ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Hier geht es zum vorherigen Teil:
9. Akt –
Manifestation deiner selbst
Ich starre ihn an. Starre. Starre auf den pulsierenden Boden. Auf
ihn. Den Boden. Starre in die farbenfrohe Schwärze. „Aaaaah…“,
tonlos entweicht ein dumpfer Laut des Unverständnis meinen Lippen.
„Wie…? Und wo…?“, stammle ich und komme mir dabei wie der
größte Idiot vor. Nein, nicht Idiot. Das einzige an diesem Ort, was
nicht vollends verrückt ist. Noch nicht. Phobos steht vor mir. Die
Erkenntnis tröpfelt zäh wie Honig durch mein Bewusstsein. Phobos.
Steht. Vor. Mir.
Seine Physiognomie entspricht in Grundzügen noch meiner, unserer…
Davids? Aber er ist unzweifelhaft verändert. Höllische
Kopfschmerzen machen sich in meinem Schädel breit. Der Körper wirkt
muskulöser und irgendwie größer, als ich ihn in Erinnerung hatte,
der Kiefer kräftiger, die Nase eine Winzigkeit breiter. Sein Schädel
ist kahlgeschoren, wie damals direkt vor der Operation und die untere
Gesichtspartie wird von einem schneeweißen Mundschutz verdeckt. Die
Augen gleichen schwarzen Löchern. Unendlich und masselos.
Lichtverschlinger in der grellen Finsternis des Riss. Oberkörperfrei
präsentiert er einen haarlosen, muskulösen Brustkorb, bedeckt mit
Kratzern und frisch verheilten Narben. Dazu trägt er grobe,
verwaschene Shorts und schwere Schnürstiefel deren nägelbeschlagene
Sohlen aussehen als seien sie dazu geschaffen Fleisch und Knochen zu
zertrümmern. In beinahe lächerlichem Kontrast stehen dazu die engen
Gummihandschuhe an den ungeschlachten Händen. Die Persönlichkeit
meines Bruders riecht nach Blut und Brutalität, umweht von einer
feinen Note reinen Ethanols. „Interessant dich mal hier zu treffen.
Mann, siehst du scheiße aus!“, knurrt er, und obwohl ich seinen
Mund nicht sehen kann, erkenne ich an den verengten Augen, dass er
breit grinst. Ich greife mir stöhnend an die Stirn und bemerke
plötzlich, dass volles, zerzaustes Haar aus meiner Kopfhaut sprießt.
Ein paar Strähnen fallen mir ins Gesicht und ich muss sie zur Seite
pusten, der Rest ist im Nacken zu einem langen, eleganten Zopf
zusammengebunden. Auf meiner Nasenspitze sitzt eine Brille mit
kleinen, runden Gläsern. „Was zum…? Ich verstehe nicht… ?“
Ich trage ein normales T-Shirt und Jeans, darüber einen abgenutzten
Malerkittel. In einer ledernen Umhängetasche finde ich meine
Werkzeuge, Wachs, Farbe, Pinsel, mehrere leere Ampullen, eine
Spritze, ein kleines Messer…
„Hier ist jeder das, was er wirklich ist, Bruder!“, verkündet
Phobos „Nicht mehr gebunden. Frei. Weg von den ekelhaften Zwängen
und Menschen.“ Mit einer
Hand hebt er krampfartig den Mundschutz und spuckt angewidert auf den
pulsierenden Boden. Etwas wie ein zartes, ätherisches Stöhnen ist
zu hören und der Speichel wird absorbiert. Die Augen meines Bruders
zucken neurotisch
und sein Körper verrenkt
sich krampfartig.
Nein, du wirst niemals ganz frei sein,
denke ich ohne Mitleid. Der
an- und abschwellende Ammoniakwind brennt in meiner Kehle und treibt
mir Tränen in die Augen. Ekelerregend, beißend und fremd. Atemhauch
der Hölle. Und doch, mit jedem Zug scheint die unirdische Luft süßer
und reiner zu schmecken als alles, was ein Mensch je zuvor geschmeckt
hat. Ich trinke in gierigen Schlucken, ein Verdurstender, errettet
aus einer ausweglos erscheinenden Ödnis, und spüre wie meine über
die Jahre hinweg vertrocknete Seele aufblüht. So viele Farben… und
so viele unerkannte Wunder im Dunkeln.
