KreaturenLangePsychologischer HorrorTod

Der Gesang von Sirenen

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Wellen kräuseln sich sanft auf der beinahe glasklaren Oberfläche des Wassers. Gelangweilt begutachte ich das verzehrte Spiegelbild meines Gesichtes, das sich langsam wieder zusammensetzt. Meine Finger tippen in einem undeutlichen Rhythmus gegen die Kanuhülle, scheinbar das einzige, vernehmbare Geräusch, gedämpft vom aufziehenden Nebel um mich herum. Plötzlich erklingt das vertraute Sirren der drehenden Spule, gefolgt von einem dumpfen Platschen.

Mit einem Seufzen sehe ich zu meiner Schwester auf, die konzentriert die nahezu unsichtbare Schnur der Angel mit ihrem Blick verfolgt.

»Ich glaube, du wirst da nichts mehr fangen.«, versuche ich ihr verzweifelt einzureden.

Eifrig kurbelt sie die Schnur wieder ein.

»Geduld. Ich kanns schon spüren. Gleich wird was anbeißen. Wirst‘ schon sehen.«

Ich rolle meine Augen, während ich mich zurücklehne und meinen Blick desinteressiert über den Horizont schweifen lasse. Dicke Nebelschwaden ziehen sich gespenstisch, fast lebendig, über den See. Das nächste Ufer gleicht nur noch einem schwarzen Splitter, der hinter den zunehmenden Ebenen aus Grau langsam verschwindet.

Die Aussicht sollte leer wirken, nur von den fernen, lose gekritzelten Umrissen der Bäume getragen. Dennoch kommt es mir vor, als hätte das Wetter nichts von der Umgebung genommen. Selbst wenn der Schnee sich lichten und der Nebel sich heben würde, hätte ich erwartet, diese bis auf die Knochen verdorrten Wälder unverändert monoton zu erblicken.

»Ich will dich wirklich nicht bedrängen, aber wir sollten uns auf den Weg machen. Ich habe keine Lust, bei dieser Kälte herumzuirren. Es wird bereits dunkel.«, warne ich meine Schwester, die wahrscheinlich sowieso nicht zuhört.

Irgendeine verrückte Entschlossenheit, wenn nicht sogar Sturheit, treibt Sarah dazu, den Köder in diese weiße Leere immer und immer wieder auszuwerfen. Ich kann dabei nicht sagen, ob ich sie für ihren Starrsinn bewundern oder verfluchen soll. Ich kann auch nicht begreifen, wie sie mir so einen eintönigen Ausflug einreden konnte. Glaub mir, das wird lustig, hat sie gepredigt. Du wirst es lieben, hat sie gesagt.

Jetzt friere ich hier meine Finger ab, nur um das Kanu gelegentlich zu steuern. Ich hätte mir aufregendere Aktivitäten vorstellenden können.

Sarah lugt enttäuscht über die Kante des Kanus. Sie betrachtet dabei, wie der Köder passiv im klaren Wasser schwebt.

Geschlagen gibt sie ein Grunzen von sich: »Gut. Gehen wir. Weil in diesen Wassern anscheinend Fische verdammt nochmal ausgestorben sind.«

Ich seufze erleichtert.

»Aber wir werden morgen nochmal rausgehen.«, murmelt sie leise vor sich hin.

»Bitte nicht.«

»Halt dein Maul. Ich würde mit deiner Körpergröße aufpassen, dass du nicht rein zufällig über Bord gehst.«

»Drohungen beiseite, wir sollten uns jetzt auf den Weg machen.«

Beleidigt legt sie die Angel weg und nimmt das Paddel in ihre Hände. Ich wollte es ihr bereits gleichtun, als mir plötzlich ein besorgniserregender Gedanke kommt.

