen lässt seine Taschenlampe über mein Versteck schweifen. Kurz gibt er mir Hoffnung, dass er mich nicht gesehen hat, dann richtet er den Lichtkegel direkt auf mich.
Einen Moment lang starren wir uns in die Augen. Er hebt sein Gewehr.
Peng, sagt Aaron in meinem Kopf.
„Da!“
Ich reiße die Platte zur Seite, hechte heraus und die Treppen hoch. Die Lichter kriechen mir hinterher, direkt hinter ihnen jagen mir die Soldaten nach.
„Stopp! Hände hoch, auf den Boden!“
Panik will mich dazu zwingen, in den vierten Stock weiterzulaufen, doch dann wäre ich in die Ecke gedrängt. Mir bleibt nur noch eine andere Option: das Fenster.
„Letzte Warnung! Hände hoch, auf den Boden!“
Ich stelle mir Gewehre vor, die alle auf meinen Rücken gerichtet sind, kneife die Augen zu, beiße die Zähne zusammen und werfe mich ohne zu bremsen gegen den Fensterrahmen. Das morsche Holz und das, was von den Scheiben noch übrig ist, knackt und bricht unter meinem Gewicht. Ich spüre kaum, wo und ob es mich getroffen hat.
Ich falle eine unangenehm lange Zeit, bis ich auf dem niedrigeren Dach aufschlage und durch Scherben rolle. Meine Beine schlittern über den Rand des Daches. Ich wage einen Blick nach unten, kreische und strample, zerschneide meine Hände an den Glasscherben. Meine gebrochene Rechte will nachgeben.
Ich komme hastig auf die Füße, laufe in die Richtung, die nicht vom Gebäude oder den Schornsteinen begrenzt wird. Wiederum etwa eineinhalb Meter tiefer wartet ein weiteres Dach, auf das ich mich ohne zu zögern fallen lasse. Entgegen meiner Hoffnungen ist aber hier kein Fenster, durch das ich wieder hineinkommen könnte. Ich sehe über den Rand und schätze etwa fünf Meter.
Die Soldaten springen aus dem Fenster, Gewehre im Anschlag. Das Licht ihrer Lampen holt mich ein, streicht über die staubigen Dachziegel, tastet sich vor, krabbelt, sucht nach mir wie ein Spürhund. Es umfasst mich wie ein Scheinwerfer. Wie ein Reh vor dem anfahrenden Auto zuckt mein Blick zum Ursprung des Lichts, ich werde geblendet, hebe den Arm zum Schutz.
„Waffen runter!“
Der Schrei ist schmerzhaft laut. Mein erster Impuls ist, mir die Ohren zuzuhalten. Niemand senkt die Waffe.
„Ich sage runter! Fuck, das ist noch ein Kind!“
Die Lichter senken sich. Vorsichtig sehe ich zu der Gruppe hoch.
Es sind definitiv keine Polizisten und im ersten Moment sehen sie auch nicht wie Menschen aus. Bewaffnete, gesichtslose Soldaten warten in Formation auf dem oberen Dach, Kampfgewehre widerwillig nach unten gerichtet.
„Fuck, Dispatch hat nichts von einem Kind gesagt! Was soll das?!“
Soweit ich es beurteilen kann, spricht der Soldat an der Spitze. Er lässt das Gewehr los, sodass es am Gurt an seiner Schulter baumelt, klappt den Sichtschutz seines Helms hoch und zieht das Mundstück weg. Zwar bedeckt noch ein Mundschutz aus Stoff die untere Hälfte seines Gesichts, doch jetzt kann ich seine Augen sehen, die mich fixieren. Das Licht der Taschenlampe zeichnet seine Gesichtsmerkmale viel tiefer, als sie sein sollten, sodass sie nur zwei dunkle, eingesunkene Schatten sind. Er hockt sich an den Rand des Daches.
„Hey, Kleine.“
Zum ersten Mal klingt eine der Stimmen menschlich. Er streckt langsam die Hand aus, als könnte er mich von dort, wo er steht, vom Rand wegziehen.
„Moby, was soll das?“, schnauzt ihn der Soldat zu seiner rechten an und rückt sein Gewehr unruhig hin und her. Moby ignoriert ihn.
„Geh da weg, okay? Ganz ruhig“, sagt er vorsichtig, stützt sich ab und lässt sich vom höheren Dach auf das niedrigere fallen. Seine Augen reflektieren hier mehr Licht. Es macht ihn nicht minder bedrohlich. Meine Fersen rutschen über den Abgrund.
„Bist du wahnsinnig?!“, kreischt eine der verzerrten Stimmen. Wieder presse ich die Hände auf die Ohren.
„Sei leise, verdammt!“, faucht Moby.
Mein Rucksack fühlt sich doppelt so schwer an, jetzt, wo er über dem Abgrund hängt. Mit nur noch den Zehen am Dach ist es wirklich ein schrecklicher Moment, um schwindelig zu werden.
„Ist okay. Wir tun dir nichts.“
Moby geht zwei weitere Schritte auf mich zu, macht aber halt, weil ich mich weiter von ihm weg und somit über den Abgrund lehne.