„Gut was?“, schnarrt mein Bruder und reißt mich brutal aus der
verzückten Trance. „Die Pillen die sie uns in der verfickten
Klapse in den Rachen gestopft haben, sind ein Scheiß dagegen.“ Er
kichert leise und wippt belustigt vor und zurück. „Bin dir beinahe
dankbar, dass du mich so oft hier her geschickt hast… beinahe… “
Ein wütender Schatten fährt über seine Züge. „Obwohl das
wirklich alles andere als nett war, gar nicht nett!“ Taumelnd
weiche ich ein paar Schritte vor ihm zurück. „Sekunde!“, keuche
ich und hebe abwehrend die Hände. „Das heißt also, dass du jedes
mal hierher… hier drin warst? Also wenn ich dich… a…
ausgeschaltet habe?“ Meine Stimme flackert und erlischt wie eine
Kerzenflamme im Wind. Phobos stiert mich erbost an und knirscht mit
den Zähnen. Bedrohlich. Aber nur ein bisschen.
Plötzlich wird die
unangenehme Situation von etwas Fremden gepackt und in der Luft
zerrissen. Die Welt die uns umgibt, erzittert und ich erzittere mit
ihr. Ein obszöner, grauenhafter Ton erfüllt die Atmosphäre,
unnatürlich und unmenschlich, ja geradezu von einer
übelkeiterregenden Fremdheit, die mir Tränen in die Augen und
bittere Galle in die Kehle treibt. Ein rhythmisches Pochen, Hämmern
und Dröhnen, ein Trommeln und Stöhnen, ein Keuchen, ein Scharren,
Kreischen… und Stimmen… Stimmen… Ich widerstehe dem Drang mich
erneut zu übergeben und falle auf die Knie. Die endlose, farbenfrohe
Schwärze scheint sich zu einer Blase zusammen zu ziehen, hinter
deren pulsierenden Wänden gigantische Wesenheiten ihre Bahnen
ziehen. Mit starren, schreckgeweiteten Augen verfolge ich den Umriss
eines Körpers, der sich wie eine riesige Schnecke gegen die
Außenhaut der Blase presst und daran entlang gleitet. Ihre schiere
Größe, das Rumoren ihrer Bewegungen und Stimmen, das Trommeln
hinter der Barriere aus Schleim und Schatten… Ein Grauen bemächtigt
sich meiner, geboren aus der plötzlichen Erkenntnis der eigenen
Nichtigkeit. Und dann sehe ich meinen Bruder, wie er tanzend und
lachend auf die diffusen, sich windenden Umrisse am Horizont zurennt.
„Wartet, wartet auf mich!“, schreit er, und und wirft vor Lachen
den Kopf in den Nacken. „Ich bin einer von euch, einer von euch
hört ihr?!“ Schaum tropft von seinen Lippen. Er rennt und rennt
und rennt und bewegt sich trotzdem keinen Zentimeter von der Stelle.
„Ich gehöre zu euch! Nehmt mich mit! Nehmt mich… mit…“ Seine
Bewegungen erlahmen und langsam wird auch das Rumoren leiser. Die
Körper der namenlosen Kreaturen verschwimmen, der Raum weitet sich
und dehnt sich in der Horizontalen. „WARTET!“, kreischt mein
Bruder ein letztes Mal verzweifelt. Dann… Stille.
Gebeugt dreht Phobos sich um und schlurft langsam zu mir zurück.
Schwer lässt er sich auf den Boden neben mir fallen. „Wieder
nix…“, murmelt er frustriert. Ich schlucke und linse verstohlen
zu ihm herüber. „Sag… p… passiert das hier öfter?“ „Hin und wieder, ab und an, wer weiß das schon…“ knurrt er
kurz angebunden und grummelt etwas Unverständliches. Für einen
kurzen Moment schweigen wir, dann hellt sich sein Gesicht auf einmal
wieder auf. Er streckt seinen Arm zu mir aus. Bevor ich flüchten
kann packt er mich im Nacken wie eine junge Katze und zerrt mich an
sich heran. Seine psychische Distanz und physische Nähe sind
ungewohnt und machen mich nervös. „Was willst du?“, frage ich
zurückhaltet. „Reden.“ kommt die knappe Antwort. „Worüber?“.
