
Durch die Nächte, auf das Land
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Als meine Schwester mich mit rollenden Augen fragte, warum sie an diesem Halloween nicht hinaus in die Straßen sollte, erklärte ich es ihr: Ich hatte die wandelnden Toten gesehen.
Natürlich lachte sie; später berichtete sie ihren Freunden in der Chatgruppe. Trotzdem beugte sie sich vor und wollte im damaligen Hier und Jetzt, am Küchentisch unseres Elternhauses meine Geschichte hören. Wieder eine Sache meiner nächtlichen Ausflüge? Oh, kleiner Bruder, ich weiß, wohin du gehst: bestimmt nicht zu einem Mädchen! Oder Jungen. Du hast niemanden außer deinen Kopfhörern.
Es stimmte, ich zog allein durch die Abende und, in diesem kalten Oktober, durch die Nächte. Ich zog durch unsere Straßenzüge in den Wind, vorbei an den beleuchteten Wohnungen und fern des Gerumpels der U-Bahnen. Im Dunkeln machte ich Bilder von schummerigen Laternen und Friedhofsmauern, ohne diesen je zu nahe zu kommen, besonders nicht dem alten Friedhof, der von Absperrband umgeben war: die Gräber versanken, langsam aber stetig. Dabei hörte ich Gruselgeschichten, direkt in mein Ohr, und als Teil meiner ganz eigenen Halloween-Zeit.
Ich blieb standhaft. Mein Bericht begann mit Querstraßen. Üblicherweise war die Stadt belebt, selbst im Nieselregen des Herbsts. Der Seewind war nicht fern, die Leute brauchten die klare Luft. Auch gegen 22 Uhr sah ich sie alle noch: Spaziergänger, Lieferanten, Jogger, Hundehalter. Ihre Zahl nahm ab, je später es wurde. Dazwischen aber waren die Anderen. Ich weiß nicht, wie ich sie nennen sollte. Sie entzogen sich dem Licht. Gestalten mit kruden Formen, die es schafften genau im Dunkel zu sein, jenseits der Lichter, in den Schatten. Und wie sie wankten! Nein, es waren keine Sträucher, die von Briesen in Bewegung gesetzt wurden. Ebenso wenig waren es Menschen in dunkler Kleidung. Es waren abgehackt schlurfende Wesen, die, sobald sie dich bemerkten, auf dich zuhielten. Sie würden hunderte Schritte brauchen, aber sie würden dir folgen, wenn du bleibst. Dort, wo ihre Gesichter sein mochten, waren ein Loch, das schreckliche Grunz- und Schlurflaute produzierte. Darum ging ich, so schnell ich konnte. Das pochende Herz. Schweiß. Die Kopfhörer nahm ich heraus, beendete das Horrorhörspiel. Ich wusste es einfach!
Zur Geisterstunde begab ich mich in die Straße, in der ich sie gesehen hatte, nur um nichts vorzufinden, auch in den Nebenstraßen nicht.
Doch dann schaute ich genau. Es waren mehr von ihnen geworden und nun weilten sie in der Nähe des alten Friedhofs. Ihre Köpfe hoben sich, alle gleichzeitig, was sie doch ganz und gar in ihrer Nicht-Menschlichkeit enttarnte! Dann drehte ich mich um und lief so schnell ich konnte, ging ins Bett, und machte doch kein Auge zu. Der Mond hing nicht einfach, er höhnte, weil er wusste: Etwas Schreckliches würde passieren.
Meine Schwester ruhte nicht, sie verlangte visuelle Beweise. Diese konnte ich ihr nicht liefern, obgleich mich an einem Bild versucht hatte. Ihrer Meinung nach waren es nichts weiter als Narren, die durch die Dunkelheit türmten.
Aber willst du wirklich gehen, fragte ich sie, nachdem was passiert ist?