Er zieht den Mundschutz hinunter, wobei eine mindestens zweimal gebrochene Nase und ein dunkler Stoppelbart zum Vorschein kommen.
„Geh von der Kante weg.“
Sein nächster Schritt ist es, der ihn nah genug bringt, um mich die Angst vor dem Fallen kurz vergessen zu lassen.
Ich werfe den Rucksack vom Dach und springe.
Der Fall dauert weitaus länger, als ich erwartet habe. Ich komme mit einem gewaltigen Knall am Boden auf. Schmerz schießt mein linkes Bein hoch, das den Großteil der Wucht abgefangen hat, dann folgt der Rest meines Körpers. In dem Moment wünsche ich mir, ich hätte mich einfach erschießen lassen.
Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Bis der Schmerz wenigstens aus meinen Fingerspitzen schwindet, liege ich da wie eine Leiche. Dann zwinge ich mich, den Kopf zu heben. Dann, auf die Knie zu gehen. Meine Lungen brennen. Ich schnappe verzweifelt nach Luft.
Sobald ich mein linkes Bein belaste, knickt es nutzlos ein und schickt eine neue Welle Schmerz in meine Hüfte und mein Knie. Ich schreie auf, fange mich ab, zwinge mich wieder hoch. Die folgenden paar Schritte sind nicht mehr als ein erbärmliches Hinken. Bis ich am Zaun angekommen bin und mich daran festklammere, um nicht einfach zusammenzufallen, blitzen in den Fenstern des Ballsaales bereits Lichter auf. Ich taste nach dem Riss, biege ihn auf und krieche durch. Keinen Moment später ächzt das Eingangstor der Fabrik. Ich zwinge mich zum laufen und verschwinde in dem Labyrinth von Straßen.
Es dauert nicht lange, bis ich mich selbst nicht mehr tragen kann und ich an einer Hauswand zusammenbreche. Mein Knöchel pulsiert schmerzhaft, der Schock sitzt immer noch in meinen Knochen. Abgestützt kann ich humpeln, doch es ist langsam, viel zu langsam; alles, was ich habe, ist Vorsprung, und das nur, wenn die Soldaten nicht gesehen haben, wo ich hingelaufen bin.
Mit jedem Schritt wird das Laufen erträglicher, oder ich werde taub gegenüber dem Schmerz, oder mich rettet das Adrenalin. Ich werde langsam schneller, muss mich nicht mehr so viel abstützen.
Anfangs bemerke ich nicht einmal, welchen Weg ich nehme, bis ich realisiere, dass meine Beine mich automatisch in Richtung des Obdachlosenheims geführt haben. Ein paar Gassen weiter liegt die Hauptstraße; es gibt hunderte Möglichkeiten, von dort aus zu fliehen. Wenn ich es bis dorthin schaffe und dann wieder in die Nebenstraßen verschwinde, ist es für Fußsoldaten unmöglich, mich zu finden.
Der Gedanke gibt mir Kraft. Weiters motivieren mich die schweren Schritte, die ich hinter mir die Gassen durchkämmen höre.
Gebäude ziehen nahtlos an mir vorbei. Vage bekomme ich mit, dass die Schritte immer leiser werden, aber es könnte genauso gut sein, dass das Blut, das in meinen Ohren rauscht, sie einfach übertönt.
Irgendwann wird aus meinem Atmen nur noch ein panisches Keuchen. Ich biege um die Ecke, klammere mich an eine Fensterbank fest und sehe zwischen zwei Gebäuden die hell beleuchtete Hauptstraße. Tränen der Erleichterung laufen über mein Gesicht. Ich zerre mich weiter, bis ich am anderen Ende der Gasse wieder herauskomme.
Scheinwerferlichter schlagen auf mich herab. Zwischen ihnen starren mir Gewehrläufe wie dunkle Augen entgegen, mehr als die, vor denen ich weggelaufen bin. Die gesamte Straße ist verstellt, Einsatzwägen und Sperren schneiden mir den Weg ab. Eine der verzerrten Stimmen schreit etwas, doch ich höre es nur gedämpft.
Die Welt besteht aus Licht und Lärm. Ich stolpere zwei Schritte zurück, drücke die Hände auf die Ohren. Mein Bein knickt ein für alle mal ein, ich kann nicht laufen, mich nicht wehren, noch nicht einmal das Geschrei ausblenden. Mir wird speiübel. Jemand setzt einen Schuss in den Boden vor mir. Der Knall ist einfach zu viel, zu laut, es kreischt in meinem Kopf.
Als ich die Augen öffne, flimmert die Luft.
Mein Blick streift über den Asphalt zu den Einsatzwägen. Einer der Soldaten kommt mit erhobenem Gewehr auf mich zu.
Feuer.
Unter meiner Haut windet sich etwas Massives, kriecht von meinen Händen in meine Arme und hoch bis in meine Schultern. Ich hebe zitternd die Arme, ziehe eine Flamme aus dem Asphalt neben einem der Wägen. Als ich die Hände neben meinen Kopf gehoben habe, zwängen sich einige der Flammen in den Tankdeckel hinein.