„Über das:…“, er tippt auf meine und dann auf seine eigene
Nase. „Über das:…“, er deutet in einer ausladenden Bewegung
auf den seltsamen Raum. „Und über das, was dahinter liegt.“ Ich
schaudere unwillkürlich. Phobos zieht eine kleine Spraydose aus der
Tasche seiner Shorts und desinfiziert meine Schultern, bevor er einen
seiner muskulösen Arme gezwungen kumpelhaft um eben jene legt. In
der Geste liegt nichts komisches. Rein gar nichts. Mundschutz,
Handschuhe, Blut, Brutalität und der scharfe Gestank von Ammoniak
und Ethanol. Dann beginnt er mit seiner Erzählung.
Zwischenspiel:
Lass mich. Lass mich! Oh Gott verdammt, lass mich! Was sind
schon Schmerzen… im Nichts? Reine Freude, r…reine Aargh
Freude… F…F…Freude… Ich habe keine Freunde. Natürlich nicht.
Du hast mir alles genommen, ALLES! Verdammt, nein… Warum
quälst du mich so? Ich bin weder frei, noch gefangen. Du hältst
mich an der Kette wie einen bissigen Köter. Abgetrennt von allem,
bis sich der Stahl durch mein Fleisch gefressen hat und mich blutend
verrecken lässt. Und wenn ich mir dafür das eigene Bein abhacken
muss, ich werde… aah… werde fliehen! Ich gehöre dir nicht! Ich
bin kein Teil der Finsternis! Ich… bin… ich!
Ich. Hasse. Dich.
Ich… hasse…
Dunkelheit.
Als
David erwachte und, begleitet von einem heiseren Keuchen die Augen
aufriss, fand er sich auf dem Boden wieder. Nicht ganz auf dem Boden
der Tatsachen, aber zumindest auf einem festen Untergrund. Und er
verfügte wieder über einen Körper und das trostbringende Ventil
der Stimmbänder. Er schrie und schrie und schrie, schrie das Grauen
heraus, dass er seit dem Zwischenfall im Operationssaal von Dr.
Stanleys Hölle hatte erdulden müssen. Als er sich die Kehle wund
gebrüllt hatte, versuchte er schluchzend aufzustehen, doch sein
alter neuer Körper gehorchte ihm nicht. Er brach zusammen, schlug
hart auf dem Betonboden von Deimos‘ Atelier auf und blieb zitternd
liegen. Er versuchte sich zu orientieren, doch alles um ihn herum
drehte sich. Das letzte an was er sich erinnern konnte war das
lächelnde Gesicht des Doktors, ein ziehender Schmerz in seiner
rechten Augenhöhle und dann…
Er.
Oh Gott, dieses Ding, diese Kreatur…
David presste sich die Hände an
die pochenden Schläfen und stöhnte entsetzt. Etwas in seiner Brust
schien zu zerreißen und er erbrach sich, unwissend, dass die
Manifestation eines Teils seiner Seele zu diesem Zeitpunkt und an der
gleichen Stelle genau das selbe tat, allerdings durch eine halbe
Dimension von ihm getrennt. Der junge Mann schaudert als Bruchstücke
von dem, was er die letzten Wochen durchgemacht hatte wieder zum
Vorschein kamen.
Diese Augen, diese brennenden, roten Augen, die seine Seele
durchlöchert und seinen Geist gefoltert hatten. Und diese Stimme…
mit leerem Magen würgend versuchte er erneut sich aufzuraffen und
klammerte sich an dem schweren Holzpult in der Mitte des Kellers
fest. Schleppend wankte er auf die Treppe zu und begann mit dem
quälenden Aufstieg.
