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Knochenwald: Kopfkino

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Davox bekam nur am Rande mit, wie Gera und Jonathan den bedauernswerten Callboy und die beiden anderen Zombies niederschossen und sich letzlich eine gespenstische Stille in dem heruntergekommenen Motel ausbreitete. Er bemerkte kaum, wie Hexe und Bianca ihn gemeinsam hochzogen und mit sich schleiften. Er sah den Flur wie im Traum an sich vorbeirauschen, dann die Eingangshalle, in der die unfreundliche Angestellte mit herausgerissener Kehle auf ihrem Stuhl saß und dümmlich an die Decke starrte, und letztlich die Tür, durch die sie erst vor wenigen Stunden hereingekommen waren, in der Hoffnung, endlich ein wenig Ruhe zu finden.

Draußen war das klebrige Sonnenlicht der fleckigen Sonne bereits wieder den erstickenden Schatten der Nacht gewichen. Er sah die umherwuselnden Menschen ihren Geschäften nachgehen, hielt aber auch sie nur für Geister. Trugbilder, die ihn mit ihrer scheinbaren Lebendigkeit verhöhnen wollten. Mein Bruder ist tot, dachte er. Er ist tot. Und er wird nicht mehr wiederkommen.

Zwischendurch hörte Davox die Stimmen seiner Gefährten, ohne auch nur ein einziges ihrer Worte zu verstehen. Die Sätze, die ihre Münder verließen, strömten nutzlos durch seinen Geist und zerfaserten dort zu gestaltlosem Nebel. Meistens war es Hexe, deren Stimme voller Mitgefühl war, aber auch Bianca und Dr. Jonathan versuchten ihr Glück. Jedoch reagierte Davox auf keinen von ihnen.

Er dachte nur immer wieder an diesen Tag zurück, an dem er und sein Bruder ein Rennen auf ihren Fahrrädern veranstaltet hatten. Daran, wie glücklich Martin über seinen Sieg gewesen war. Darüber, ein einziges Mal besser zu sein als sein großer Bruder, den er stets zu gleichen Teilen bewundert und beneidet hatte, ohne ihm dabei je seine Erfolge zu missgönnen. Martin hatte sich seinen Sieg verdient. Doch nun hatte er ein weiteres Mal verloren. Auf ganzer Linie. Endgültig. Dass er seinen Tod inzwischen selbst herbeigesehnt hatte, änderte nichts an dieser Tatsache.

„Sei froh! Du bist nun von deinem Eid endbunden, das widerliche Fleisch unberührt zu lassen. Du kannst deine Macht nun noch weiter vergrößern. Du bist frei.“ flüsterten die dunklen Stimmen in ihm. Ihre Worte verstand er selbst in seinem jetzigen Zustand nur zu deutlich, aber er zwang sich, sie zu ignorieren. Er konnte nicht zulassen, dass sie das Andenken an seinen Bruder besudelten. Doch er schaffte es lediglich, sie leiser werden zu lassen. Verschwinden lassen konnte er sie nicht. So flüsterten sie weiter ihre düsteren Versuchungen, und Davox ertappte sich immer wieder dabei, dass er unwillkürlich auf seinen rechten Arm oder auf seine Hände schaute und dabei das Glänzen von reinen Knochen vor seinem geistigen Auge sah.

Nur am Rande stellte er fest, dass sie den Bahnhof betraten. Anscheinend setzten sie ihren Weg fort. Wohin es ging, hatte er beinah vergessen.

Plötzlich spürte er, wie er grob an den Schultern gepackt wurde. Geras hässlicher Kopf erschien in seinem Gesichtsfeld. Er kam ihm seltsam unwirklich vor. Wie albern Köpfe eigentlich waren. Runde Erhebungen voller Löcher und eigenartiger Auswüchse, die auf einem lächerlich dünnen Stil steckten. „Hören Sie mal zu, Mister Selbstmitleid!“ sagte Gera bestimmt, aber erstaunlich ruhig.

Irgendwas an Geras Stimme weckte tatsächlich seine Aufmerksamkeit. Wut stieg mit einem Mal in Davox auf. Wie konnte dieser ekelhafte Mensch ihm Selbstmitleid vorwerfen, wo gerade seine Bruder gestorben war? Er verspürte das drängende Bedürfnis, Gera mit der schlimmsten Illusion zu foltern, die sich sein Geist nur ausmalen konnte. Ihn zu zerbrechen und in ein sabberndes, zitterndes Wrack zu verwandeln. Der Polizist musste die unausgesprochene Warnung eigentlich in seinen Augen sehen können, aber anstatt zurückzuweichen, redete er einfach weiter.