»Du weißt noch, von wo wir gekommen sind, oder?«

Wir sehen uns irritiert um, doch das einzig Erkennbare bleibt nur das Grau der Nebelwand. Nach einigen Sekunden hebt Sarah ihr Paddel in einer zufälligen Richtung. »Ich glaube… da lang?«

Skeptisch hebe ich eine Braue. »Bist du dir da sicher?«

»Ich sehe da drüben ein Ufer.«

Ich kneife meine Augen zusammen, doch ich kann nichts erkennen. Eigentlich will ich ihr nicht glauben, trotzdem glaube ich, dass es ratsam wäre, in Bewegung zu bleiben, selbst wenn das Ziel nur eine fremde Küste ist.

»Wenn du meinst.«, stimme ich ihr unsicher zu.

Unser Kanu schwimmt ruckartig nach vorne. Ich spüre, wie meine Finger langsam taub werden, wage es aber dennoch nicht, mit dem Paddeln aufzuhören. Jeder Wassertropfen, der aufspritzt, brennt auf der Haut wie tausend Nadeln. Es kommt mir nicht einmal vor, dass wir uns bewegen würden. Alles wirkt unverändert starr, als wäre die Zeit stehen geblieben.

»Du hast dein Handy mit, James?«

Ich wache von meinem Tagtraum wach.

»J-ja.«

»Gut. Ruf mal unsere Eltern an. Ich habe meins nicht dabei.«

Ich runzle meine Stirn, während ich das Gerät aus einer Tasche packe: »Du denkst doch nicht im Ernst, dass wir hier draußen Empfang… Oh. Vergiss es. Ich habe nichts gesagt.«

Sarah sieht amüsiert zurück. Ich presse das kühle Plastik an mein gefühlt abgefrorenes Ohr. Ein Piepsen ertönt. Dann noch eins. Gefolgt von einem weiteren.

»Aber es bringt auch nichts, wenn sie nicht abheben.«, flüstere ich schwach.

Ich packe das Gerät wieder weg, scheine es wie in einer Trance einfach in meine Jackentasche rutschen zu lassen.

»Naja. Müssen wir halt weiterrudern. Wir werden früher oder später Land erreichen.«

Meine Schwester schafft es trotz der Umstände, mit der Situation gut umgehen zu können. Ich im Gegenteil spüre ein wachsendes, flaues Gefühl in meinem Magen. Jede Minute, die verstreicht, lässt mich immer wieder hinterfragen, ob wir irgendwann Land erreichen werden.

Weiße Flocken fallen immer frequenter vom Himmel. So wie das Rauschen eines Fernsehens wird die Sicht unklarer. Unser Kanu stößt derweil mit dem immergleichen Tempo nach vorne. Der Rumpf schneidet durch die gläserne Wasseroberfläche und scheint dabei deren Spiegelung kurz zu durchbrechen. Mit einem flüchtigen Blick sehe ich in diesen neu entstandenen Abgrund herab, der so leblos, kalt wirkt. Allein der Gedanke, dass hier Fische leben könnten, kommt mir so unrealistisch vor.

Ich hätte jetzt meine Augen vom Wasser nehmen und weiterschippern können, dem synchronen Plätschern der Paddel lauschend. Doch stattdessen erstarrt mein Körper, das Stück Holz fest, von meinem durch Eiswasser durchnässten Handschuhen, umklammert. Ein Beben breitet sich in meiner Brust aus, als sich meine Pupillen vor lauter Unglauben spürbar weiten.

Sarah schaut verwundert zurück, als sie meine fehlende Kraft bemerkt.

»Wieso hast du aufgehört zu paddeln?«

Meine Schwester mustert besorgt mein Gesicht. Ich erwidere ihren Blick und hebe eine Augenbraue.

»Was ist?«, frage ich mit einem belustigten Unterton und fahre mit einer Hand über meine Nase.

»Habe ich was auf dem Gesicht?«

Sie schüttelt nur ihren Kopf und dreht sich nach vorne.