Es dauerte lange und mehrmals stürzte er
beinahe wieder zurück, doch er schaffte es kriechend bis in das
verlotterte Wohnzimmer. Langsam gewöhnte er sich wieder an den
Körper und die neuen Umweltbedingungen und zum ersten mal sickerten
zusammenhängende Fragen in seinen Schädel. Wo war er? Und wie war
er hier her gekommen? Mit einer Mischung aus verwirrter Erleichterung
und todesähnlicher Erschöpfung ließ er sich auf den alten
verstaubten Sessel fallen, an dessen Armlehnen sich noch immer Reste
der
Fesseln eines kleinen, kranken Mädchens befanden. Natürlich wusste
er nichts davon. David war in diesem Moment einfach nur glücklich
dieser surrealen Folterhölle entkommen zu sein. Er versuchte sich zu
entspannen, doch das ertragene und gehörte ließ ihn nicht los.
Großer Gott, es hatte ja zu ihm gesprochen! Er verzog das Gesicht
und wimmerte. Diese schreckliche Stimme hallte ihn seinem Kopf nach:
„Du bist nichts, nichts
hörst du? Du warst schon immer tot, eine tote Hülle. Deine Eltern
haben dich nicht geliebt, wusstest du das? Keine Freunde, keine
Liebe, nur ein verrückter, erbärmlicher toter Haufen Fleisch. Der
seine eigene Mutter… getötet
hat! Hingeschlachtet!“ Grauenhaftes
Gelächter. NEIN! NEIN NEIN NEIN! Er schluchzte auf und schlug die
Hände vors Gesicht. „Das
ist nicht wahr! Ich
war das nicht!“
Plötzlich
kam ihm die Gewissheit, dass sein Leben sich gerade an einem Punkt
der absoluten Sinnentleerung befand. Er war irgendwie der jahrelangen
Gefangenschaft entkommen, allerdings nur um in eine zweite zu
geraten, der er auf unerklärliche Art und Weise erneut entflohen
war… Er hatte niemanden, kannte niemanden, nicht einmal die Welt
der er sich einmal zugehörig gefühlt hatte. Und irgendwo in den
Tiefen seines Gehirns wütete diese schreckliche Krankheit, die ihn
erst in diese missliche Situation manövriert hatte. Oder? Grübelnd
und zitternd kauerte David in Deimos‘ Refugium und fühlte sich wie
ein Fremder im eigenen Land. Er war erschöpft, so schrecklich
erschöpft, wollte nichts weiter als vergessen… Eine
bleierne Müdigkeit machte sich in ihm breit und langsam fielen seine
Augen zu. Schlafen…
Ein scharfer Windzug fuhr plötzlich
durch den Raum und ließ die Tür zum Keller mit einem lauten Knall
ins Schloss fallen. Er schreckte hoch und starrte auf den dunklen
Umriss der schweigend in der
rechten Zimmerecke stand. Kalte Nachtluft durchflutet das muffige
Zimmer und der mottenzerfressene Vorhang bauschte sich gespenstisch,
in den pechschwarzen Tiefen des Waldes schrie ein einsames Käuzchen.
Niemand erwiderte seinen Ruf. Fasziniert betrachtete David die
Gestalt. Menschlich, nicht sonderlich groß oder breit gebaut.
Zottiges Haar fiel von ihrem Schädel und umrahmte das unkenntliche
Gesicht. Der junge Mann dachte an nichts und wunderte sich darüber.
Alles schien von einer seltsamen geleeartigen Masse überzogen zu
sein, gedämpft und unwirklich. Erst als die Gestalt einen obszönen
Fluch ausstieß und in das schwache Lampenlicht trat, zerfiel das
Trugbild und Panik kochte in Davids Brust hoch. „Hab ich dich!“,
krächzte die Person
zornig und präsentierte ein abstoßend hässliches Gesicht.
Augendeckel und Haar schienen verkohlt zu sein, die käsige Haut über
dem schädelartigen Gesicht geschmolzen wie Kerzenwachs und der Mund
spannte sich auf eine widernatürliche Weise von einem Ohr bis zum
anderen. David glaubte sich an diese Fratze zu erinnern, doch in
diesem Moment war er viel zu verstört um sie genauer zu zuordnen.