Der Einsatzwagen ruckt zur Seite, als die Gase des Benzins Feuer fangen, den Tankdeckel aus dem Sockel reißen und in einer Stichflamme nach draußen schießen. Die Soldaten lassen sich nur für einen Moment ablenken, dann ertönt das Rattern von Metall, als sich mehrere Gewehre gleichzeitig auf mich richten.
Ich reiße die Arme vor mein Gesicht, als würde es mich vor den Geschossen schützen, vor dem Knall und der Schwärze danach. Stattdessen bricht das Etwas unter meiner Haut hervor, eine massive Flammenwand reißt sich aus dem Boden um mich herum, rauschend, schreiend, hungrig. Die Hitze ist beinahe unerträglich.
Es schlägt aus, verbreitet sich in einem Kreis am Boden entlang nach außen, krallt sich an die an die Einsatzwägen und die Soldaten. Ich kneife die Augen zu, meine Augenlider leuchten orange. Ihr verzerrtes Geschrei geht im Rauschen der Flammenwolke und dem penetranten Geruch von schmelzendem Plastik unter.
Zögerlich öffne ich die Augen einen Spalt und zwinkere gegen die blendende Helligkeit an. Rauch erhebt sich in einer dunklen Wolke über uns. Das Feuer verbiegt Blech und entzündet Benzin, und erst als das erste Leck entsteht, komme ich wieder zu Sinnen und laufe.
Die Flammen weichen zwar zurück, doch nicht genug, um zu verhindern, dass meine Kleidung angesengt wird und Wunden in meine Haut brennt. Ruß drängt sich in meine Kehle und trocknet sie in einem Atemzug aus, ein Hustenanfall raubt mir die Luft, die ich zum weglaufen gebraucht hätte. Ich setze meinen ersten Schritt außerhalb des Flammenkreises in dem Moment, in dem die erste Explosion die Luft zerreißt.
Die Druckwelle schlägt mit einer Wucht gegen meinen Rücken, die mich von den Füßen reißt und mich zu Boden schleudert. Als ich aufschlage, bekomme ich gerade noch mit, wie meine Hände über den Asphalt reiben, dann schlägt mein Kopf auf und alles verschwindet.
Vor meinen Augen erstreckt sich bloß endlose Schwärze. Eine dumpfe Stille hat die Hände über meine Ohren gelegt. Der Geschmack von Eisen klebt auf meiner Zunge.
Fleckige Schemen tauchen vor meinen Augen auf. Ich spüre meinen Körper kaum, rolle mich schwerfällig auf die Seite, hieve mich auf den Ellbogen.
Ein heftiges, gewalttätiges Zittern hat mich gepackt. Ich presse meine Hand gegen den Boden und komme so auf alle viere.
Alles ist verschwommen. Unter mir leuchtet der blutnasse Asphalt, gelbes Flackern in dunkelroten Schemen auf schwarzem Grund und zwei abgeschürfte Arme, die sich von selbst bewegen. Einige Fetzen Haut hängen vom Asphaltausschlag, Blut sickert zwischen ihnen heraus und läuft in dickflüssigen Fäden hinunter.
Zu Gehen ist nun endgültig unmöglich, also krieche ich, schaffe bloß zwei mickrige Schritte, bevor die zweite Explosion hochgeht und ihre Druckwelle mich erwischt.
Als mein Kopf zum zweiten Mal auf den Asphalt donnert, legt sich etwas Schweres, Zähes auf mein Bewusstsein, das wie heißer Teer in meine Augenhöhlen und meine Ohren läuft und sie versiegelt.
Die letzten Trümmer fallen. Ich bin zwar noch bei Bewusstsein, weiß aber nicht, worauf ich warte. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr, mein Blick schärft sich nicht mehr. Vor meinen Augen bilden sich formlose, tanzende Gestalten, rot und grau, gelb und schwarz. Ich sehe ihnen reglos zu.
Unter den Tinnitus und die Taubheit mischen sich das Knistern von Flammen, das Rauschen von Wind, das Rattern von Rädern auf Asphalt und das Brummen von Motoren. Die Geräusche sind gedämpft, leise, schüchtern.
Die zähflüssige Schwärze gewinnt an Gewicht. Sie greift zu mir herunter, streicht mir über den Kopf, verschleiert meine Augen, legt mir die Hände über die Ohren und den Finger an die Lippen. Sie zieht mich von der Welt weg und legt mich mit einem Kuss auf die Stirn sanft in die Bewusstlosigkeit.
Absolut übertreffend, meiner Meinung nach. Ja… hier bin ich vor rund einem Jahr stehengeblieben. Umso mehr bin ich gespannt, wie es weitergeht. Ich geh mal davon aus, dass es einen 5. Teil gibt, oder ? 🙂
Danke! 😀 Ja, es gibt einen 5. Teil. Ich hab erst seit Kurzem wieder Zeit, zu schreiben, also könnte es noch etwas dauern ^^