Ich spähe über die Bootskante. Mein Spiegelbild glotzt zurück. Die graue Mütze, die ich trage, ist von Schneeflocken, die sich wie ein Klettverschluss an den rauen Stoff haften, bedeckt. Ich konnte schwören, ich hätte da unten etwas gesehen. Und es glich keinem Fisch.

Ich schrecke zurück, als sich brennend kalte Wassertropfen über mich ergießen. Geschockt starre ich meine Schwester an, die sich ein Lachen schwer verkneifen kann.

»Los! Weiter.«, ruft mir Sarah zurück

»Ja. Alte Sklaventreiberin.«, murmle ich unter meinem schweren Atem.

»Das habe ich gehört!«

Ich lege das Ruderblatt ins Wasser. Zur Kontrolle begutachte ich ein letztes Mal die Wasseroberfläche. Eine nichtsagende Leere starrt zurück. Ich versuche meine strapazierten Nerven zu entspannen, doch meine Fantasie scheint dadurch nur noch mehr durchzubrennen.

Es ist mir klar, dass rationales Denken in dieser Situation in Vordergrund stehen sollte, nicht eine Einbildung und Verkörperung meiner Panik, trotzdem kann ich nicht darüber hinwegkommen.

Man kann ihren Körper fast nur noch eine Gestalt nennen, zu verschwommen und dunkel, um feinere Details auszumachen. Dieser Nebel frisst langsam die Welt um mich herum weg.

Ich hebe meine Stimme, die in dieser Totenstille unnatürlich laut klingt.

»Wo zum Teufel siehst du da drüben ein Ufer? Sag doch einfach, dass du nicht weißt, wo wir hinmüssen.«

Sie regt sich für eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr, bis sie plötzlich ihre bleiche Hand hebt.

»D-dort drüben.«, bibbert sie schwach von der Kälte.

»Da ist nichts! Weißt du was, ich gebe einen Notruf durch. Scheiß drauf, wie viel es kosten wird. Ich will nicht erfrieren.«

»N-nein. D-du musst wirklich nicht…«

»Schau dich mal an! Du kannst nicht einmal einen kompletten Satz herausringen.«

Ich fummle mit steifen Gliedern durch meine Jacke, auf der Suche nach meinem Handy.

»Du musst es wirklich nicht tun. Da drüben ist es schon. Es ist nicht mehr weit.«

»Scheiße. Da ist nichts.«

 

»Nein, aber ich sehe es doch.«, erwidert meine Schwester bereits, aber ich korrigiere sie sofort.

»Du verstehst nicht, was ich meine. Da ist nichts. Mein Handy ist nicht mehr da. Scheiße!«. Ich durchwühle sämtliche Taschen, teilweise bereits doppelt, im Wunsch, dass es durch irgendein Wunder doch noch auftaucht, aber ich kann mir nichts vormachen.

Ich beginne jetzt meine Jackentasche erneut zu durchkämmen, schüttle sie wortwörtlich aus, als ein leises Platschen, aus dem nichts ertönt. Erschrocken sehe ich mich um, doch die Ursache von diesem Geräusch bleibt meiner Sicht verborgen.

Die wachsende Paranoia in mir lässt mich bereits Dinge im Wasser sehen, doch auf zweite Überlegung hin befürchte ich etwas weitaus Schlimmeres. Mit pochenden Herzen springe ich zur rechten Kanuseite, bringe das Boot dadurch beinahe zum Kentern. Ich kann mit Terror in mein Gesicht gemeißelt nur noch einen letzten Blick auf eine verschwommene Silhouette erhaschen, bevor sie vollends von der gähnenden Tiefe des Sees verschluckt wird.

»Fuck, fuck, fuck.«

»Sag nicht, dass das dein Telefon war. Scheiße…«, murmelt Sarah.

Sie verfällt ebenfalls der Panik und fängt an energischer zu paddeln.