„Du verdammter kleiner Wichser!“, keifte das Monster und baute
sich vor ihm auf. „Hab den ganzen, verfluchten Wald und die Stadt
nach dir abgesucht und wo finde ich dich?!“
Er versuchte die Nase zu rümpfen, was allerdings aufgrund ihrer
Inexistenz kläglich misslang. „Also…“, zischte er und trat
David plötzlich und mit aller Gewalt in die Magengrube. „… Soll ich dir zuerst den Arsch aufreißen und mir dann mein
Messer holen oder anders herum?“
David
krümmte sich keuchend zusammen und hustete erbärmlich. Jeff trat
noch einmal zu. Dieses mal röchelte
er mit Blut.
„W…was…?“, stammelte er und klappte sprachlos den
verschmierten Mund auf und zu. „Wo
ist mein Messer?!“, brüllte der entstellte junge Mann und spuckte
ihm ins Gesicht. Rachsucht funkelte in seinen Augen die in ihren
Höhlen herumrollten wie Tischtennisbälle. David hatte keine Ahnung
wovon er sprach. „Ich, ich weiß es nicht.“, flüsterte er und
hustete erneut. Jeffreys Gesichtsfarbe wechselte von ungesundem Weiß
in zorniges Rot. „Lüg nicht!“ Er
zerrte sein paralysiertes Opfer hoch und schleuderte es unsanft auf
den schmutzigen Fußboden. Brutal trat er in Davids Seite und ließ
ihn zusammengekrümmt links liegen, während
er sich daran machte, sämtliches Mobiliar auseinanderzunehmen.
Mit verzerrter Miene versuchte David aus der Reichweite seines
Peiniger zu robben, doch bevor er die rettende Tür erreichen konnte,
trat Jeffrey mit dem rechten Fuß in seinen Nacken und nagelte ihn
damit am Boden fest. „Nicht so schnell Freundchen!“, zischte er
bedrohlich, „Du gehst erst
wenn ich es dir erlaube. Und dass heißt NIEMALS!“ Er
drehte ihn auf den Rücken und presste seine mageren spitzen Knie auf
die Oberarme um ihn so an der Flucht zu hindern. Grob
durchsuchte er Davids Taschen und stieß einen wütenden Schrei aus,
als er auch dort nicht fand was er suchte. Total
verrückt, dachte David
verzweifelt, der Kerl ist
total verrückt!
„Bitte!“, rief er mit letzter Kraft. „Ich weiß wirklich von
nichts, ich weiß nicht einmal wo ich bin, versteh doch!
Vielleicht… vielleicht kann ich dir ja helfen, oder… oder…“.
„Spar dir die Luft!“, geiferte die hässliche Fratze über ihm
und zog zu Davids grenzenloser Fassungslosigkeit ein glänzendes
Messer. Das Messer sah neu und sehr blutdurstig aus. „Als ob es mir
um das Messer ginge. So etwas ist im Handumdrehen wieder
aufzutreiben…“, knurrte Jeff. „Aber hast du eine Ahnung wie
demütigend es ist, sich von einem kleinen, dreckigen Mistkerl wie
dir verarschen und dann auch noch beklauen zu lassen?!“
Die
beinahe sanfte Berührung des Messers stand in scharfem Kontrast zu
den heftigen Worten. Liebevoll ritzte die Klinge die weiche Haut
seiner entblösten Kehle und David zuckte zusammen und schloss die
Augen. Sein schmerzender Körper erschlaffte. Und dann kam ihm ein
Gedanke. Hatte er nicht genau darauf gewartet? War es nicht das,
wonach er sich all die Jahre gesehnt hatte? Der Tod? Natürlich hätte
er ein friedliches Ableben vorgezogen, doch in seiner Situation
durfte man nicht wählerisch sein. Was hatte er denn schon ihm Leben,
für dass sich das weiteratmen lohnte… Eine himmlische Ruhe machte
sich in ihm breit. So friedlich war David nicht mehr gewesen seit…
seit zwölf Jahren. Seitdem Deimos und Phobos, dieses zwei Freaks
aufgetaucht und alles zerstört hatten! Gott, wie er sie hasste!
Doch auch diese negative Emotion verschwand, ertrank in der endlosen
azurblauen Tiefe der resignierten Ruhe und dem tröstlichen Gefühl,
endlich gefunden zu haben wonach er zwölf endlos wirkende Jahre lang
gesucht hatte. Er war bereit.
