
Warum ich desertiert bin.
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Warum ich desertiert bin.
Ich wünsche dir, beziehungsweise euch, einen guten und gesegneten Tag. Mein Name ist Wilhelm Grünling. Nun, so nenne ich mich jedenfalls und so bin ich auch meinen Mitmenschen bekannt. Mein Geburtsname jedoch ist William Gruener und wie der Name schon vermuten lässt, bin ich gebürtiger US-Amerikaner mit deutschen Wurzeln. Ich bin ein alter Mann und lebe heute in Süddeutschland. Um genau zu sein lebe ich mit meiner Familie in Bayern. Wie du sicher schon am Titel meiner Erzählung siehst handelt diese Geschichte, obwohl ich es eher einen Bericht nennen würde, davon, wie und warum ich damals im Krieg desertiert bin. Bevor ich aber beginne möchte ich dich bitten nicht zu schnell über mich zu urteilen. Höre dir bitte zuerst meine Geschichte an und entscheide anschließend, ob du mich verstehst oder mich dennoch als Feigling abstempelst.
Über mein Leben vor dem Krieg gibt es nicht viel zu erzählen. Meine Großeltern wanderten 1895 aus dem damaligen Preußen nach Amerika aus in der Hoffnung, sich ein besseres Leben aufbauen zu können. So wuchsen meine späteren Eltern und somit auch ich zweisprachig, Deutsch und Englisch, auf, was mir später womöglich sogar das Leben retten sollte. Aber dazu komme ich noch. Ich bin in mehr oder weniger normalen Verhältnissen mit einer relativ normalen Kindheit aufgewachsen, wobei ich jedoch gleichermaßen sagen muss, dass mir mein Vater stets mehr Liebe entgegenbrachte als meine Mutter. Anders als ich sind meine Eltern auch religiös, weswegen auch einige christliche Werte in mein Leben mit eingewoben wurden. Insbesondere Ehrlichkeit und eine Abneigung gegen das Töten. Ich besuchte wie die meisten Kinder die Schule und hatte alles in allem ein recht glückliches Leben. Und dann kam der Zweite Weltkrieg. Für mich war der Kriegseintritt der USA ein Schock, denn nun musste ich damit rechnen, dass, so sollte der Krieg länger dauern, auch ich eingezogen werden würde. Und davor hatte ich Angst. In mir kam bei dem Gedanken in den Krieg zu ziehen nicht die Abenteuerlust oder das Gefühl hoch für eine gerechte Sache zu kämpfen. Sondern einfach nur Angst. Denn ich hatte Geschichten von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gehört und ab da hasste ich den Krieg und sein sinnloses Massensterben. Deswegen war es mir auch egal, welche Seite gewinnen würde. Ich hoffte nur, dass der Krieg schon vorbei wäre bevor ich alt genug wäre um eingezogen zu werden. Doch leider hatte ich dieses Glück nicht. Jedoch hatte ich in zwei anderen Punkten Glück. Erstens: Ich wurde nach Europa und nicht in den Pazifik geschickt. Warum ich das als Glück betrachte muss ich ja wohl nicht erklären. Und Zweitens: Ich kam erst im Februar 1945 zur Truppe, zu einem Zeitpunkt, als der Krieg schon fast vorüber war. Ich werde hier aber nicht alle meine Kriegserlebnisse schildern, denn darum geht es hier nicht. Nur so viel: Ich habe nie einen Menschen töten müssen. Ich war zwar leider in Gefechte verwickelt, jedoch habe ich dabei keinen Menschen töten müssen. Nun, jetzt kommen wir aber zum eigentlichen Beginn dieser Geschichte. Kurz vor Kriegsende, es war der 29. April 1945, waren meine Einheit und ich in Norddeutschland stationiert. Und ich werde nicht sagen, wo das genau gewesen ist. Den Grund erfährst du schon früh genug.
Ich und Sechs andere erhielten den Auftrag, der Truppe voraus zu gehen und das Gebiet zu erkunden, denn aus irgendeinem Grunde gab es weder von Deutscher, noch von alliierter Seite eine zuverlässige Karte dieser Gegend. Mittlerweile glaube ich auch zu wissen, warum das so ist. Wir sollten herausfinden, was es in diesem Gebiet gab und was es nicht gab. Auch sollten wir herausfinden, ob sich noch Soldaten der Wehrmacht in diesem Gebiet aufhielten. Denn auch darüber hatten unsere Vorgesetzten keine Kenntnis. Uns wurde außerdem ein ortskundiger deutscher Kriegsgefangener zugeteilt, welcher sich schon öfters in dieser Gegend aufgehalten hatte und uns führen sollte.
Also waren wir insgesamt Sieben Leute. Ich, der Deutsche, Philbert (genannt Phil), Tom, Patrick, Franklin und John. Den Deutschen kannte ich nicht, weswegen ich mir über ihn kein Urteil erlauben darf. Tom war soweit ich das beurteilen kann ein recht guter Mensch. Wie ich hasst er den Krieg und alles, was Krieg mit sich bringt. Der arme Teufel hatte die Schlacht im Hürtgenwald mitgemacht und ist von diesem Erlebnis seelisch schwer gezeichnet. Er hatte dort zu Gott gefunden und sein Hass gegen den Krieg und das Töten hatte sich noch verstärkt. Und irgendwie ist er dann über Umwege in unserer Einheit gelandet. Die anderen aber, nun, sie waren in meinen Augen nichts als Abschaum und Verbrecher. Sie waren die Personifizierung der Gräuel des Krieges. Ich werde ihre Verbrechen hier nicht aufzählen, denn dann drohe ich Gefahr aus Wut das schreiben unterbrechen zu müssen und ich habe nicht mehr viel Zeit. Jeder von ihnen war ein Sadist, Mörder und Vergewaltiger. Sie hatten Spaß und Freude an der Gewalt und am Leid Unschuldiger. Selbst jetzt, Sieben Jahrzehnte später, wird mir noch übel, wenn ich an diese Gestalten denke. Ich hasste den Dienst mit ihnen, denn sie sprachen glorifizierend über ihre Schandtaten. Gerade die Gebrüder Phil und Patrick. Während Patrick der grausamste war, so war Phil der widerlichste. Phil redete ständig davon, was er am liebsten mit einer jungen Frau alles machen würde, wenn er allein mit ihr wäre. Immer wenn er und die anderen über ihre Taten sprachen oder was sie noch alles tun wollten stieg mir die blanke Wut hoch und meine Hände fingen an zu jucken und zu zucken. Am liebsten wäre ich auf sie losgegangen aber dann hätte ich in jeder Hinsicht den Kürzeren gezogen. Leider kann man sich seine Kameraden nicht aussuchen. Wenn Tom hingegen ähnlich dachte wie ich, dann ließ er es sich nicht anmerken. Seit dem Hürtgenwald starrten seine Augen oft ins Leere und sprechen tat er seitdem nur noch sporadisch.
Jedenfalls, wir zogen durch die Gegend, geführt von dem Deutschen. Da ich wie schon gesagt nur noch wenig Zeit habe kann ich das, was wir dort auf unserem Weg sahen nur grob beschreiben. Ein paar Ruinen, vermutlich aus dem 18. Jahrhundert, ein paar Grünflächen, ein paar Felsen und dann kamen wir an dem Ort, welcher mein Leben für immer verändert hat. Es war schon spät am Abend und der Himmel mit grauen Wolken überzogen, als wir an einen dunklen Wald mit einer noch dunkleren, alten und ungepflasterten Landstraße ankamen. Hier an dieser Stelle sollte ich noch erwähnen, dass wir auf unserem Weg bis hierher und auch im Wald nicht ein einziges lebendes Wesen überm Weg gelaufen sind. Weder Mensch noch Tier. Mit dem, was dann passierte, als wir die Waldstraße passieren wollten, gepaart, sorgte das allein schon um in mir die Angst aufkeimen zu lassen. Denn einige Meter vor dem Wald blieb der Deutsche stehen. Er starrte mit großen Augen die nicht enden wollende dunkle Waldstraße entlang, war leichenblass und, und das war für mich etwas sehr beunruhigendes, er zitterte am ganzen Körper.
Phil fragte: „Was ist? Warum halten wir an?“
Alle, mit der Ausnahme von Tom, sahen mich erwartungsvoll an, denn ich war der einzige von uns der perfekt Deutsch sprach und war somit eben auch sozusagen inoffiziell der Dolmetscher der Truppe.
Also fragte ich ruhig: „Hey, Kumpel. Warum gehst du nicht weiter?“
Er sah mich nicht an. Er hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet.
Dann sagte er mit angstgetränkter und zittriger Stimme: „Ich gehe da nicht rein!“
Verdutzt über die Angst in seiner Stimme fragte ich: „Warum?“
Doch eine Antwort blieb er mir in dem Moment noch schuldig. Also übersetzte ich zuerst meinen Kameraden, dass er nicht weiter gehen würde.
Darauf Patrick: „Das sollte er sich zwei Mal überlegen, wenn er am Ende des Tages noch atmen will.“
Schon zückte er seine Pistole und entsicherte sie. Instinktiv stellte ich mich schützend vor dem Deutschen, worauf ich einen verächtlichen Blick von Patrick erntete. Ich ignorierte ihn und drehte mich wieder zu den Deutschen um.
Ich sagte: „Hör zu. Ich weiß nicht ob der Kerl das ernst meint, aber er droht dich zu erschießen, wenn du uns nicht weiterführst.“
Dann sah er mir direkt in die Augen und aus den seinen sprach die blanke Panik. Aber seine nächsten Worte machten deutlich, dass er keine Angst vor Patrick hatte.
Er sagte mit bebender Stimme: „Das ist mir egal. Hier und jetzt erschossen zu werden ist ein besseres Schicksal als dort hineinzugehen.“
Ich war verwirrt und fassungslos. Was zum Geier meinte er damit? Nun, seine Antwort ließ mein Herz einen Schlag aussetzen. Er blickte wieder die Straße entlang, hob die Hand und zeigte zitternd die Straße hinunter.
Dann sagte er: „Niemand, der dort entlang gegangen ist, ist jemals zurückgekehrt.“
Dann sagte er nichts mehr. Ich hingegen starrte ihn fassungslos und mit offenem Mund an. Auf meine Frage, was er damit meinte, gab er mir keine Antwort mehr. Ich wollte nicht glauben was er mir da sagte, doch sah ich auch, dass er es ernst meinte und mich nicht anlog. Für eine Lüge wäre das zu gut geschauspielert gewesen.
Ich berichtete den anderen davon und auch sie waren verwirrt. Mit der Ausnahme von Tom, dessen Miene sich nicht verzog und dessen leere Augen einen kleinen Ast am Boden fixierten. Dann entbrannte eine Diskussion zwischen uns (in welcher Tom einfach nur teilnahmslos an der Seite stand) darüber, was der Deutsche gemeint hatte und was man nun machen sollte. Fest stand nur eins: Wir konnten nicht zurück ohne auch dieses Gebiet erkundet zu haben. Ansonsten würden wir eine Menge Ärger von unseren Vorgesetzten am Hals haben. Am Ende konnte ich mich damit durchsetzen, dass wir den Deutschen zurück zum Gefangenenlager schicken würden und alleine das Gebiet erkunden. Der Rückweg, so argumentierte ich, sei leicht zu finden da es in dieser Gegend genug Orientierungspunkte gäbe, ich mir den Weg gemerkt hatte und ein Hinterhalt deutscher Truppen sehr unwahrscheinlich sei, da wir dann schon längst auf besagte Truppen gestoßen wären. Ja, ich weiß. Rückblickend betrachtet war der letzte Punkt sehr naiv. Aber ich war jung und unerfahren. Dennoch setzte ich mich durch. Nachdem wir uns auf meinen Vorschlag geeinigt hatten wandte ich mich an Tom.
„Tom“, sagte ich.
Dieser sah vom Ast zu mir auf und ließ ein „Hm?“ von sich verlauten.
„Nimm den Deutschen und bringe ihn heil zurück. Mache dann bei unseren Vorgesetzten Meldung über den Stand der Mission und unsere Lage.“
„Verstanden“, sagte Tom neutral.
Er nahm den noch immer zitternden Deutschen an der Schulter und sagte beruhigend: „Komm schon, Großer. Bringen wir dich zurück.“
Allerdings bleibt es zu bezweifeln, dass der Deutsche die englischen Worte verstanden oder überhaupt wahrgenommen hat, denn auch wenn sie schon ihren Weg gingen hielt der Deutsche weiterhin ängstlich und zitternd den Blick auf die Straße geheftet, gleich so als wolle er sichergehen, dass sie nichts aus dem Wald verfolgen würde.
Hier muss ich erzählen, dass ich blitzschnell alleine gehandelt hatte. Denn ich besaß gar nicht das Kommando über die Truppe. Dieses hatte Patrick. Ich aber wollte sichergehen, dass Tom den Deutschen zurückbringt, denn Tom war der einzige auf den man sich verlassen konnte wenn es darum ging den Deutschen auch lebend wie gesund und munter zurückzubringen. Bei den anderen bestand die Gefahr, dass sie den Deutschen einfach irgendwo umgebracht hätten.
Ich wandte mich wieder den anderen zu und sah, wie Patrick genervt die Augenbrauen hochzog und mit Verachtung den Kopf schüttelte.
Dann sah er uns alle einzeln an und sagte anschließend: „Na dann mal los. Mal sehen, was dem Deutschen solche Angst macht.“
Und dann gingen wir los. In den Wald hinein und die Straße entlang. Mir war das schon von Anfang an nicht geheuer, denn es herrschte eine Totenstille in diesen dunklen Wald. Keine Tiergeräusche, kein Wind, kein knacken der Äste oder der Bäume. Nichts. Einfach nur Totenstille. Auch wir sagten kein Wort. Wir gingen nur langsam und wie Bogensehnen gespannt diese Straße ins schwarze Nichts mit gezogenen Waffen entlang. Ob den anderen auch so mulmig zumute war wie mir kann ich nicht sagen. Ich hingegen hatte da so ein mieses Gefühl in der Magengegend. Mich beschlich zum einen die Sorge, dass wir womöglich doch geradewegs in einen Hinterhalt marschieren könnten, jedoch hielt sich diese Sorge eher in Grenzen. Viel mehr beunruhigte mich der schon eben erwähnte Punkt, dass dieser Wald so still war wie eine Gruft. Dann, nach ca. einer halben Stunde, sahen wir das Ende der Straße. Die Straße endete an einen riesigen, mitten im Wald errichteten, verlassen wirkenden schwarz-grauen Gutshaus wie aus dem 18. Jahrhundert mit unzähligen intakten Fenstern und einer massiven Doppeltür aus Eichenholz über der sich unter einen breiten Torbogen ein in den Stein gehauenes Adlerwappen befand. Noch dazu war das Haus, welches eher schon an ein kleines Schloss grenzte, völlig intakt. Voller Staunen und mit offenen Mündern blieben wir stehen und betrachteten das Haus. Wir hatten mit allem gerechnet, doch nicht mit sowas. Dennoch mischte sich in mein Erstaunen auch eine Spur Besorgnis. Ich fragte mich erneut, wovor genau hatte der Deutsche Angst?
Dennoch waren wir alle gleichsam beeindruckt. Ja, wir hatten schon einige Gutshäuser auf deutschem Boden gesehen, doch keines davon war so eindrucksvoll und groß wie dieses. Und dabei war die Architektur dieses Hauses eher sagen wir mal schlicht gehalten. Noch dazu hatten wir bislang kein Gutshaus derart abgeschieden in einen Wald mitten in einer Einöde gesehen.
„Meine Güte“, sagte Phil schließlich, „was für ein Mordsschuppen.“
Die anderen raunten ihm zustimmend zu.
„Die, die darin wohnten, müssen ja mächtig Asche gehabt haben“, sagte John und in seiner Stimme schwang die Gier mit.
Auch wenn ich die Gesichter der anderen nicht sehen konnte, da ich hinter ihnen stand, wusste ich, dass sie alle den gleichen Gedanken hatten. Schon da wusste ich auf was das ganze hinauslaufen würde.
„Falls da noch jemand wohnt.“, sagte ich leise.
„Wie bitte?“, fragte John und er wie auch die anderen drehten sich zu mir um.
„Ich sagte, falls da noch jemand wohnt“, wiederholte ich mich und fügte hinzu, „Das Haus sieht für mich eher so aus, als würde da schon seit langem keiner mehr wohnen.“
„Umso besser“, sagte Patrick, „Dann stört es ja auch sicher niemanden, wenn wir da reingehen und uns ein paar kleine Souvenirs mitnehmen.“
Auch wenn ich gewusst hatte, dass das kommen würde, versetzte mir die Aussage einen kleinen Schlag in die Magengrube.
„Du willst da rein?“, fragte ich gepresst und sah zuerst zu Patrick, dann auf das Adlerwappen über der Tür.
„Sicher“, sagte Patrick, als wäre es die selbstverständlichste Sache auf der Welt ein fremdes Haus zu plündern.
Allerdings machte mir die Aussicht, dass meine Kameraden ein fremdes Haus plündern würden eher weniger Sorgen im Vergleich zu einer anderen Sache. Auch wenn ich kategorisch gegen das Plündern bin und ich mich als Soldat dementsprechend zu verhalten habe, so sehe zumindest ich das.
„Warum sollten wir uns nicht bei den Deutschen bedienen?“, fragte Patrick nun provokant, „Schließlich haben sie doch ganz Europa überfallen und im Westen wie im Osten geplündert und auch…“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ich ihn forsch, den Blick immer noch auf dieses Gebäude gerichtet, „aber nur weil sie das gemacht haben hast du nicht das Recht es ihnen gleichzutun. Dann bist du nicht besser als sie!“
Ein paar Sekunden herrschte Stille.
Dann sagte Patrick laut: „Mach hier jetzt gefälligst nicht einen auf Moralapostel! Ich alleine entscheide, was…“
Doch ich hörte ihm gar nicht mehr zu. Ich fixierte dieses Adlerwappen. Irgendwas machte mich daran stutzig. Der Adler war dem Preußenadler nicht unähnlich, nur das dieser hier nicht nach rechts oder links blickte, sondern geradewegs uns anzustarren schien. Nach wenigen Momenten bemerkte ich auch, was mich daran so stutzig machte. Ich hätte erwartet, dass der Adler in seinen Klauen eine Art Eisernes Kreuz, ein Schachbrett, einen Eichenzweig oder etwas dergleichen halten würde. Stattdessen hielten die Klauen einen grinsenden Totenschädel.
Ich trat einen Schritt zurück. Mir gefiel das nicht. Mir war dieser Schuppen nicht geheuer und irgendwas stimmte mit diesem Haus nicht. Und dann schossen mir wieder die Worte des Deutschen durch den Kopf.