»Wieso glaubst du mir nicht. Das Ufer ist da drüben. Da drüben. Bitte…«

Ihre Stimme versagt, als es sich zu einem verzweifelten Schluchzen entwickelt. Ich starre in diese hoffnungslose Leere, nur um meine Sorge erneut zu bestätigen.

»Sarah! Halts Maul! Da ist kein Ufer.«

»Aber ich sehe es. Ich sehe es doch.«

Ich ignoriere sie, als ich mich hilflos um meine eigene Achse drehe, nur um wortlos stehen zu bleiben. Etwas am Horizont fängt meine Aufmerksamkeit. Meine Augen weiten sich. Als würde eine höhere Macht meine Zweifel erhören, erkenne ich die feinen Umrisse einer Kiefer, die wie ein Vogel im Wind hin und her wiegt.

Meine Schwester hat recht. Da ist Land, doch wieso führt sie uns in die entgegengesetzte Richtung?

»Wo zum Teufel siehst du dort drüben ein Ufer? Du führst uns in die falsche Richtung!«

Für einen Moment vergisst sie ihre Verzweiflung, als sie sich langsam mit einem befremdenden Gesichtsausdruck zu mir dreht.

»Häh?«

Ich gestikuliere zur kaum sichtbaren Kiefer, doch meine Schwester starrt mich nur verwirrt an, ihren Kopf auf ihre Schulter gelehnt.

»Geht’s dir gut? Ich meine, es kann sein, dass du mein Ufer nicht siehst, aber wo du hinzeigst, da ist rein gar nichts. Du musst nichts dazu erfinden, nur damit du Recht hast.«

Um mich zu vergewissern, sehe ich nochmals zurück, nur dass dieser Baum noch deutlicher als zuvor im Vordergrund steht. Ich kann nicht verstehen, wieso Sarah es nicht erkennen kann.

»Ich erfinde… nein.« Ich hole tief Luft. »Los, wir müssen umdrehen. Wir haben keine Zeit zum Diskutieren.«

Ich mache bereits Anstalten, kehrt zu machen, doch Sarah unterbricht mich, indem sie mit ihrer Hand mein Paddel festhält.

»Papapapa. Was auch immer du vorhast, hör auf. Wir können jetzt nicht umdrehen. Sonst verrecken wir tatsächlich an einer Unterkühlung.«

»Du bist doch krank. Du wirst mit deiner kleinen Aktion genau das bewirken!«

Ich reiße mein Paddel wieder von ihrem lockeren Griff.

»Ich wundere mich, wie du nur so ein Idiot sein kannst. Du wirst uns noch umbringen. Willst du für sowas verantwortlich sein?«

Ich schreie entnervt: »Verantwortlich bist schon du! Ich habe dir bereits eine Chance gegeben.«

In Sarahs Augen entflammt wieder dieser mörderische Blick, ihre Fäuste fest zusammengeballt.

»Ach ja? Was kann ich dafür, dass du blind bist? Siehst du nicht, dass ich versuche uns zu retten?«

»Ja, du VERSUCHST es und scheiterst erbärmlich daran.«

Wir beide verstummen. Die bitterkalte Luft, die ich einatme, schneidet in meine Lungen. Beleidigt kehrt mir Sarah den Rücken.

»Weißt du was? Ich werde jetzt einfach darauf los paddeln. Kannst sowieso nichts dagegen tun.«

Mit diesen Worten hockt sie sich auf ihren Platz nieder.

Sprachlos bleibe ich stehen. Ich fühle mich wie ein Hund, der mit einer straffen Leine gezwungen wird mitzukommen. Machtlos gegen sein Herrchen.

Jedenfalls bis er zubeißt.

Verbittert sehe ich zurück, der Ausgang aus dieser weißen Hölle vor meiner Fresse. So nah und doch so fern. Mit neuem Interesse betrachte ich mein Paddel. Die Vorstellung wird immer verlockender.

