
Haltestelle
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Es war Mitternacht. Dunkel. Der Himmel war nurmehr ein grauschwarzes Zelt über diesem Teil der Welt. Die Wolken verdeckten jeden Stern, und auch der Mond war nicht zu sehen. Es war keine dieser klaren Nächte, in denen man es genießen würde, mit seinen Freunden draußen zu sein; im Wald oder an einem See an einem Lagerfeuer sitzend, um das herum die Zelte aufgeschlagen sind, mit ein paar Flaschen Bier in einer Kühlbox, die mit Eis gefüllt ist, und ein paar Marshmallows, die, auf Äste gesteckt, über dem Feuer rösten, in einer angenehm warmen Sommernacht.
Nein, so eine Nacht war das nicht. Diese Nacht war kalt. Eiskalt. Der Winter hatte bereits sein frostiges Kleid über das Land gezogen, das die Bäume so tot und trostlos wirken ließ und jedes Einatmen zu einer schmerzhaften Tortur für die Lunge und jedes Ausatmen durch einen weißlichen Nebel deutlich sichtbar machte. Vor meinen Füßen lag Schnee auf der Straße; aber nicht die schöne Art von Schnee, die die sonst so kahle Landschaft, die der Winter jedes Jahr hinterließ, in ein herrliches, weißes Wunderland verwandelte. Es war ein dreckiges Gemisch von Schnee und Matsch, durch das schon hunderte Autoreifen an diesem Tag gefahren sein mussten. Oder eben am Tag davor.
Denn es war nun eine Minute nach Mitternacht, wie ich feststellte, nachdem ich einen Blick auf das Glas meiner Armbanduhr geworfen hatte. Es war beschlagen, und der weiße Nebel, der nach jedem Atemzug aus meinem Mund entwich, machte es nicht gerade einfacher, die Zeit abzulesen. Ich hatte schon oft hier gestanden und auf den Bus gewartet, doch immer nur im Sommer, als die Insekten ihre eigenen zirpenden Melodien in dem Feld gegenüber von mir spielten und selbst die menschenleere Nacht plötzlich lebendig werden ließen; wie ein Orchester der Natur, in der jedes Insekt, jeder sanfte Windhauch, jedes Rascheln der Bäume seinen festen Platz hatte und mir eine Symphonie spielte.
Doch heute nicht. Jetzt gab keine Insekten, kein Rascheln von Blättern. Keine Vögel, kein sanfter Windhauch. Nicht mal dieses satte Geräusch, das der erste Fußtritt in frisch gefallenen Neuschnee machte. Nur Leere, Kälte. Der Wind schnitt wie eisige Klingen durch mein hinter einem dicken Schal verborgenes Gesicht, und ein Tritt in diesen Schnee hier wäre nur das ekelhafte Geräusch einer nassen Schlammpfütze. Wie scharf und kalt der Wind tatsächlich war, konnte ich nicht nur in meinem Gesicht fühlen, sondern geradezu hören. Wie das Kratzen einer Gabel über einen Keramikteller oder Fingernägel auf einer Schultafel.
Es war nun zwei Minuten nach Mitternacht. Wieder hatte ich auf meine Uhr gesehen und meinte, dass mit jedem Blick die Ungeduld wuchs und die Zeit gleichzeitig langsamer zu vergehen schien. Die Neonbeleuchtung des kleinen Wartehäuschens für den Bus, in dem ich stand, flackerte immer wieder und ihr Licht war genauso kalt und einschneidend wie der Wind und der Frost. Alles schien so tot, künstlich und leer zu sein. Das Wartehäuschen stand an einer verlassenen Straße, an der nur noch selten ein Auto vorbeikam. Direkt dahinter war ein Fabrikgebäude, das zwar noch in Betrieb war, aber zu dieser Zeit natürlich ebenso menschenleer wie die Straße selbst. Gegenüber dem Wartehäuschen waren weite Felder, die brach lagen zu dieser Jahreszeit, gefolgt von einem dichten Wald. Die schwarzen Umrisse der kahlen Bäume zeichneten sich nur leicht von dem ebenfalls fast schwarzen Himmel ab. Weiter oben, in den Baumwipfeln, schien der Wind noch stärker zu wehen als hier am Boden, so stark verzogen sich die Äste der Bäume; beinahe als würden sie ihre Arme heben und um Hilfe rufen.