Gerade jetzt! Für Halloween war es die perfekte Untermalung: In der Kirche St. Thomas hatten sich des Nachts Leute verschanzt. Sie trugen Kutten und Dolche, wie in einem Horrorfilm aus den 1980ern. Sie nahmen Geiseln, dort und von anderswo. Ihnen ging es nicht ums Geld. Noch bevor die Polizei in irgendeine Verhandlung treten konnte, waren die Gefangenen tot, umgebracht in einem Blutbad, die Täter inklusive. Ein wirrer Selbstmordkult, das Grausamste, was diese Stadt je gesehen hatte, vom Krieg und allen anderen verdeckten Verbrechen der Geschichte einmal abgesehen – das Urteil war sehr schnell gesprochen. Trotzdem hielt es von den Verantwortlichen niemand für notwendig, Feierlichkeiten zu untersagen. Lediglich im Zentrum war es zu einigen Sperrungen gekommen. Umso mehr also würden sie alle durch die anderen Teile dieses Lochs ziehen, so wie auch meine Schwester.
In keiner all der möglichen Welten, in der es uns oder Abbilder von uns gab, sollte sie mir glauben. In diesem Sinne, waren meine Schwester und ihre Freunde in jedem Fall, in jeder Form, für die Verdammnis bestimmt gewesen.
Vor genau zwei Tagen, einem Tag vor meinen Sichtungen, war es zum schrecklichen Vorfall in der Stadt gekommen. Wir hatten es mit keinem Wort diskutiert, auch jetzt nicht. Sie alle wollten ihre Normalität und dem Kalender folgen.
Das Urteil meiner Schwester lautete: Mit dir ist die Fantasie durchgegangen, du willst jemanden zum Zuhören, quatsch‘ im Netz wie alle anderen auch! Und außerdem, sagte sie und verschränkte dabei die Arme, diese Stadt war schon immer scheiße, hast du nie unsere Eltern reden gehört? Nicht nur Papa, sondern auch Mama, insbesondere Mama. Nein, ich will keine Angst haben, sondern Spaß. Das wird die beste Nacht des Jahres! Es ist langes Wochenende, ein langes Halloween!
Die für meine Schwester grauenvollste Botschaft überbrachte ihr mein Vater, der von drüben kam, endlich vom Fernseher aufgestanden: Du nimmst deinen Bruder mit! Damit ihr aufeinander aufpasst. Wir lassen uns keine Feste von Verrückten kaputtmachen!
Meine Schwester hatte nur noch uns zwei, nachdem der Krebs unsere Mutter vor einigen Monaten dahingerafft hat. Einfach so, er war aus dem Nichts getreten und hat alles zerstört. Unser Vater wollte es nicht akzeptieren. Deshalb ließ er uns die Freiheit, mutmaßte ich. Womöglich hatte er die Nachrichten nicht einmal mitbekommen? Er bewohnte dieser Tage ein ganz anderes Reich. Wir umarmten ihn zum Abschied, er fühlte sich an wie ein schimmelnder Kürbis.
Dir scheint das ja alles eine schöne Freude zu bereiten, sagte sie und entlarvte meinen Blick in die Nacht: Ja, zugleich fühlte ich mich wieder wie ein Kind, das im Dunkel verborgene Geheimnisse glitzern sehen will. Hast du deine Medikamente? – So lautete ihre nächste Frage, und ich nickte und ging mit Abstand hinter ihr, der Hexe, als wir an langen, unkomplizierten Schatten hinüberzogen, wo ihr Freund mit dem Auto wartete. Die Schmalzlocke war als irgendeine Anwandlung von Elvis verkleidet. Er gab meiner Schwester einen Kuss auf die Wange, mich registrierte er mit einem Schnauben. Aber dann grinste er und fragte mich, ob ich der Geschichtenerzähler sei? Ich kenne doch bestimmt einige gute Orte in der Dunkelheit.
Meine Kehle zitterte und der Atem zeigte sich am Fenster. Da dachte ich an Schnee, so umfassend, seine Karre packend, auf dass wir feststeckten und sie uns holen kämen. Dann endeten wir wie Mutter: Völlig hilflos.