David öffnete die Augen und
erwiderte Jeffreys Lächeln. Doch im Gegensatz zu der entstellten,
wachshäutigen Kreatur meinte er es ernst und es kam von ganzem
Herzen. „Tu es.“, sagte er sanft und entspannte sich. David
lachte. Er lachte und lachte, lachte als das funkelnde Messer durch
sein Fleisch schnitt und sein Blut die umstehenden Möbel besudelte.
Er lachte als Jeff ihm nach und nach die Finger der linken Hand
abschnitt. Er lachte sogar noch, als ihm langsam die Haut über
dem Brustbein abgeschält wurde. Die Welt verblasste und alles um ihn
herum wurde ruhig und leer. Seine Kräfte schwanden, sein Blickfeld
verengte sich und schwarze Schlieren verschleierten dessen Ränder.
Plötzlich tauchte ein kleiner undeutlicher Schatten hinter der
Silouette seines Mörders auf. Ein dumpfer Schlag ertönte. Jeffreys
Froschaugen wurden erst glasig, dann blind und ihn einer lächerlich
langsamen und steifen Bewegung kippt er nach hinten weg. Das Messer
fiel
zu Boden. Ein silberhelles Klingen. Engelsgesang. Dann Stille. Ein
kleines vernarbtes Mädchen schälte sich aus den dunkler werdenden
Schatten am Rand seines Blickfelds und sah ihn aus großen, traurigen
Augen an. Die Augen waren blau. Auch die Augen seiner Mutter waren
blau gewesen.
David lächelte.
Dann starb er.
10. Akt – Der Riss
„Also nochmal,“, sage ich und
streiche mir mit der Rechten durch das ungewohnt lange Haar.
„Dieser… Riss wie
du ihn nennst, ist quasi der Übergang zwischen zwei Welten
beziehungsweise Dimensionen.“ „Jup.“,
antwortet mein Bruder und stochert sich mit der Linken zwischen den
Zähnen herum. „Und wir sind hier weil…?“ Die Frage bleibt in
der Luft hängen und schwirrt zwischen uns hin und her wie ein
lästiges Insekt. „Keine Ahnung.“, grummelt Phobos schließlich
und steht auf. „Ich weiß nur, dass es hier tausendmal besser ist,
als in dieser erbärmlichen Menschenwelt! Und wenn es bereits hier so
gut ist, wie muss es dann erst in der anderen Welt sein…“
Sehnsucht glitzert in seinem Blick. „Wenn ich nur wüsste wie…
wie ich hinüber kommen könnte.“ Tausende, nein Myriaden von
Fragen geistern in meinem Kopf herum. Er hat recht, es ist besser an
diesem Ort, diesem Ort wo Oben Unten und Richtig Falsch ist. Wo die
schwärzeste Finsternis Farben gebiert, deren Spektrum weit über dem
bereits bekannten liegen.
„Die Menschen,
du redest immer von den
Menschen. Sind wir…
bist du etwas kein Mensch?“, frage
ich. Nur eine Frage von
Tausenden. Und trotzdem… Sie beschäftigt mich, seit… seit ich
denken kann. Ebenso die Frage nach dem, was davor war. Die Frage nach
dem Besitzrecht. Seit ich mich erinnern kann habe ich das Gefühl,
dass es sich bei mir, meinem Bruder und David um drei Erben handeln,
die sich um das Grundstück eines verstorbenen Verwandten streiten.
Mir fällt auf, dass ich zum ersten mal seit der Flucht aus der
Anstalt an unseren dritten Mitbewohner denke. Was wohl aus ihm
geworden ist? Ob der Eingriff ihn wirklich getötet hat?
Offensichtlich.
„Menschen!“
Mein Bruder spuckt das Wort förmlich auf den pulsierenden Boden.
„Ekelhaftes Gesocks! Ob wir so sind wie sie? Das ist die Frage
nicht wert!“ Er hat recht. Natürlich sind wir anders. Natürlich.
