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Im Anwesen Lentz Protich

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Sie traten in Paaren ein. Manche von ihnen, das sah man ihnen an, hatten es deutlich übertrieben. Damen mit fülligen, aufwändigen Kleidern, die alle Aufmerksamkeit auf sich zogen, an den Armen von Männern, die die Anweisung des schwarzen Anzugs galant ignorierten.

„Weiße Anzüge sollten allerhöchstens bei Hochzeiten getragen werden“, murrte Lentz Protich mit abschätzender Zunge zu seinem Kollegen.

Marcus Fuller räusperte sich hinter seinem halbvollen Champagnerglas. „Macht das Kokain weniger auffällig.“

Lentz verdrehte die Augen und gönnte sich einen großzügigen Schluck Weißwein. „Der Markt war mal ein guter Filter. Hat das ganze Ungeziefer rausgehalten. Aber jetzt kann sich jeder mit genug Geld reinschmuggeln.“

Marcus schnaufte und nickte in Richtung des Einganges. „Wenn man vom Teufel spricht …“

Die nächsten beiden, die eintraten, hatten zwar die Anweisungen der Einladung befolgt – schwarzer Anzug mit Krawatte, ein einfarbiges Cocktailkleid – und doch schafften sie es, die Aufmerksamkeit einer unansehnlich großen Menge von Individuen auf sich zu ziehen. Der Großteil schien verärgert oder missbilligend, sie zu sehen, darunter auch Lentz und Marcus.

„Arroganter Bastard“, presste Lentz zwischen den Zähnen hinaus. Marcus brummte zustimmend.

Der fragliche arrogante Bastard schien die tödlichen Blicke entweder nicht zu bemerken oder ignorierte sie absichtlich. Seine Begleitung – angeblich seine Schwester – ließ es sich anmerken, dass sie missgestimmt war, jedoch nicht, ob sie die allgemeine Abneigung gegen sie mitbekam. Während der Bruder ein höfliches Lächeln zeigte, grenzte ihr Gesichtsausdruck an Ekel.

Marcus und Lentz beobachteten mit undurchsichtigem Blick, wie die beiden seelenruhig eintraten und das erste Paar begrüßten, das sie zu kennen schien. Eine Dame mit einem fülligen, roten Kleid und ein Herr, der sich mit einem dunkelroten Anzug durch die Kleiderordnung geschummelt hatte. Sie führten Konversation, die reibungslos und wahrscheinlich nichtsbedeutend war.

„Früher wäre er ausgelacht worden, wenn sie versucht hätten, hier hereinzukommen“, murmelte Lentz in sein Glas, „Oder erschossen …“

„Definitiv erschossen. Das hätte ich übernommen“, zischte Marcus mit einer Feindseligkeit, die selbst Lentz überraschte.

Dieses Jahr fand der Austausch im privaten Anwesen Lentz Protich statt. Das Event stellte die seltene Möglichkeit dar, mehreren Unternehmern verschiedenster Interessen auf neutralem Grund zu begegnen. Von außen war es ein Ort voll Glanz und überheblichem Dekor, doch zwischenmenschlich wurden Welten bewegt. Hier lief der Teil ihrer Geschäfte ab, bei dem sich niemand die Hände schmutzig machte. Ein einziger Abend von Prunk, bevor man wieder zurück zu illegalen Geschäften kehrte. Es war die einmalige Chance, seinen Einfluss zu vergrößern, und weder Marcus noch Lentz, die es beide satthatten, kleine Mitspieler zu sein, wollten sich von dem „arroganten Bastard“ Konkurrenz und Hindernis in den Weg stellen lassen.

Das Hindernis hatte sein Gespräch mit dem anderen Paar beendet und warf einen punktierten Blick zu Lentz und Marcus, die beide gleichzeitig bemerkten, dass sie, anstatt wie geplant potenzielle Handelspartner zu treffen, ununterbrochen die Menge beobachtet hatten. Und ihr Starren schien nicht unbemerkt zu bleiben, denn die letzten beiden Menschen, mit denen sie reden wollten, machten sich mit aller Ruhe auf den Weg zu ihnen.

„Oh, Gott …“ murrte Lentz.

„Mhm“, stimmte Marcus zu.

„Protich, Fuller!“, begrüßte er die beiden nach der Reihe.

„Valentin“, ergriff Lentz das Wort und hielt seine Hand aus. Während des Handschlags bemerkte er zu seiner Verärgerung, dass der Junge beide Handrücken tätowiert hatte. Wer verschandelte denn absichtlich so seinen Körper?

„Schön, euch beide zu sehen. Wie laufen die Geschäfte?“, fragte er. Seine Schwester blieb still und beobachtete die beiden Businessmänner bloß. Marcus musste sich zusammenreißen, nicht das Gesicht zu verziehen.

„Galant“, wich Marcus der Frage halb ernst aus.

„Was ist mit dir, Lentz? Wie geht es den Geschäften? Gut, nehme ich an, nach deiner letzten Addition zum Markt.“

Lentz war für einen Moment darüber verärgert, dass ihn Valentin beim Vornamen nannte, doch dann fiel ihm ein weitaus größeres Problem an seiner Aussage auf.

„Addition …?“, fragte er ungläubig nach.

Valentin schien sich seine nächsten Worte gut zurechtzulegen. „Dein Labor mit Christina.

Lentz’ Hand verkrampfte sich um sein Weißweinglas. Christina war der Spitzname, den die meisten Kleinkriminellen Crystal Meth gaben. Er hatte erst vor wenigen Stunden ein Abkommen mit einem Produzenten abgeschlossen. Besagter Produzent und er selbst waren die Einzigen, die davon wussten, und beide waren mundtot darüber. Es war immerhin immer noch ein illegaler Job. Es war unmöglich, dass Valentin davon wusste. Lentz ließ es sich nicht anmerken, doch sein Griff um den Stiel seines Glases blieb verkrampft.

Marcus schielte über den Rand seines Glases immer noch zu Valentins Schwester.

Ein Lächeln würde ihr stehen, dachte er sich, und als hätte sie seine Gedanken gelesen, wurde ihr Gesichtsausdruck freundlicher.

„Ich habe gehört, dass Sie ein exzellenter Weinkenner sind, Herr Fuller?“

Marcus spielte sein bestes Lächeln vor.

„Durchaus“, stimmte er zu, „Hat die junge Dame Interesse an guten Weinen?“

Die Frau deutete ein Nicken an.

„Lentz?“, fragte Marcus. Sein Kollege hörte auf, den Rest seines Getränks verbittert anzustarren, und sah auf. „Macht es dir etwas aus, wenn ich der Dame den Weinkeller zeige?“

Lentz lächelte und reichte Marcus seinen Schlüsselbund. „Natürlich nicht, mach ruhig. Ich werde mit Valentin währenddessen Business besprechen.“

Marcus lächelte zurück, hielt den Arm für die Dame aus, die sich elegant einhängte und sich zu der Tür führen ließ, die ins Kellerabteil des Anwesens führte. Sie wussten beide, was es wirklich bedeutete: Während ich den Bruder abziehe, hältst du die Schwester aus dem Weg. Sie würde bei den Geschäften nichts mitzureden haben.

Lentz setzte zum Sprechen an, doch seine Aufmerksamkeit wurde von seinem Gesprächspartner auf den Rest der Menge gezogen. Zeitgleich hoben Damen und Herren ihre Arme, betrachteten Mobiltelefone, Armband- und Taschenuhren. Nach der Reihe beendeten angesehene Gäste ihre Gespräche und verließen das Gebäude. Es war seltsam, mitanzusehen.

Irritiert sah Lentz auf die Uhr, die über dem Kamin hing. Es war erst 23:28. Das Event hatte vor knapp einer Stunde begonnen und lief üblicherweise bis in die Morgenstunden. Diejenigen, die gingen, waren dazu noch angesehene, geschätzte Gäste, mit denen sich Lentz und Marcus eigentlich unterhalten wollten.

Valentin besah Lentz mit einem erwartenden Lächeln, den Rücken zu allen Geschehnissen gekehrt. Lentz verzog das Gesicht; natürlich war Valentin einer derer, die blieben.

„Ich habe von dem Disput über einige deiner Handelsrouten gehört“, sagte Valentin, „Ist alles geklärt? Es hat sehr hässlich ausgesehen.“

Lentz schwenkte sein Weinglas hin – und her. „Alles geregelt. Leute realisieren schnell, wann sie sich mit jemandem angelegt haben, der stärker als sie ist“, sagte er mit Nachdruck und pointiertem Augenkontakt. Valentin zeigte nicht, ob er die Drohung registriert hatte. Überhaupt gab weder seine Mimik noch seine Körperhaltung irgendetwas über ihn preis, und Lentz rühmte sich damit, Menschen wie Bücher lesen zu können.

„Freut mich, zu hören“, sagte Valentin.

Lentz lächelte. Fahr zur Hölle, dachte er.

Mit jeder Stufe tiefer unter die Erde wurde es kälter. Marcus lief trotz seines Jacketts ein Schauer über den Rücken. Das unterste Geschoss des Anwesens Protich wurde zur Gänze von einem Weinkeller eingenommen, der Obhut für mehrere Hundert Weinflaschen und sogar einige Fässer bot. Beton bildete Boden und Wände des Korridors, trotz des Prunks der oberen Stockwerke. Mehrere schwere Holztüren, die meisten davon abgeschlossen, verbargen die Räume, die an den Flur anschlossen. Es war ein Keller von der alten Sorte, ohne Glanz oder Schein. Marcus fand, es war der beste Teil des Anwesens, nur teilweise aufgrund der Ware, die gelagert wurde. Seine Bequemlichkeit mit diesem Ort lag aber nicht nur an vergangenen, positiven Konnotationen; Marcus war einfach nur froh, von Valentin wegzukommen. Der Junge war einfach nicht richtig im Kopf, und er machte ihn nervöser, als er zugeben würde.

„Wie gut kennen Sie denn die Weinsammlung von Herrn Protich?“, fragte seine Schwester und riss Marcus aus den Gedanken.

„Bitte, nenn mich Marcus. So alt bin ich noch nicht“, scherzte er, „Und ich werde Ihnen gerne zeigen, wie gut ich sie kenne, Miss …?“

„Joyce“, sagte sie stumpf.

„… Joyce“, wiederholte Marcus befremdet.

Sie nickte und sah ihn erwartend an. Marcus riss sich aus seinem Stupor und beschloss, etwas mit der Weinsammlung anzugeben, die nicht einmal ihm gehörte. Er deutete mit einer ausladenden Geste; Joyce folgte seiner Führung den Flur entlang. Marcus war bereits mit Filzpantoffeln hier unten gewesen, selbst dann hatte es sich wie vier Paare Füße angehört. Die Absätze ihrer beider Schuhe klackerten laut genug, um die Illusion zu geben, es seien ein Dutzend Leute bei ihnen.

Marcus fischte den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und schob einen großen Schlüssel aus Gusseisen in das Schloss der dritten Tür. Nach zwei Anläufen ließ sich das rostige Schloss aufschließen und Marcus konnte die Tür aufdrücken, die etwa genauso widerspenstig war. Der Raum vor ihnen war mit Fässern gefüllt, die mit Datierungen und den Namen der Weine versehen waren.

Marcus wartete auf das faszinierte „Wow“, doch es blieb aus. Als er sich wieder zu Joyce drehte, schien sie nicht nur unbeeindruckt, sondern erwartend, als würde die Enthüllung erst noch kommen.

„Äh … h-hier werden Barrique- und Holzfässer gelagert. Die meisten dieser Weine sind mehrere Jahrzehnte alt. Einmalig. Sehr wertvoll“, betonte Marcus, doch das erhoffte Erstaunen kam einfach nicht. Er räusperte sich. „Sieh dich ruhig um.“

Joyce betrat den Raum, der mehrere Hunderttausend in Wein beherbergte. Sie las einige der Schilder, doch keiner der Namen schien sie zu beeindrucken.

Wenigstens ist die Aussicht schön, wenn sie sich runterbeugt, dachte Marcus.

„Welcher Wein ist Ihnen am liebsten?“, fragte sie. Marcus lächelte breit und wies zurück auf den Flur. Joyce verließ das wahrscheinlich teuerste Zimmer, das sie jemals betreten würde. Er schloss die Tür hinter ihnen ab. Ihr nächstes Ziel war das Zimmer am Ende des Korridors.

Die neumodischen Weinkühlschränke standen wie fehl am Platz in der Grotte. Die meisten Flaschen waren mehr als eintausend wert, doch wenn ein ganzer Raum voll mit den teuersten Weinfässern, die die Welt zu bieten hatte, Joyce nicht beeindruckte, würde nicht nur irgendeine Flasche reichen.

Marcus schloss einen der Kühlschränke auf und zog eine schwarze Flasche mit rotem Hals heraus.

Screaming Eagle, 1992. Durchschnittlich sechstausend pro Flasche. Ein ausgezeichneter Tropfen“, sagte er, und präsentierte ihr stolz die Flasche. Was er erwartete, waren weite Augen und beeindrucktes Staunen, doch was ihn traf, war ein leerer Raum.

„… Joyce?“

Verwirrt ging Marcus zur Tür und zog, doch sie steckte fest. Er tastete nach seinem Schlüsselbund, doch fand bloß eine leere Tasche.

„Joyce!“, rief er lauter. Er legte sein Ohr an das Holz, doch es war nichts zu hören. Er rüttelte fester, die Tür bewegte sich keinen Zentimeter.

Panik zündete in ihm. Der Raum war ohnehin nicht sonderlich groß und die Schränke verengten den Platz zusätzlich. Er war kaum fünf Minuten hier drin gewesen und fühlte sich jetzt schon, als wäre nicht genug Luft da.

„Joyce“, krächzte er ein letztes Mal, „Die Tür steckt fest.“

Nichts antwortete. Keine Stimme, keine Schritte.

Marcus erinnerte sich an den Spielplatz neben der Volksschule, die er besucht hatte. Die Gerüste waren veraltet. Mehrere Kinder aus seiner Klasse hatten Impfungen gegen Tetanus gebraucht, nachdem sie sich an den rostigen Geländern verletzt hatten. Marcus hatte an einem Tag unter der metallenen Rutsche gesessen, um sich vor der Sonne zu schützen, als sie unter dem Gewicht eines seiner Mitschüler einbrach. Marcus wurde mit dem Kopf in die Kiesel unter sich gedrückt. Einer seiner Arme steckte unter seinem Körper fest, der andere wurde von der Rutsche schmerzhaft nach hinten gebogen. Dem Schüler, der die Rutsche zum Einsturz gebracht hatte, ging es gut, und weil sie nur Kinder waren, dachten sie nicht einmal daran, einem Lehrer zu sagen, was passiert war. So verging die Pause und niemand hörte Marcus schreien.

Marcus riss sich aus seinem Wahn und hämmerte gegen die Tür. Er konnte sein eigenes Klopfen laut im Flur dahinter widerhallen hören, doch es würde nicht laut genug sein, um die Gäste im oberen Stock auf sich aufmerksam zu machen.

Marcus wusste, dass er damals nicht länger als eine Stunde unter der Rutsche festgesteckt haben konnte, doch in seinen Erinnerungen fühlte es sich weitaus länger an. Er hatte lange versucht, den Arm unter sich zu befreien oder mit dem, den die Rutsche verbogen hatte, das Metall hochzuheben. Doch er war ein Kind gewesen. Zu schwach. Zu klein. Immer noch konnte er den Geschmack der staubigen Kiesel direkt über seiner Zunge spüren. Sein halber Mund und eines seiner Nasenlöcher wurden von ihnen zugedrückt. Das Gewicht der Rutsche presste auf seinen Brustkorb. Er musste mit sich kämpfen, um nicht in Panik auszubrechen oder das Bewusstsein zu verlieren.

Seine Knie zitterten. Marcus brach vor der Holztür zusammen. Trotz der Kälte und der immer wiederkehrenden Gänsehaut stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Die Wände standen zu nahe, die Decke war zu niedrig. Ihm wurde schmerzhaft bewusst, wie eng sein Jackett an seinem Hals anlag.

Genau die Sonne, vor der er sich unter der Rutsche versteckt hatte, wurde ihm zum Verhängnis. Es dauerte nicht lange, bis seine Kleidung durchschwitzt war, bis er kaum noch atmen konnte, bis seine Lippen spröde und seine Zunge trocken waren. Seine Hände waren taub, seine Arme und Schultern schmerzten. Sein Gesicht brannte von den winzigen Steinen, die sich in seine Haut pressten. Es schienen Ewigkeiten zu vergehen. Irgendwann hörte er Stimmen, dann schrie er so laut er noch konnte. Jemand hatte die Rutsche hochgehoben und hatte Marcus, verschwitzt, verängstigt, mit benässter Hose gefunden.

Er erinnerte sich nicht mehr daran, was danach passierte.

„Wirklich ein guter Tropfen.“

Marcus zuckte zusammen, er rappelte sich auf und wirbelte herum. Joyce stand mit aller Ruhe an den Weinkühlschrank gelehnt und las die Etikette des Screaming Eagle. „Wie viel, sagten Sie, ist er wert?“, fragte sie.

Marcus leckte sich über die Lippen. „Äh …“

Es wollte ihm nicht einfallen. Hatte er den Kühlschrank nicht abgeschlossen, nachdem er die Weinflasche zurückgelegt hatte? War dort sein Schlüsselbund abgeblieben?

„Geht es Ihnen gut?“, fragte Joyce. Marcus nickte.

„Wollen Sie zurück in den Salon?“

Marcus nickte abermals. Ihm fehlten die Worte für alles.

„Die …“, murmelte er, und deutete vage, „Die Tür klemmt.“

Joyce zog den Schlüssel vom Kühlschrank und hielt ihm den Bund entgegen. „Sie haben sie hinter uns abgeschlossen.“

Er blinzelte, „Nein, ich …“

Verwirrt griff er den Ring und schob den richtigen Schlüssel ins Schloss. Er drehte; das Schloss knackte. Die Tür ließ sich widerstandslos aufschieben.

Werde ich wahnsinnig?, fragte er sich selbst. Der Schlüssel fühlte sich schwer und kalt an.

Marcus ging den Korridor entlang wieder zurück zur Treppe, seine Schritte wie Dutzende auf einmal. Er glaubte, stundenlang hier unten gewesen zu sein, doch als er auf die Uhr sah, war kaum eine Viertelstunde vergangen. Wenigstens konnte er bereits das Licht sehen und die Musik hören, die vom Salon kam. Erst auf dem halben Weg nach oben traf es ihn als seltsam, dass die Musik überhaupt hörbar war. Sollten sie nicht die Stimmen der Gäste übertönen?

Marcus wollte sich umdrehen. Kaltes, scharfes Metall presste sich an seinen Hals.

Marcus hob langsam die Hände auf Kopfhöhe. „Ich will keinen-“

„Dann geh weiter“, unterbrach ihn Joyce und drückte die Spitze des Messers tiefer in seine Haut.

Mit jeder Stufe ritzte das Messer in seinen Hals und mit jedem Tropfen Blut drückte die Klinge härter. Als sie den Kopf der Treppe erreicht hatten, war sein Kragen blutdurchtränkt, doch es roch lange davor bereits nach Kupfer.

Marcus hatte, als er mit neunzehn Jahren auf die Uni ging, zeitweilig auf einem Bauernhof gearbeitet. Sein Vater hatte darauf bestanden; sagte, er wäre erst dann ein Mann, wenn er etwas getötet hätte. Marcus, noch nie ein großer Jäger, übernahm so die unangenehme Aufgabe, die Tiere Montag und Mittwoch mit einer Bolzenpistole zu betäuben und sie Dienstag, Donnerstag und Freitag auszuweiden. Der Geruch von frischem und altem Blut, von Rost und Eisen und manchmal Fäulnis war ein ständiger, ungewollter Begleiter. Als er mit zwanzig Jahren stattdessen begann, Drecksarbeit für einen der lokalen Gangbosse zu erledigen, war er den Geruch gewohnt und leid. Mit zweiundzwanzig wechselte er zu Büroarbeit, die dafür nicht minder illegal war, und dachte, den Geruch nie wieder riechen zu müssen.

Der Salon war ein Schlachthof. Die Teppiche waren blutdurchtränkt, jeder Tisch, jeder Sessel, alle Wände und der gesamte Boden waren damit bespritzt. Freunde, Kollegen, Gegner: Die meisten lagen mit dem Gesicht nach unten, zur Seite geworfen wie unbrauchbares Fleisch, wie ein ausgeweidetes Schwein mit Würmern.

Weniger als Schweine, dachte er, die Schnitte wären sauberer.

Valentin stand in der Mitte des Raums. Sein Kopf wiegte im Takt der Musik. Sorgfältig putzte er die Klinge eines Austernmessers, besah es genau und legte das Tuch dann auf einen der Tische, unter dem gerade einer von Marcus’ Kollegen ausblutete.

„Fuller“, begrüßte er ihn flötend, „Schön, dich wiederzusehen. Wie war die Tour?“

Marcus antwortete nicht. Sein Blick hing an der Klinge, seinen Händen, seinen Ärmeln, dem eingefrorenen Lächeln, jedem Zentimeter dieses Wahnsinnigen.

Der Junge hatte nicht einen Tropfen Blut an sich.

Valentin wartete eine weitere Sekunde auf eine Antwort, zuckte dann mit den Schultern. „Auch gut“, seufzte er, wendete dann den Blick an seine Schwester.

„Wir brauchen ihn noch“, sagte sie. Valentin nickte.

Marcus hätte nicht reagieren können, wenn er es gewollt hätte – der Griff des Messers donnerte gegen seine Schläfe. Seine Sicht verschwamm, Kreischen erfüllte seine Ohren. Das nächste, was er spürte, war der Boden.

Marcus kämpfte gegen die Ohnmacht. Für einen Moment war er wieder unter der Rutsche gefangen, verschwitzt und verängstigt, und die Schwärze zog sich vor seinen Augen zusammen. Der Geruch von Blut brannte in seiner Nase, bis er es schmeckte.

Dumpfe Stimmen drangen an seine Ohren. Sein Gehör klärte sich für einen letzten Moment.

„Er gehört dir“, sagte Joyce, gedämpft und von ohrenbetäubend lauten Schritten unterbrochen, „Er schuldet dir noch ein Paar Handschuhe, nicht?“

Teil 2:

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