Es war nun drei Minuten nach Mitternacht. Ich löste meinen Blick wieder von der Uhr und merkte, wie mich die Gedanken der um Hilfe rufenden Bäume in dieser gespenstisch wirkenden Umgebung immer mehr vereinnahmten und verängstigten. Ich wippte auf den Fußballen leicht hin und her, um mit der Bewegung meiner Muskeln der Kälte entgegenzuwirken, die sich durch meine dicke Winterbekleidung zu fressen schien; wie brennende Säure, eisige Messer, die meine Beine entlang nach oben kletterten. Obwohl ich es schon die letzten zehn Minuten lang getan hatte, ließ ich meinen Blick noch einmal durch das schäbige, kleine Wartehäuschen wandern; es hatte definitiv schon bessere Tage gesehen. Es bestand aus einem Rahmen aus Metall, der an allen Ecken und Enden bereits zu rosten schien. An den Seitenwänden und an der Rückwand waren Plexiglasscheiben eingelassen, die an vielen Stellen Risse hatten. Offensichtlich hatte jemand dagegengetreten oder geschlagen. Die Scheiben waren stark verschmiert, auf einigen klebten alte Plakate und verschiedene Aufkleber. Direkt über mir befand sich ein kleines Dach, das vor Regen und Schnee zwar Schutz bot, aber gegen die Kälte nichts ausrichten konnte. Ich schaute nach oben und konnte die große Neonlampe hinter dem durchsichtigen Schutzgehäuse sehen, die die ganze Zeit über so lästig flackerte. Am Boden des Plastikgehäuses zeichneten sich nach außen hin große, schwarze Ansammlungen von Schmutz und toten Insekten ab. Zumindest Spinnen gab es zu dieser Jahreszeit keine, denn diese Lampe wäre für sie ein Paradies gewesen, wie ich von meinen Besuchen dieses Wartehäuschens im Sommer nur allzu gut wusste.
Einige Stellen des Metallgerüsts und die Scheiben waren mit einem dicken, schwarzen Filzmarker beschmiert worden. Beginnend bei allen möglichen Abarten von Graffiti, vulgären Sprüchen, weggekritzelten Telefonnummern, die noch halb lesbar waren, bis hin zu Liebesschwüren war darauf wirklich alles Mögliche zu finden; es war wie ein Zeugnis der Zeit. Vandalismus, gewiss, aber auch ein Vermächtnis all jener Leute, die sich einmal auf diesem Häuschen verewigten. Gerne hätte ich gewusst, wie alt diese Schmierereien bereits sein mochten und was ihre Verfasser heute wohl so trieben. Ob „M“ und „S“, wohl jemandes Initialen, die innerhalb eines Herzens geschrieben waren, heute noch immer ein Paar sind, fragte ich mich still bei mir. Zu gerne hätte ich mich auf die kleine Sitzbank innerhalb des Wartehäuschens gesetzt, doch leider war diese aus demselben Metall wie der Rahmen des Häuschens und das war so eisig, dass ich keine paar Sekunden darauf hätte aushalten können.
Es war nun vier Minuten nach Mitternacht. Mein Bibbern war auch durch meinen Schal bestimmt einige Meter weit zu hören und mein Körper machte immer wieder unkontrollierte Zuckungen vor Kälte. Ich zwang mich, ruhig stehen zu bleiben, weil ich einen solchen Verlust an Selbstkontrolle partout nicht abkonnte. Nur noch eine Minute, dachte ich bei mir. Die Zeit schien sich immer mehr in Richtung des absoluten Stillstandes zu verlangsamen, ganz so, als könne die Kälte hier die Zeit selbst gefrieren lassen, und mit jeder Sekunde wuchs mein Wunsch, endlich in mein warmes Zuhause zu kommen, meine Sachen abzulegen und mich in mein gemütliches, warmes Bett zu kuscheln. Diese Gedanken trösteten mich einen Moment, doch im nächsten sehnte ich mich umso mehr danach, endlich die zwei erlösenden Scheinwerferlichter in der Ferne erspähen zu können, wodurch sich die Warterei noch mehr in die Länge zu ziehen schien. In Gedanken beschimpfte ich den Bus, den Busfahrer und die ganzen öffentlichen Verkehrsmittel bereits wüst, obwohl diese gar nichts dafür konnten. Würde der Bus nämlich in einer Minute hier auftauchen, dann wäre schließlich alles in Butter. Pünktlich, so wie es sein sollte. Doch mit jeder der sich quälend lange ziehenden Sekunden schrumpfte meine Hoffnung, dass der Bus hier pünktlich eintrudeln würde. Meine Finger waren bereits taub, obwohl sie in den Jackentaschen meiner dicken Daunenjacke versunken waren, und in meinem Kopf begann es schon beinahe zu spuken. Ich sah auf das weite, finstere Feld, das direkt auf der anderen Straßenseite lag und ins Nichts zu führen schien. Die Äste der Bäume im Wald dahinter zuckten immer noch umher durch die heftigen Windstöße, und je länger ich in die Dunkelheit sah, desto flauer wurde mir.