Nun bemerkten auch die anderen, was mich eigentlich daran störte, dieses Haus zu betreten. Sie sahen einige Male ungläubig von mir zu dem Haus und wieder zurück. Dann, nach einigen Momenten der Ruhe, brachen sie alle in schallendes Gelächter aus. Mir stieg Röte ins Gesicht und beschämt sah ich zu Boden, die Hände zu Fäusten geballt. Ich hasse es einfach abgrundtief ausgelacht zu werden.
Nachdem sie sich einigermaßen wieder beruhigt hatten sagte Franklin immer noch heiter: „Ich kann es einfach nicht fassen. Du glaubst dem Geschwätz dieses deutschen Weichlings?“
Ich antwortete nicht. Aber Ja, ich glaubte ihm. Und genau deswegen wollte ich nicht in dieses Haus. Ich bin zwar nicht feige aber ich bin auch kein Held, welcher sich unbesonnen ins Abenteuer stürzt. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, der ungern unnötige Risiken eingeht. Und das wussten die anderen auch.
„Er hat nicht gelogen“, sagte ich gepresst und noch immer Rot im Gesicht zu den anderen, „dafür wäre das viel zu gut geschauspielert gewesen.“
Spöttisch entgegnete Patrick: „Womöglich hatte er darin auch einfach nur seine Wertsachen versteckt und jetzt will er verhindern, dass wir sie finden.“
Das hätte auch für mich auf den ersten Blick plausibel geklungen, wenn der Deutsche bei der ganzen Sache nicht so ausgesehen hätte wie als wenn ihm der Sensenmann höchstselbst einen Besuch abgestattet hätte. Eben das versuchte ich auch den anderen zu erklären, doch das zeigte ebenso wenig Erfolg wie als wenn man versucht mit Granit eine sinnvolle Konversation zu führen. Also gab ich es schlussendlich auf.
„Genug jetzt“, herrschte mich Patrick an, „Ich habe das Kommando über diese Truppe! Und ich sage, dass wir da reingehen! Keine Widerrede! Das ist ein Befehl!“
Also beugte ich mich widerwillig dem Willen der anderen. Auch wollte ich nicht als Feigling gelten, denn das könnte einen innerhalb des Soldatenkreises viel Ärger einbringen. Zumindest in diesem Haufen. Ob das auch bei anderen Einheiten ist kann ich nicht genau sagen.
Jedenfalls, wir gingen langsam auf die Tür zu. Kennst du das Gefühl, wenn deine Mitmenschen dich in eine Unternehmung hineinziehen und du schon gleich zu Beginn den Eindruck hast, dass die ganze Sache böse enden könnte? Dieses Gefühl war bei mir in diesem Moment überpräsent. Da ich mich hier nicht als mutigen Helden inszenieren will sage ich es gleich vorweg. Ja, ich hatte Angst und ich war froh, dass die anderen mein leichtes Zittern nicht bemerkten. Ich wollte da nicht rein aber ich hatte keine andere Wahl. Befehl ist schließlich Befehl und Befehlsverweigerung konnte einen in gerade so einen auf dem ersten Blick „harmlosen“ Fall teuer zu stehen kommen.
Mit jedem Schritt, dem wir dem Haus näherkamen, fühlte sich mein Magen schwerer und meine Brust enger an. Ich wusste selber nicht genau, wovor ich eigentlich Angst hatte. Schließlich waren wir Fünf Leute, bewaffnet, kampferfahren und das Haus schien verlassen zu sein. Ja, das, was der Deutsche sagte, war die Ursache meiner Angst, ich weiß. Aber auch er konnte uns ja nicht sagen, was uns angeblich erwarten würde. Vielleicht hatte ich Angst vor dem Unbekannten. Ich gebe offen zu, dass, wenn man mich damals gefragt hätte, ob ich an übernatürliche Wesen und Dinge glauben würde, ich mit „Weiß ich nicht“ geantwortet hätte. Sagen wir mal so: Bis der endgültige Beweis erbracht war, dass es nichts Übernatürliches geben würde und bis zu dem Zeitpunkt, wo alle Mysterien entschlüsselt worden wären, würde ich mich auf kein Ja oder Nein festlegen.
Nun, wir gingen nacheinander die kleine aber breite Treppe von vier Stufen, welche zur Tür führte, hoch. Ich versuchte, ruhig ein und aus zu atmen und die Angst aus meinen Herzen zu verbannen. Was mir aber eher mäßig gelang. Patrick, John und Franklin wollten die Doppeltür eintreten, doch dies ist gar nicht nötig gewesen. Denn als Phil sie öffnen wollte und gegen sie drückte schwang sie langsam und quietschend auf. Die Doppeltür ist nicht verschlossen gewesen. Zuerst waren wir etwas verdutzt, doch das legte sich schnell.
„Na dann“, sagte Patrick gut gestimmt und trat ein.
Die anderen folgten ihm. Ich hingegen folgte als letzter, da ich mir innerlich einen Ruck geben musste. Meine Beine wollten sich einfach nicht in Gang setzen. Als ich eintrat schlug mir eine Wolke dicker und staubiger Luft entgegen. Das reichte schon aus um zu wissen, dass in diesem Haus schon seit Jahren niemand mehr gelüftet hatte. Ich sah mich um. Dies war ganz klar die Eingangshalle. Groß… und vor allem dunkel und leer. Nur wenig Licht schien durch die Fenster in die Halle. Es hingen zwar ein paar Ölgemälde an den Wänden aber ansonsten war der Raum vollständig leer. Einige Meter vor uns befand sich eine große Treppe, die anscheinend in das höhergelegene nächste Stockwerk führte. Daneben führten noch zwei Gänge, welche bei zwei kleinen Türen endeten. Die ganze Halle war von einer Zentimeterdicken Staubschicht bedeckt. Ebenso die Bilder an den Wänden.
„Wahrlich“, dachte ich stillschweigend, „hier ist schon seit Jahren niemand mehr gewesen.“
Ich wurde von Patrick aus den Gedanken gerissen, als dieser sagte: „Dann lasst uns mal sehen, ob wir hier etwas interessantes finden.“
Glücklicherweise ordnete er nicht an, dass wir uns aufteilen sollten. Denn das hätte bedeutet, dass ich alleine durch dieses unheimliche Gebäude hätte gehen müssen. Und das wollte ich auf gar keinen Fall. Also gingen wir als Gruppe los und fingen unten an. Jeder unserer Schritte wirbelte dicke Staubflocken auf, welche sich entweder an unseren Uniformen festhingen oder hinter uns wieder zu Boden sanken. Die beiden Räume, die es hier unten gab, waren auch die einzigen in diesem Stockwerk. Zu holen gab es dort aber nichts, denn bei den einen Raum handelte es sich um die Küche und bei den anderen um das Bad. Das Bad erkannte man nur an den Fliesen, denn auch dort war bis auf dem Staub alles leergefegt. Und in der Küche hingen neben dem Staub nur noch einige vom Rost zerfressene Küchengeräte wie Messer, Fleischerbeile oder Kochtöpfe an den Wänden. Phil und John waren schon jetzt frustriert, während ich wie schon gesagt nur hier wegwollte. Patrick und Franklin hingegen waren noch sehr motiviert und trieben uns an nach oben zu gehen. Patrick ging voran und ich bildete das Schlusslicht. Wir gingen die aus Marmor bestehende Treppe hinauf ins nächste Stockwerk. Oben angekommen erreichten wir einen langgezogenen Gang, welcher gerade noch so hell war, dass man sehen konnte. Links und rechts lagen gut und gern insgesamt zwei Dutzend Zimmer, worauf zumindest die betreffende Anzahl von Türen schließen ließ.
Franklin stieß ein langgezogenes Pfeifen aus und sagte ehrlich beeindruckt: „Junge, wer hier gelebt hat muss ganz schön viel Geld gehabt haben.“
Die anderen pflichteten ihm bei. Ich jedoch sagte nichts. Ich betrachtete den Gang.
„Irgendwas stimmt hier nicht“, dachte ich.
Das Haus stand offensichtlich schon seit Jahren, wenn nicht gar seit Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten, leer und war verlassen, jedoch konnte ich soweit ich das beurteilen konnte keine Witterungsschäden wie sie normalerweise in solchen Fällen auftreten feststellen. Im Großen und Ganzen wirkte es von dem Punkt aus betrachtet eher so, als wäre das Haus erst kürzlich geräumt worden.
Bevor ich jedoch darüber weiter nachdenken konnte setzte sich die Truppe wieder in Bewegung. Wir standen alle vor der ersten Tür links und Phil öffnete diese. Sie öffnete sich knarrend, wir traten alle gemeinsam ein und blieben drinnen wie versteinert stehen. Mir verschlug es die Sprache, ebenso wie den anderen. Es war ein altes, schlicht eingerichtetes Schlafzimmer, ebenfalls vom Staub überzogen. Doch das war es nicht, was uns in seinen Bann zog. Mit Unglauben und offenen Mund starrte ich die Person an, welche dort stand und aus dem Fenster schaute. Die Person drehte sich langsam zu uns um, behielt einen neutralen Gesichtsausdruck bei, sagte kein Wort und sah jeden von uns einzeln mit ihren meergrünen Augen an. Es war eine wunderschöne junge Frau, nicht älter als 20 Jahre. Sie war das schönste Wesen, welches ich je in meinen Leben gesehen habe. Mein Herz schlug schneller als ich sie sah, jedoch machte mich eine Sache stutzig. Und zwar: Sie war weiß. Bitte verstehe das nicht falsch! Das klang jetzt sicher anders als ich es meinte. Aber sie war wirklich weiß. Sie hatte lange schneeweiße Haare, welche ihr geschmeidig und glatt auf den Rücken fielen. Ihre Haut sah zwar nicht viel anders aus als jene von anderen Menschen aus dem Norden Europas, jedoch war sie von einer Blässe, welche schon entfernt an die Farbe Weiß grenzte. Ebenso trug sie ein leichtes und strahlend weißes Kleid, welches auch ihre weiblichen Konturen betonte, dies jedoch nicht zu sehr. Das einzig andersfarbige an ihr waren ihre grünen Augen, die noch von einer gold-orangenen Spur durchzogen waren. Um es einmal bildlich zu sagen sah sie aus, wie man sich wohl einen Engel vorstellen würde. Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Die Angst und alle Fragen bezüglich dieses Ortes waren aus meinem Verstande herausgefegt. Dieses Mädchen füllte mein gesamtes Denken aus.
Jedoch hielt dies nicht lange an. Denn ich bemerkte, was Phil auf einmal trieb. Phil zog sich die Uniform aus. Von einer Sekunde auf die nächste befand ich mich wieder in der Wirklichkeit.
„Was machst du da?“, fragte ich ihn fassungslos, obwohl ich die Antwort schon kannte.
„Na, was denkst du?“, stellte er mir als Gegenfrage und fuhr fort, „Ich mache mir jetzt eine schöne Zeit.“
Sein perfides Grinsen trieb mich zur Weißglut. Ich explodierte förmlich. Ich brüllte ihn an, was ihm einfallen würde, dass er dies nicht tun könne, dass sein Treiben unsoldatisch wäre, dass er nichts weiter sei als ein verabscheuungswürdiges und triebgesteuertes Tier, welches den Anschluss an die Zivilisation verloren hätte und vieles mehr. Im ersten Moment waren meine Kameraden verwirrt und überrascht, denn ein solches Verhalten kannten sie von mir nicht. Ich war selber überrascht, denn eigentlich war ich neben Tom der stille Typ in der Truppe. Dann brüllte Phil zurück. Er brüllte, dass ich mich nicht in seine Sachen einzumischen habe, dass Krieg herrsche und deswegen die Regeln der Zivilisation temporär aufgehoben seien, dass man jeden Tag damit rechnen müsse im Kampf zu fallen und man deswegen jede sich bietende Gelegenheit nutzen müsse. Seine Begründungen für sein Tun trieben mir Galle in den Rachen. Ob Krieg herrschte oder nicht, egal aus welchem Land dieser Welt man stammt und egal ob man die Bewohner eines anderen Landes hasst oder nicht: Nichts, absolut gar nichts, rechtfertigt solche Taten. Gerade im Krieg muss man sich zivilisiert und ehrenhaft verhalten, so sehe ich das!
Gerade als ich auf Phil losgehen wollte mischte sich Patrick ein. Der naive Teil in mir hoffte, dass er mir Recht geben würde. Jedoch wusste ich gleich zu Beginn, dass er sich auf die Seite seines Bruders stellen würde. Und so war es auch. Er schrie mich an, dass ich mein Maul zu halten habe und zurücktreten soll. Ich starrte ihn mit blanker Wut in die Augen und schrie zurück, dass er als Kommandant dieser Truppe für Disziplin zu sorgen habe.
Dann ging alles ganz schnell. Er zog seine Pistole und zielte auf meinen Bauch. Vor Schreck und Unglauben wich ich einen Schritt zurück und es wurde totenstill.
Dann flüsterte er: „Halt dein elendiges Maul! Ich entscheide, was hier rechtens ist. Mach so weiter und ich pumpe dich mit Blei voll!“
Er machte eine kurze Pause. Ich wusste, dass er das ernst meinte und auch, dass er seinen Bruder gewähren lassen würde. Schließlich waren beide vom gleichen Schlag. Dennoch fiel es mir schwer zu verstehen, dass er seinen eigenen Kameraden erschießen würde. Aber, das wusste ich, er würde es tun ohne mit der Wimper zu zucken.
Dann flüsterte er weiter: „Und komme ja nicht auf die Idee irgendjemanden hiervon zu erzählen! Du bist alleine gegen uns Vier. Egal, was dann passieren würde, du ziehst den Kürzeren!“
Wieder eine kurze Pause.
„Philbert bleibt hier und kommt später nach“, fuhr er fort, „In der Zwischenzeit schauen wir uns weiterhin nach Wertsachen um. Und ich dulde keine Widerrede! Hast du mich verstanden?“
Ich antwortete nicht, sondern war darum bemüht, dass alles zu verarbeiten. Ich atmete schwer und starrte jedem wütend ins Gesicht. Als mein Blick aber auf das Mädchen fiel machte sich Verwirrung in mir breit. Ich dachte, auch wenn sie unser Gestreite nicht verstand wird sie ja wohl verstanden haben worum es überhaupt ging. Wenn sie wusste, worum es hier ging, ließ sie sich es aber nicht anmerken, denn sie stand immer noch unverändert da. In der gleichen Position und mit dem gleichen Gesichtsausdruck. Jedoch war ihr Blick fest auf mich geheftet. Ich konnte das alles dann einfach nicht mehr ertragen. Ich stürmte aus dem Zimmer raus, rempelte John dabei unsanft aus dem Weg und brachte einige Meter Entfernung zwischen mir und dem Zimmer, wobei ich Mühe hatte die Zornestränen zurückzuhalten. Kurz darauf kamen auch die anderen bis auf Phil heraus.
Franklin kam als letzter und ehe er die Tür schloss sagte er mit einem höhnischen Grinsen: „Lass mir noch was übrig.“
Ich wartete draußen im Gang, während sie die nächsten vier Zimmer absuchten. Indes wartete ich vor Wut zitternd auf dem Boden sitzend auf die herzzerreißenden Schreie des Mädchens. Doch… es passierte nichts. Im Zimmer blieb es totenstill wie in einer Gruft. Auch von Phil war nichts zu hören. Eigentlich hätte er schon anfangen müssen, dachte ich. Warum war es dann so still? Damals hatte ich in derartigen Dingen noch keine Erfahrung, dennoch wusste ich, dass selbst wenn so etwas einvernehmlich geschehen würde dabei Geräusche entstehen. Aber keine Grabesstille. Doch nachsehen wollte ich auch nicht. Denn wenn ich sehen würde was er diesem Mädchen da antut stünde die Chance nicht schlecht, dass ich meine Regel, keinen Menschen zu töten, brechen würde. Und das würde hier auch mein Ende bedeuten. Also wartete ich und versuchte nicht daran zu denken, was in dem Zimmer gerade geschehen mochte.
Die anderen brauchten ungefähr 25 Minuten um sich durch die Zimmer bis zu mir durchzuarbeiten. 25 Minuten, in denen aus dem Zimmer mit dem Mädchen kein einziger Laut drang.
Als sie mich erreichten fragte ich sarkastisch: „Und? Irgendwas von Wert gefunden?“
Die Frage hätte ich mir auch sparen können, denn ich sah an ihren Gesichtern, dass sie noch immer leer ausgegangen waren.
„Nein“, sagte Franklin entnervt, „Nichts. Nur Staub und hin und wieder ein rostiges Stück Altmetall.“
Ich musste mir mühsam ein Grinsen verkneifen.
„Geschieht euch nur recht, ihr Dreckssäcke“, dachte ich.
Bis jetzt wenigstens etwas Gerechtigkeit.
Ich stand auf um mich ihnen gezwungenermaßen wieder bei der Durchsuchung des nächsten Zimmers anzuschließen, als John etwas sagte, was erneut meine Besorgnis hervorrief.
„Dieses Mädchen“, sagte er nachdenklich und runzelte die Stirn, „habt ihr eigentlich schon einmal einen Menschen mit solch blasser Haut und schneeweißen Haaren in diesem jungen Alter gesehen?“
Stimmt. Welcher Mensch sah eigentlich so aus? Ein flaues Gefühl machte sich wieder in meinen Magen breit, doch ehe auch nur einer von uns etwas sagen konnte schallte ein lautes „Klong“ durch den Gang und wir erschreckten uns zu Tode. Mit großen Augen und klopfenden Herzen starrten wir in die Richtung, aus welcher das Geräusch kam. Eigentlich hätte man erwarten können, dass die Quelle des Geräusches hinter uns und im Zimmer des weißen Mädchens lag. Nun, schön wäre es gewesen. Die Quelle des Geräusches lag vor uns und beim genaueren betrachten des Ganges konnten wir an dessen Ende eine schwarze Doppeltür erkennen. Das Geräusch kam von dahinter.
„Was war das?“, fragte ich nervös.
Es verging ein kurzer Augenblick ehe Patrick mit echter Besorgnis in der Stimme antwortete: „Das war eine zuschlagende Tür.“
Nach einem weiteren Moment schlussfolgerte er: „Da ist noch jemand.“
Die anderen zogen ihre Maschinenpistolen, die sie beim Eintritt in dieses Gebäude wieder aufgeschnallt hatten, wieder vom Rücken und auch ich schloss mich ihnen an. Ich wollte wie schon gesagt niemanden töten, jedoch wollte ich für den Fall mich verteidigen zu müssen vorbereitet sein. Die Waffen im Anschlag und auf die Doppeltür zielend gingen wir nach vorne. Phil und das Mädchen waren in diesem Moment vergessen. Mir war nicht wohl bei der Sache.
„Der Schuppen wird ja immer gruseliger“, murmelte ich.
„Still jetzt!“, zischte Patrick.