Zögernd hole ich aus. Meine Arme zittern, aber nicht vor Kälte. Ich zähle bis drei, als ich die Kante des Ruderblattes mit voller Wucht über den Schädel meiner Schwester ziehe. Ein dumpfes Pochen ist zu hören, als Sarah wie eine fadenlose Marionette zusammensackt.

Hastig springe ich zum regungslosen Körper und fühle den Puls ab, der unter meinen Fingern leicht vibriert. Dieses Gefühl widert mich an, doch ich kann nicht anders, als eine Spur Erleichterung in mir zu verspüren. Nicht weil meine Schwester noch lebt, sondern weil ich jetzt die volle Kontrolle über mein Überleben besitze.

Mit neu entfachtem Eifer lenke ich das Boot in die richtige Richtung. Selbst mit dem Beigeschmack von Galle in meinem Mund, der gegen meine Taten spricht, fährt mir ein Grinsen über die Lippen.

So vergehen die Minuten, der Frost an meinem schwachen Körper nagend, meine Aufmerksamkeit nach vorne gerichtet, gen Ufer, welches nicht näher zu kommen scheint. Eine optische Täuschung, rede ich mir ein. Jeden Moment könnte ich ankommen.

Zu fokussiert, um es gleich zu bemerken, ignoriere ich die ersten zwei Fische, ihre Bäuche aus dem Wasser ragend. Genauso ignoriere ich die weiteren paar.

Erst als das nächste dutzend sich wohl aus dem Nebel materialisieren, erinnert mich an meine vorherige Sichtung. Diese Gestalt im Wasser. Ich weiß, dass so etwas absurd ist, doch ich kann mich nicht davon losreißen. Jedenfalls werde ich mir nach und nach sicherer, dass ich wenigstens etwas gesehen haben muss.  Je weiter ich in die eisigen Wogen vorstoße, umso mehr beginnt mein Atem zu stocken.

Ich kann meine Finger kaum bewegen, die sich verzweifelt am Holz festklammern. Ich kann nicht einmal behaupten, dass diese Kälte sticht, so taub bin ich von ihr geworden.

Ich sehne mich so sehr nach Wärme, allein das Brennen von Schmerz wäre ein Ersatz für mich gewesen. Besorgt mustere ich Sarah. Sie nimmt immer mehr Züge von einer Toten an. Ich hätte es anders lösen können, doch wäre es zielführender gewesen? Ihre dünnen Arme beben. Für eine Sekunde überkommt mich der Ekel, eine Welle der Schuldgefühle. Wenigstens, bis ich wieder hochblicke. Der Anblick lässt mich erstarren.

Mein Blut gefriert zu Eiskristallen, die durch meine Venen und Adern schneiden, jede Emotion in mir durch Furcht ersetzt.

Ein Schlachthof breitet sich vor dem Bug aus.

Hunderte Fischkarkasse, manche längs über ihren Magen aufgeschnitten, ihre Eingeweide neben ihnen hertreibend, bedecken die purpurrot gefärbte Seeoberfläche.

Ich lasse das Paddel los und lehne mich über den Rumpf, um mich zu übergeben. Mein Kunstwerk breitet sich über einer dieser Tierleichname aus, die leeren Augen auf mich gerichtet, Pupillen so groß, dass sie das Weiß bis auf einen dünnen Ring bedecken.

Doch so schnell diese leeren Hüllen auch aufgetaucht sind, so schnell verschwinden sie wieder hinter den zarten Vorhängen des Nebels.

Geschockt bleibe ich über die Kante gebückt, nicht reaktiv, als ich eine Silhouette in der Spiegelung wahrnehme. Die Kotze brennt immer noch in meiner Speiseröhre.

Ich wende mich zu der Gestalt, kichere dabei wie ein Verrückter. Sarahs mit Abscheu gefüllte Miene sieht auf meine jämmerliche Figur herab. Blut rinnt von ihrem Skalp auf ihrer Stirn runter, ihr schwarzes Haar zu dicken Strähnen zusammengeklebt. Sie holt mit ihrem Paddel aus, bereit mir den Gnadenstoß zu versetzen.