„Sie können sich weiterhin an einer Karriere als lebende Statue versuchen, und Sie können bestimmt auch wieder an meinem Kopf herumpfuschen und mir ein paar zusätzliche posttraumatische Belastungsstörungen verpassen. Aber nichts davon wird ihren Bruder wieder lebendig machen. Ihr Bruder ist tot, ob Ihnen das gefällt oder nicht.“

Aus Davox‘ Wut wurde schwarzer, giftiger Zorn. Für einen Moment stand alles auf der Kippe, und es gibt definitiv irgendwo eine nahe Parallelwelt, in der Davox Gera der beabsichtigten Folter unterzog. Aber in der Zeitlinie, von der hier die Rede ist, blieb es bei einem eisigen Blick.

Gera sprach tapfer weiter. „Ihr Bruder ist tot. Aber wir alle hier leben noch. Auch Ihre, angeblich von ihnen so geliebte Hexe lebt und atmet noch und macht sich ziemliche Sorgen wegen Ihres Verhaltens. Und da wir gerade im Begriff sind, uns einem vollkommen irren Monsterblag mit übermenschlichen Kräften zu stellen, könnten wir Ihre Hilfe wirklich gut gebrauchen. Ich mag ja nicht gerade der Typ sein, der davon träumt, die Welt zu retten, und ich habe größtes Verständnis dafür, wenn einem alle anderen Penner auf dieser Erde egal sind, aber wenn man schon einmal mit der Heldennummer anfängt, sollte man es auch durchziehen.“

Mit einem Mal verwandelte sich Davox‘ Wut in Scham. Wenn man sogar schon eine Moralpredigt von Polizeihauptkommissar Christopher Gera bekam, war das ganz bestimmt kein Zeichen dafür, dass man sich gerade auf dem richtigen Weg befand.

„Sie haben recht.“ sagte Davox zerknirscht. Und das meinte er auch so. So einfach würde er Martins endgültigen Tod nicht verkraften, aber es brachte nichts, in Trauer zu versinken, wenn Hexe und die anderen auf ihn angewiesen waren.

„In der Tat. Unwahrscheinlich, ich weiß. Aber in diesem Fall ist es so. Können wir jetzt wieder mit Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit rechnen?“

Davox nickte. „Ich tue mein Bestes.“

„Gut. Also kurz zur Erklärung. Wir sind hier im Bahnhof von Düsseldorf. NRW. Deutschland. Europa. Planet Erde. Sonnensystem. Sie wissen schon. Und unser Zug kommt in zehn Minuten. Allerdings ist das der Meute dort egal.“

Gera zeigte auf eine Gruppe von wild krakelenden Männern und Frauen mit Transparenten. Einige von ihnen trugen die Farben und Symbole der neuen Regierungspartei. Sie hielten Transparente hoch wie „Deutschland muss deutscher werden!“ oder „Grenzen dicht für das Gezücht!“, wobei sie offen ließen, wen sie damit meinten, oder auch „Maden und Ausländer raus!“, was ein wenig konkreter war. Auch „Zecken in die Ecken.“, „Systemparteien in den Knast.“ oder „Kampf dem Gutmenschentum.“ war unter ihren Botschaften vertreten. Vor ihnen hielt ein Vertreter der Partei eine Rede, die man aber vor lauter Geschrei kaum hören konnte. Anscheinend ging diesen Leuten die Politik der neuen Regierung noch nicht weit genug. Vor allem aber machte die Menge es praktisch unmöglich, zum Gleis zu gelangen.

„Hübsch, nicht?“ kommentierte Gera, der zwar kein Menschenfreund, aber nie ein Rassist gewesen war. Es machte aus seiner Sicht einfach keinen Sinn, zwischen verschiedenen Arten von Scheiße zu unterscheiden. „Haben Sie irgendeine Idee, wie wir diese Leute loswerden?“

Davox dachte kurz nach und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Plötzlich kam ihm tatsächlich eine Idee. Er warf einen Blick auf zwei Männer mittleren Alters, die direkt in ihrer Nähe standen. Einer von ihnen trug einen hellbraunen Pullover, war ein bisschen dicklich, hatte schütteres, braunes, schulterlanges Haar und wirkte ein wenig einfältig und verlottert. Der andere hingegen war blond, recht gut gebaut und machte in seinem hellgrauen Anzug einen überraschend gepflegten Eindruck. Davox vermutete irgendwie, dass er eine größere Rolle in dem ganzen Zirkus spielte.

Er berührte beide am Kopf. „Hey, was soll…“ begann der Anzugträger, während der andere Kerl es kaum zu registrieren schien. Er formte einen Gedanken. Dann zog er die Hände wieder zurück.

„Hey, schaut mal. Da am Südausgang. Da ist ’ne Horde von Gutmenschen. Die kaufen wir uns“, sagte der Typ im braunen Hemd mit seiner schmierigen Stimme. „Ja, ich seh sie auch.“ bestätigte der Anzugträger. Beide rannten sie los und schon entfaltete sich die Art von Gruppendynamik, die in der Lage war, selbst den hochentwickelsten menschlichen Verstand mit einem simplen Set tierischer Verhaltensweisen zu überschreiben.

Alles, was Davox, Gera und die anderen tun mussten, war abzuwarten, bis der Großteil der Menge abgezogen war.

„Schnell! Zum Gleis!“ rief Davox. „Die werden bald merken, dass sie einer Illusion aufgesessen sind.“

Sie folgten Davox Empfehlung, drängten sich an den letzten Nachzüglern vorbei und stürmten auf den Bahnsteig, als der Zug gerade einfuhr. Dort stiegen ein paar weitere rechte Demonstranten aus, der Rest des Zuges bestand aber aus ganz normalen Leuten. Viele von ihnen lasen Nachrichten. Die meisten auf ihren Smartphones, aber Davox konnte auch Zeitungen erkennen. Die politischen Schlagzeilen machten überdeutlich, dass ein Machtwechsel stattgefunden hatte. „Eine neue Ära für Deutschland.“, „Rademann hat eigenen Mörder engagiert. Er wollte nicht mehr leben.“, „Kanzler Eden erlässt Schießbefehl an deutscher Grenze.“, „Pädophiler Monsterfreund Thomas Schumann weiter auf der Flucht. Polizei zahlt hohe Belohnung für jeden Hinweis.“ und weitere Propagandameldungen zierten die Titelseiten. Allerdings gab es auch Schlagzeilen, die mehr mit der Realität gemein hatten. „Wissenschaftler beunruhigt über schwarzen Fleck auf der Sonne.“, „Regierungstruppen räumen seltsame „Schattenstadt“ in Hamburg.“, „Wie sie sich vor den Knochenzombies schützen.“ und dergleichen.

„Die haben nicht zufällig auch einen Artikel darüber, was gegen die Verwandlung hilft? Irgendwelche praktischen Tipps aus Omas Hausapotheke vielleicht?“ sagte Bianca in einem Anflug von schwarzem Galgenhumor. Das Kratzen in ihrem Hals war schlimmer geworden. Aber sie hatte beschlossen, den Gedanken daran, dass der Knochenwurm in ihr wuchs, so gut es ging zu verdrängen, um nicht vollends durchzudrehen. Humor war ein bewährtes Mittel in solchen Situationen.

„Ich glaube nicht.“ sagte Hexe bedauernd. „Allerdings sollten wir solche Dinge hier wohl lieber nicht zu laut besprechen.“

Und an diesen Rat hielten sie sich. Zwar machten die meisten Fahrgäste einen recht friedlichen Eindruck, aber sie hatten dennoch das Gefühl, nicht offen sprechen zu können, da man nie wusste, wer zuhörte und welche Konsequenzen das haben konnte. Das war wohl eines der ersten Anzeichen, dass man plötzlich in einer Autokratie lebte.

So verbrachten sie die Fahrt weitgehend schweigend. Arnold Wingert hatten sie ganz in die Ecke gesetzt, wo er einen ekelhaften Duft absonderte. Jonathan saß neben ihm, Davox und Hexe saßen ihm gegenüber. Bianca und Gera hatten alleine auf dem gegenüberliegenden Vierersitz Platz genommen und hielten so viel Abstand voneinander wie nur möglich.

Davox, der seinen ausgehöhlten Arm und das Loch in seiner Brust wieder durch eine Illusion verdeckte, hielt Hexes Hand und strich mit der anderen Hand über das Onyx-Amulett, in dem Krixxamesh nach wie vor eingesperrt war. Er hatte ihm in letzter Zeit nicht besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt und er hatte so eine Ahnung, dass er nun, wo diese Welt auch von der Magie des Knochenwaldes verseucht worden war, auch ohne die Macht de Amuletts überleben könnte. Aber auch wenn Krixxamesh ihn nach wie vor verabscheute – was er in Form von unangenehmer, schmerzhafter Hitze fühlte, wenn er das Amulett berührte –, wusste er auch, dass er dennoch von der Macht der Knochenschlange profitierte. Es war eine dunkle Macht, aber dennoch eine, die er gebrauchen konnte.

Hexe sah abwesend auf ihre verbrannten und etwas faltigen Hände und trauerte ihrer verlorenen Jugend nach, während ein Teil ihres Geistes sich die Frage stellte, ob es Situationen gab, in denen ein Menschenopfer moralisch gerechtfertigt war.

Jonathan, dessen empfindlicher Magen ziemliche Probleme hatte, mit Professor Arnolds Gestank klarzukommen, überlegte fieberhaft, wie sie es anstellen konnten, dass Lucy sie alle nicht auf der Stelle umbrachte. Währenddessen betrachtete er die nächtliche Landschaft und lauschte den gelegentlichen Durchsagen. Neben den üblichen Hinweisen auf Anschlusszüge, Verspätungen und Bahnhöfe stach eine Durchsage besonders hervor, die ungefähr zweieinhalb Stunden nach ihrer Abfahrt zu hören war. „Wir verlassen die grüne Zone und befinden uns nun im Gebiet der Maden und Madenkinder. Das Betreten aller folgenden Bahnhöfe geschieht auf eigene Gefahr. Wir übernehmen keine Verantwortung für Verätzungen, Entführungen oder Todesfälle, weder durch Kreaturen noch durch Regierungstruppen. Sie sind für ihre Dummheit und ihren Leichtsinn selbst verantwortlich. Darwin lässt grüßen.“ Die Manieren hatten offenbar massiv unter dem Machtwechsel gelitten.

Christopher Gera gab vor zu dösen, war aber eigentlich dabei zu ergründen, wie er damit umgehen sollte, dass ihm all diese Freaks, mit denen er reiste, inzwischen ans Herz gewachsen waren. Selbst Davox, bei dem er doch allen Grund hätte, ihn für seine grausame Illusion, die er ihm beschert hatte, zu hassen. Gleichzeitig dachte er auch daran, wie lang er nicht mehr neben einer hübschen, toten Frau gelegen hatte.

Bianca war im Wesentlichen damit beschäftigt zu schlucken, da in ihrem Hals immer mehr hartnäckiger Schleim entstand, der wie ein flexibler Pfropfen in ihrer Speiseröhre steckte. Gleichzeitig murmelte sie so leise wie möglich unablässig sinnlose Worte, in der schwachen Hoffnung, die Verwandlung so zu verzögern. Seltsamerweise verzichtete Gera darauf, sich darüber lustig zu machen.

Professor Arnold tat zumindest äußerlich nichts anderes als Starren und Stinken. Und er war auch der Grund, warum die Fahrt nicht gänzlich reibungslos verlief.

„Ihre Fahrkarten bitte.“ erklang die Stimme des Kontrolleurs, eines untersetzten Mannes mittleren Alters mit einem strengen Gesicht und grauen Strähnen in den kurzen braunen Haaren.

„Sofort“ sagte Jonathan und kramte ihre Tickets raus. Sie hatten regulär für sechs Personen Fahrkarten gekauft und dabei ein halbes Vermögen bezahlt. Also hatten sie eigentlich nichts zu befürchten.

Der Kontrolleur betrachtete stirnrunzelnd die Fahrkarten, und man konnte ihm ansehen, dass er wie bessesen nach einer Unstimmigkeit darauf suchte, ja geradezu danach gierte. Allerdings fand er keine, nickte und gab Jonathan enttäuscht die Tickets zurück.

Dennoch ging er nicht weiter, sondern zeigte stattdessen auf Arnold Wingert. „Gehört dieser stinkende Abfallhaufen zu Ihnen?“ fragte er barsch. „Ja!“ bestätigte Hexe.

Der Mann sah sie sauertöpfisch an. „Ich rede nicht mit Frauen.“ sagte der Kontrolleur und wiederholte seine Frage. Anscheinend sahen die Frauenfeinde jetzt keinen Grund mehr, sich zurückgehalten, nachdem ihre parlamentarische Vertretung die Macht übernommen hatte. Hexe wünschte sich, dass sie ihn in eine Kröte verwandeln könnte. Aber sie mussten Aufsehen vermeiden, und außerdem hatte sie nur noch einen Rattenschädel, den sie nicht für diesen aufgeblasenen Penner verschwenden wollte.

„Er gehört zu uns.“ antwortete Jonathan, auch wenn es ihm widerstrebte, diesen Macho in seiner bescheuerten Haltung zu unterstützen. „Und er riecht nur deswegen so, weil er an einer ernsthaften Stoffwechselstörung leidet.“

Der Mann betrachtete Arnold skeptisch. Er musterte sein bleiches Gesicht, seinen starren Blick und sog seinen markenten Duft nach Urin ein. „Eine Stoffwechselstörung? Ist das so?“ fragte er zweifelnd.

