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Der Weg zur Wahrheit

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

„Der Weg zur Wahrheit“ stand in großen, weißen Lettern auf dem
schwarzen Einband des Buches. Die Schrift war verschnörkelt und sah sehr
alt aus. Ein bisschen erinnerte sie mich an den Geschichtsunterricht
und diese unsäglichen Hetzschriften aus den 20er und 30er Jahren des
letzten Jahrhunderts.

Ich fragte mich, wer dieses Buch einfach in der Bahn liegengelassen
hatte; Irgendein ewiggestriger, rechter Spinner oder einfach nur ein
verschrobener Sammler historischer Artefakte? Ich hatte keine Ahnung.
Jedenfalls sah das Buch viel zu wertvoll aus, als dass man es einfach so
wegwerfen könnte und ich schwor mir still, den Schinken im nächsten Fundbüro
abzugeben, sobald in den Bahnhof erreicht hatte. Sicher würde sich der
Besitzer dafür erkenntlich zeigen und selbst wenn nicht, schien es mir
einfach das Richtige zu sein. Allerdings musste ich schon zugeben, dass
ich neugierig wegen des Inhalts war.

Ok, wahrscheinlich standen darin im besten Fall nur irgendwelche
unverständlichen, philosophischen Phrasen und im schlimmsten Fall
ausländerfeindliche Hasstiraden, aber ich hatte noch eine ganze
Dreiviertelstunde Fahrt vor mir, mein Handy war leer und auch sonst war
nirgendwo eine bessere Ablenkung in Sicht.

Also griff ich mir das Buch und betrachtete es näher: Der Einband war
aus dickem, schweren Leder gefertigt und roch ein wenig muffig. Die Seiten sahen –
zumindest von Außen betrachtet – vergilbt, aber nicht zerrissen oder
vergammelt aus. Ein wenig hatte ich sogar das Gefühl, dass das Buch
Wärme abgeben würde. Ein eigentlich absurder Gedanke und doch hielt sich
dieser Eindruck bei mir hartnäckig.

Einen Moment lang zögerte ich noch den schweren Band aufzuklappen und
mit der Lektüre zu beginnen, beinah so, als würde mich irgendeine innere
Stimme davor warnen. Dann aber siegten Neugierde und Langeweile und ich
öffnete den mysteriösen Wälzer mit spitzen Fingern, um mögliche Schäden zu verhindern.

Der Anblick, der mich erwartete, war enttäuschend. Zwar gab es das
obligatorische, raschelnde Geräusch von trockenem Papier und mir stieg der
staubige Geruch alter Bücher entgegen, doch ansonsten hatte das Buch keinerlei
Inhalt. Nichts! Das konnte doch eigentlich gar nicht sein!?

Sorgfältig blätterte ich den Schinken Seite für Seite durch und
endlich fand ich doch etwas. Allerdings keinen Text. Das Einzige, was auf
einer der Seiten zu sehen war, waren zwei gezeichnete Augen. Sie
befanden sich jeweils auf der linken und rechten Seite, ziemlich genau
in der Mitte des Buches. Eines davon war geschlossen und das Andere weit
geöffnet. Als ich das geöffnete Auge näher betrachtete, merkte ich,
dass mich sein Blick verfolgte.

Erst dachte ich, dass ich einfach nur übermüdet sei, aber selbst
durch mehrmaliges Blinzeln ließ sich der unheimliche Eindruck nicht
verscheuchen. Der Augapfel folgte eindeutig jeder meiner Bewegungen und
blickte mich in jedem einzelnen Moment durchdringend an. Der Blick des
Auges – ganz gleich ob nur gezeichnet oder nicht – bereitete mir
Unbehagen und ich versuchte das Buch reflexartig zuzuklappen, aber genau
in diesem Moment flog mir das Auge förmlich entgegen. Wie ein winziger
Geist aus Druckerschwärze löste er sich einfach vom Papier und ich
spürte, wie er sich über mein eigenes, rechtes Auge legte. Ich weiß, das
klingt albern, aber genauso war es! Ich wusste einfach, dass sich dieses
Auge nun in mir befand. Und selbst wenn ich daran gezweifelt hätte,
hätte ich nur einen Blick in das Buch werfen müssen. Denn von dort war
das eigenartige Auge eindeutig verschwunden.

Verblüfft und auch ziemlich beunruhigt warf ich das Buch wieder auf
den Sitz neben mir und atmete erst einmal tief durch. Ich hatte keine
Ahnung, was dieses seltsame Ereignis zu bedeuten hatte und kam auch
trotz intensiven Nachgrübelns nicht darauf. Irgendwann schlief ich ein.

Ich erwachte von einer Berührung an meiner Schulter. Vor mir stand
ein Mann in der Uniform eines Fahrkartenkontrolleurs. Aber er machte
nicht den Eindruck meine Fahrkarte sehen zu wollen. Stattdessen schlug
er vor meinen Augen brutal auf eine zierliche Frau ein, die verängstigt
neben ihm stand und aus deren geplatzer Lippe bereits das Blut troff.

Erschüttert und entschlossen diesem Treiben Einhalt zu gebieten, bat
ich die anderen Fahrgäte laut um Unterstützung, aber sie sahen alle nur
peinlich berührt weg, warfen wir zweifelnde Blicke zu oder schüttelten
die Köpfe. Wie konnte man nur so abgestumpft sein? Wieder holte der Mann
aus und verpasste der armen Frau ein blaues Auge. Zitternd wich sie
zurück. Ich konnte dem nicht länger tatenlos zusehen. Wenn es die
anderen nicht interessierte, musste eben ich der Frau helfen. Ich stieß
mich ruckartig vom meinem Sitz ab und rammte den brutalen Kontrolleur zu
Boden, wo er vorerst benommen liegen blieb. Absurderweise schien nun
das Interesse der anderen Fahrgäste geweckt. Einige zückten ihre Handys –
wohl um die Polizei zu rufen. Ich schaute mich nach der geprügelten
Frau um … aber da war niemand. Dort war nichts als leere Luft und ein
wütender Kontrolleur, der fluchend wieder auf die Beine kam. Sein
Gesicht war gerötet, seine Augen brannten vor Zorn. „Haben Sie den
Verstand verloren! Das wird Konsequenzen haben. Die Polizei ist bald
hier und dann werden sie wegen Körperverletzungen angezeigt. Genug
Zeugen gibt es ja!“

Ich hatte keine Ahnung was all das sollte – immerhin war ich mir
sicher, mir die Frau und die brutalen Schläge nicht eingebildet zu haben
– aber mir war klar, dass ich keine Lust hatte im Gefängnis zu landen
oder mich auch nur für eine Tat zu rechtfertigen, die ich nicht
absichtlich begangen hatte. Blitzschnell setzte ich deshalb über den
Mann hinweg und rannte in Richtung Tür. Zu meinem großen Glück waren wir
kurz zuvor in meinem Zielbahnhof angekommen und noch hatte niemand die
Türen blockiert. Zwar riefen einige der Fahrgäste „Stehenbleiben!“ und
der ein oder andere versuchte mich festzuhalten, aber ich schaffte es
dennoch knapp die Tür zu öffnen und zu entwischen.

Ich machte mir keine Illusionen – die Polizei würde mir sicher auf
den Fersen sein aber ich musste einfach versuchen zu entkommen.
Immerhin hatte ich ja nur einer Unschuldigen helfen und ihren Peiniger
stoppen wollen. Auch wenn – wie ich jetzt begriff – die anderen Gäste
wohl nur gesehen hatten, wie ich ohne jeden Anlass den Kontrolleur
niedergerempelt hatte. Wohin aber war die Frau verschwunden?

Ich verschob diese Überlegung auf später und konzentrierte mich
darauf, aus dem Bahnhof herauszukommen und in die Fußgängerzone zu
flüchten. Draußen war bereits seit längerem die Nacht hereingebrochen
und es waren nicht mehr allzu viele Leute unterwegs. Statt mich also in
die – nicht eben nennenswerte – Menge zu mischen, suchte ich mir
schnellstmöglich eine Seitengasse. Dabei drosselte ich mein Tempo um
durch übertriebene Eile nicht noch verdächtiger zu wirken.

Als ich endlich einen passenden Ort gefunden hatte, kam ich mit
rasselndem Atem zum Stehen und lehnte mich erschöpft gegen die Wand. Ich
hatte mörderisches Seitenstechen und war vom Schweiß klitschnass,
obwohl Draußen herbstliche Kühle herrschte und ein leichter Regen auf
den Asphalt prasselte. Da ich im Moment weder wusste wohin ich gehen
sollte, um der Polizei zu entgehen, noch aktuell in der Lage war
irgendwo hin zu gehen, beobachtete ich die Hauptstraße. Zum Glück zeigte
sich dort kein Polizist und auch Sirenen konnte ich nirgendwo hören.
Dafür sah ich etwas anderes.

Mitten in einer Gruppe Jugendlicher erblickte ich ein abscheuliches
echsenartiges Wesen. Es hatte riesige schwarze Augen, die wie noch
schwärzere Löcher durch die ohnehin dunkle Nacht schwebten und nur durch
die Straßenlaterne angestrahlt wurden. Der Körper des Echsenmenschen
war muskulös und Schuppig und aus seinem Kopf züngelte eine lange
gespaltene Reptilienzunge hervor. Das Schlimmste aber war: Einer der
Jungen aus der Gruppe, ein blonder Typ in einem roten Hoodie, der wohl
irgendwas zwischen 17 und 19 Jahre alt sein mochte, gab dem Geschöpf
einen Kuss. Dabei versenkte sich dessen Reptilienzunge tief im Mund des
Jungen und die schwarzen Augen glänzen erregt. Die anderen Jugendlichen –
zwei weitere Jungs und ein Mädchen – schienen sich an der grotesken
Szenerie nicht weiter zu stören, sondern liefen vergnügt quatschend
weiter.

Ich blinzelte. Ich schloss die Augen. Ich kniff mir schmerzhaft und
beherzt in den Arm und doch tat das Echsenwesen mir nicht den Gefallen,
einfach wieder zu verschwinden oder sich in einen ganz normalen Menschen
zu verwandeln. Jedenfalls so lange nicht, bis die Gruppe um die Ecke
bog und aus meinem Blickfeld geriert.

Als wäre das nicht genug, fiel mein Blick nun auf einen betrunkenen
Mann, der sich an einer der Straßenlaternen erleichterte. Er lallte
unverständliches Zeug vor sich hin, fluchte gelegentlich laut und wirkte
trotzdem noch überraschend normal und gesittet, wenn man bedachte was
sich an seinem Hinterkopf befand. Zwar konnte ich es auf die Entfernung
nur schmenenhaft erkennen, aber was ich sah reichte durchaus aus, um
Angst und Ekel in mir aufkommen zu lassen.

Auf dem Kopf des Mannes hatte sich eine Art Parasit festgesaugt. Er
wirkte wie eine Mischung aus einem extrem deformierten Gehirn und einem
lebendig gewordenen Geschwür, nur dass das Ding ein großes wässriges
Auge besaß mit dem es mich eindeutig ansah. Sein schwammiger Körper
pulsierte regelmäßig als würde es das Leben oder das Bewusstsein von dem
bedauernswerten Mann absaugen.

Eigentlich gab es so langsam nur noch zwei Erklärungen für diesen
abgefuckten Mist. Entweder ich befand mich auf einer umgebremsten Fahrt
in die finstersten Tiefen des Irrenhauses oder dieses seltsame Buch
hatte etwas mit meinem Kopf angestellt.

Ganz gleich welches Szenario nun der Wahrheit entsprach: Irgendwie
sah ich inzwischen Dinge, die mir bisher verborgen geblieben waren und
wenn man den Titel des eigenartigen Buches betrachtete – „Der Weg zur
Wahrheit“ – ,machte das auch Sinn. Probeweise schloss ich das Auge,
welches von dem gemalten Auge aus dem Buch berührt worden war. Und
tatsächlich sah ich nun nur noch einen ganz normalen besoffenen Penner
an der Laterne lehnen. Ohne jeglichen Parasiten. Ohne Monströsität. Wenn
ich aber das rechte Auge wieder öffnete, war das eklige Ding am Kopf
des Mannes wieder da.

In was war ich da nur hineingeraten? Zeigte der Wälzer mir wirklich
verborgene Wahrheiten oder verwirrte er nur meinen Verstand und
verschaffte mir Halluzinazionen? Diese Frage würde ich aber hier und
jetzt nicht so einfach lösen können und als ich dann plötzlich doch von
fern Polizeisirenen hörte, wusste ich, dass jetzt auch keine Zeit dafür
war darüber nachzugrübeln. Ich musste weiter, wenn ich nicht ein paar
sehr unanagenehme Fragen beantworten wollte.

Also ging ich in aus der Seitengasse hinaus und wieder auf die
Hauptstraße in Richtung der nächsten U-Bahn Station. Ich musste es
einfach nur nach Hause schaffen. Niemand hatte meine Personalien
aufnehmen können und wegen einer blöden Rempelei würden sie wohl kaum
eine Rasterfahndung starten. Während ich auf die Hauptstraße wechselte,
hielt ich sorgfältig Abstand zu dem betrunkenen Mann und dem Parasiten,
der sich an seinem Kopf festgesaugt hatte und der mich unablässig mit
seinem unförmigen weißen Auge beobachtete.

Die U-Bahn Station war zum Glück nicht allzu weit entfernt und als
dann auch noch nach nur zwei Minuten die U-Bahn einfuhr, löste sich ein
Seufzer der Erleichterung aus meiner Kehle. Niemand stieg aus der U-Bahn
aus, also drückte ich auf den Türöffner und stieg ein. Als ich mich das
erste mal aufmerksam in der U-Bahn umsah, wünschte ich mir aber schon,
ich wäre nicht eingestiegen. Doch leider hatten sich da die Türen
bereits geschlossen und die U-Bahn hatte sich in Bewegung gesetzt. Ich
war in der Hölle gelandet.

Jedenfalls hätte diese Versammlung von Abscheulichkeiten gut in jede
biblische Darstellung des ewigen Infernos gepasst. Ich sah vor mir
Kreaturen mit Insektenköpfen und klackenden Mandibeln, ich sah Geschöpfe
aus Schleim und ekelhaften Sekreten, Ich sah ein Wesen das ganz dünn
war mit fahler Haut und strähnigen Haaren und von dem ein abscheulicher
Gestank ausging. Ich sah hundeartige Wesen ohne Fell, aber dafür ganz
mit eitriger knotiger Haut bedeckt. Und im Mittelpunkt dieses
dämonischen Klassentreffens war ein riesiges aufgeblähtes Geschöpf,
welches sicher die gesamte Breite der U-Bahn einnahm und dessen
aufgedunsener bleicher Leib sich in ekelerregenden Kaskaden über die
Sitze ergoss. Aus dem Unterleib dieser Kreatur krochen fast im
Sekundentakt neue winzige Geschöpfe die nicht minder
verabscheuungswürdig waren als ihre Erschafferin. Dünn, ohne Beine, aber
dafür mit kleinen und krallenbewehrten Händen. Einige von ihnen starben
bereits nach kurzer Zeit. Andere krochen in die Menschen und die
anderen Ungeheur um sich herum hinein, schoben sich in ihre Münder,
Ohren, Nasen oder sonstige Körperöffnungen. Zu welchem Zweck, konnte ich
nur erahnen. Seltsamerweise schienen sie es auf mich nicht abgesehen zu
haben, auch wenn sie an mir schnüffelten, mich aus halbblinden Augen
ansahen und sogar das ein oder andere mal mit ihren verkümmerten Krallen
berührten.

Es war beinah als würde mir das Buch Schutz gewähren. Schutz vor
allem außer der Wahrheit. Und vielleicht war diese Wahrheit sogar
schlimmer als alles was den unwissenden Opfern um mich herum wiederfuhr.
Sie ahnten nichts von all dem und schrieben ihre Krankheiten,
Schicksale und Missgeschicke falschen Entscheidungen, schlechter
Ernährung oder einfach dem Pech zu, obwohl wahrscheinlich häufig genug
all diese widerlichen Wesen dafür verantwortlich waren. Aber sie ahnten
nichts davon und darin lag auch ein gewisser Frieden. Ich für meinen
Teil konnte diesen Frieden nur wiedererlangen, wenn ich mein rechtes
Auge schloss oder verdeckte. Dann wurde aus der grausamen Mutter der
Ungeheuer wieder eine nicht direkt sympathische aber doch durch und
durch menschliche leicht korpulente Frau Mitte vierzig. Und auch die
anderen Scheusale wurden wieder zu ganz gewöhnlichen Mitmenschen. Aber
das Wissen um die Wahrheit blieb und ließ sich nicht so einfach von
einer dünnen Haut und ein paar Wimpern verdecken.

Fast noch schlimmer als die wimmelden, abscheulichen Kreaturen in der
U-Bahn aber, waren diejenigen, die nach wie vor menschlich aussahen.
Denn von ihnen sah ich offensichtlich ihre dunkelsten Geheimnisse und
Greueltaten. Ich sah unbeschreibliche sexuelle Praktiken. Ich sah
Menschen, die auf andere einschlugen oder traten oder sie sogar
ermordeten. Ich sah Vergewaltiger, Tierquäler und Psychopathen wohin
meine Augen blickten und wenn ich mein rechtes Auge schloss, waren es
plötzlich wieder ganz normale Menschen, die als Passanten keine
nennenswerte Aufmerksamkeit erregt hätten. Natürlich gab es nicht nur
nichtmenschliche und menschliche Monster. Einige waren bei harmloseren
Verfehlungen zu sehen. Kleine Diebstähle, Seitensprünge, Drogenkonsum,
etc. und einige wenige schienen überhaupt noch nichts nennenswertes
angestellt zu haben. Trotzdem war die Zahl der Abscheulichkeiten und
Psychopathen erschreckend. Sie machte sicher die Hälfte der scheinbar
normalen Menschen aus, wenn man die Leute in dieser U-Bahn als Maßstab
für die Gesamtgesellschaftt nahm.

Den Rest der Fahrt über schloß ich die Augen, um nicht vollends den
Verstand zu verlieren und wieder jemanden anzufallen. Seltsamerweise
halfen die geschlossenen Augen auch gegen die monströsen Geräusche und
abartigen Gerüche, die die Wesen absonderten. Trotzdem wusste ich in
jedem einzelnen Moment was sich wirklich um mich herum befand und immer
wenn mich ein Arm, ein Rücken oder eine Hand versehentlich berührte,
musste ich einen Schrei des Ekels unterdrücken. Des Ekels vor den
Körpern meiner Mitfahrer, aber noch viel mehr vor ihren Seelen.

Irgendwann kündigte die automatische Durchsage an, dass wir meine
Heimathaltestelle erreicht hatten. Von dort aus würde ich nur noch
wenige Minuten bis zu mir nach Hause laufen müssen. Ich achtete sorgsam
darauf, die Augen erst zu öffnen, als der Zug zum stehen kam und stieg
dann schnell und ohne mich umzudrehen an der Haltestelle aus. Leider
stieg genau in diesem Moment ein anderer Fahrgast in die U-Bahn ein. Ein
groteskes humanoides Krebswesen mit acht Stilaugen und einem bösartigen
Blick, der mir verriet, welche Lust es darauf hatte, mich mit seinen
Scherenhände zu zerfetzen. Dank meines unerklärlich übernatürlichen
Schutzes, ließ es mich aber ziehen.

Auf dem Weg nach Hause hielt ich den Blick auf den Boden gerichtet,
wodurch ich wenigstens keine weiteren Menschen sehen musste. Ich hörte
nur ab und an ein insektenhaftes Zirpen in dem erschreckenderweise
menschliche Worte mitschwangen oder ein tiefes dämonisches Grunzen.
Einmal sah ich auch ein katzenartiges Wesen, das acht Beine und einen
Skorpionschwanz besaß und das eine feurige Spur auf dem Asphalt
hinterließ. Zum Glück verschwand es schnell im nächsten Gebüsch.
Vielleicht, um eine Maus zu jagen, deren wahre Gestalt ich mir lieber
nicht vorstellen wollte.

Zum Glück kannte ich den Weg wirklich in und auswendig, weswegen ich
zuletzt beide Augen schloss und hoffte in keinen Unfall verwickelt zu
werden. Mehr Angst als vor Unfällen oder vor den Kreaturen hatte ich
aber vor meiner eigenen Frau. Besser gesagt, vor ihrer wahren Gestalt.

Ich hatte das schöne und gütige Gesicht von Sabrina stets jeden Tag
vor Augen und es war aktuell so ziemlich das einzige was mich davon
abhielt vollkommen durchzudrehen. Ich beschloss, gar nicht wissen zu
wollen, wie sie in Wahrheit aussah. Ich wollte einfach nur von ihr
gehalten werden und die schrecklichen Erlebnisse und Bilder vergessen.
Selbst wenn sie ein dreiköpfiger Troll mit Tenkakeln und einem Unterleib
aus giftspuckenden Geschwüren sein sollte, so wollte ich das nicht
erfahren. Sogar dann, wenn sie bereits zwanzig eiskalte Morde begangen
hatte und jeden Freitagnachmittag einen Welpen erwürgte, so war mir das
egal. Ich sehnte mich einfach nur nach Unwissenheit.

Mein Entschluss stand fest. Ich würde mir eine Augenbinde anlegen und
was von einer Augnentzündung erzählen. Notfalls würde ich mich auch
selbst auf dem verfluchten Auge blenden, wenn es nicht anders ginge. Ich
hatte schon genug von dieser Wahrheit gesehen und konnte sehr gut
darauf verzichten. Mit einem Auge würde ich durchaus leben können. Mit
dieser Realität nicht. Irgendwann würde ich vielleicht auch das
verdrängen können, was ich bereits wusste. Es gab doch auch solche
Hypnosetherapeuten. Vielleicht konnte einer von denen mein Gehirn von
dieser Last befreien. Und wenn nicht, würde ich mir einfach die
Gehirnzellen mit Alkohol oder Drogen zunebeln, bis ich nicht mal mehr
den Namen meiner Mutter wusste. Hauptsache die verdammte Wahrheit
verschwand im Nirvana.

Endlich war ich an meiner Haustür angekommen. Langsam drehte ich
meinen Schlüssel im Schloss herum und drückte behutsam die Tür auf. Mit
etwas Glück schlief Sabrina bereits und ich würde sie nicht zu Gesicht
bekommen, bis ich mein Auge verdeckt hatte. Vorsichtig schlich ich in
unser Schlafzimmer und öffnete die Schublade mit den
Stofftaschentüchern. Ich hörte dabei Sabrina leise atmen. Irrte ich mich
oder klang ihr Atem ungewöhnlich tief und rasselnd? Ich versuchte nicht
weiter darauf zu achten und betete, dass sie nicht erwachen würde.
Endlich hatte ich ein Taschentuch in der passenden Größe gefunden. Ich
ging ins Bad, um es mir um mein verfluchtes Auge zu wickeln und
schaltete das Licht ein. „Karsten?!“ hörte ich fast gleichzeitig eine
blubbernde, schrille Stimme aus dem Schlafzimmer rufen, die nur sehr
entfernt an Sabrina erinnerte, aber wahrscheinlich dennoch ihr gehörte.

Ich beschloss, mich mit der Augenbinde zu beeilen. Dafür sah ich zum
ersten Mal seit dem Vorfall mit dem Buch in den Spiegel. Was ich dort
erblickte, war sogar noch schlimmer als alles was ich ohnehin schon
erleben musste. Im Spiegel blickte mich nicht etwa eine monströse
Kreatur an. Nein. Das was ich dort im Spiegel sah, war ein schwarzer
Fleck. Ein dunkler gestaltloser Schatten. Ein Abdruck aus
stoffgewordener Leere. Und ich wusstete, was das bedeutete. Der wahre
Kern meines Wesens. Die Summe meiner Eigenschaften, war nichts. Gar
nichts. Es machte überhaupt keinen Unterschied ob ich existierte.
„Karsten?! Bist du da?“ rief die blubbernde Stimme erneut und klang
diesmal schon näher. Ich hatte die Augenbinde beinah fertig gebunden.
Trotzdem sah ich noch, wie sich eine dürre knochige Klaue mit faltiger
fleckiger Haut durch die halb geöffnete Türe schob.

Dann hatte ich endlich die Binde angelegt und sah Gott sei Dank nur
Sabrinas wunderbares Antlitz vor mir, als sie die Tür ganz geöffnet
hatte.. „Hey Schatz. Was ist los? Was soll diese Augenbinde? Ist dir was
passiert?“ Ihre Stimme klang jetzt wieder so voll und lieblich wie ich
sie in Erinnerung hatte. „Eine Augenentzündung. Nichts wildes. Ich
erzähle dir Morgen mehr darüber. Lass uns jetzt einfach ins Bett gehen.“
Ich nahm sie an ihrer warmen und etwas feuchten Hand und so gingen wir
gemeinsam ins Schlafzimmer wo ich mich einfach dem Zauber ihrer Umarmung
hingab. Ich mochte ein Nichts sein, aber zumindest dieser Moment gab
meinem Leben einen Sinn. Während ich die Zärtlichkeit genoss und
halbwegs erfolgreich all die schrecklichen Bilder der letzten Stunden
ausblendete, beschloss ich nach dem Buch zu suchen und es zu zerstören.
Es gab ganz einfach Wahrheiten, die niemand kennen sollte.

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