Wir erreichten die Tür und sachte presste ich mein Ohr an diese und lauschte. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich voll und ganz auf mein Gehör. Und dann… dann hörte ich es. Da waren Schritte. Schritte und eine Art undeutliches Geflüster. Langsam öffnete ich die Augen und formte mit dem Mund das Wort „Schritte“. Patrick nickte mir zu und wir brachten uns leise in Stellung. Die Waffen auf die Tür gerichtet, bereit, den dahinter liegenden Raum zu erstürmen. Dann trat Patrick die Tür mit voller Wucht ein, welche mit einem lauten Krachen aufflog. Wir gingen rein. Ich sah mich zuerst im Raum um. Es war ein relativ großer Raum. Nicht minder dunkel wie die anderen und auch nicht minder staubig. Der Raum war im Prinzip leer, jedoch war auf der linken Seite ein Kamin in der Wand eingelassen und an beiden Seiten daneben war jeweils eine große Tür. Aber so etwas wie einen Tisch oder Stühle suchte man hier vergebens. Drei wirklich große Fenster auf der rechten Seite ließen etwas Licht herein, doch wurden sie größtenteils von schweren dunklen Vorhängen bedeckt und, und das klingt jetzt vermutlich unlogisch, selbst das wenige Licht, welches hereinschien, wirkte kalt, dunkel und vergiftet. Erst dann fiel mir die Gestalt auf, welche exakt in der Mitte des Raumes stand. Er, es war zweifellos ein Mann, stand mit gesenktem Kopf mit dem Rücken uns zugewandt vor uns. Wir richteten die Waffen auf ihn und machten uns auf das aus meiner Sicht schlimmste gefasst.
Patrick sagte dann zu mir: „William, sage ihm er solle sich ganz langsam zu uns drehen und die Hände dort lassen, wo ich sie sehen kann.“
Ich öffnete schon den Mund um zu übersetzen, jedoch war dies gar nicht nötig. Der Mann hatte Patrick verstanden. Langsam drehte er sich um und ich erschrak. War das Mädchen der Inbegriff der Schönheit und Sinnlichkeit, so war dieser Mann das genaue Gegenteil. Er war vollständig in schwarz gekleidet, hatte eingesunkene Augen, eine tot aussehende Haut, aschfahle Lippen, war abgemagert, seine Kleidung sah so aus als hätte er sie seit Zehn Jahren nicht mehr ausgezogen und alle seine Zähne waren verfault.
Als er sich zu uns umgedreht hatte sagte er in perfektem Englisch: „Meine Gebieterin wünscht euch willkommen!“
Bei jedem Wort lief ihm eine Mischung aus Eiter und Blut in dünnen Rinnsalen aus dem Mund. Angeekelt und verunsichert ging ich gleich zwei Schritte nach hinten. Seine Stimme allein brachte schon ihren Anteil dazu bei. Wenn ich seine Stimme mit einem Wort beschreiben müsste, so würde ich das Wort „Grausam“ wählen.
Nachdem er fertig war starrte er uns alle einzeln mit einem breiten Grinsen an, welches seine verfaulten Zähne entblößte. Doch schnell wechselte sein Gesicht zu einem Ausdruck der Verachtung und er fragte provokant: „Ist hier einer in diesem Haufen der ermächtigt ist mit mir zu verhandeln?“
Patrick antwortete voller Abscheu: „Hier gibt es nichts zu verhandeln! Wir sind gekommen um uns an euren Wertsachen, die ihr hier sicher irgendwo versteckt habt, gütlich zu tun. Also, wenn du nicht Bekanntschaft mit meiner Maschinenpistole machen willst, dann verrate uns mal lieber, wo ihr das Zeug versteckt habt!“
Noch während Patrick sprach hatte der Mann zornig die verfaulenden Zähne aufeinandergepresst und ließ ein wütendes Knurren vernehmen, wobei ihm noch mehr von diesem Blut-Eiter-Gemisch aus dem Mund lief. Bis auf Patrick wichen nun auch die anderen vor dem Mann zurück, hielten dabei aber gleichzeitig die Maschinenpistolen auf ihn gerichtet. Bis auf Patrick machte sich in uns allen ein sehr unangenehmes Gefühl breit. Diese ganze Situation stank einfach unnatürlich zum Himmel. Dann fiel mit einem lauten Krachen die Doppeltür wieder hinter uns zu und ich erschrak mich beinahe zu Tode. Ob sie einfach wieder auf einen normalen Weg zugefallen ist oder ob sie sozusagen zugestoßen beziehungsweise zugezogen wurde kann ich nicht sagen. Wir alle waren schließlich auf dieses Etwas von einem Mann fixiert und bekamen nicht mit ob und wenn Ja was hinter uns geschah. Ich wollte gerade die Türen wieder aufziehen, als ich innehielt. Da war es wieder. Dieses undeutliche flüstern. Ich verstand nicht, was es sagte und versuchte, die Quelle auszumachen. Auch die anderen hörten dieses flüstern und versuchten im Raum die Quelle mittels ihrer besorgten Blicke zu finden. Doch es schien keine wirkliche Quelle zu geben. Das Flüstern war omnipräsent. Der einzige, der nicht nach der Quelle des Flüsterns suchte, war dieser seltsame und unheimliche Mann. Dann, ganz plötzlich, riss er den Mund auf und atmete in etwa so ein, wie wenn man sich an eine wichtige zu überbringende Botschaft erinnert. Dann passierte etwas, was ich bis zu meinem letzten Atemzug nicht mehr vergessen werde.
Der Mann sagte zu Patrick: „Ich habe den Gegenstand, den dir zu zeigen mir befohlen wurde!“
Erst da fiel mir der Sack auf, den er in der einen Hand hielt. Er griff hinein… und zog Phils abgerissenen Kopf heraus. Es war leicht, ihn als Philberts Kopf zu erkennen. Jedoch fehlte der gesamte Unterkiefer, welcher mit brachialer Gewalt herausgebrochen wurde.
„Philbert“, keuchte der nun leichenblasse Patrick leise, während ihm die Maschinenpistole aus den Händen glitt. Die anderen starrten fassungslos mit offenen Mündern den ramponierten Schädel an und stolperten einen weiteren Schritt zurück, während ich starr vor Schreck dastand, unfähig mich zu bewegen.
Ein leichtes Knurren verließ die Kehle des Mannes als er Patrick den Kopf zu warf. Patrick fing den blutigen Schädel auf und ich sah, dass aus Phils toten Augen der nackte Schrecken sprach. Mir wurde übel und nur mit Mühe konnte ich den Inhalt meines Magens auch in diesem drin behalten. Als Patrick weinend, mit Phils Kopf in den Armen, auf den Boden zusammenbrach und immer wieder „Nein, Nein“ schrie, riss der Mann seinen Mund auf und ließ diesem ein lautes Knurren entweichen, aus welchem der pure Genuss mitschwang. Ich weiß nicht, was mich in diesem Moment mehr schockierte: Das, was hier gerade passierte oder dass Patrick, welcher ohne mit der Wimper zu zucken einen unbewaffneten Menschen töten konnte, jetzt weinend am Boden saß. Ich sah wieder zu dem Mann, dessen Blick ganz auf Patrick lag.
„Der Jüngling war dir teuer wie ich sehe“, sagte der Mann langsam und gedehnt, jede Sekunde dabei auskostend, „Wisse, dass er durch die Hand seiner Gastgeberin sehr gelitten hat.“
Er legte eine Pause ein um die Wirkung seiner zermarternden Worte auf uns alle voll und ganz auszukosten.
Dann fuhr er fort: „Wer hätte gedacht, dass jemand der so jung und unerfahren ist, solch große Schmerzen erträgt.“
Wieder eine Pause. Er fuhr erst fort, als Patrick ihn mit Trauer und Schmerz im Gesicht anblickte.
Mit einen verspannten aber genießenden leichten lächeln sagte er: „Und das hat er, Patrick. Das hat er.“
Für eine kurzen Moment stellte sich mir die Frage, woher er Patricks Namen kannte. Doch ich schob diese Frage beiseite, da ich die Antwort im Moment auch gar nicht wirklich wissen wollte. Und selbst falls doch, so werde ich die Antwort auf die Frage auch nie erfahren. Denn bevor wir irgendwas machen konnten fing der Mann an zu lachen. Kein irres Gelächter, wie man es aus einem schlechten Horrorfilm kennen würde, sondern ein langsames, grausames, spottendes und auch sadistisches Gelächter. Ich war vor Schreck wie gelähmt, den anderen erging es wohl genauso, und mit Entsetzen sah ich, wie sich Risse im Gesicht und im Körper des Mannes bildeten, während er weiterhin lachte. Die Risse wurden immer größer und mehrere Fetzen seiner bleichen Totenhaut und seines Fleisches fielen von ihm herab, was ihm aber gar nicht zu stören schien. Kurz darauf waren an einigen Stellen schon die Knochen zu sehen. Und dann passierte es. Von einer Sekunde auf die nächste zerfiel der Mann zu Asche und diese fiel prasselnd zu Boden. Das Gelächter hallte hingegen noch einige Momente nach. Ich war noch einige Sekunden in der Schreckstarre gefangen und Tausende von Fragen rasten mir durch den Kopf. Ein unheimliches Leeregefühl hatte von mir Besitz ergriffen und jede noch so kleine Bewegung fühlte sich an, als hätte ich Blei in den Gliedern. Ich glaube, der einzige Grund, weswegen nicht meine Nerven mit mir durchgingen, war, dass der Schock sämtliches Gefühlsempfinden für den Moment betäubte. Nur dieses Gefühl der inneren Leere konnte sich durchsetzen. Ich atmete einige Male tief ein und aus und schaffte es so nach einigen Momenten, den Kopf wieder einigermaßen freizubekommen. Dies war auch nötig, denn jetzt zählte nur noch eines für mich: Ich musste hier weg!
„Wir hätten niemals hierherkommen dürfen“, rief ich, „Los! Raus hier!“
Während die anderen noch immer mit weit geöffneten Augen das Häufchen Asche anstarrten, bis auf Patrick, denn dieser betrauerte weinend seinen toten Bruder, welches einmal diese Gestalt von einem Mann gewesen ist, stürmte ich zur Tür. Ich ergriff die Türgriffe und zog so fest wie ich nur konnte. Und dann der nächste Schock. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie war fest verriegelt. Ich versuchte es mit ziehen, drücken, ja ich warf mich sogar gegen die Tür. Doch nichts half. Sie bewegte sich nicht einen Millimeter. Spätestens jetzt packte mich die blanke Panik. In einer verzweifelten Überreaktion zog ich meine Maschinenpistole und schoss auf die Tür und das Türschloss, beziehungsweise das, was ich für das Schloss dieser Doppeltür hielt, und leerte dabei das halbe Magazin. Das Rattern der Schüsse hallte donnernd in dem leeren Raum wider und wirkte dabei schon fast wie eine unheilverkündende Kirchenglocke. Nachdem ich das halbe Patronenmagazin in die Tür gejagt hatte keimte kurz Hoffnung in mir auf. Doch diese wurde schnell zunichte gemacht als ich mich erneut gegen die Tür warf. Sie rührte sich noch immer nicht einen Millimeter vom Fleck. Ich hatte gehofft, dass die Kugeln die Tür soweit beschädigen würden, dass man sie aufbrechen könnte oder dass die Kugeln Schloss und Riegel der Tür zerstören würden. Das Gefühl einer überwältigenden Ohnmacht traf mich wie eine Faust in den Magen, als ich realisierte, dass sich diese Tür nicht eher öffnen würde ehe sich irgendjemand oder irgendetwas, ich wusste schon da, dass es die weiße Frau war, wünschen würde, dass sich die Tür wieder öffnen würde. Ich trat zwei Schritte zurück und starrte ungläubig diese Tür an. Der Weg war versperrt. Wir waren hier gefangen.
Ich brauchte einige Momente um mich wieder zu fangen und musste tief ein und ausatmen, um ruhig zu bleiben. Meine Beine wollten nachgeben, jedoch gemahnte ich mir selbst, dass ich jetzt einen klaren Kopf behalten musste. Würden wir jetzt die Nerven verlieren wäre es um uns alle geschehen, hämmerte ich mir mit aller Gewalt in den Verstand ein. Nach einer kurzen Atempause drehte ich mich zu den anderen um. John und Franklin starrten noch immer wie paralysiert, mit offenen Mündern und schreckgeweiteten Augen das Häufchen Asche an, während Patrick weiterhin am Boden saß, den Schädel in seinen Armen hielt, und schluchzte.
„Wir müssen hier raus“, sagte ich laut, darum bemüht meine Stimme klar und nicht ängstlich klingen zu lassen, was aber in Anbetracht der Lage äußerst schwer zu meistern war.
Allmählich konnten sich John und Franklin aus ihrer Starre lösen, dennoch wich das Entsetzen nicht aus ihren Gesichtern. Leichenblass starrten sie mich an.
„Wir müssen einen Weg hieraus finden“, sagte ich deutlicher.
Meine Stimme war an einige Stellen wackelig und ich spürte, dass ich zitterte.
John nickte langsam und wollte mit wackeligen Beinen zur großen Doppeltür gehen von der wir gekommen waren, jedoch hielt ich ihn davon ab.
„Zwecklos“, sagte ich, „Die Tür ist verriegelt. Wir müssen einen anderen Weg finden.“
John starrte mich an und aus seinen Augen sprach die pure Verzweiflung. Wortlos setzte er sich auf den Boden und legte das Gesicht in die Hände. Auch Franklin ging nun etwas in den Raum umher. Ich versuchte nachzudenken. Der Weg, durch den wir gekommen waren, war uns versperrt. Jetzt blieben nur noch diese zwei anderen Türen neben den Kamin… oder die Fenster. Ich blickte auf die Fenster und überlegte, ob man diese zertrümmern und dann auf diesem Weg irgendwie herunter klettern könnte. Franklin hatte anscheinend die gleiche Überlegung wie ich, denn mit langsamen und schlurfenden Schritten hielt er direkt auf die Fenster zu. Dort angekommen zog er bei einem der Fenster die schweren Vorhänge zur Seite, wobei sich jede Menge Staub von den Vorhängen löste und auf ihn niederregnete. Er jedoch kümmerte sich nicht darum und blickte aus dem Fenster nach unten. Unterdessen hatte ich den Eindruck, dass der Raum nur ein kleines Stückweit durch das nun einströmende Licht erhellt wurde. Und, so hatte ich den Eindruck, er wirkte dadurch nur noch unheimlicher und lebensfeindlicher. Nun musste auch ich mich kurz hinsetzen, da ich das Gefühl hatte, dass meine Beine mein Gewicht nicht mehr tragen konnten.
Ich blickte zu Franklin, welcher wiederum mehr oder weniger konzentriert noch immer aus dem Fenster schaute.
Dann sagte er: „Hier kommen wir nicht raus. Wir sind zu hoch. Ein Sprung aus dieser Höhe würde uns mit Sicherheit sämtliche Knochen brechen. Oder aber uns würde das Gestrüpp an der Hauswand aufspießen.“
Ich schloss resigniert die Augen und atmete hörbar aus. Sicher, ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir diesem Horrorschuppen schnell hätten entfliehen können, doch ich hatte es zum Teil gehofft. Die bittere Enttäuschung war für mich wie ein schwerer Schlag in den Magen. Dennoch wollte ich so schnell noch nicht die Möglichkeit aus dem Fenster zu entkommen aufgeben.
„Gibt es irgendwie die Möglichkeit, dass wir an der Fassade des Hauses hinunter klettern können oder uns zumindest bis zum Haupttor hangeln können?“, fragte ich matt.
Würden wir bis zum Haupteingang des Hauses klettern können, so mein Kalkül, könnte man vom Haupttor aus leicht hinunterklettern. Doch auch hier wurde ich enttäuscht.
Franklin schüttelte den Kopf und während er sich wieder zu uns gesellte sagte er: „Keine Chance. Die Hauswand hat keinerlei Vorsprünge oder Flächen auf welchen man Halt finden könnte. Die Wand ist so glatt, als wäre sie aus Beton gegossen. Würden wir es mit klettern versuchen würden wir direkt abstürzen.“
Meine Hoffnung schwand und ein Kloß bildete sich in meinen Hals. Also mussten wir versuchen, einen Ausweg über diese Türen zu finden, wohin auch immer sie uns führen würden. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass die Chance, einen Ausweg über diese Türen zu finden eher schlecht stand. Und allmählich bekam ich den Eindruck, dass irgendjemand oder irgendetwas wollte, dass wir diesen Weg gingen. Beide Gedanken verbannte ich aus meinem Kopf. Ich wollte nicht die Hoffnung verlieren, zumindest noch nicht so früh. Und welche anderen Möglichkeiten hatten wir schon? Wir konnten hierbleiben und warten oder wir setzten uns in Bewegung und suchen wenigstens nach einer Fluchtmöglichkeit.
Also erhob ich mich langsam und sagte: „Gehen wir. Wir können nicht hierbleiben. Suchen wir nach einem Weg hieraus.“
Ich wollte gerade zu der sich links neben den Kamin befindlichen Tür gehen, als Patrick mich aufhielt.
Mit brüchiger Stimme sagte er: „Wir werden dieses Haus nicht eher verlassen wie wir die Frau gefunden haben!“
Ich war sprachlos.
Langsam drehte ich mich zu ihm um und fragte verständnislos: „Wie bitte?“
Er sah mich direkt an, erhob sich, ließ den Kopf seines Bruders zu Boden gleiten, welcher mit einem widerlich schmatzenden Geräusch auf den Boden aufschlug, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte: „Wir gehen nicht, bevor ich sie für den Mord an meinen Bruder habe zahlen lassen. Und ihr werdet mir folgen! Das ist ein…“
Als er das sagte brannte bei mir die Sicherung durch.
Ich ließ ihn gar nicht erst ausreden und brüllte zornentbrannt: „Ich scheiße auf deine Befehle! Ich scheiße auf dich, deinen Bruder und deine Rachsucht! Hier geht es nicht darum, dass du dieses Ekel von deinem Bruder rächen kannst! Er ist vermutlich selber schuld an dem, was ihm widerfahren ist! Und bevor du mir jetzt mit Strafe für Befehlsverweigerung drohst frage ich dich: Hast du nicht kapiert was hier eben abgegangen ist? Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu! Wir müssen so schnell wie es nur geht einen Weg hieraus finden, wenn wir überleben wollen! Verstehst du das nicht?“
Danach standen wir uns schwer atmend gegenüber. Ich konnte sehen wie es hinter Patricks Schädelplatte arbeitete. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und eine davon war auffällig nahe an seinen Pistolenholster. Auch ich hatte meine Maschinenpistole in Stellung, um für den Notfall nicht als nächster das Zeitliche zu segnen. Es war das erste Mal, dass ich jemanden solche Worte in so einer Art an den Kopf geschleudert habe. Schwer gefallen ist es mir nicht, da ich keinerlei Mitleid für Patrick oder Phil empfand. Im Prinzip ist ihnen das Unheil widerfahren, welches sie schon oft über andere gebracht hatten. Und ich sah, dass wenn Patrick mich bisher noch nicht gehasst hatte, er es spätestens jetzt aus tiefster Seele tat.
Einige Momente verharrten wir so, wie zum Zerreißen gespannt. Dann mischte sich John ein.
Er sagte um einiges sanfter als ich: „Patrick, William hat recht.“
Er packte Patrick am rechten Arm um seinen folgenden Worten Nachdruck zu verleihen.
„Wir müssen hier weg!“
Daraufhin bedachte mich Patrick mit einem letzten verhassten Blick, schloss die Augen, atmete einmal tief durch und entspannte sich ein wenig. Daraufhin ließ auch ich meine Maschinenpistole ein Stück sinken und entspannte mich etwas. Dennoch, ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er mich doch am liebsten einfach niederschießen würde. Also wandte ich mich ab und hielt mit großen Schritten auf die linke Tür zu. Dabei murmelte ich auf Deutsch „Elendiger Drecksack“, worauf Patrick, welcher kein Deutsch sprechen und verstehen konnte, mir hinterherrief: „Wie war das?“
„Nichts“, sagte ich angespannt, „Ich habe nur laut gedacht.“
Ich sah hinter beiden Türen nach. Hinter diesen befand sich jeweils eine Treppe, welche beide nach oben in ein weiteres Stockwerk führten. Jedoch führte die linke Treppe nach links und die rechte nach rechts. Wohin aber beide genau führten konnte man von unten aus betrachtet nicht sagen, da sie auf halber Höhe wendeten und so die Sicht auf ihr Ende verbargen. Nach kurzer Überlegung entschieden wir uns letztendlich für die linke Treppe, denn diese musste soweit ich das beurteilen konnte in Richtung Hausfront führen. In meinen Kopf zimmerte sich schnell ein Plan zusammen. Wir konnten zwar nicht an der Seitenfassade zum Haupttor klettern, jedoch glaubte ich über dem Torbogen und über dem Adlerwappen ein Fenster gesehen zu haben, welches sich auf der nun folgenden Etage befinden musste. Wenn wir es schaffen würden zu diesem Fenster zu gelangen, dann, so mein Gedanke, könnten wir von diesem Fenster aus auf den Torbogen gelangen und von dort leicht in die Freiheit klettern. Das war der Plan. Jedoch wollte ich gar nicht erst an die durchaus realistische Möglichkeit denken, dass der Plan auch völlig fehlschlagen könnte. Denn einen Plan B gab es vorerst nicht.
Wir stellten uns also alle mit unseren Waffen im Anschlag auf den Treppenabsatz auf und fingen dann langsam an uns nach vorne zu bewegen. Kurz kam mir der Gedanke, dass womöglich ein oder zwei Handgranaten in diesem Gebäude geholfen hätten, die Tür, die uns bisher am Fliehen hinderte, zu durchbrechen. Doch ausgerechnet ist Phil der einzige von uns gewesen, der welche dabeigehabt hatte. Und dessen Leiche war für uns ohnehin unerreichbar, egal ob diese noch in dem Zimmer lag oder nicht. Kurz bevor wir die Treppe hochgingen hatte Patrick einen letzten schmerzerfüllten Blick auf Phils Schädel geworfen, doch es war für uns nicht möglich, diesen mitzunehmen. Noch dazu wollte keiner von uns den Schädel anfassen, mit Ausnahme von Patrick.
Langsam gingen wir die Stufen hoch, als sich mir wieder die Nackenhaare aufstellten und sich die Angst erneut in mir breit machte und mir dabei fast die Luft abschnürte. Auch fing ich wieder an zu zittern. Den anderen erging es wohl ähnlich, denn wenn man in ihre Gesichter schaute sprang einen ihre Angst förmlich ins Auge. Der Schock über Phils Tod war für das erste vergessen. Unsere Angst überwog, denn jetzt befanden wir uns wieder in uns völlig unbekanntem Gebiet. Und selbstverständlich fürchteten wir uns auch vor dem, was noch auf uns zukommen konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir im Halbdunkel das Ende der Treppe, welches zu einer schwarzen Tür führte. Besagte Tür war von der gleichen Art wie die anderen Türen, die wir auf den Weg bis hierher passiert hatten, jedoch war diese hier etwas kleiner. Ich trat vor und versuchte sie zu öffnen, doch es tat sich nichts. Für eine Sekunde des Schreckens dachte ich, dass uns auch hier der Weg versperrt wäre. Doch zu meiner großen Erleichterung stellte ich fest, dass die Tür lediglich klemmte. Ich atmete erleichtert aus und deutete den anderen wortlos mir mit der Tür zu helfen. Zuerst versuchten wir sie aufzuschieben, doch das brachte bis auf ein leises knirschen rein gar nichts. Also warfen wir uns mit aller Kraft gemeinsam dagegen. Zuerst einmal. Dann zweimal. Und beim dritten Mal flog die Tür scheppernd auf.
Durch den Schwung stolperten wir direkt in den nächsten Raum rein. Ich sah auf… und bekam beinahe einen Herzstillstand. Wir befanden uns in einer großen Halle mit einem Schachbrettmuster auf dem Boden. Ein sehr langer Tisch mit verrosteten Tellern und Besteck darauf zog sich durch den Raum mit etlichen Stühlen und drei verrostete Kronleuchter hingen von der Decke. Doch nicht das jagte mir den bis dahin größten Schock meines Lebens ein. Gerade einmal drei Meter vor uns stand aufrecht die weiße Frau und blickte uns mit einem ruhigen beziehungsweise neutralen Gesichtsausdruck an. Ich konnte kaum atmen und mit angstgeweiteten Augen starrte ich sie an. Wie um alles in der Welt ist sie hierhergekommen? Sie hätte dafür an uns vorbeigemusst und eben dies ist nicht geschehen. Andererseits ließ sich in diesem Haus ohnehin nichts mehr mit Logik und rationalen Denken erklären. Dann bemerkten auch die anderen sie und blieben wie erstarrt stehen, ebenso entsetzt wie ich. Dann wanderte ihr Blick durch unsere Gruppe. Nacheinander sah sie jedem von uns in die Augen. Zuerst John, danach Franklin gefolgt von Patrick und zuletzt mir. Als ihr Blick meinen kreuzte fühlte ich mich so, als würden Tausend dünne Nähnadeln aus meiner Haut rausstechen und als würde jeder Tropfen Blut aus meinen Venen gezogen werden. Ich weiß nicht, ob ich mir das nur eingebildet hatte, aber ich glaube, dass ihr Blick den meinen länger kreuzte als den der anderen. Falls ja, so kann ich aber nicht sagen ob es was zu bedeuten hatte. Danach wandte sich ihr Blick wieder Patrick zu. Mir wurde kalt und gleichzeitig heiß und mein Atem beschleunigte sich, während mir das Herz bis zum Halse schlug.
„Was passiert jetzt?“, dachte ich.
Nun, für einige Momente geschah gar nichts. Niemand, weder wir noch das Mädchen, rührte sich. Wir starrten sie an und sie uns. Das einzige, was den Saal mit Geräuschen erfüllte, waren unsere Atemstöße.
Dann zog Patrick seine Maschinenpistole und schrie: „Das ist für meinen Bruder, du Miststück!“
Und ehe irgendjemand von uns irgendetwas machen konnte drückte er schon den Abzug und jagte das gesamte Magazin in das Mädchen hinein.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ein Teil in mir hoffte, dass er sie damit erledigen und wir dann endlich verschwinden konnten. Doch mein Verstand sagte mir, dass die Kugeln gar nichts erreichen würden. Und ich behielt Recht. Das Rattern der Maschinenpistole hallte durch den Saal und die Feuerstöße erhellten den Raum. Die Kugeln trafen sie in Brust und Bauch. Doch es passierte nichts. Sie fiel nicht um, ja, ihre Miene verzog sich nicht mal. Als das Magazin leer war wuchs der Schrecken für uns alle ins unermessliche. Die Einschusslöcher waren in ihrem dünnen weißen Kleid gut zu sehen, jedoch floss kein Blut. Als hätten die Kugeln sie nicht mal angekratzt. John keuchte, Franklin bekreuzigte sich und Patrick sah das Mädchen mit purem Unglauben an. Ich hingegen wollte schreien, doch ich konnte nicht. Kein Mensch hätte das überstanden und sie stand da als wäre nichts von Bedeutung passiert. Nichts, ich betone, rein gar nichts, hätte uns auf das vorbereiten können was nun geschah. Zum ersten Mal verzog sich ihre Miene zu einem wütenden Ausdruck. Es war keine Fratze des Zorns, wie man es eigentlich erwarten würde, sondern einfach nur ein leichter Ausdruck der Wut. Und das alleine machte sie schon umso unheimlicher. Dann geschah etwas, dessen Erinnerung mir bis heute über 70 Jahre später noch immer kalt über den Rücken wandert. Sie öffnete den Mund und kurz darauf schrie sie. Nein, es war kein Schreien. Es war ein grauenhaftes, markerschütterndes und unmenschliches Kreischen. Das nun folgende ist für mich auch heute noch sehr schwer zu beschreiben. Es klang wie eine Mischung aus einer quietschenden Autobremse, einen Messer, welches man über eine Stahlplatte zieht und wie eine kreischende Geige. Nur Hundertmal schlimmer. Die erste Sekunde war es noch zu ertragen. Aber ab der zweiten mussten wir uns die Ohren zuhalten, was jedoch nichts brachte. Dieses Kreischen war in unseren Ohren und es wurde immer lauter und höher. Ich schloss die Augen vor Schmerz und presste die Zähne zusammen. Mit jedem Augenblick wurde es schlimmer. Und qualvoller. Schließlich wurde es so schlimm, dass ich vor Schmerz anfing zu schreien. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und fiel auf die Knie. Ich hatte den Eindruck nicht mehr atmen zu können und Speichelströme liefen mir aus dem Mund während ich schrie. Schließlich fiel ich auf den Rücken und krümmte und wälzte mich vor Schmerzen. Mittlerweile war dieses grauenerregende Kreischen in meinen Ohren so laut, dass ich meine eigenen Schmerzensschreie nicht mehr hören konnte. Ich warf mich umher und presste meine Hände immer fester gegen die Ohren, doch es half nichts. Ich hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren. Alles was ich jetzt noch kannte war dieser höllische Schmerz. Du, werter Leser, kannst dir diesen Schmerz nicht vorstellen und bis dahin dachte ich, dass es unmöglich sei einen Menschen solche Schmerzen zuzufügen. Ich kann nur schwer beschreiben wie sich das anfühlte. Am ehesten würde es die Beschreibung treffen, wenn man jemanden mit einem stumpfen Messer grobschlächtig das Trommelfell herausschneiden würde. Diesen Schmerz kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat.
Dann, gerade als ich dachte ich müsse nun sterben, verstummte das Kreischen und der Schmerz hörte schlagartig auf. Ich öffnete die Augen, röchelte nach Luft und sah zuerst zu der Stelle, an welcher das Mädchen gestanden hatte. Doch sie war verschwunden. Jedoch war ich in jenem Moment zu sehr mit mir selbst beschäftigt um mich zu fragen, wo sie jetzt war. Nachdem das Klingeln in meinen Ohren nachgelassen hatte verrieten mir die Schmerzensschreie der anderen, dass ich glücklicherweise noch nicht taub war. Auch sie lagen am Boden, wie mir ein Blick auf sie verriet. Ich versuchte aufzustehen, jedoch fiel ich dabei zweimal auf voller Länge hin. Und zusätzlich musste ich mich beim zweiten Mal auch noch übergeben.
Nachdem sich mein Magen entleert hatte fiel ich wieder auf alle Viere, wobei ich versuchte nicht in meinen eigenen erbrochenem zu landen, und blieb erstmal zitternd liegen. Nach einigen Momenten schleifte ich mich völlig entkräftet zur Wand und lehnte mich zitternd an diese. Ich brauchte eine kurze Pause. Ich schloss erschöpft die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Kurz versuchte ich darüber zu rätseln, was für ein Wesen dieses Mädchen denn nun war. Fest stand nur eines: Ein lebendiger Mensch ist sie auf gar keinen Fall. Kein lebendes Wesen kann solche Laute von sich geben. Womöglich war sie ein Geist oder ähnliches. Jedoch stellte ich das rätseln sehr schnell wieder ein. Normalerweise wäre man nach so etwas und einer derartigen Erkenntnis in heller Aufregung. Ich aber nicht. Dazu fehlte mir die Kraft und in dem Moment auch der Wille. Ich fühlte mich wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Ich nahm mir vor später darüber zu grübeln, wer oder was dieses Mädchen sei und was das alles zu bedeuten hatte, sobald wir einen Weg aus dieser Hölle gefunden hatten. Das heißt, falls wir einen Weg da rausfinden würden. Berechtigterweise kamen mir diesbezüglich allmählich Zweifel, welche ich jedoch zu verdrängen versuchte.
„Nicht den Mut verlieren“, dachte ich.
Ich nahm meine Feldflasche mit Wasser und trank diese halb leer. Obwohl ich einen höllischen Durst hatte zwang ich mich selbst nicht alles auf einmal zu trinken. Die andere Hälfte wollte ich mir noch für alle Eventualitäten aufsparen.
Ich achtete nicht sonderlich auf die anderen. Während ich damit beschäftigt war mich notdürftig etwas zu erholen taten sie dasselbe bei sich. Und da waren wir nun: Ein kläglicher Haufen, völlig entkräftet auf den Boden sitzend und sich an den Mut der Verzweiflung klammernd. Niemand sagte ein Wort. Wir saßen einfach nur da und taten nichts. Das einzige, was die alles zu beherrschende Stille durchbrach, waren weiterhin unsere schweren Atemstöße. Ich weiß nicht, wie lange wir da untätig saßen. Wenn ich raten müsste würde ich sagen, dass es ungefähr Zwanzig Minuten waren. Sorgen darum, dass das Mädchen in der Zeit, wo wir zur Untätigkeit verdammt waren, zurückkommen würde um uns alle mit einem Schlag auszuschalten, machte ich mir nicht. Ich dachte, wenn sie uns mit einem Mal aus dem Weg räumen wollen würde, dann hätte sie das schon längst getan. Aber, wie es ja auch normal ist, war ich nicht frei von Sorge. In einer solchen Situation wäre das nur ein Wahnsinniger.
Dann, als ich mich wieder einigermaßen fit fühlte, versuchte ich wieder langsam aufzustehen. Unbeholfen wie ein Kleinkind versuchte ich mich Schritt für Schritt aufzurichten, wobei ich mich jedoch auf meiner Maschinenpistole abstützen musste. Ich verharrte kurz, sog scharf die Luft ein, presste die Zähne aufeinander und mit einem Ruck richtete ich mich wieder auf. Jedoch wurde mir direkt danach schwindelig und ich musste die Augen zukneifen, tief ein und ausatmen und mich an der Wand abstützen um nicht gleich erneut umzukippen.
Also verharrte ich noch ein paar Sekunden in dieser Position bis sich der Nebel in meinen Kopf wieder gelichtet hatte. Ich atmete noch einmal tief durch und ging dann langsam auf die anderen zu. Als ich sie erreichte forderte ich sie auf, weiter zu gehen.
Bevor sie irgendwelche Einwände erheben konnten sagte ich bestimmend, aber mit brüchiger Stimme: „Wir haben bereits genug Zeit verloren. Wir können nicht hierbleiben!“
Glücklicherweise zeigten meine Worte Wirkung, denn sie standen ebenso unbeholfen auf wie ich und taten dies ohne zu murren oder zu jammern. Das hätte uns schließlich auch nicht geholfen. Keiner von uns sagte ein Wort, wer könnte es uns verübeln? Dann fiel mir Patrick auf. Er brauchte von uns allen am längsten und ich bemerkte, dass er leichenblass war und stark zitterte. Sein Mund öffnete und schloss sich immer wieder, als wenn er etwas sagen wollte aber nicht die Worte dazu finden würde. Seine Augen waren relativ weit aufgerissen und starrten ins Leere. Mir fiel es zwar auf, jedoch hatte ich da nicht die Nerven zu um mich wirklich damit zu befassen. Mein Fokus lag auf unserer Flucht. Alles andere musste sich fürs erste hintenanstellen.
Während sich die anderen aufrappelten sah ich mich im Saal um. Links gab es eine Tür und vorne rechts ebenfalls eine etwas kleinere. Die linke Tür würde uns definitiv von unserem Ziel, der Freiheit, wieder entfernen, also blieb nur noch die rechte Tür. Langsam gingen oder besser gesagt schlurften wir auf die Tür zu. Dort angekommen presste ich mein Ohr an das Holz und lauschte. Jedoch konnte ich nichts Verdächtiges hören. Also öffnete ich die Tür und wir traten vorsichtig ein. Als wir drinnen waren stellte ich fest, dass es sich um eine etwas große und geräumige Abstellkammer handelte. Im Grunde konnte man sagen, dass die Kammer in zwei Hälften geteilt war. Die rechte Hälfte war vollkommen frei. Die linke hingegen war über und über mit kaputten und schon halb vergammelten Möbeln sämtlicher Arten zugemüllt, welche sich zu einem mannshohen Haufen auftürmten. Die Kammer war vielleicht fünf Meter breit, vier Meter lang und, da der Trümmerhaufen das Fenster fast vollständig verdeckte, recht dunkel gehalten. Dann sah ich die Tür, welche sich am anderen Ende der Kammer befand und ging vorsichtig darauf zu, die anderen im Schlepptau habend.
Dann hörte ich wie John stehen blieb und wie er sagte: „Wartet mal.“
Ich drehte mich um und sah, wie John stocksteif dastand und uns mit konzentriertem Blick ansah.
„Habt ihr das gehört?“, fragte er verunsichert.
Ich wurde unruhig. Da war nichts was es zu hören gab. Die ganze Zeit über war es mucksmäuschenstill.
„Nein“, sagte ich langsam und blickte angespannt zu John, „Was gehört?“
John starrte mich an und Angst zeichnete seinen Blick.
„Na, dieses Flüstern“, sagte er zittrig, „Bitte sagt mir nicht, dass ihr das nicht gehört habt.“
Mir rutschte das Herz in die Hose. Da ist kein flüstern gewesen. Ganz sicher nicht.
„John“, setzte ich an und wollte meine Hand nach ihm ausstrecken, doch er hörte mir gar nicht mehr zu.
Seine Augen starrten ins Leere, während er gleichzeitig vor Konzentration das Gesicht verzog. Dann weiteten sie sich panisch.
„Nein“, flüsterte er, „Nein!“
Ich bekam eine Gänsehaut. Was passierte hier?
„John“, versuchte ich es erneut.
Johns „Nein“ wurde schnell immer lauter. Er atmete gehetzt und blickte panisch hin und her. Dann, ganz plötzlich, ließ er die Maschinenpistole fallen, kniff die Augen zu, presste sich die Hände an den Kopf und fing an zu schreien. Immer wieder schrie er „Nein, Nein!“.
Als nächstes warf er sich mit voller Wucht immer und immer wieder gegen die Wand. Ich war vollkommen überfordert mit dieser Situation und wusste nicht was ich machen sollte. Ich verstand nicht, was da los war, jedoch hatte ich eine Vorahnung.
„John“, schrie Franklin und stürmte zu John.
Er packte John an beiden Armen, dieser jedoch wehrte sich und schleuderte sich weiter immer wieder gegen die Wand.
Und dann ergab alles einen schrecklichen Sinn.
Er brüllte, nun weinend: „Nein! Nein! Raus! Das Mädchen, es ist in meinen Kopf!“
Ab da war ich wie paralysiert. Nun verstand ich. Sie war in seinem Kopf und tat weiß der Geier was mit ihm.
Entsetzt fragte Franklin: „Was?“
Doch John schien ihn gar nicht zu hören. Er warf sich wieder gegen die Wand, ließ sich an dieser zu Boden sinken und hämmerte dann mit seinem Hinterkopf gegen diese.
Dabei weinte er unablässig: „Nein! Geh raus! Verschwinde! Nein!“
Franklin kniete sich hin und packte John am Kopf, damit sich John diesen nicht selbst zertrümmern konnte.
„John“, schrie Franklin nun aus vollem Halse, „Sieh mich an!“
Endlich schienen die Worte sich ihren Weg in Johns Kopf bahnen zu können. John hörte auf sich zu bewegen und öffnete langsam die verweinten Augen. Er blickte Franklin an und bittere Tränen rollten ihm über das Gesicht.
„Sieh mich an“, sagte Franklin eindringlich, „Wir schaffen das! Komm mit! Bald schon sind wir hier raus. Halte durch und denke an deine Familie!“
Die beiden starrten sich an und ich starrte sie an. Eine Zeit lang sagte keiner etwas. Als John dann aber endlich was sagte hatte ich das Verlangen erneut umzukippen.
John sagte schluchzend: „Wir kommen hier nicht raus. Der Deutsche hatte Recht gehabt. Wir werden hier drin sterben.“
Unsere Gesichter wurden allesamt blass.
Dann fuhr mit einen verzweifelten flüstern fort: „Sie holt sich uns einen nach dem anderen und lässt uns für unsere Taten büßen.“
Franklin wollte noch etwas dagegen erwidern, jedoch war John schneller. Irgendwie wusste ich schon, was passieren würde, bevor es geschah. Blitzschnell zog John seine Pistole und legte sie sich in den Mund. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig den Kopf abzuwenden. Ich wollte das nicht sehen. Schon ertönten ein lauter Knall und das widerliche Geräusch von brechenden Knochen und austretender Hirnmasse. Erst zwei Sekunden später sah ich hin. In Johns Kopf war ein faustgroßes Loch und Blut wie Hirnmasse klebten an der Wand. Ich atmete schwer. Glücklicherweise hatte ich mich schon vorher übergeben. Johns Pistole glitt zu Boden, ein dünnes Rinnsal Blut lief ihm aus dem Mund und seine toten Augen blickten leer herab. Auch Franklin, der ja vor John kniete, hatte etwas Blut ins Gesicht abbekommen. Sein Mund zuckte wild und schockiert blickte er auf Johns Leiche.
„John“, brüllte er, doch wie zu erwarten brachte das nichts.
Ich wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte oder konnte. Und dann drehte auch noch Patrick durch. Er atmete immer schwerer und stieß dabei immer lauter werdende Geräusche aus. Sein Gesicht hatte die Farbe von totem Fleisch angenommen, seine Augen waren weit aufgerissen und Speichel lief ihm aus dem Mund, während seine Augen Johns Leiche fixierten. Er zitterte wie Espenlaub und er wurde immer unruhiger.
Da ich noch immer völlig überfordert war und nicht wusste, was ich tun sollte, konnte ich nur dastehen und heftig ein und ausatmen. Ich war wie in einer Starre gefangen, unfähig mich zu rühren. Jeder, der so etwas schon einmal durchlebte, weiß, was das für ein schreckliches Gefühl ist. Patrick war nun nicht mehr zu halten. Er riss sich den Gurt seiner Maschinenpistole vom Rücken, schleuderte diese mit voller Wucht gegen die Wand, gab gepresste Laute von sich und zog an seinen Haaren. Dann fing er wie wild an zu schreien und rannte durch die Tür, die wir schon passiert hatten, den Weg den wir gekommen waren wieder zurück. Sein Geschreie hallte unheimlich durch die leeren Räume und wurde schnell Stück für Stück leiser, je weiter er sich von uns entfernte. Rückblickend betrachtet ist es ironisch, dass Patrick, welcher schon viele Kämpfe in diesem Krieg ausgefochten hatte und für den der Krieg schon ein zweites Zuhause geworden ist, jetzt durchdrehte und davonlief.
„Patrick“, schrie ihm Franklin hinterher und wollte ihm nachrennen.
Bevor er jedoch die Tür erreichte packte ich ihn an beiden Armen und hielt ihn fest, sodass wir beide rücklings auf dem Boden landeten.
„Lass mich los“, brüllte Franklin, „Wir können ihn hier nicht alleine lassen!“
„Hör zu“, schrie ich zurück, „Hör mir zu! Wir können nichts mehr für ihn tun. Wir müssen uns hier selber retten!“
„Aber er wird sterben, wenn wir ihn zurücklassen“, entgegnete Franklin, während er versuchte sich aus meinem Griff zu befreien.
Ich gebe zu, was mit Patrick geschehen würde war für mich nicht von Belang, denn, das wusste ich, jetzt ging es ums Ganze.
„Wir werden hier alle sterben, wenn wir uns trennen“, schrie ich ihm ins Ohr.
Und endlich schienen meine Worte bei ihm anzukommen, denn er hörte auf sich zu wehren und entspannte sich. Ich sagte das nicht nur, weil ich nicht alleine durch dieses verfluchte Gemäuer gehen wollte. Die Chancen für uns standen schlecht, das war mir klar, jedoch waren sie, wenn man zu zweit versuchte hier hinauszukommen, erheblich höher, als wenn man dies alleine versuchte. Und das verstand anscheinend allmählich auch Franklin.
„Du hast John doch gehört“, sagte Franklin erschöpft, „Wir werden dieses Gebäude ohnehin nicht mehr verlassen.“
Ich entgegnete: „Noch ist nicht alles verloren. Wir können es noch schaffen, sofern wir uns nicht aufteilen!“
Ich sagte dies mit mehr Hoffnung als ehrlicher Zuversicht. Ich wollte nicht daran glauben, dass dieses Haus mein Grab werden würde. Ich wollte nicht daran glauben, dass ich dieses Haus nie wieder verlassen würde. Ich weigerte mich einfach, dies als unumstößliche Tatsache zu akzeptieren. Ich war jung, im Prinzip noch ein Knabe. Ich hatte mein ganzes Leben noch vor mir. Und solange ich noch atmen konnte wollte ich meine Kraft darauf verwenden, dieser Hölle zu entfliehen.
Langsam ließ ich Franklin los, darauf bedacht, sofort wieder zuzugreifen, sollte er doch Patrick hinterherrennen wollen. Doch glücklicherweise machte Franklin keine Anstalten abzuhauen. Kurz blieben wir noch so am Boden liegen, dann richteten wir uns langsam wieder auf. Dabei war ich darauf bedacht nicht Johns Leiche anzublicken.
„Bereit?“, fragte ich schließlich.
Franklin antwortete nur mit einem wortlosen Nicken. Dann gingen wir langsam und vorsichtig weiter auf die verschlossene Tür zu. Sie ließ sich ganz leicht öffnen und schwang knarzend auf. Wir blickten erneut in einen lang gezogenen Gang mit vielen Türen links und rechts. Sowie einer Tür am Ende des Ganges. Bevor wir weiter gingen überlegte ich kurz und schätzte die Entfernung ab. Wenn ich mich nicht irrte, so musste der Raum, welcher sich hinter dieser Tür befand, direkt über der Eingangshalle liegen und somit musste auch das Fenster über dem Torbogen sich dort befinden. Neue Hoffnung keimte in mir auf. Wir hatten es fast geschafft. Aber gleichzeitig spannte ich mich auch an, denn ich konnte mich auch irren und selbst wenn nicht, so hatten wir es eben bis jetzt nur fast geschafft. Noch waren wir nicht am Ziel.
Langsam und mit vorsichtigen Schritten marschierten wir los. Franklin deckte mich vom Rücken her und gab darauf acht, dass sich uns nichts von hinten näherte. Mein Blick war fest auf die Tür am Ende des Ganges geheftet, jedoch achtete ich auch auf die Türen links und rechts von uns. Mit den angelegten Maschinenpistolen schritten wir nun also den Gang entlang. Für die ganze Strecke brauchten wir nur ein paar Minuten, jedoch fühlten sich diese Minuten an wie Jahrhunderte. Wir waren zum Zerreißen gespannt, unser beider Atem war flach und mir stellten sich zudem auch noch die Nackenhaare auf. Ich betete, dass ich mich nicht geirrt hatte und dass wir das Ende dieser Tortur so gut wie erreicht hatten.
Und dann, nach einer gefühlten Unendlichkeit, erreichten wir diese gottverdammte Tür. Ich öffnete sie, trat ein und mein Herz schlug augenblicklich schneller. Wir befanden uns in einem gigantischen Schlafzimmer, in welchem noch ein altes und großes Bett stand, aber das war mir egal. Mein ganzes Interesse galt dem Fenster gegenüber der Tür. Schwer atmend, mit schnell schlagendem Herzen und mit einem großen Druckgefühl in der Brust ließ ich jede Vorsicht fallen und marschierte in großen Schritten auf das Fenster zu. Ich erreichte es, blickte nach unten und… tatsächlich. Ich sah, dass sich das Fenster direkt über dem Torbogen befand. Es waren womöglich gerademal eineinhalb bis zwei Meter vom Fenster bis zum Torbogen. Ich hätte vor Freude springen können und mich erfasste eine unglaubliche Euphorie. Franklin sah mir die Freude an und lief ebenfalls zum Fenster. Er machte große Augen, als er den breiten Torbogen sah. Der Torbogen war groß genug, dass wir beide darauf stehen könnten und von dort aus konnte man gefahrlos zum Boden hinunterklettern. Er sah mich an und auf unseren Gesichtern bildeten sich jeweils ein strahlendes Lächeln. Wir fielen uns in die Arme und konnten es kaum fassen. Wir hatten es geschafft. Wir mussten uns wahrhaftig zwingen nicht vor Glück zu schreien.
Nachdem wir uns einigermaßen wieder beruhigt hatten begutachtete ich, noch immer strahlend, das Fenster. Es war zwar etwas dick aber mit ein paar kräftigen Hieben mit den Kolben der Maschinenpistolen würden wir es schon einschlagen können. Ich wollte dies auch gerade Franklin mitteilen, als wir von einem leisen quicken hinter uns gestört wurden. Verwirrt und auch erneut etwas verspannt drehten wir uns zur Quelle des Geräusches um. Als ich die Quelle jedoch erblickte machte sich wieder Erleichterung in mir breit. Es war nur eine schwarze Hausratte, die uns interessiert beobachtete. Ich atmete erleichtert aus, auch deswegen, weil es neben uns anscheinend auch noch andere lebendige Wesen in dieser Hütte des Schreckens gab, und wollte zu Franklin sagen, er solle mir mit dem Fenster helfen. Doch bevor ich nur ein Wort sagen, geschweige denn mich zu Franklin umdrehen konnte, ertönte ein Knall und die Ratte explodierte in einem Gemisch aus Fleisch und Blut. Ich zuckte zusammen und war zu Tode erschrocken. Fassungslos drehte ich mich zu Franklin um und starrte ihn an. Mit großen Augen, blassen Gesicht und bebenden Lippen starrte er dieses blutige Etwas an, welches eben noch eine lebendige Ratte gewesen ist. Sein Arm mit der Pistole, mit welcher er gerade die Ratte erschossen hatte, zitterte stark.
„Bist du wahnsinnig?“, zischte ich ihm zu, „Warum hast du diese Ratte erschossen? Was, wenn dass das weiße Mädchen gehört hat?“
Er brauchte eine Sekunde um zu antworten.
Zitternd sagte er: „Die ist sicher mit Patrick beschäftigt. Außerdem hasse ich diese dreckigen Scheißviecher!“
Ehe ich ihn fragen konnte warum gab er mir die Antwort schon von alleine.
„Ich habe Musophobie“, sagte er, immer noch zitternd.
Ich sah ihn an.
„Du hast Angst vor Nagetieren?“, fragte ich ungläubig.
Er nickte. Jedoch fragte ich nicht, woher diese Angst stammte. Dafür war schlicht und ergreifend keine Zeit.
„Wie auch immer. Hilf mir mit dem Fenster“, sagte ich.
Wir drehten uns um und wollten gerade damit beginnen, das Fenster einzuschlagen, als wir wieder ein quicken hinter uns vernahmen. Wir drehten uns erneut um und sahen zwei weitere Ratten, die ihren toten Artgenossen beschnupperten. Umgehend wollte ich Franklin dazu anhalten ruhig zu bleiben, doch es war bereits zu spät. Auch diese Ratten erschoss er, jedoch in einer Panikreaktion verschoss er dabei das ganze Magazin seiner Pistole. Danach war von den Ratten bis auf einen blutigen Brei nichts mehr übrig. Am liebsten hätte ich Franklin geschlagen. Ja, bei einer Phobie kann sowas passieren. Aber man darf auch nicht vergessen, dass wir uns noch immer in Gefahr befanden. Schließlich waren wir noch innerhalb dieses Gebäudes. Obwohl die Patronen alle verschossen waren betätigte Franklin noch stärker zitternd weiterhin den Abzug. Doch außer einem Klicken pro Abzug kam aus der Pistole nichts mehr. Ich riss sie ihm aus der Hand und warf sie in die Ecke. Ich kann es verstehen, wenn du mein Verhalten etwas hart findest. Jedoch musst du dann auch die Sache aus meiner Sicht verstehen. Wir waren so kurz vor dem Ziel und diese sinnlose Ballerei könnte alles gefährden.
Ich wollte ihm gerade sagen, dass er sich zusammenreißen und mir endlich mit diesem Fenster helfen solle. Doch ich kam nicht mehr dazu, denn wieder zog ein Quicken unsere Aufmerksamkeit auf sich. Angespannt sah ich, dass sich nun drei Ratten um den blutigen Brei versammelt hatten und diesen beschnüffelten. Franklins Zittern wurde noch stärker und seine Zähne klapperten. Das verstärkte sich noch, als zwei weitere Ratten sich aus Löchern in den Wänden dazu gesellten und uns die nun insgesamt Fünf Ratten anblickten. Ich war zwar etwas angespannt aber noch nicht beunruhigt. Doch das änderte sich schnell. Denn weitere Ratten kamen dazu. Zuerst Sechs, dann Sieben, Acht, Zehn, Fünfzehn und immer so weiter. Und es wurden immer mehr. Franklin wich einen Schritt zurück und sein Zittern glich schon beinahe einem Schütteln. Und auch in mir machte sich wieder die Angst breit, als ich sah, wie aus den Löchern in den Wänden, dem Bett und auch aus dem Gang immer mehr Ratten herbeiströmten. Aber am beunruhigtesten war, dass sich die Ratten ungefähr drei Meter vor uns in einer langgezogenen Linie aufstellten. Und jede Ratte bezog hinter der nächsten Stellung. Da der Raum wohl fünf Meter breit war und in etwa Zwölf Meter Länge maß und die Ratten demzufolge zwei Meter Breite und die gesamte Länge von Zwölf Metern in diesen Bereich einnahmen kann ich nicht sagen wie viele Tiere es waren. Grob geschätzt würde ich auf 300 bis 500 Tiere tippen. Es war ein wahrlich gespenstischer Anblick, welcher mir das Herz bis zum Halse schlagen ließ. Wie ein Heer aus dem Mittelalter standen die Ratten da und warteten, während sie uns mit ihren schwarzen Augen anstarrten. Man kann diesen Anblick nur mit einem Heer vergleichen. In Reih und Glied, wohlgeordnet und in makelloser Disziplin standen die Ratten in Stellung. Unsere Euphorie von eben war vollständig verblasst. Die Angst beherrschte das Feld von neuem. Ich spürte, wie auch ich zitterte.
„Was ist das für eine neue Teufelei?“, flüsterte ich.
Aber bis zu diesem Moment war die Stille am schlimmsten. Ich weiß nicht, ob ich je zuvor in meinem Leben eine solche Stille vernommen habe. Von den Ratten war kein Mucks zu hören. Weder ein Quicken, noch irgendwas anderes. Selbst das Geräusch unserer beider Atemstöße schien von der Stille geschluckt zu werden. Auch das Geräusch unserer Herzschläge war wie unterdrückt. Dann nahm ich vage wahr, wie Franklin langsam seine Maschinenpistole zog und ich tat es ihm gleich. Aber weder er noch ich gaben einen Schuss ab. Wir taten einfach nichts. Ebenso nervenzerreißend wie die Stille war das Warten darauf, dass irgendwas passieren würde. Ich weiß nicht, wie viele Minuten nichts geschah. Aber es waren die längsten meines Lebens.
Dann setzte sich die schwarze Masse in Bewegung. Zuerst langsam und gleichmäßig tippelten sie auf uns zu. Dann wurden ihre Flanken schneller und bogen weit ausholend in unsere Richtung ab, während der Großteil in der Mitte langsam blieb. Dann erkannte ich, was sie vorhatten. Sie kesselten uns ein. Dann fing Franklin an zu schießen, ebenso wie ich. Jede Kugel traf eine Ratte, denn sie zu verfehlen war bei dieser Masse unmöglich, und bei jedem Treffer spritzten Blut und Gedärm und färbten den Boden wie die Wände rot. Doch es war zwecklos, denn selbst wenn wir die Zeit gehabt hätten um nachladen zu können hatten wir nicht genug Munition dabei. Dafür waren die Ratten zu zahlreich. Von unseren Schüssen unbeeindruckt stürmten die Ratten weiter vor und zogen den Kreis schnell immer enger. Ich hatte Panik und hielt den Abzug weiter gedrückt. Da ich von uns beiden den Ratten am nächsten war versuchte ich mit der Maschinenpistole auf die „Vorhut“ des Rattenheeres einzuwirken, aber es war zwecklos. Einen Wimpernschlag, bevor mich die Ratten erreichten, war das Patronenmagazin meiner Maschinenpistole leer. Franklin konnte noch schießen, denn schließlich ist sein Magazin voll gewesen und meines war ja schließlich schon halb leer, wenn du dich erinnerst. Ich versuchte, meine Pistole zu ziehen und zurückzutreten, trat dabei jedoch auf eine Ratte und stolperte nach vorne auf den Boden.
„Das war´s“, dachte ich in der Erwartung, dass die Ratten nun über mich herfallen würden.
Doch das Gegenteil geschah, als ich zu Boden stürzte. Als ich auf dem Boden lag machten die Ratten um mich herum Platz und beachteten mich gar nicht. Sie rannten einfach um mich herum. Ich war verwirrt und fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Die Antwort erhielt ich, als ich mich hektisch umsah. Nicht ich war das Ziel der Ratten. Es war Franklin. Das gesamte Heer hielt auf ihn zu und geschockt sah ich, wie die ersten Ratten ihn ansprangen. Sie bissen sich an seiner Kleidung fest und schreiend packte er sie und schleuderte sie fort, während er unablässig weiter feuerte. Dann ging auch seine Munition zur Neige. Ein Klicken aus seiner Maschinenpistole verkündete das Ende.
Er hatte keine Zeit mehr, um noch irgendetwas wirksames zu unternehmen. Denn in dem Moment, als das Klicken ertönte, sprangen ihn Dutzende Ratten gleichzeitig an, bissen sich an seiner Kleidung fest und einige gelangten auch an seine Haut. Das ließen zumindest seine grauenerregenden Schmerzensschreie verlauten. Entsetzt starrte ich auf das, was da geschah, und wich krabbelnd zurück, bis ich an die gegenüberliegende Wand kam. Seine Schreie waren entsetzlich und verfolgen mich noch heute. Kurz konnte er sich noch auf den Beinen halten und versuchte, die Ratten durch treten und schlagen abzuschütteln. Doch es waren zu viele und es wurden immer mehr. Dann brachten sie ihn zu Fall und wie eine Welle ergoss sich dieses Meer aus Ratten über ihn. Seine Schreie wurden noch grauenerregender als sie ohnehin schon waren und auch ich wollte schreien, jedoch blieb mir die Stimme im Halse stecken. Ich kann und will nicht im Detail beschreiben, was ich da sah. Denn es ist das schrecklichste gewesen, was ich je erblicken musste.
Dann passierte etwas, was mir selbst jetzt noch einen Schauer über den Rücken jagt. Aus Franklins Geschrei hörte ich einen verzweifelten Satz heraus.
Er schrie: „Erschieß mich!“
Ich hörte diesen Satz zwar, aber ich war nicht dazu fähig irgendwie zu reagieren. Der Schrecken lähmte mich von Kopf bis Fuß und ich konnte nichts machen. Selbst das Atmen fiel mir schwer. Dann wurden seine Schreie zu einem röcheln und kurz darauf war es still.
Dann, nur wenig später, ließen die Ratten von Franklin ab und ich erblickte mit Entsetzen und einem keuchenden Aufschrei, was von ihm übrig war.
Von Franklin blieb nur ein blutiges, sauber abgenagtes Skelett mit einigen Kleidungsfetzen übrig. Ich musste würgen und war der Ohnmacht nahe. Das, was da passiert ist, wünsche ich niemanden. Ich klammerte meine Hand an die Stelle des Brustkorbes, an welcher sich mein Herz befindet und es schlug so wild, dass ich schon beinahe glaubte, es würde platzen. Und dann bemerkte ich das, was mir das Herz wirklich beinahe zum Platzen brachte. Die Ratten hatten sich erneut in Stellung gebracht und richteten ihre Aufmerksamkeit nun auf mich. Der Weg zum Fenster war dadurch auf breiter Front versperrt und für mich nun unmöglich zu bestreiten. Ich sah dieses Schwarze Meer aus Ratten nun also vor mir und, auch wenn mein Gehirn durch die ganzen Erlebnisse im Moment nur noch zeitlich versetzt arbeitete, war für mich eines glasklar: Egal, ob ich es hieraus schaffen würde oder hier drin sterben würde, ich wollte unter gar keinen Umständen so enden wie Franklin. Alles, aber nicht so wie er. Ich versuchte mich aufzurichten, was mir auch irgendwie mit zitternden Beinen gelang. Als ich wieder stand, sah ich schwer atmend und keuchend auf das Rattenheer und sie auf mich.
Dann stürmte ich aus der Tür und rannte um mein Leben. Ich konnte hören, wie sich die Ratten ebenfalls in Bewegung setzten um mir zu folgen, doch ich war schneller und glücklicherweise wurden die Ratten durch den schmalen Bereich der Tür ebenfalls verlangsamt.
Ich hätte heulen können. Wir hatten es fast geschafft. Wir standen so kurz vor dem Ziel und dann das. Und nur mit Mühe schaffte ich es, die Tränen zurückzuhalten. Das war einfach nicht fair.
Ich stürmte den Gang so schnell entlang wie ich nur konnte. Als ich die Kammer mit Johns Leiche erreichte knallte ich sofort die Tür zu. Ich hoffte, das würde die Ratten eine Zeit lang aufhalten. Aber eine Verschnaufpause konnte ich mir nicht erlauben. Ich rannte weiter so schnell ich konnte, sodass meine Lungen brannten. Während ich rannte versuchte ich die Maschinenpistole nachzuladen, jedoch fiel mir dabei das Magazin aus der Hand. Da dies mein letztes Magazin war und ich es nicht wagte anzuhalten um es aufzuheben war die Maschinenpistole von nun an im Grunde nutzlos. Aber dennoch warf ich sie nicht weg. Da der Weg durch das Fenster über dem Torbogen nun versperrt war blieb mir nur noch eine Möglichkeit. Ich musste irgendwie versuchen über die Fenster in dem Raum, wo dieser Mann Phils Kopf aus dem Sack zog, nach außen zu gelangen. Auch wenn dieser Weg sehr gefährlich war kannte ich nun keine andere Fluchtmöglichkeit mehr. Und sollte ich mir bei einem Sturz aus besagtem Fenster die Knochen brechen und nicht mehr wegkommen können, so würde ich es selber mit meiner Pistole beenden und mich nicht der Gnade dieses Ortes oder der weißen Frau ausliefern. Also sprintete ich den Weg zurück, den wir gekommen waren. Alle meine Gedanken waren auf das Ziel, über diese Fenster zu entkommen, gerichtet. Ich rannte die Treppe hinunter und mein Herz schlug wie wild. Gleich würde der Moment der Wahrheit kommen.
Ich riss die Tür auf… und blieb mit klopfenden Herzen stehen. Ich erschrak mich zu Tode, als ich sah, was in den Raum vor sich ging. Patrick und die weiße Frau befanden sich in diesem Raum. Scheinbar hatten sie beide nicht gehört, dass ich die Tür aufgerissen und den Raum betreten hatte, denn die weiße Frau war mit den Rücken zu mir gewandt und machte keinerlei Anstalten, sich umzudrehen. Mir wurde kalt. Doch nicht direkt wegen der weißen Frau, sondern wegen Patrick. Er lag sich unter Schmerzen krümmend und sich die Seele aus dem Leib schreiend auf dem Boden, während die weiße Frau neben ihn kniete. Sie hatte ihre Hand auf seine Wange gelegt und weiße Flammen schossen aus ihrer Schulter, welche rauschend über ihren Arm und ihre Hand entlangwanderten und in Patricks Kopf und Oberkörper verschwanden. Doch dies war nicht alles. Das, was mich wirklich erschreckte, war, dass Patrick um ganze 60 Jahre gealtert ist. Seine Haare waren weiß-grau, seine Haut faltig und sein einst starker Körper nun gebrechlich. Und mit jeder Sekunde, die diese Flammen in seinen Körper schlugen, wurde er um ein Jahr älter und seine Schreie qualvoller. Ich weiß nicht, was sie da genau mit ihm machte, aber ich fühlte nichts mehr und Hoffnungslosigkeit breitete sich in mir aus. Ich musste zu den Fenstern und sie versperrte mir den Weg. Ich würde es niemals einfach so an ihr vorbeischaffen und ein Teil in mir verlangte ich solle mir einfach jetzt schon die Kugel geben und es möglichst schmerzlos beenden. Tatsächlich wanderte meine Hand schon wie von selbst zu dem Pistolenholster. Doch ich schüttelte den Kopf und vertrieb diesen Gedanken. Nein, ich will es wenigstens versuchen.
Ich betrachtete meine Maschinenpistole. Es war so oder so unmöglich, die weiße Frau zu töten. Aber vielleicht konnte ich ihr mit dem Gewehrkolben einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen, sodass ich dann durch die Fenster springen könnte. Und ich meine auch durch die Fenster, denn sollte die ganze Aktion gelingen würde mir das nur einen Zeitvorteil von wenigen Sekunden verschaffen. Das hieß, ich müsste mich dann mit voller Wucht gegen die Fenster werfen, damit ich sie durchbrechen konnte und dann blieb mir nur noch das Beste zu hoffen. Auch stand fest, dass ich mit dieser Aktion nur mich selbst retten konnte. Für Patrick war es zu spät. Ich konnte ihn nicht retten und bei dem, was er schon alles getan hatte, wollte ich es auch nicht. Vorsichtig nahm ich den Gurt der Waffe von meinen Rücken und packte den Lauf, damit ich mit der Maschinenpistole wie eine Keule zuschlagen konnte.
Dann rannte ich mit dem Mut der Verzweiflung los. Ich hatte nur diese eine Chance. Würde ich sie verpatzen wäre es das gewesen. Als ich sie fast erreicht hatte holte ich aus, bereit zum Schlag. Doch gerade als ich zuschlagen wollte stand sie blitzschnell auf, drehte sich um, packte mich an der Kehle und hob mich mit nur dieser einen Hand hoch. Durch diesen abrupten Stopp entglitt die Maschinenpistole meinen Händen und flog noch einige Meter, bevor sie auf den Boden aufschlug, während gleichzeitig meine Beine im hohen Bogen hochgerissen wurden. Ich röchelte nach Luft, denn ihr Griff war derart fest um meinen Hals, dass ich nicht atmen konnte. Obwohl ich größer und breiter gebaut war als sie hob sie mich so leicht hoch, als wäre ich ein Streichholz. Ich schloss mit meinen Leben ab. Die letzte Chance war vertan.
„Hoffentlich erwürgt sie mich“, dachte ich resigniert, „dann ist es wenigstens ein relativ schmerzloses Ende.“
Ich versuchte zwar, mich mit meinen Händen zu befreien, doch das war ein zweckloses Unterfangen. Ihr Griff lag so fest um meinen Hals, als wäre dieser dort festgeschweißt. Ich versuchte ihr ins Gesicht zu blicken. Sie sah mir in die Augen und auf ihrem Gesicht lag erneut dieser leicht zornige Ausdruck. Dann geschah etwas seltsames. Mein gesamtes bisheriges Leben zog vor meinem inneren Auge vorbei. Ich erlebte mein gesamtes Leben noch einmal im Schnelldurchlauf von zehn Sekunden. Und die weiße Frau schaute ebenfalls mit. Zumindest glaube ich das, denn nachdem alles gesehen wurde war der Ausdruck des Zorns auf ihrem Gesicht einen Ausdruck der Verwirrung gewichen und für den Bruchteil einer Sekunde meine ich gesehen zu haben, wie auch eine Spur Mitleid ihr schönes Gesicht durchzog. Ihre Augen waren auf meine Brust gerichtet, jedoch starrten sie ins Leere. Sie schien krampfhaft zu überlegen und über etwas nachzudenken. Zumindest vermute ich das, denn allmählich wurde mein Blickfeld dunkel. Dann verstärkte sich der Griff ihrer Hand um meinen Hals nochmal. Ich verzog vor Schmerz das Gesicht und ein Krächzen entwich meinen Mund. Ich werde dieses Gefühl ihrer Hand niemals vergessen. Ihre Hand war so kalt wie Eis und gleichzeitig so heiß wie Feuer. Besser kann ich es nicht beschreiben. Ich öffnete die Augen und die schwarzen Ringe am Rande meines Blickfeldes wurden immer größer. Wieder zeichnete sich auf ihrem Gesicht der leichte Ausdruck des Zornes ab, doch diesmal gepaart mit etwas anderem, was ich aber nicht identifizieren konnte. Überraschenderweise lockerte sie den Griff soweit, dass ich etwas atmen konnte. Gierig saugte ich die Luft in schweren Zügen ein und mein Blickfeld klarte sich wieder auf. Dann packte sie wieder fester zu und bevor ich realisierte, was überhaupt los war, holte sie aus und schleuderte mich mit voller Kraft in Richtung der Tür, durch die wir zu Beginn hier hereingekommen sind. Sie schleuderte mich derart fest gegen die Tür, dass als ich gegen sie prallte sie weit aufflog und einer der Türflügel aus den Angeln gerissen wurde, welcher dann krachend und splitternd zu Boden ging. Ich flog noch einige Meter weiter ehe auch ich auf den Boden aufprallte. Der Aufprall presste die Luft aus meinen Lungen und mein Körper explodierte schier vor Schmerz. Ich schlitterte noch ein gutes Stück auf dem Boden weiter. Als ich endlich zum Liegen kam waren meine Augen vor Schmerz geschlossen und mein Mund für einen Schmerzensschrei geöffnet, der nie meine Kehle verließ. Ich konnte mich nicht bewegen. Nur ganz allmählich konnte ich meine Gliedmaßen wieder bewegen. Zuerst ein Bein, dann einen Arm, dann das zweite Bein und dann den anderen Arm. Unter Schmerzen schaffte ich es meinen Oberkörper langsam aufzurichten und blickte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu der weißen Frau. Sie sah mich noch einige Sekunden an, dann wandte sie sich wieder den am Boden liegenden und wimmernden Patrick zu. Sie kniete sich wieder zu ihm und legte ihre Hand auf seine Wange. Die weißen Flammen erschienen aufs Neue, ebenso wie Patricks Schreie und er alterte weiter.
Ich riss mich von dem Geschehen los und stand unter Schmerzen auf, welche ich aber ignorierte. Ich rannte den Gang entlang, weg von Patrick und der weißen Frau. Ich nahm seine Schreie kaum noch wahr, ebenso wenig die Schmerzen. Alles in meinen Kopf schrie „Vorwärts“! Als ich die Treppe erreichte sprang ich die Stufen hinab. Dann erblickte ich die Tür und trieb mich zum äußersten. Ich stürmte auf sie mit dem höchsten Tempo zu, welches ich aufbieten konnte. Ich blieb nicht stehen um sie zu öffnen. Ich rannte sie einfach ein. Scheppernd flog die Doppeltür auf und die kühle Nachtluft schlug mir entgegen. Ich rannte noch ein paar Meter, dann fiel ich keuchend und hustend zu Boden. Gierig sog ich die frische Luft ein und ganz allmählich machte sich ein unbeschreibliches Glücksgefühl in meinen Körper breit. Ich konnte es einfach nicht fassen. Ich hatte es geschafft. Ich war frei. Und ich war am Leben.
Ich hatte jeden Grund zur Freude, jedoch konnte ich es mir nicht leisten noch mehr Zeit an diesem Ort zu vergeuden. Ich wollte nur noch weg von diesem Haus und allem, was sich da drin befindet. Ich bekam Angst. Angst davor, dass auch dies wieder nur eine perfide Falle sein könnte. Also rappelte ich mich wieder auf, ignorierte die Beschwerden meines Körpers und rannte ohne mich noch einmal umzudrehen die Waldstraße entlang. Ich weiß nicht, wie lange wir in diesem Haus gefangen waren. Es war mir aber auch egal. Dennoch müssen es aber mehrere Stunden gewesen sein, denn die Nacht war schon längst hereingebrochen und das Mondlicht hüllte die Gegend in ein gespenstisches Licht. Mein Körper schrie förmlich vor Erschöpfung, jedoch nahm ich dies kaum wahr. Tatsächlich nahm ich überhaupt nichts mehr wahr. Weder meinen Körper, noch die Umgebung oder die unnatürliche Stille. Hier wegzukommen war alles, was zählte. Noch bevor ich das Ende der Straße erreicht hatte stellte ich mir die Frage, wie es nun weiter gehen sollte. Eine kleine Stimme in mir sagte, ich solle zurück zu meiner Einheit und dort Meldung machen. Aber das stand für mich nicht zur Option. Ich war mir sicher, dass man mir A) nicht glauben würde, was geschehen ist, und B) würde man mich mit weiteren Soldaten erneut in dieses Haus schicken. Und nichts auf dieser Welt würde mich dazu bewegen, noch einmal da rein zu gehen. Ich wusste, dass ich es ganz sicher nicht überleben würde, wenn ich nochmal einen Schritt in das Haus setzen würde. Selbst wenn man mit 10.000 Mann das Haus stürmen würde, so würde kein einziger von ihnen lebend wieder herauskommen. Nein, ich würde nicht zur Truppe gehen. Das stand fest. Außerdem hatte ich einfach genug. Genug vom Krieg. Genug von diesem Ort. Genug vom Kämpfen und vom Sterben. Ich wollte nicht weiterhin von irgendwelchen Politikern und Generälen auf einer Karte umhergeschoben werden und notfalls wie ein Bauer beim Schachspiel geopfert zu werden. Ich wollte einfach nur leben. Meine Entscheidung war gefallen.
Wohin ich wollte stand für mich auch fest. Ich wollte so weit wie nur möglich weg von diesem Ort. Also, so dachte ich, musste ich nach Süden. Das war die einzige wirklich sichere Richtung, dachte ich. Denn im Norden würde ich alsbald das Meer erreichen und da wäre Schluss. Im Westen lagen die eigenen Truppen und die würden mich für meine Flucht bestrafen. Und ich sah nicht ein, dass ich für die schlimmsten Stunden meines Lebens auch noch bestraft werden sollte. Im Osten wurde noch gekämpft und außerdem bestand da auch noch die Gefahr, dass ich den Russen in die Arme laufen würde. Und bei den Geschichten, die man von den Verbrechen aller Abscheulichkeitsgrade der Russen hörte, wollte ich das auf gar keinen Fall. Also blieb nur noch der Süden. Ja, die Hauptstreitmacht der Amerikaner bewegte sich wegen dem Gerücht der Alpenfestung auch nach Süden, jedoch barg der Süden für mich in jenem Moment weiterhin das geringste Risiko.
Als ich endlich das Ende der Straße erreichte blieb ich kurz stehen. Ich nahm meinen Kompass aus der Tasche und vergewisserte mich, wo der Süden lag. Danach rannte ich weiter. Ich konnte nicht denken. Ich konnte einfach nur rennen. Über Stunden rannte ich ohne Pause. Ich hielt nicht an, sondern rannte unablässig weiter in Richtung Süden, wobei ich mich jedoch von den Straßen fernhielt und querfeldein über Wiesen, Felder und durch Wälder lief. Erst als ich nach Stunden ein kleines Waldstück fernab der Straßen erreichte und drohte, vor Erschöpfung und Müdigkeit zusammenzubrechen, beschloss ich, eine Weile zu schlafen. Ich ging in das Wäldchen, suchte mir dort einen Ort, in welchem ich so gut es nur ging versteckt war und brach dann zusammen. Ich schaffte es nicht einmal mehr einen Schluck Wasser aus meiner Feldflasche zu trinken. Die Erschöpfung überrannte mich derart schnell, dass ich auch meine brennenden Beine nicht mehr spürte. Kurz bevor ich in einen unruhigen und traumlosen Schlaf fiel, realisierte ich jedoch noch dumpf, was ich durch meine Flucht jetzt eigentlich war. Ich war ein Deserteur. Jedoch war ich schon weggetreten, ehe ich mir weiter Gedanken darüber machen konnte.
Als ich wieder aufwachte verlor ich keine Zeit. Ich trank den Rest von meinem Wasser und rannte dann direkt weiter. Ich ignorierte den Hunger und trieb mich weiter an nicht anzuhalten. Nun war ich aber auch verstärkt darauf bedacht keinen Menschen über den Weg zu laufen. Denn würde ich Amerikanern überm Weg rennen könnten sie mich für einen Deutschen halten und auf mich schießen. Oder aber sie würden anhand meiner Uniform erkennen, dass ich Amerikaner bin und ebenso erkennen, dass ich desertiert bin. Und dann würden sie erst recht auf mich schießen. Würde ich wiederum Deutschen Soldaten in die Arme laufen würden sie ebenso erkennen, dass ich kein Deutscher bin und vermutlich auch auf mich schießen. Nur bei den Zivillisten wusste ich nicht wie sie reagieren würden. Das Problem mit der Uniform konnte ich glücklicherweise noch am selben Tag lösen, denn ich kam an einen Bauernhof vorbei, wo eine alte Dame gerade gewaschene Klamotten an einer Leine aufhing. Ich wartete, bis sie wieder ins Haus ging und stürmte dann nach vorne zur Leine. Ich nahm mir wahllos irgendwelche Männerklamotten von der Leine und rannte dann weg. Die alte Dame hatte mich gesehen, lief nach draußen und rief mir wüst irgendwas hinterher, jedoch hörte ich nicht zu. Als ich weit genug weg war zog ich mir die Uniform aus und die Sachen an. Ich hatte Glück, denn sie passten. Ich ließ meine Uniform liegen und legte auch die Pistole ab. Von meiner Ausrüstung behielt ich nur die Wasserflasche, das Messer und meinen Kompass. Ich wollte so gut es nur ging als Zivillist durchgehen und da hätte eine Pistole nicht ins Bild gepasst. Ja, dann hätte ich auch das Messer zurücklassen müssen. Aber vollständig unbewaffnet wollte ich auch nicht sein. Nach dem Umziehen rannte ich weiter. Und so ging das über insgesamt Neun Tage. Ich rannte von dem Moment wie ich aufwachte bis zu dem Zeitpunkt, an welchem ich einschlief. In der Zeit hielt ich nur an um zu trinken, um meine Notdurft zu verrichten oder um meine Wasserflasche wieder an einen Bach aufzufüllen. Zu essen fand ich in dieser Zeit nur äußerst wenig. Hin und wieder mal konnte ich ein Vogelnest ausplündern oder ich fand wilde Beeren, jedoch war es das auch und selbst solche Gelegenheiten gab es nur selten. Ich wusste nie wirklich, wo ich genau war und ich bekam auch nichts mehr von der Welt mit, weswegen ich auch nichts vom Kriegsende erfuhr. Ebenso wenig bin ich einem anderen Menschen über den Weg gelaufen. Von Städten und Dörfern hielt ich mich fern und änderte meine Marschrichtung, wenn ich welche in der Ferne sah. Nur einen rauchenden britischen Panzerwrack bin ich mal auf meinen Weg begegnet. Während ich rannte schaffte ich es auch, die Ereignisse im Gutshaus zwischenzeitlich zu verdrängen. Auch dachte ich nur daran, weiter ungesehen nach vorne zu kommen. Jedoch spürte ich auch, wie ich mit jedem Tag schwächer wurde. Am neunten Tag konnte ich kaum noch gehen und selbst das Atmen fiel mir schwer. Ebenso zogen sich ständig schwarze Ringe über mein Blickfeld. Ich konnte einfach nicht mehr. Dann, am Morgen des neunten Tages, erblickte ich auf einen Hügel in der Nähe eines kleinen Tannenwäldchens ein kleines Haus. Ich blieb kurz stehen und holte rasselnd Luft. Ich befürchtete, dass sich dort Amerikaner eingenistet haben könnten, jedoch wusste ich, dass ich zu diesem Haus und um Hilfe bitten musste, wenn ich den heutigen Tag überleben wollte. Ich war einfach völlig am Ende meiner Kräfte.
Mit Mühe setzte ich einen Fuß vor dem nächsten und langsam stampfte ich keuchend zu dem Haus. Als ich näher kam erblickte ich hinter dem Haus mehrere Wäscheleinen und ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, welches gewaschene Wäsche aufhängte. Mein Herz machte einen schwachen aber hoffnungsvollen Hüpfer. Hier schienen keine Amerikaner zu sein. Ich kam näher. Als ich nur noch wenige Meter hinter ihr stand bemerkte sie mich schließlich. Sie drehte sich um und sah mich, wie ich langsam und mit gesenktem Kopf auf sie zu schlurfte. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und Angst und sie wich vor mir zurück. Ich schätze mal, dass sie dachte, ich wolle mich an ihr vergreifen. Sie stieß einen Angstschrei aus und ich bekam noch am Rande mit, wie ein alter Mann, ihr Großvater, aus dem Haus zu ihr mit einer Holzfälleraxt gerannt kam und sich schützend vor sie stellte. Mich überkam ein Hustenanfall und meine Beine gaben nach. Ich konnte mich noch mit den Armen am Boden abfangen, doch mein Sichtfeld wurde immer dunkler.
Mit letzter Kraft krächzte ich auf Deutsch: „Hilfe! Bitte!“
Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich brach zusammen.
Ich weiß nicht, wie lange ich weggetreten war. Als ich wieder aufwachte lag ich mit sauberen Klamotten in einem weichen Bett in einen sonst leeren Raum, welcher ein kleines Fenster oben in der Wand hatte, durch welches Tageslicht hineinschien. Panik überkam mich. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich hatte die Angst, dass ich doch irgendwie gefasst wurde und nun in einer Zelle eines Gefängnisses sein würde. Doch das weiche Bett und die neuen Kleider passten nicht in diese Befürchtung hinein. Ein Schrei, oder besser gesagt ein lautes Krächzen, entwich meiner Kehle. Ich konnte nicht sprechen, denn mein Hals fühlte sich so an als bestünde er aus Sand. Ich wollte aus dem Bett springen, doch auch das ging nicht, denn mein Körper fühlte sich so an, als wäre er aus Blei gegossen und insbesondere meine Beine schmerzten stark. Dann flog die Tür des Raumes auf, ich sah schreckhaft und mit schwerem Atem hin und sah das Mädchen mit ihrem Großvater hereinlaufen. Das Mädchen hatte eine Wasserkanne dabei, der Großvater drückte mich sanft zurück ins Bett und das Mädchen sagte mir, dass ich in Sicherheit sei, dass alles gut sei, dass ich mich im Keller ihres Hauses befinden würde und das ich mich ausruhen müsste. Sie reichte mir die Kanne Wasser, welche ich packte und gierig mit einem Zug austrank. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, als das kühle Wasser meine ausgedörrte Kehle hinunterlief. Allmählich schaffte ich es mich zu entspannen und ich wurde ruhiger. Ich lehnte mich zurück und starrte die Decke an.
„Was nun?“, fragte ich mich im Stillen.
Dann, nach einiger Zeit des Schweigens, fragte mich das Mädchen nach meinen Namen. Jetzt wurde es heikel. Ich wollte auf jeden Fall nicht preisgeben, dass ich Amerikaner bin. Denn wenn die beiden den Amerikanern feindlich gesinnt waren, und das war wahrscheinlich, dann wäre es mit ihrer Hilfe und Gastfreundschaft ganz sicher vorbei. Das ich aber im Prinzip genauso so sehr Deutscher wie Amerikaner bin hätte mir hier vermutlich dann auch nicht mehr viel geholfen. Also musste ich mir was anderes einfallen lassen. Da ich aber keine Zeit zum Überlegen hatte und mir kein falscher Name einfiel wählte ich den Namen meines Großvaters.
„Wilhelm“, krächzte ich, „Ich heiße Wilhelm Grünling.“
Als ich anschließend fragte, wo ich denn genau sei, erweckte die Antwort in mir Unglauben. Ich befand mich in Bayern. Ich konnte es einfach nicht fassen. Ich bin in Neun Tagen vom beinahe nördlichsten Ende Deutschlands runter nach Bayern gelaufen. Ungläubig starrte ich die beiden an. Dann fragten sie mich, was mit mir geschehen und wie ich hierhergekommen sei. Jetzt befand ich mich erneut in der Zwickmühle. Ich konnte ihnen nicht erzählen, was wirklich geschehen war. Sie hätten mir nicht geglaubt und mich stattdessen für verrückt gehalten. Außerdem hätte ich dann damit selber verraten, dass ich Amerikaner sei und ich sie zudem eben mit meinen Namen angelogen hätte. Also dachte ich mir in aller Eile eine Geschichte aus, von welcher ich hoffte, dass sie glaubwürdig genug erscheinen würde, um nicht das Misstrauen meiner Gastgeber zu wecken. Während ich erzählte brach meine Stimme jedoch immer wieder und ich musste mehrere Pausen einlegen, da ich ja noch immer stark von meiner Flucht geschwächt war. Ich erzählte ihnen, dass ich und meine Einheit in einen Hinterhalt der Engländer geraten waren und meine Einheit vollständig vernichtet worden wäre. Ich sagte ihnen, dass ich als einziger überlebt hatte und fliehen konnte. Ebenso sagte ich ihnen, dass ich dann von Norddeutschland bis hierhergelaufen sei und zeitweise von britischen Soldaten verfolgt wurde, ehe ich mich meiner Uniform entledigte, um wenigstens etwas unerkannt weiterfliehen zu können. Wie du siehst war diese Geschichte nicht vollkommen unwahr, denn die Flucht aus dem Norden hatte sich bis auf den Punkt mit den britischen Verfolgern auch so abgespielt. Das ich aus Norddeutschland gekommen war musste ich aber auch so erzählen, denn meine norddeutsche Sprechweise hätte es ziemlich unglaubwürdig klingen lassen, wenn ich gesagt hätte, dass ich aus der Gegend hier stammen würde. Glücklicherweise glaubten die beiden mir, denn ich sah auch der Geschichte entsprechend aus. Als sie mir einen Spiegel hinhielten erschrak ich. Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst. Meine Augen waren eingesunken, tiefe Augenringe umzogen sie, meine Gesichtsknochen stachen hervor und meine Haut war kränklich blass. Wahrscheinlich war dieser Abbau meines Körpers die Folge der strapaziösen Flucht, in welcher ich mir ja keine wirkliche Pause leisten konnte. Ich und meine Gastgeber redeten noch eine Weile und sie sicherten mir zu, dass ich solange bleiben könne, wie ich wolle. Auch deswegen, weil es draußen für mich nicht sicher sei. Denn bloß, weil der Krieg nun vorbei war, hieß das noch lange nicht, dass ich nicht mehr in Gefangenschaft geraten konnte. Würde mich eine Streife der Alliierten aufgreifen, dann wäre ich trotzdem ein Gefangener. Und würde man dann herausfinden, dass ich ein Deserteur aus ihren Reihen bin wäre es um mich geschehen. Du wirst verstehen, dass es keinen Zweck gehabt hätte, meinen ehemaligen Kameraden zu erklären was passiert ist und weshalb ich desertiert bin. Niemand würde mir glauben. Und das kann ich verstehen. Denn auch ich würde das alles nicht glauben, wenn ich es nicht selbst erlebt und überlebt hätte.
Nach einiger Zeit verließ der Großvater den Keller und ich blieb mit dem Mädchen alleine. Wir unterhielten uns noch eine Weile. Sie verriet mir ihren Namen, Adelena. Ich hingegen wollte sicherstellen, dass sie nichts Falsches von mir dachte und versicherte ihr ausdrücklich, dass es bei meiner Ankunft nie meine Absicht gewesen sei ihr etwas anzutun und das dies auch nie der Fall sein würde. Sie winkte beruhigend ab und meinte, dass sie sich lediglich erschrocken habe, da ich ausschaute wie ein lebendiger Toter. Naja, hoffen wir mal, dass das die Wahrheit war.
Dann, nach vielleicht einer Stunde, verließ auch sie den Keller und ich blieb alleine zurück. Ich blieb liegen und starrte die Decke an. Viel zu tun gab es hier nicht, jedoch hätte ich auch erstmal nicht viel tun können, da ich mich einfach noch immer nicht viel bewegen konnte. Zumindest nicht ohne Schmerzen. Ich schlief mehrfach ein am Tag. Und dann, ab der ersten Nacht, ging es los. In meinen Träumen holten mich die Ereignisse in dem Gutshaus ein. Ich durchlebte diese ganze Hölle wieder und wieder, Nacht für Nacht. Ich sah die anderen immer wieder aufs Neue sterben. Und die Emotionen, die ich dort empfand, holten mich verstärkt ein. Angst, Schock, Verzweiflung, Schrecken, Fassungslosigkeit und so weiter. Jede Nacht wachte ich mehrfach schweißgebadet auf und oft hatte ich dabei noch die weiße Frau vor meinem inneren Auge. Sehr oft wachte ich auch unter Schreien und mich im Bett umherwälzend auf. Es war die Hölle. Tagsüber versuchte ich das alles zu verdrängen aber je mehr ich mich anstrengte, desto stärker holte es mich in der Nacht wieder ein. Wenn meine Gastgeber davon etwas mitbekamen ließen sie es sich zumindest zu Beginn noch nicht anmerken. Nach einer Woche hatte ich meine Kräfte soweit sammeln können, dass ich das Bett verlassen konnte. Jedoch ist es keine Übertreibung, wenn ich sage, dass ich über ein Jahr lang kaum den Keller und fast nie das Haus verlassen habe. Die Angst, enttarnt und gefasst zu werden, war einfach zu groß. In dieser Zeit half ich meinen Gastgebern viel im Haus, um mich wenigstens etwas revanchieren zu können und zwischen mir und Adelena entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Erst, als die Deutschen Kriegsgefangenen in großen Zahlen zurückkehrten traute ich mich wieder etwas mehr aus dem Haus heraus, da man nun etwas in der Menge untertauchen konnte. Anfangs hatte ich noch Angst, dass mich meine Gastgeber nun auf die Straße setzen würden, da die Gefahr entdeckt zu werden ja jetzt eher als gering erschien. Jedoch war mir das Glück erneut hold, denn ich durfte bleiben. Sie begründeten das damit, dass ich sonst nicht wohin wüsste, da ich ja weder Familie noch Heim haben würde. Womit sie sogar unbewusst Recht hatten, denn zurück nach Amerika wollte ich auf gar keinen Fall. Zum einen deswegen, denn ich fürchtete da doch noch als Deserteur enttarnt und bestraft zu werden. Und zum anderen, weil meine Mutter dies auch nicht akzeptieren würde. Bevor ich in den Krieg ziehen musste hatte sie mir ganz direkt gesagt, dass ich eher im Kampf fallen sollte als zu desertieren, da ich sonst Schande über die Familie bringen würde. Mit dieser Aussage hatte sie auch gleichzeitig die letzten Funken Sympathie, die ich für sie hegte, zum Erlöschen gebracht. Viel Sympathie hatte ich jedoch zu jenem Zeitpunkt für meine Mutter ohnehin nicht mehr übriggehabt. Dafür hatte sie mit ihren äußerst brutalen Erziehungsmethoden gründlich gesorgt. Also hielt mich auch nichts mehr an Amerika.
Dennoch hatte ich schwer mit dem zu kämpfen, was ich erlebt hatte. Jede einzelne Nacht wachte ich schreiend auf und nicht selten brach ich anschließend auch in Tränen aus. Es war eben einfach eine zu große Last. Und gerade beim Weinen hoffte ich, dass es niemand mitbekommen würde. Ich bin ehrlich, mir war das damals peinlich. Meine Hoffnung, dass niemand das alles mitkriegen würde, erfüllte sich nicht. Denn eines Nachts, als ich wieder schweißgebadet und schreiend aufwachte, lag dann plötzlich Adelena neben mir im Bett und nahm mich tröstend in den Arm. In dem Punkt hatte ich großes Glück, dass sie mich nicht als Weichling abstempelte, denn sie verstand mich. Sie glaubte, die Erlebnisse des Krieges würden mich einholen, was aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet ja auch der Fall war. Sie kannte schreckliche Geschichten aus dem Krieg, welche ihr ihr Bruder erzählt hatte, der von Anfang an dabei war und an allen Fronten kämpfte, ehe dieser 1944 in der Normandie gefangen genommen wurde. Immer, wenn dieser vor seiner Gefangennahme auf Heimaturlaub war, konnte sie bei ihm ähnliches wie bei mir beobachten. Nur mit dem Unterschied, dass er auch ganz offen über das Grauen sprach, welches er auf den Schlachtfeldern erlebt hatte. Und da lag ich nun. Zitternd, leise weinend in ihren Armen. Und, nun, wie soll ich es sagen? Es entwickelte sich mehr zwischen uns und wir wurden ein Paar.