Zum ersten mal in meinem, wie ich gerade feststellen muss
erschreckend kurzen Leben, hinterfrage ich meine Fähigkeiten. Ich
fühle mich beobachtet und ein Schauder läuft über meinen gebeugten
Rücken. Meine Beine sind unangenehm taub. Hastig stehe ich auf und
fange an, langsam und nachdenklich auf und ab zu gehen. „Ich
wünschte ich könnte meine
gesammelten Werke aus der Psychiatrie holen… und wüsste was in
drei Teufels Namen Stanley mit ihnen angestellt hat!“ Phobos grinst
bösartig. „Wen interessiert’s? Der Alte ist tot! Tot, tot,
mausetot!“, frohlockt er voller Häme. Ich ignoriere sein
nervtötendes Gekicher und sinniere weiter vor mich hin. Die Fakten:
Es gibt offenbar zwei (oder mehrere) Dimensionen, deren Ränder in
dieser seltsamen Zwischenwelt zusammenlaufen. In der diesseitigen
Welt leben neben der normalen Bevölkerung und Fauna, andersartige
Kreaturen, Kreaturen wie ich
und mein Bruder. Mächtiger, edler vielleicht, und dazu bestimmt
Großes zu vollbringen? Ja so fühle ich mich. Wenn ich dann
allerdings wieder an niveauloses Gezücht wie diesen Jeffrey, den
Schlaflosen mit den unterschiedlichen Augen, oder eben meinen werten
Bruder denke… Was ist unser Zweck, unsere Bestimmung?
„Aargh…“,
ich stöhne frustriert und plötzlich flackert eine blutrote Vision
im inneren meines Schädels auf. Plötzlich ist es da. Das Auge.
Diese rote, von Ringen durchzogene Auge. Ich kenne es. Doch woher?
Ich schüttle abwehrend den Kopf und das Auge verschwindet,
weggewischt wie ein unschöner Schmutzfleck. Ich wende mich zu Phobos
um, der gerade damit beschäftigt ist, den zuckenden Boden mit einem
Messer zu bearbeitet. Versucht wohl durchzubrechen, in seine bessere
Welt. Mit einer Mischung
aus Mitleid und Verachtung beobachte ich seine nutzlosen Versuche
eine Weile und berühre ihn dann sanft an der Schulter. Er fährt
herum und stiert mich für einen Moment an wie ein wilder Hund ein
Kaninchen anstarren würde. Dann verschwindet das Feuer und seine
alte Griesgrämigkeit kehrt zurück. „Was?“, grunzt er unwirsch.
„Sag mal…“, hebe ich an. „Hast du schon einmal irgendwo so
ein merkwürdiges rotes Auge gesehen? Blutrot und von vielen
konzentrischen Kreisen durchzogen?“
Er versteift sich. Seine schwarzen,
leeren Augen starren mich an, emotionslos, seelenlos. Doch bevor er
antworten kann, erbebt plötzlich der Boden unter unseren Füßen und
ein grauenhaftes Sirren und Heulen ertönt. Ein
stinkender Windstoß fegt über die leere Ebene, der Untergrund wirft
Wellen und schlägt Blasen. Mir wird schlagartig übel und ich stürze
zu Boden. Die kleine Brille rutscht von meiner Nase und wird bei
Kontakt von der pulsierenden Masse verschlungen. „Was ist das?“,
schreie ich und versuche das ohrenbetäubende Fauchen zu übertönen.
„Etwas ist passiert!“, brüllt mein Bruder und versucht verbissen
sich aufrecht zu halten. „Etwas in der anderen Welt!“ In welcher
Welt?! Denke ich verzweifelt, doch da werde ich schon vom Boden
hochgerissen und in die unendliche Schwärze über mir gesogen. Alles
beginnt von vorne.
Es ist ein unglaublich widerwärtiges Gefühl mit der Person zu
verschmelzen, die man über alles hasst. Oh ja, das Wort widerwärtig
trifft dieses Empfindung recht gut. Eine schwere, teerartige Masse
die sich um dein Herz schließt und alles irgendwie verstopft. Es
scheint als habe eine riesige, anderweltliche Kreatur einen
gigantischen Mixer angeschmissen, in dem ich, mein verhasster Bruder
und ein nicht unbeträchtlicher Teil des Universums zu einem
homogenen Brei zerhäkselt und anschließend wieder mehr schlecht als
recht, neu zusammengefügt werden.
Und dann spukt der Kosmos deine erbärmliche Existenz schwungvoll
zurück in das Loch aus dem du gekrochen bist. Erbärmlich.