»S-Stopp.«, flehe ich.

Im Versuch auszuweichen, lehne ich mich zurück und verliere meine Balance. Zu spät realisiert sie, was vor sich geht. Ich falle nach hinten, das Kanu fest umklammernd. Angst flimmert in Sarahs Augen. Das Boot kippt um und wir tauchen in diese tödlichen Fluten. Meine Sicht wird von Luftblasen bedeckt, die hastig zur Oberfläche schweben. Ich kann meinen Kopf nur knapp ober Wasser halten.

Keuchend schnappe ich nach Luft. Jeder Atemzug erfordert immense Kraft von mir ab, jede Schwimmbewegung eine unerträgliche Pein. Ich drohe wieder unterzugehen, aber eine Hand packt mich und hievt mich zu dem langsam sinkenden Boot.

»Du Idiot.«, flucht meine Schwester, zu entkräftet, um etwas anderes von sich zu bringen. Tausend Messerschnitte in Form dieses Wassers schälen meine Haut ab.

»Ich hätte dich ertrinken lassen können, weißt du, James?«

Ihr zerbrechlicher Körper hält sich hilflos am roten Rumpf fest, leichenblass von der unerträglichen Kälte. Tränen rollen über ihre Wangen, während sie darum kämpft, nicht zusammenzubrechen.

»H-hey, mach dir keine Sorgen. Unsere Eltern werden schon jemanden angerufen haben, oder…«, mir bleibt der Satz im Hals stecken. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Halte einfach ein bisschen länger durch. Es wird schon jemand kommen. Bleib einfach bei mir.«

»J-Ja sicher. Es wird bald jemand da sein…«. Ein schwaches Lächeln meißelt sich auch in ihre Lippen.

Das Kanu ist bereits zur Gänze vom Wasser verschluckt. Bald werden wir es nicht einmal berühren können.

»Ich werde müde.«

»Hör mir zu. Es sucht bestimmt jemand nach uns. Du musst nur…«

»Lass es.«

»Bitte…«

»Nein. Es ist aus. Du kannst es dir aussuchen. Willst du lieber ertrinken oder erfrieren?«

»Sag das nicht.«, murmle ich ihr zu.

»Ich will lieber erfrieren. Ich will erfrieren. Ich will erfrieren. Ich will…«, gibt sie weinerlich von sich, wiederholend zu einem nie endenden Takt. Ein Echo, dass mit jedem Wort meine Seele auseinanderreißt.

Sarahs Lider schließen sich, während wir erbarmungslos tiefer und immer tiefer in die grenzenlosen Leeren des Sees sinken. Wie tausend gierige Hände zupft die Kälte an meine Haut. Immer wieder verfalle ich dem Sekundenschlaf, versuche mit meinen matten Gliedern weiterhin zu strampeln.

Vielleicht ist es nur ein Nebensymptom meiner Erschöpfung, aber ich kann das Gefühl nicht loswerden, dass etwas unter uns lauert. Es ist nicht so, als würde ich es sehen. Ich spüre es mehr. Wie Flossen bei meinen verkrampften Beinen geduldig schlagen, als würden sie auf etwas warten. Meine vereisten Lider schaben an der Hornhaut meiner Augen, als ich sie dazu zwinge, offen zu bleiben. Dicke Schneeflocken fallen mir ins Gesicht, um mich weiter zu desorientieren. Ich kann Sarahs düstere Figur fast nicht mehr erkennen. Die Befürchtung, dass sie nicht mehr länger durchhalten kann, plagt mich. Sie darf nicht so enden, nicht nach meinen selbstsüchtigen Handlungen. Es wäre nicht fair.

»Bleib bei mir.«, forme ich mit meinem Mund, nicht sicher, ob sie es überhaupt sehen kann. Sie schüttelt den Kopf.