Doch dann schreckte ich auf; in der Ferne, weit draußen in diesem Feld, konnte ich plötzlich zwei deutliche, weiße Punkte wahrnehmen, die leicht auf und ab wanderten. Als würden zwei Personen mit kleinen Taschenlampen, die in meine Richtung gerichtet waren, auf mich zukommen. Doch die Umstände ließen mich erschaudern; wenn es so war, dann schienen sie ruhig und bestimmt zu gehen – genau auf mich zu. In diesem Moment fuhr mir ein Schock durch den Körper und eine Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus, wie die Kälte sie nicht besser hätte auslösen können. Ruhig, dachte ich mir und kniff meine Augen zusammen, das ist die Kälte und diese Umgebung, dein Hirn macht dich nur verrückt. Das sind vermutlich einfach zwei Leute, die eben gern nachts mit Taschenlampen rumlaufen und auch zur Bushaltestelle wollen. Ich wandte meinen Blick von dem Feld ab und erkundete wieder, mit pochendem Herzen, die Innenwände des Wartehäuschens, um ein paar mehr der Kritzeleien zu lesen, die da geschrieben standen, bis endlich der Bus eintreffen würde.
Der Bus wird nicht kommen.
Mir schien ein riesiger Kloß in den Magen zu rutschen, als ich diese Worte las. Wieso hatte ich diese Worte bisher nicht wahrgenommen? Meine Gedanken begannen in dieser Sekunde zu rasen und mein Herzschlag wurde durch meine Brust spürbar. Panik breitete sich aus, die durch das immerwährend flackernde Licht der Neonröhre noch verstärkt wurde.
Sie werden dic war auf einem der Metallrahmen weiter darunter zu lesen, doch die letzten Worte waren weggekratzt. Nicht etwa durchgestrichen; sondern aus dem Metall gekratzt, mit einem Schlüssel oder etwas ähnlichem. Die verschiedenfarbigen Töne des zerkratzten Metalls und die leichten Schatten in den Furchen waren deutlich zu erkennen. Na, da wird wohl jetzt jemand seine Haustür nicht mehr öffnen können, versuchte ich mit mir selbst zu scherzen und kicherte gedanklich. Doch erst als ich das Gekritzel am unteren Ende des Metallgerüsts, der Stelle, an der es mit dem Asphalt des Bürgersteigs verschraubt war, lesen konnte, war es mit meiner aufgesetzten Gelassenheit vorbei…
0:10… Lauf!
Mein Herz hämmerte wie verrückt und ich sah in blanker Panik in das Feld. Die weißen Punkte dort waren größer geworden und bewegten sich weiter langsam auf und ab. Ich keuchte wie irre durch den Schal vor meinen Mund und in mir breitete sich die blanke Angst aus; dabei wusste ich nicht einmal genau wieso. Wegrennen, dachte ich mir noch und wollte schon zum Loslaufen ansetzen, als ich in der Ferne der Straße zwei helle, gelbe Lichter auf mich zukommen sah. Ich atmete einen Moment durch. Es musste doch endlich fünf Minuten nach Mitternacht sein; die Zeit, an der der letzte Bus ankommen würde. Und tatsächlich näherte sich ein Bus in meine Richtung. Ich wandte meinen Blick wieder in das Feld; die zwei weißen Punkte kamen weiter unaufhörlich näher.
„Mach schon!“, schrie ich leise in meinen Schal hinein, „bitte, bitte, bitte beeil dich, beeil dich! Bitte – BITTE!“
Ich wimmerte wie ein kleines Kind und flehte den Busfahrer gedanklich an, Gas zu geben. Der Bus näherte sich der Haltestelle und die zwei weißen Punkte schienen nur noch ein paar Meter von der Straße entfernt zu sein. Die breiten Lichter der Scheinwerfer des Busses beleuchteten zwar auch den Straßenrand großzügig, aber ich konnte keinen Blick auf das erhaschen, woher die beiden leuchtenden Punkte kamen. Ich konnte nur für eine Sekunde einen spitzen, metallischen Gegenstand wahrnehmen, der das Licht der Scheinwerfer widerspiegelte und eine Hand, die diesen am oberen Ende umklammerte; blitzartig schoss mir nur noch ein Gedanke in den Kopf: Ein Messer.
„SCHEISSE!“, schrie ich, als der Bus gerade auf der Höhe des Wartehäuschens war, „HALT AN, HALT AN!“
Doch da fiel mir auf, dass der gesamte hintere Bereich des Busses dunkel war. Er fuhr an mir vorbei – ohne anzuhalten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich ihm hinterher sah und auf der elektronischen Anzeige am hinteren Teil des Busses nur das Wort „Betriebsfahrt“ lesen konnte. Noch bevor ich realisierte, was gerade geschehen war, warf ich einen Blick auf meine Uhr…
… es war zehn Minuten nach Mitternacht.
Das war alles, was ich noch sehen konnte, bevor das flackernde Licht der Neonröhre zum letzten Mal flackerte und endgültig erlosch.