Das erste was ich bemerke ist ein
muffiger metallener Geruch, der schwer und träge in der Luft hängt.
Ja, ich kenne diesen Geruch. Danach folgt rasender Schmerz. Gott,
bitte lass es nicht so sein, wie den Energieschock den ich beim
Eintritt in den Riss über mich ergehen lassen musste! Doch diese
Qual ist anders, körperlicher und bedrohlicher. Ich fühle mich
schrecklich schwach, erschlagen, hundeelend. Und der Schmerz wütet
in meinem Körper wie ein außer Kontrolle geratener Buschbrand. Ich
versuche zu sprechen, doch das einzige was aus meiner Kehle dringt,
ist ein gequältes Winseln. Das Atmen fühlt sich unerträglich und
unwirklich an… Blut rinnt in meinen halbgeöffneten Mund. Unter
beinahe unmenschlicher
Anstrengung öffne ich die Augen, meine Lider flattern
unkontrolliert. Über mir erscheint ein verschwommenes, kleines
Gesicht. Große, blaue Augen, umrahmt von Narbengewebe und verfilztem
blonden Haar.
„L… Luna…“, krächze ich leise. Mit Grauen
realisiere ich die abgetrennten Finger und die tiefen Schnitte die
meinen Oberkörper zieren. Großer Gott… Ich bin zu schwach um in
den Geist des Mädchens einzudringen, aber auch zu schwach um mich
verbal verständlich zu machen. Doch das brauche ich gar nicht. Sie
legt einen Zeigefinger auf die Lippen und deutet auf den großen
Wachsklumpen und die kleine Deimos-Puppe die sie neben mir auf den
Boden gelegt hatte. Auf dem Abbild von mir zeichnen sich deutlich die
geschrumpften Verstümmelungen meines realen Körpers ab.
Interessant… Instinktiv weiß ich was zu tun ist. Mit der
unverletzten Hand kratze ich zitternd Stückchen aus dem Wachs und
verschließe die Wunden der kleinen Puppe provisorisch. Mein Blut,
dass noch immer in Strömen aus dem
geschundenen Körper fließt, vermischt sich mit der Substanz und
färbt diese Rosa.
Zuerst geschieht nichts, doch dann macht sich
plötzlich ein unangenehmes Kribbeln an den Wundrändern breit und
fasziniert beobachte ich, wie sie sich langsam zu verflüssigen
scheinen, ineinander rinnen und verschmelzen. Über die blutigen
Stümpfe meiner linken Hand legen sich dicke Kuppen, die den
Blutfluss stoppen. Zurück bleiben gräuliche Narben. Nur
eine Hülle, fährt es mir durch den Kopf und ich realisiere, wie
wenig mir mein eigener Körper eigentlich bedeutet. Hätte ich die
Kraft dazu gehabt, hätte ich jetzt wahrscheinlich verächtlich
geschnaubt. Mein Körper.
Mein Körper. Nur ein
schnödes Vehikel, ein
Leihwagen, den ich lieber nicht zu Schrott fahren sollte, weil mein
Boss mir keinen weiteren zur Verfügung stellt. Lachhaft.
Doch
heute wird die alte Klapperkiste noch nicht eingeschrottet.
Noch bin ich am Leben und ich habe nicht vor, damit so schnell
aufzuhören! Es warten noch so viele Fragen darauf beantwortet, so
viele Rätsel darauf gelöst zu werden! Meine
Sicht verschlechtert sich plötzlich und ein ohrenbetäubendes
Rauschen erfüllt meinen Kopf, durch den die undeutliche Stimme Lunas
dringt. „Ein Geschenk…“, murmelt sie leise und beinahe
unverständlich. Dabei hält sie eine offenbar mit Flüssigkeit
gefüllte Schüssel über mich. Zähe, rote Tränen perlen daran
herab und tropfen traurig in mein Gesicht. So viele ungelöste
Rätsel… Angefangen bei
diesem kleinen, verrückten Mädchen. Eine verbissene Euphorie
überkommt mich und es gelingt mir, ein kurzes heiseres Lachen
auszustoßen. Dann werde ich ohnmächtig.
Hier geht es zum nächsten Teil: