Der Tränensammler
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Von dem Augenblick an, als ich die Wohnung des seltsamen alten Mannes betrat, bereute ich bereits, ihm jemals meine Hilfe angeboten zu haben. Während der Alte in seinem langen, zerschlissenen Mantel und dem brauen Lederzylinder durch die dunkle Wohnung schlurfte, trat ich zögerlich tiefer in die Dunkelheit vor mir. Der Alte schien sich bestens zurechtzufinden, denn er ging ohne Zögern zielsicher durch die stockdunkle Wohnung, die nur vom Einfallenden Licht des Flures spärlich beleuchtet wurde. Man hörte ein Ratschen, dann ein Zischen und schon brannte ein Streichholz in seinen grauen Fingern. Langsam, Kerze für Kerze, erhellte er die Wohnung. „Stell die Taschen einfach auf der Kommode ab.“, rief er mir zu, während er mir noch den Rücken zuwandte und ein weiteres Streichholz entzündete.
Ich stellte die Einkaufstüten ab, nachdem ich im langsam heller werdenden Schein der Kerzen die Kommode ausmachen konnte. „Bitte nimm doch Platz“, murmelte der Alte nun, als er mir nun entgegenhinkte. Er deutete dabei auf einen massiven Holztisch in der Raummitte, an dem zwei altmodische, aber sehr gemütlich aussehende Stühle standen.
Eigentlich wollte ich keine Minute länger hier verbringen, da mir diese Wohnung nicht behagte. Doch wie schon zuvor, als ich den Alten gesehen hatte, wie er, auf einem Bein humpelnd, offenbar schwere Einkäufe heimschleppte, so konnte ich auch diesmal nicht anders, als ihm zu helfen. Offenbar sehnte er sich nach etwas Gesellschaft. Ich beschloss kurz zu bleiben und nahm auf einem der Stühle Platz. Der Mann, dessen Kleider offenbar von einem erfolgreichen Raubzug auf einen Altkleidercontainer stammten, hinkte nun zu den Taschen und begann sie auszuräumen. Während er kleine Glasphiolen aus der Tasche nahm und sie vor sich auf die Kommode stellte, betrachtete ich die Wohnung. Ein simples Apartment mit wenigen Zimmern. Wir saßen im Esszimmer des Hauses, das neben dem Tisch und der Kommode auch über eine kleine Küchenzeile verfügte. Im angrenzenden Raum, in dem ebenfalls etliche Kerzen brannten, konnte ich ein altmodisches Sofa ausmachen. Ein Badezimmer lag rechts von der Kommode und ich konnte grob die Schemen eines Bettgestells ausmachen, im letzten noch verbleibenden Raum.
Vor jeder der Kerzen, die meist auf kleinen Halterungen an der Wand standen, waren farbige Glasplättchen angebracht, sodass sie ein leicht gedämpftes, farbiges Licht durch den Raum warfen. Im Wohnzimmer schienen die Kerzen besonders hell in zarten Blautönen. Der Mann legte ein paar grüne Äpfel auf den Tisch und schlurfte dann umher, um die restlichen Einkäufe wegzuräumen. Nur die Glasphiolen ließ er stehen. Als er endlich mir gegenüber Platz nahm, hatte er sich ein kleines Brotmesser und einen Teller geschnappt. Er begann, seelenruhig, so als sei er sich meiner Anwesenheit längst nicht mehr gewiss, einen der Äpfel in kleine Stücke zu schneiden. „Man trifft so selten junge Leute, die noch hilfsbereit sind.“, sagte er plötzlich, den Blick dabei aber nicht hebend. In der schon fast andächtigen Stille des Hauses, die zuvor geherrscht hatte, schienen mir seine unvermittelten Worte seltsam und ich zuckte leicht zusammen. „Aber das ist doch selbstverständlich.“, log ich und setzte mein mildestes Lächeln auf, obwohl mich der Alte gar nicht ansah. „Ich möchte mich natürlich revanchieren.“, murmelte er, als er den Apfel fertig geschnitten hatte. Wollte er mir einen seiner mundgerechten Apfelstücke anbieten?