Ich zucke zusammen, als sie augenblicklich unter der gläsernen Oberfläche verschwindet. Angst füllt meinen Körper, ihre letzten hilflosen Blicke in meinen Erinnerungen eingebrannt. Tote Augen vor lauter Terror aufgerissen, Kiefer zu einem lautlosen Schrei unnatürlich weit ausgehängt. Eine graue Hand über ihre Schulter gekrallt.

Adrenalin pumpt durch meine Venen. Kristalle formen sich in meinen Adern, schneiden sich heraus, wollen mich warnen.

Egal wie stark mein elender Körper protestiert, ich muss hier weg. Ich beginne zu schwimmen.  Tränen bahnen sich einen Weg zu meinem Kinn, brennen wie Feuer während sie meine empfindliche Haut aufkratzen.

Jede Bewegung erzeugt Agonie von einem Ausmaß, das mir bis jetzt unbekannt war. Derweil kehrt in meinen Armen diese schmerzvolle Taubheit ein.

Aber ich nehme alles in Kauf, damit ich nicht wie meine Schwester ende. Mein träges Herz scheint einen Schlag nach dem anderen auszusetzen, in der hoffnungslosen Bemühung meinen Körper am Leben zu halten. Die Geräusche von aufspritzendem Wasser erklingen, beängstigend nah, hinter mir.

Jeder Atemzug ist kurz, lodert, als diese frostige Luft wie Nadeln in meinen Lungen prickelt. Das Plätschern wird immer lauter. Ich weiß, dass ich diesem Ding nicht entkommen kann. Ich weiß, dass es umsonst ist. Wenn ich nur das Ufer rechtzeitig erreichen könnte. Es wirkt noch unendlich weit weg, ein schwarzer Fleck, der die weiße Leinwand bekleckert. Es muss jetzt direkt unter mir sein.

Aus meiner Gewalt gezogen, zieht sich mein entkräfteter Körper zu einer Fötusposition zusammen, unkontrollierbares Zittern die einzige Bewegung. Mein Kopf taucht lautlos in die gefräßigen Fluten. Sauerstoff wird unter einem gewaltigen Schlag aus meinen Lungen geboxt.

Dürre Finger schnappen sich ruckartig um meine Fußgelenke. Knochen reiben an meine Haut. Ihr fauliges Fleisch sticht selbst unter Wasser in meine Nase. Rotes Licht erfüllt die Umgebung um mich herum. Gesang füllt meine Ohren, so lieblich toxisch, dass sie meinen Verstand verrotten lassen.

Ich konnte schwören, Sarahs entstelltes Gesicht vor mir schweben zu sehen, tot, wie ich fälschlicherweise dachte. Bis sie blinzelte.

So will ich nicht enden. Nicht wie sie.

Aus dem Nichts verstummt diese bittersüße Melodie.

Plötzlich pralle ich auf eine felsige Oberfläche ab. Verwirrt sammle ich die letzte Kraft meiner nutzlosen Beine, um mich auf die Knie zu stemmen. Ich hole tief Luft. Wellen wiegen sanft, fast schon friedlich gegen die Küste. Weiterhin wollen sie ihre tödliche Natur verheimlichen. Wie ein Betrunkener krieche ich auf den schneebedeckten Boden. Meine Jacke trieft vor lauter Nässe, meine Hose klebt wie ein Neoprenanzug an mir. Mit meinen Händen packe ich nach einer nahegelegenen Wurzel.

Gedankenlos ziehe ich mich voran. Meine nackten Füße lädieren sich im Schnee. Warmes Blut sickert heraus und hinterlässt eine Spur im reinen Weiß, besudelt es regelrecht. Taschenlampen stechen durch die Nebelwand. Sie kommen näher. Ich will schreien, doch mein Kehlkopf gibt nach. Ich schlage gegen die Wurzel, so brutal, dass meine Knochen zu brechen drohen, in der Hoffnung, es würde ein Geräusch produzieren, doch die Bemühung ist fruchtlos. Es produziert keinen einzigen Ton. Die Leuchtfeuer aus Licht gleiten wieder aus meinem Sichtfeld.

»Nein, nein, nein…«, krächze ich.

So nah. Ich kann jetzt nicht verrecken. Mit Trauer und Schmerz verzehrtem Gesicht gebe ich einen letzten erbärmlichen Laut von mir, der vom weichen Schnee aufgefangen wird. Niemand kommt. Niemand dreht sich zu mir. Meine Bitten brechen zu erbärmliche Schreie zusammen. Es war alles umsonst. Verbissen kauere ich mich zusammen.

Doch aus dem Nichts höre ich, wie Schritte im Schnee knistern. Ich sehe auf. Stimmen rufen nach meinem Namen. Die Lichtstrahlen tauchen wieder auf, stürmen förmlich in meine Richtung. Ich will lachen. Schlampig rapple ich mich hoch, will mehr Aufmerksamkeit auf mich lenken. Ein Mensch formt sich aus den Kaskaden aus Nebel. Er kommt näher, seine Miene mit Freude erfüllt. Er steht direkt vor mir.

Ich stütze mich bei ihm ab, verfehle aber und stolpere nach vorne. Der Mann schert sich nicht mich zu fangen oder beim Aufstehen zu helfen, bewegt sich keinen einzigen Millimeter. Er starrt nur weiter durch mich hindurch, als wäre ich Teil vom Schleier, der uns umzingelt. Handlungsunfähig mustere ich seine leblosen Pupillen. Schnee macht sich auf mich breit und bedeckt meinen erfrorenen Leib.

Er fährt einige Male mit der Zunge über seine Lippen, bis er endlich redet.

»Tut mir leid, Leute. Ich habe mich verhört.«

»Was!?«, piepse ich heißer heraus.

Sein sehnsüchtiger Blick schweift über den See.

»Ich bin hier.«, heule ich, aber der Mann schenkt mir keine Beachtung. Ich fuchtle meine Arme vor seinem Gesicht.

Mit gesenkten Haub macht er kehrt, wieder zu seinen Kollegen, alle ihre Blicke gen Boden gerichtet, schenken meiner Anwesenheit keine Aufmerksamkeit. Meine Bitten brechen in erbärmliche Schreie. Diese Schreie in Plärren, im Wissen, dass sie mich nicht hören können.

Ich will bereits hinterher humpeln, doch falle matt hin. Anstatt wieder aufzustehen, bleibe ich erschöpft liegen und drehe mich auf den Rücken.

Obwohl ich aus dem Wasser bin, fühle ich weiterhin diesen grausigen Druck um meine Knöchel.  Als hätte mich es mich nie verlassen.

Ich blicke zum Himmel, der von Finsternis verschlungen wird, um die herannahende Nacht einzuleiten.

Wie viel davon, war überhaupt echt?

Ich öffne meine Augen, nur um mich wieder von Wasser umzingelt zu sehen. Luftblasen kräuseln aus meinem Mund heraus, versuchen zu fliehen. Groteske Figuren schwimmen über mir. Sie sehen auf entferntester Weise irgendwie menschlich aus, doch ihr verfaultes Fleisch zerstört diese Illusion. Flossen, die ihre Beine ersetzen, schwingen sanft hin und her. Strähniges Haar fließen wie Schlagen um ihren Schädel. Zu schwach, um irgendwelche Empfindungen wie Panik oder einen Überlebensdrang zu besitzen, lasse ich mich weiterhin wehrlos nach unten schleifen. Druck presst gegen meinen zerbrechlichen Körper, scheint ihn zu zerquetschen.

Ich denke an die Bitten meiner Schwester zurück. Ich will auch lieber erfrieren, aber jetzt wird mich nicht einmal das Ertrinken schnell genug erlösen können.

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