Ich habe insgesamt vier Jahre gebraucht um mich so von den Ereignissen zu erholen, dass ich nachts wenigstens wieder einigermaßen gut schlafen konnte. Jedoch ist diese Aussage mit Vorsicht zu genießen, denn wirklich erholsamer Schlaf sieht definitiv anders aus. Aber wirklich erholt habe ich mich davon bis heute nicht. Immer wieder holten mich die Geschehnisse ein. Das ich mit niemanden darüber reden konnte, über das, was wirklich geschehen ist, half mir natürlich auch nicht weiter. Jedoch blieb es nicht einfach bei Albträumen und schlaflosen Nächten. Glaube mir, ich wünsche mir, dass es so wäre. Recht schnell, nachdem meine Flucht geglückt war und die Albträume anfingen mich heimzusuchen, entwickelte ich mehrere Zwangsstörungen und ich bekam auch schwere Angstzustände. Es fing damit an, dass ich mich jede Nacht im Dunkeln so fühlte, als würde ich beobachtet werden. Ich sah Schatten im Augenwinkel, welche gar nicht existierten und ich fühlte mich auch jede Nacht so, als wäre ich nicht alleine in diesen Keller, obwohl außer mir niemand mit im Keller gewesen ist. Über Stunden lag ich dann also auf meinem Bett wie paralysiert und wartete gespannt wie eine Bogensehne darauf, dass mich die Müdigkeit irgendwann in den Schlaf ziehen würde. Das ging so weit, dass ich irgendwann nur noch mit Licht schlafen konnte, wenn ich alleine im Keller war. Es brannte immer eine kleine Lampe oder Kerze unweit meines Bettes, welche den Raum in ein schwaches Licht hüllte, damit ich alles im Blick behalten konnte. Ich weiß, dass das für jemanden, der keine traumatischen Erfahrungen gemacht hat, lachhaft klingt, jedoch weiß ich auch, dass ich mit meinen Verhalten nicht alleine dastehe. Glücklicherweise musste ich nur dann mit Licht schlafen, wenn ich alleine war. Als Adelena und ich später die Nächte im selben Bett verbrachten blieb dieser Drang und die Angst aus, schalteten sich jedoch immer wieder dann ein, wenn ich erneut alleine schlafen musste. Und dann kam nach einiger Zeit auch noch der Zwang hinzu, dass ich vor dem Schlafen gehen meine Räumlichkeiten nach Dingen absuchen musste, die nicht hierhergehörten. Die Nächte waren ohnehin schon anstrengend genug, doch diese Zwänge machten es noch schlimmer. Ich kann es dir nicht verübeln, werter Leser, wenn du diese Sätze mit einem Schmunzeln liest und über mich den Kopf schüttelst. Vielleicht würde ich es an deiner Stelle auch tun, wenn ich das Glück gehabt hätte, diese traumatischen Dinge nicht zu erleben. Glücklicherweise bekam Adelena meines Wissens nach den zuletzt erwähnten Zwang nicht mit, denn im Gegensatz zu der Sache mit dem Licht hätte ich ihr das nicht plausibel erklären können, wenn du verstehst was ich meine. Schließlich kennt man sowas eher von Kindern, die Angst vor einem Monster unter ihrem Bett haben, welches eigentlich nicht da ist. Und so fühlte ich mich in diesen Situationen auch. Wie ein Kind, welches nicht weiß, was es machen soll und an wen es sich wenden könnte. Das Problem für mich war, dass ich mich an niemanden wenden konnte. Denn es gab damals meines Wissens nach noch keine Kliniken, in denen ich meine Traumata hätte bearbeiten können. Und selbst wenn doch, was hätte ich dann sagen sollen? Als es dann schließlich Kliniken und Behandlungsmöglichkeiten gab konnte ich diese auch nicht nutzen, denn man hätte mir von meiner Geschichte nicht ein einziges Wort geglaubt und mich womöglich stattdessen auf ewig in eine Gummizelle verfrachtet, um es so auszudrücken. Und dies ist auch der Grund, weswegen mich neben den Erfahrungen von damals auch die dadurch resultierenden Zwangsstörungen bis heute verfolgen.
Aber im Großen und Ganzen pendelte sich mein Leben mit der Zeit wieder ein. Ich zog offiziell in das Haus von Adelena ein, fand nach einiger Zeit eine Arbeitsstelle und war mehr oder weniger mit der Zeit wieder gesellschaftsfähig. Ich und Adelena heirateten einige Jahre später und bekamen unseren Sohn Friedrich. Ich möchte hier aber nicht mein ganzes Leben im Detail beschreiben. Das würde hier den Rahmen sprengen und gehört im Prinzip auch nicht zu dieser Geschichte.
Immer wieder habe ich mich in all den Jahrzehnten bis heute eine Frage gestellt. Warum hat mich die weiße Frau gehen lassen? Für mich ergab diese Tatsache einfach keinen Sinn. Sie hat alle bis auf mich getötet. Sie hatte mich ja sogar schon in ihren Fingern und doch ließ sie mich gehen. Aber warum? Ich weiß es einfach nicht. Ich glaube, es hat irgendwie mit meinem Leben und meiner Vergangenheit zu tun gehabt, da sie ja meine Erinnerungen sehen konnte. Aber was genau sie dazu bewegt hatte, mich zu verschonen, kann ich nicht sagen. Die ganze Sache hatte aber noch andere Spuren bei mir hinterlassen, denn ich sah das Leben nach diesem Ereignis aus einem anderen Blickwinkel. Ich betrachtete die meisten Dinge, die andere Menschen zur Verzweiflung oder Weißglut treiben konnten, nicht mehr so eng und blieb in derartigen Situationen zumeist immer gelassen. Ich sagte mir immer, dass es noch schlimmere Dinge als solche Alltagsprobleme gab.
Aber in all dieser Zeit habe ich nie nachgeforscht, was es mit dem Haus und der weißen Frau auf sich hat, deswegen verzeihe mir bitte, dass ich nicht berichten kann, wie die Geschichte dieses Ortes und der weißen Frau lautet. Ich wollte die ganze Sache einfach nur vergessen und mich nicht mehr damit befassen müssen. Aber kannst du es mir verübeln? Das, was ich gesehen und erlebt habe, reicht mir vollkommen. Und auch glaube ich, dass es zu diesem Ort und der Frau gar keine wirkliche Vorgeschichte oder Legende gibt. Zumindest keine der Welt bekannte. Denn als das Internet auf dem Vormarsch war und es sich schließlich fest in der Welt etabliert hatte haben mein Sohn und mein Enkel auf eigene Faust ohne mein Wissen und vor allem ohne meine Einwilligung im Internet nach möglichen Informationen über das Gutshaus und die weiße Frau gesucht. Als ich davon erfuhr war ich selbstverständlich gar nicht begeistert, denn ich wollte nicht, dass sie sich zu sehr damit befassen oder am Ende gar die genaue Position des Gutshauses herausfinden würden. Doch auch sie fanden im Internet nichts, was mich sehr beruhigte.
Am liebsten hätte ich es gehabt, dass ausnahmslos niemand von meiner Geschichte erfahren würde. Doch das Schicksal, oder besser gesagt meine Frau Adelena, machte mir da einen Strich durch die Rechnung. Du musst wissen, dass ich erst ab 1949, also vier Jahre nach dieser Hölle, wieder einigermaßen ruhig schlafen konnte, wie ich es ja schon eben berichtet habe. Zumindest wenn man die Problematik mit meinen traumatisch bedingten Zwangsstörungen außer Acht lässt. Und mit der Zeit traten auch die Albträume seltener auf und ich schaffte es, dass erlebte für den Großteil des Jahres zu verdrängen. In dieser Zeit funktionierte ich wie jeder andere Mensch auch. Doch jedes Jahr, immer dann, wenn sich der Kalender dem 29. April nähert, wird mein Leben zwei Wochen lang zur blanken Hölle. Wie du ja weißt, war der 29. April 1945 der Tag, an welchen ich mit meinem Trupp das Gutshaus betreten habe. Und jedes einzelne Jahr eine Woche vor diesem Datum drängten sich diese Ereignisse in Form von Albträumen und hin und wieder auch in Verfolgungsängsten wieder in meinen Verstand. Die Albträume bauten sich eine Woche lang Tag für Tag auf, waren am Jahrestag am schlimmsten und ebbten dann über eine Woche lang Tag für Tag wieder ab. So ging das jedes Jahr und in dieser Zeit war ich de facto kaltgestellt. Ich konnte dann nicht mehr arbeiten und verließ auch kaum das Haus, denn außerhalb des Hauses hatte ich in dieser Zeit unentwegt das Gefühl, dass ich beobachtet werden würde. Sah ich mich dann jedoch um war da niemand, der mich beobachtete, was das Gefühl jedoch nur verschlimmerte, als es zu mindern. In der Nacht des Jahrestages wachte ich dann schreiend und zitternd auf und brauchte Stunden, um mich wieder zu beruhigen.
Und dass ich mich niemanden anvertrauen konnte machte alles nur noch schlimmer. Adelena dachte in den ersten Jahren, dass es sich um Flashbacks aus dem Krieg handelte und hinterfragte dies fürs erste nicht. Jedoch fiel ihr mit den Jahren auf, dass sich die Prozedur immer über den gleichen Zeitraum vollzog. Anfangs glaubte sie mir noch, als ich ihr sagte, dass es lediglich die Erinnerungen aus dem Krieg seien. Doch mit der Zeit wurden diese Phasen immer heftiger und dann kam noch dazu, dass ich im Schlaf anfing zu sprechen, wenn mich die Albträume heimsuchten. Es kam, wie es kommen musste. Schließlich merkte sie, dass ich ihr etwas verheimlichte.
Als ich eines Nachts wieder schreiend aufwachte saß sie schon aufrecht neben mir in unserem gemeinsamen Bett. Tränen liefen ihr stumm über das Gesicht und sie sah mir direkt in die Augen. Bevor ich etwas sagen konnte sagte sie mir, dass ich ihr irgendwas verheimlichen würde, dass es sie kaputt machen würde zu sehen, wie ich jedes Jahr aufs Neue schreiend aus dem Schlaf gerissen werde und sie nicht wisse, weshalb das so ist. Ich wollte ihr sagen, dass dies wie immer nur die Erlebnisse des Krieges seien (was strenggenommen auch nicht gelogen ist) aber sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen. Sie sagte, dass ich im Schlaf gesprochen habe. Meine Augen wurden groß, mein Herz setzte einen Schlag aus und ich spürte, wie meine Gesichtszüge entgleisten.
„Was habe ich gesagt?“, fragte ich stotternd.
Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich, als sie mir antwortete. Sie sagte schluchzend, dass ich von einem deutschen Kriegsgefangenen gesprochen habe. Und von einem Gutshaus in einem Wald. Und was von einer weißen Frau. Und von Tod und Verderben. Sie schloss die Augen und atmete einmal tief durch, wohl um einen weiteren Schluchzer zu unterdrücken. Dann forderte sie zu erfahren, was wirklich geschah um zu verstehen, welche Erlebnisse mich da Jahr ein Jahr aus quälten. Andernfalls würde sie dafür sorgen, dass ich in eine Klinik kommen würde in der Hoffnung, dass mir dann geholfen werden könne. Ich war entsetzt, denn mir war klar, dass, wenn ich in eine Klinik eingewiesen werden würde, ich diese niemals wieder verlassen könnte. Ich wusste, dass ich ihr nun die Wahrheit sagen musste. Würde ich was anderes als die Wahrheit erzählen, so würde ich Adelena auf ewig verlieren. Und das war die größte Angst, die ich hatte. Also richtete ich mich langsam auf und setzte mich auf die Bettkante. Adelena setzte sich neben mich und nahm meine Hände in die ihren, da ich so stark zitterte wie schon seit Jahren nicht mehr. Ich zögerte, denn ich hatte Angst, dass sie mich für verrückt halten und ich sie dennoch verlieren würde, auch wenn ich ihr die Wahrheit erzähle. Bevor ich anfing verlangte ich ihr das Versprechen ab, dass sie mich nicht für wahnsinnig halten würde, egal wie verrückt die Geschichte auch für sie klingen mag. Sie zögerte kurz, dann aber nickte sie. Ich atmete noch einmal tief durch und dann fing ich an zu erzählen.
Ich erzählte ihr alles. Jedes einzelne Detail. Ich erzählte ihr die Wahrheit über meine Rolle im Krieg. Ich erzählte ihr alles über das Gutshaus, die weiße Frau und die Hölle, die ich da drin durchgemacht habe. Ich erzählte ihr von meiner Fahnenflucht, wie ich nach Neun Tagen auf sie gestoßen bin und weshalb ich bezüglich meines Namens und meiner Herkunft gelogen hatte. Am 30. April 1965, 20 Jahre nach diesem Tag, erzählte ich ihr die Wahrheit.
Als ich endete zitterte ich noch stärker. Ich sah Adelena an und sah, wie sie mich kreidebleich mit fassungslosem Blick anstarrte.
Doch bevor sie irgendwas sagen konnte sagte ich: „Wenn ich dich hätte anlügen wollen, dann hätte ich dir eine realistischere Geschichte erzählt.“
Sie sah mich nur an und sagte nichts. Ich schaffte es nicht, ihr weiter ins Gesicht zu blicken. Zu sehr schämte ich mich dafür, dass ich sie damals über mich habe anlügen müssen. Dann bemerkte ich, wie auch mir die Tränen über das Gesicht liefen ohne dass ich es hätte verhindern können. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, spürte ich, wie sie ihren Arm um mich und ihren Kopf auf meine Schulter legte und mich zu sich zog. Ein Gefühl der unfassbaren Erleichterung und Erlösung machte sich in mir breit. Nicht nur weil ich mich endlich jemanden anvertrauen konnte, sondern auch, weil ich in diesen Moment wusste, dass sie mir Glauben schenkte. Die Geschichte hatte sie vermutlich nicht völlig überzeugt, jedoch hatte sie an meiner Körpersprache gesehen, dass ich ihr die Wahrheit sagte.
Dann blickte ich zur Zimmertür und erschrak. An der Tür stand, ebenfalls mit großen Augen und kreidebleich, mein damals 15-jähriger Sohn Friedrich. Ich weiß nicht, wie lange er schon dastand, doch ich sah, dass er alles mitangehört hatte. Ich wollte etwas sagen, doch mir versagte die Stimme. Dann kam er langsam hinein, setzte sich neben mich und legte seine Hand auf meine Schulter. Ich war völlig fertig. Aus Erschöpfung, aber auch aus Erleichterung. Ich konnte mich endlich aussprechen und meine Familie glaubte mir. Ich kann das Gefühl unbändiger Freude, welche mich überkam, nicht beschreiben. Leider hatte Friedrich diese Geschichte später auch seinem Sohn erzählt, doch dieser erzählte zum Glück niemanden davon, wofür ich ihm sehr dankbar bin.
Womöglich fragst du dich jetzt, warum ich das alles hier niederschreibe und anderen Menschen meine Erlebnisse schildere, wenn ich doch immer darauf bedacht war, dass niemand davon erfährt. Wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende würde ich sagen, dass es eine Warnung an euch ist, nicht das Gutshaus der weißen Frau zu betreten. Doch der Grund ist leider ein anderer. Vor einer Woche starb meine geliebte Frau Adelena friedlich in meinen Armen. Ich war am Boden zerstört und bin es noch immer, auch wenn es mir jetzt ein klein wenig besser geht. Vorgestern war ihre Beerdigung. Unsere ganze Familie war da um zu trauern und um Adelena Respekt zu zollen. Ich, unser Sohn Friedrich, sein Sohn Otto und dessen zwei kleine Kinder. Ich werde den Ablauf der Beerdigung überspringen, da ich es nicht fertig bringe alles im Detail zu beschreiben. Ich hoffe, du verstehst das. Als der Sarg dann schließlich in das Grab hineingelassen wurde fühlte ich mich so, als würde meine Seele ebenfalls in das Grab getragen werden. Nachdem alles vorbei war bat ich alle Anwesenden, mich noch eine Zeit alleine zu lassen. Ich wollte mich noch einmal alleine und persönlich von Adelena verabschieden. Die anderen verstanden das und mit einem stillen Kopfnicken entfernten sie sich und ließen mich alleine. Als sie außer Sicht- und Hörweite waren riss ich mir die Maske, welche wir wegen der Corona-Pandemie tragen müssen, herunter und wollte ein paar Worte des Abschieds sagen, doch stattdessen brach ich auf dem Boden zusammen und weinte. Irgendwann sah ich auf… und verstummte. Mit offenem Mund, Fassungslosigkeit im Blick und dem Gefühl eines Trittes in die Magengrube blickte ich nach vorne. In ungefähr 20 Metern Entfernung stand sie zwischen zwei Grabsteinen. Barfüßig, in einem leichten weißen Kleid und um keine Stunde gealtert stand dort die weiße Frau und blickte mir in die Augen. Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich rieb mir die Augen und sah nochmal hin, doch da war sie schon verschwunden. Ich kann nicht genau sagen, ob sie dort tatsächlich stand oder ob mir mein Kopf nur einen Streich spielte. Adelenas Tod alleine ist schon eine ungeheure Belastung für mich, aber gleichzeitig ist es auch noch Ende April und ich stecke wie jedes Jahr wieder auch mitten in der „Aprilkrise“, wie ich sie mittlerweile nenne. Womöglich hat mir mein Kopf aufgrund der enormen emotionalen Belastung einen Streich gespielt. Sicher bin ich mir jedoch nicht.
Später fuhr mich mein Sohn noch nach Hause in das Haus, in welchem ich 75 Jahre zusammen mit Adelena gelebt hatte und welches jetzt bis auf mich keinen Bewohner mehr hatte. Friedrich bot an, mich noch nach innen zu begleiten, doch ich lehnte ab. Wir umarmten uns fest vor der Tür und irgendwie wussten wir beide, dass es ein Abschied für immer war.
„Lebe wohl, Vater“, sagte er mir mit Tränen in den Augen.
Ich lächelte ihn an und sagte: „Weine nicht um mich, Friedrich. Genieße die Zeit, die du noch mit deiner Familie hast und blicke nach vorne.“
Wir umarmten uns noch einmal und dann ging ich ins Haus. Und seitdem sitze ich hier und schreibe auf, warum ich damals desertiert bin. Einen exakten Grund dafür, dass ich das alles nun doch niederschreibe und somit anderen zugänglich mache, habe ich tatsächlich auch nicht. Es war mir einfach noch einmal wichtig meine Geschichte zu erzählen. Ich will einfach die Last des alleinigen Wissens noch einmal von meiner Seele nehmen, wie damals, als ich mich Adelena geöffnet habe. Ich musste zulange über das schweigen, was mich innerlich so stark beschäftigt und verfolgt hatte.
Ich muss sagen, dass ich mich über mein Leben glücklich schätzen kann. Auch wenn ich damals durch die Hölle gegangen bin, so hatte ich doch anschließend darauf ein glückliches Leben. Ich war 70 Jahre lang glücklich verheiratet, habe eine glückliche Familie gegründet, blieb gesund und bin nun alt und schaue mit einem reinen Gewissen zurück. Klar, wie jeder Mensch habe auch ich Angst vor dem Ende, doch nun im hohen Alter und nach diesem erfüllten Leben blicke ich dem Ende entgegen, wie wenn man nach einem harten aber erfolgreichen Arbeitstag müde ist und ins Bett geht. Und mit etwas Glück sehe ich dann auch Adelena wieder.
Nun, ich wünsche dir, werter Leser, für dein Leben noch alles Gute. Meine Zeit ist nun um. Denn jetzt gerade, wo ich diese Worte hier schreibe, spüre ich, wie eine Hand so kalt wie Eis und doch so heiß wie Feuer sanft auf meiner Schulter ruht.