Zum ersten Mal seit langer Zeit sah mich der Alte direkt an. Seine dunklen Augen wirkten wie Köpfe inmitten des schmalen, mit Pergamenthaut überspannten Gesichtes. Er stand plötzlich ruckartig auf und humpelte ins Wohnzimmer. Mit der Stimme eines wichtigtuerischen Oberlehrers, der gerade zum hundertsten Mal den begriffsstutzigen Schülern die Wichtigkeit von Konzessivsätzen erklärte, begann er dabei zu referieren. „Ich möchte mich bedanken, indem ich dir etwas sehr Schönes zeige. Du wirst Anteil nehmen an einer sehr speziellen Sammlung, die ich im Laufe meines Lebens aufgebaut habe. Komm ruhig näher.“ Einen Seufzer unterdrückend stand ich auf und folgte dem Alten. Vermutlich wollte er mir nun seine staubige Briefmarkensammlung zeigen. Doch meine Erwartungen wurden jäh enttäuscht, als ich mich vor einem von zahlreichen blauen Kerzen erleuchteten Wandregal wiederfand, welchem hunderte kleiner Glasphiolen standen. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass sie alle mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt waren und dass jede der kleinen Phiolen mit einem beschrifteten Etikett versehen war. Die Schrift konnte ich aber beim besten Willen nicht entziffern, dafür war das Licht dann doch zu schlecht. Der alte Mann stand erwartungsvoll neben mir und sah mich an. „Ist das nicht wunderschön?“, fragte er verträumt. „Was ist das denn?“, fragte ich etwas perplex und schämte mich augenblicklich für meine provinziell klingende Frage.
Der Alte lächelte verständnisvoll. Er hinkte vor das Regal und griff eine der Phiolen mit spitzen Fingern. Dann schlurfte er zurück zum Esstisch und bedeutete mir mit einer Geste, ihm zu folgen. Am Tisch angekommen nahm er wieder Platz und hob dann das kleine Fläschchen hoch, als sei es eine unbezahlbare Reliquie. „Ein besonders guter Jahrgang.“, versprach er, während er je einen Tropfen auf jedes Apfelstück träufelte. Dann reichte er mir ein Stück des Apfels. Ich entschloss in diesem Augenblick, dass ich das Stück Apfel essen würde, um dann umgehend diesen irren Alten zu verlassen. Ich wartete, bis der Alte sich ebenfalls ein Stück in den Mund gesteckt hatte und es mit Genuss verspeiste, dann biss ich in meines. Im selben Moment explodierte in mir ein helles Licht. Ich erinnerte mich nur noch, etwas Salziges geschmeckt zu haben, dann wurde alles hell.
Ein kleiner Junge taucht vor meinem geistigen Auge auf. Er spielt im Sandkasten auf dem Spielplatz. Ein Flugzeug fliegt dröhnend am Himmel vorbei. Er blickt auf. Als es wieder runterschaut, steht dort der alte Mann und lächelt. Dann ein Schrei. Hoch und spitz, wie von einem kleinen Mädchen. Das Bild verschwimmt. Die Schreie weichen einem Wimmern, dann wieder ohrenbetäubende, spitze Schreie. Schließlich Stille.
Meine eigenen Augen füllten sich mit Tränen und ich sitze wie erstarrt, die Hände festgekrallt in den Tisch. Der Alte schien eine ähnliche Erfahrung gemacht zu haben, denn sein ganzer Körper bebte und seine Augen traten weit aus den Höhlen. „Es geht doch nichts übers frische Kindertränen!“, raunte er mit einer kehligen, befremdlichen Stimme. Dann brach er in ein bellendes Gelächter aus, dass mir alle Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Meine Starre löste sich schlagartig und ich fuhr hoch. Noch immer von Schrecken gepackt, schnappte ich mir die Phiole, die noch auf dem Tisch stand, wirbelte herum und stürmte aus der Wohnung, wobei mich das grässliche Gelächter des Alten verfolgte.
Ich rannte soweit, bis meine Lungen fast kollabierten. Erst dann, die schreckliche Wohnung lange hinter mir, wagte ich, einen Blick auf die Phiole zu werfen. In einer feinen Handschrift stand darauf geschrieben: Er wollte Pilot werden.
Schön geschrieben, aber die Geschichte leidet sehr unter ihrer kürze. Hätte ruhig länger sein können ^^
Tolle Geschichte!👍