Wir sammelten ihre weiteren Freunde ein und waren zu fünft im engen Wagen mit seinen erdrückenden Fenstern. Dort drinnen sprachen sie vom Massenmord. Wie meine Schwester, interessierten sie sich nicht für die Details, noch zeigten sie Mitgefühl. Sie wussten nichts über die neun Opfer: den Küster, die alte Frau, den Austauschstudenten, die Polizistin außer Dienst, den Organisten, den Unternehmer, den Priester und seine zwei Messdiener. Sie wussten auch nichts über die Mörder. Der lange Kerl im Ledermantel, der Vampir, verband die Diskussion mit einer Geschichte seinerseits: Die Stadt sei auf Leichen aufgebaut! Sie hätten den Beton und Asphalt einfach darüber gegossen, über längst vergessene Tote. Meinen Einwurf, dass dies in jeder Stadt so sein musste, ignorierte er. Stattdessen sah er aufgeregt in die Runde.
Ja, waren sie sich einig, bei so einer Vergangenheit musste so etwas doch nun einmal passieren. Ein paar von ihnen benutzten ihre Smartphones. Es war meine Schwester, die dafür sorgte, sie nicht darin zu verlieren. Diese Bande hatte einen Plan, sie würde nicht einfach sinnlos durch die Nacht ziehen, obwohl es zu Anfang genau diesen Anschein erweckte: Süßes oder Saures!
Mit dem üblichen Schlachtruf hielten wir an ein paar Häusern, und die Leute sagten uns, wir seien zu alt. Schmalzlocke lachte, der Vampir grunzte, und die Mumie, das andere Mädchen unserer Gruppe, fragte mich nur entgeistert, warum ich mich denn nicht auf Spaß einlassen könne? Sie lachte und beugte ihren Oberkörper vor, um zu einem übertriebenen Schlurfen zu lachen.
Sie besahen ein altes Bürgerhaus und laut meiner Schwester lebten darin Freaks. Wir sahen keine. Die Mumie machte große Augen: Sollen wir einsteigen? Das sind sehr reiche Leute. Wenn hier jemand Geheimnisse kennt und Geld versteckt hat, dann die! Vampir wirkte plötzlich sehr pedantisch und meinte, diskutieren zu müssen. Reiche Leute könnten nicht verrückt sein, schon gar nicht sehr reiche Leute. Also müssten wir einen besseren Ort finden. Dabei pfiff doch schon kein Vogel mehr? Und der Wind pfiff.
Ich ahnte, dass die beiden Mädchen und Schmalzlocke ihn aufziehen würden. Doch ich hatte nicht erwartet, dass letzterer gerade mich um Rat bat. Du kennst dich hier doch aus, sagte er. Du bist der Nerd. Wohin könnten wir?
Wir müssen wieder rein, uns irgendwo hinsetzen, am besten an einen belebten Ort. Ich sah zu meiner Schwester als ich das sagte. Ihre Augen funkelten.
Was, du hast Angst? Gerade der Vampir musste das fragen. Und die Mumie lachte. Und dann lachte auch Schmalzlocke, aber kürzer, abgehackter. Sein Blick bekam etwas Väterliches. Mein Vater wollte mich zum Mann trimmen, doch der Tod meiner Mutter hatte ihm dieses Projekt zunichte gemacht. Jetzt brauchte er seine ganze Männlichkeit für sich selbst. Schmalzlocke aber schien mir sagen zu wollen: Na komm schon, teile dein Wissen mit uns und lass uns mutig sein! Das Mädchen neben dir starrt dich an. Du bist interessanter als der Vampir.
Wir sollten wirklich, wirklich gehen! Seht ihr denn noch jemanden hier? Die meisten scheinen schon wieder verschwunden zu sein. Ja, ich weiß, es ist erst 23 Uhr! Eben deswegen! Eben deswegen müssen wir gehen!
Dann öffnete meine Schwester ihre orangen geschminkten Lippen und klang schneidend wie der Oktoberwind: Er kennt einen idealen Ort. Dort hat er seine Toten gesehen.
Meine Toten? Meine Toten?
Der alte Friedhof, kommt, ich sage, wo’s langgeht!
Der Vampir meinte, wir sollten doch zum Tatort fahren. Ja, das sollten wir, sagte ich, doch die Mumie entlarvte es. Sie und meine Schwester spürten unsere Angst. Wir wollten ja nur dort hin, weil die Polizei dort war und wir uns fürchteten. Auch die Kirche dort wird von der Polizei beschützt sein, meinte der Vampir. Zuvor hatte er wieder auf sein Handy gestarrt.
Ich kaute auf meiner Pille. Sie hatten ja keine Ahnung. An der Ampel könnte ich aussteigen. Würde meine Schwester zurücklassen.
Dann sah ich: Unter einer flackernden Laterne starrte einer von ihnen in unsere Richtung. Sein Arm zeigt keine Haut, sondern einen weißen, schimmernden Knochen.
Mehrmals und mit verschiedenen Argumenten ersuchte ich eine Umkehr. Da war er längst nicht mehr zu sehen. Meine Schwester drehte das Radio lauter, Schmalzlocker drückte das Gaspedal durch, Vampir versuchte der Mumie die Hand auf den Schenkel zu legen, doch diese redete von einer Mitschülerin.
Irgendwann wurde ich meiner eigenen Stimme müde. Niemand von ihnen wagte den Blick ins Dunkel. Bemerkten wir Rattenschwärme und ihr Auftürmen? Schwarze Haufen, hügelartig gewölbt, sehr dicht beieinander. Denn sie flüchteten die Toten aus der Erde.
Erst am Friedhof nahmen sie mich vom Fenster fort, die Mumie, die mich stechend musterte. Du glaubst wirklich an das, was du siehst, sagte sie.
Warum sollte ich nicht? Weil du dich doch täuschen kannst. Es ist so dunkel da draußen. Früher hatte ich gehofft, der Weihnachtsmann tritt aus dem Wald.
Sie lachte und stieg aus. Polizeiwagen waren nirgendwo zu sehen, aber das überraschte uns nicht, sie mochten in Nebenstraßen geparkt haben, um so jede Art von Übeltätern – Jugendliche, Kultisten, Untote – aus dem Hinterhalt übermannen zu können.
Kaum hatte ich unseren Halt realisiert, hielten sie schon auf das Eisentor des Friedhofs zu. Wieder warnte ich, und der Vampir meinte nur: Nein, das wird geschlossen sein. Nun war er umso überzeugter.
Meine Schwester sah zu mir und ich schüttelte den Kopf. Dann kniff sie mich. Ich sagte ihr: Du bist verrückt! Denn sie schien ganz überzeugt. Jede Minute dieser verfluchten Nacht hatte sie geändert. Hast du sie nicht auch gesehen?
Ja, vielleicht, sagte sie und starrte mich an, so, wie sie mich noch nie angestarrt hatte. Also wo kommt man sonst noch auf den Friedhof?
Ich schüttelte den Kopf. Ohnehin, wieder der Vampir: Laut Karte hinten links. Können wir deinen Bruder nicht hierlassen?
Doch davon wollte sie nichts wissen. Sie wies die Männer an, die Sträucher niederzudrücken, sodass wir den Weg des Gärtners nehmen konnten. Dann trat sie als erste ein.
Du erinnerst dich? Hier haben wir nach einer Grabstelle für Mutter gesucht. Aber sie wollte bei ihren Eltern begraben werden, auf dem Land. Diese Fragen ignorierte sie, sondern deutete auf die Kapelle in der Mitte des Friedhofs. Schmalzlocke fragte: Wo sind die Bullen?
Er hatte recht, sie waren nirgendwo zu sehen.
Ein beißender Geruch drang in unsere Nasen. Vielleicht deswegen ignorierte niemand die Geräusche – Schaben auf Stein, nicht nah genug und doch nicht fern, wie obskure Bauarbeiten, die kein Laie deuten konnte und deshalb instinktiv davon Abstand hielt.
Von der Kapelle aus führte eine gewaltige Spur aufgeriebener Erde geradewegs fort, direkt von aufgesprengten Wegen über das Gras vor Gräbern, so als suchten Maulwürfe die Rache, nun angetreten, das Herz der Stadt zu erobern, die sie doch in die Tiefen verbannt hatte. Dabei war es etwas Anderes. Sie mussten es doch endlich begreifen! Und endlich: Als sie das nun sahen, erstarrten sie.
Ich entdeckte ähnliche Spuren an anderen Gräbern: Auch in ihnen war die Erde aufgewühlt. Doch den grausigsten Fund machte die neugierige Mumie. Ihr Schrei verhallte über den Friedhof und ihr ausgestreckter, bis in den Zeigefinger bandagierter Arm deutete zitternd auf die tiefhängenden Zweige einer Kiefer. Darunter lagen die ausgeweideten Leiber von vier Männern in blau-schwarzen Uniformen.
Schmalzlocke zitterte, so wie der Rest von uns, doch er langte sofort vor, und griff nach einer der Pistolen, welche die Toten noch immer am Halfter trugen. Was tust du? Aber er sagte meiner Schwester, dass wir uns wehren mussten, was auch immer da kam. Dann zuckte sein Kopf zur Seite und er hob den Arm und benutzte die Waffe.
Wir alle schrien und sahen eine schlurfende Gestalt zu Boden gehen. Keiner von uns konnte ihre Umrisse ausmachen, doch das grässliche Stöhnen, das aus ihrem Munde zu entnehmen war, ließ mich keifen: Ich habe es euch gesagt! Ich habe es euch gesagt! Meine Schwester aber schaute die Gestalt lange an. Dann war ich es, der sie zerrte, und wir den Anderen nacheilten.
Über alle Wege des Friedhofs schlurfen sie in unsere Richtung. Aus Gräbern waren Wühlgeräusche unheiligen Lebens zu vernehmen, keine Tiere, keine Menschen, sondern etwas Schrecklicheres. Endlich verstanden sie, nun ganz mit ihren eigenen Sinnen. Dort draußen, jenseits der Mauern, schien die Welt ebenfalls erwacht. Nun schrien ganze Straßen wie die Mumie.
Schmalzlocke, keuchend vom Fahrersitz seines Wagens aus zu mir: Wohin jetzt? Und meine Panik antwortete ihm: Wir müssen raus! Raus aus der Stadt!
Zunächst fuhren wir ohne Sinn und Verstand in dem Wagen umher. Schmalzlocke wurde zu einem wesentlich umsichtigeren Fahrer als ich es ihm zugetraut hätte. Langsam steuerte er das Fahrzeug, eine Hand am Lenkrad und die andere stetig am runden Schalter für das Licht. Wieder und wieder brachte er die Scheinwerfer zum Erlöschen.
Sie mochten uns nicht sehen, doch wir konnten sie hören – trotz des Windes. Einmal hielt er sogar an, damit wir uns vergewissern konnten: Dort vorne strömten sie in ein Café. Auf der anderen Straßenseite begriff eine schreiende Frau, dass sie nicht einfach in eine Gruppe von Männern geraten war, die sie erschrecken wollte, nein, sondern in die Arme der lebenden Toten. Skelettarme rangen sie nieder.
Sie erhoben sich überall. Das Verborgene unter der Stadt. Ich nahm eine weitere Pille zur Beruhigung.
So wird es bald auf der ganzen Welt sein, meinte der Vampir keuchend, obwohl er wie angewurzelt zwischen der Mumie und mir saß. Seine Augen waren weit geöffnet. Meine Eltern, sagte er.
Die Mumie faselte, wir hätten ihnen doch nichts getan, irgendwie so etwas, aber da fuhren wir schon weiter, und Schmalzlocke bremste heftig als er die Untoten in einer ganz neuen Rotte sah, dort direkt vor uns, auf einer vierspurigen Straße. Zwischen rot leuchtenden Wagen gingen sie zielstrebig, erbarmungslos. Noch bevor wir ihr grauenhaftes Werk sehen konnten, machten wir kehrt.
Irgendjemand murmelte etwas vom Industriegebiet. Dort gäbe es weniger Menschen. Außerdem war die Autobahn in der Nähe. Und dann? Es gibt dort draußen eine Kirche, beim Meer, da müssen wir hin, sagte meine Schwester und schloss ihre Augen.
Raus aus der Stadt zu wollen erschien jedem die rechte Antwort zu sein. Schmalzlocke steuerte den Wagen in die entsprechenden Richtungen. Wir schwiegen.
Ich aber musterte meine Schwester, die so lange nichts gesagt hatte. Ihre Wimpern glänzten feucht. Das erinnerte mich an unsere Mutter. Dann begriff ich: Sie wollte zum Grab unserer Mutter. Was ist mit Vater? Was ist mit ihm? Wir müssen zu ihm, wir müssen ihm helfen! Und zu den Anderen sagte ich: Was ist mit eurer Familie? Ihre Lippen bebten, über die Wangen perlten Tränen. Sie wagten kein Wort, sie sahen zu meiner Schwester, der Hexe.
Meine Schwester benutzte Worte, die sie vor langer Zeit schon zurechtgelegt haben musste: Der will doch sterben. Dem ist nicht zu helfen. Sie wollte nicht sterben. Also…!
Also was?
Sie rationalisierte: Wir müssen erst einmal entkommen, erst einmal raus aus der Stadt, auf das Land, durch diese Nacht kommen. Nun wird alles anders. Der Mumie rief: Das Tor zur Anderswelt ist offen! Die Toten rächen sich! Meine Schwester ließ sich davon nicht irritieren: Hört ihr? Hört ihr? Versteht ihr? Aber ich realisierte etwas: Anderswelt. Eine neue Welt. Das sagte ich laut, wie zum Signal. Jeder von uns konnte nun nicht mehr anders halten. Alle schrien wir, weinten, schüttelten uns – alle, außer meiner Schwester.
Der Schmalzlocke griff sie ins Lenkrad. Mit quietschenden Bremsen hielten wir auf einem leeren Parkplatz am Straßenrand. Sie starrte uns an: Wie schnell könnt ihr alle euer bisheriges Leben hinter euch lassen? Sie sah nicht zu mir, als sie noch hinzufügte: Meine Mutter ist gestorben, einfach so, es kam wie aus dem Nichts. Wie diese Toten. Aber der Krebs, der war schon immer da. Es kann ganz schnell gehen.
Die Mumie nickte und sagte: Ja, das müssen wir begreifen. Nichts wird mehr so sein wie je zuvor.
Den Vampir neben sie nahm sie am Arm und deutete drängend auf sein Smartphone. Du findest uns doch einen Weg? Wie wir aus der Stadt rauskommen? Und dorthin, wo sie gesagt hat?
Wir waren schnell auf dem Weg hinaus aus der Stadt. Die Lichter, die Kürbisköpfe und mit ihnen die Formen der Zivilisation verschwanden bald. Eine dunkle Nacht lag vor uns, die so viel Schreckliches beinhalten musste. Das Radio war unwissend, genauso wie das Internet. Noch hatten sie keine Ahnung. Wir aber waren auf dem Weg zum Grab unserer Mutter, um was auch immer zu finden. Irgendwann hielten wir, wir tauschten Plätze, und meine Schwester saß neben mir. Sie griff meine Hand. Aus einem mir rätselhaften Grund lächelte sie nun und sagte: Zum Glück hast du recht behalten. Jetzt schließ die Augen, es wird eine lange Fahrt.