„Leider.“ bestätigte Davox. „Es ist ihm selbst ungeheuer peinlich.“

„Wenn das so ist, dann sollte der Herr doch in der Lage sein, für sich selbst zu sprechen.“ Er sah Arnold direkt an. “Leiden Sie an einer Stoffwechselstörung?“

Natürlich gab er keine Antwort.

Der Kontrolleur hob seine Augenbrauen, nickte dann und holte sein Telefon heraus. „Code 2: Ein Knochenzombie befindet sich im Zug. Schicken sie sofort eine …“

Weiter kam er nicht. Davox reagierte schnell und berührte fast sanft den Kopf des Kontrolleurs. Zwei Sekunden später fiel das Telefon dem Mann aus den Fingern und er brach schreiend in die Knie. „Nein! Nein! Lasst mich in Ruhe. Bitte, lasst mich in Ruhe!“ Gleichzeitig fuchtelte er wild mit den Händen in der Luft herum und hatte einen Ausdruck grenzenlosen Entsetzens auf seinem Gesicht. Plötzlich begann er mit einer Hand so fest an seinem Hals zu kratzen, dass er zu bluten begann. Welche Visionen der Mann sah, wusste allein er. Und natürlich Davox.

Ohne zu Zögern schoss Christopher Gera von seinem Sitz hoch und zog die Notbremse. Der Zug kam quietschend zum Stehen, während einige der Passagiere beinah von ihren Sitzen flogen. Einer älteren Dame wäre genau das auch passiert, wenn sie nicht von zwei hilfsbereiten, jungen Männern mit guten Reflexen festgehalten worden wäre. Einige jener Passagiere, die sich besser festhalten konnten, hielten die gesamte Szene auf ihren Smartphones fest. „Haben Sie den Verstand verloren?“ regte sich eine ältere Frau lautstark auf, der das übernatürliche Element an der Situation völlig zu entgehen schien.

Manche der Fahrgäste zogen sich auch einfach ängstlich in die anderen Waggons zurück, wobei sie Professor Arnold genau im Blick behielten. Der Kontrolleur hingegen hatte sich inzwischen einen Augapfel aus der Höhle gerissen und betrachte ihn neugierig mit seinem verbliebenen Auge, als wäre er das Schönste und Wertvollste auf der ganzen Welt. Falls er wieder zur Besinnung kommen und feststellen würde, was er sich da entfernt hatte, würde er diese Meinung wahrscheinlich noch vehementer vertreten.

Christopher Gera, der dieses grausame Schauspiel nur aus dem Augenwinkel wahrnahm, betätigte nun auch noch die Notentriegelung und die Zugtüren glitten auf.

Grinsend drehte sich Gera noch einmal um und blickte in die Gesichter jener Fahrgäste, die noch nicht geflohen waren. Dann sagte er in einem übertrieben geschäftsmäßigen Tonfall: „Wegen einem Haufen Verrückter, eines Knochenzombies und eines Kontrolleurs auf einem Horrortrip verspätet sich dieser Zug auf unbestimmte Zeit. Fahrgäste mit einem anderen Ziel als grenzenloser Langeweile können sich gepflegt ins Knie ficken. Wir scheißen auf Ihr Verständnis.“

Dann sprang er einfach aus dem Zug heraus. Der Rest der Gruppe folgte ihm.

~o~

Glücklicherweise war ihr unplanmässiger Halt nicht besonders weit von ihrem Zielbahnhof entfernt.

Dennoch lag – zumindest laut GPS – bis zu ihrem eigentlichen Ziel noch eine ordentliche Strecke vor ihnen, zumal es draußen noch immer dunkel war und auch noch eine Zeitlang bleiben würde. Mond- und Sternenlicht spendeten zwar dank des klaren Himmels immer noch etwas Orientierung, aber nichtsdestotrotz mussten sie alle ziemlich aufpassen, um nicht zu stolpern oder sich zu verletzen. Umso mehr, da sie die Abkürzung durch ein Maisfeld eingeschlagen hatten.

Das war, neben ihrer nun einmal endlichen Kondition, auch der Grund, warum sie letztlich ihr Tempo verlangsamten. Und das, obwohl jeder insgeheim damit rechnete, Polizeisirenen oder das Geräusch eines Hubschraubers zu hören. Sie mochten nicht gerade die Staatsfeinde Nummer Eins sein, und das neue Regime erweckte eher den Eindruck, sich mehr um „politische“ Kriminalität als um wirkliche Straften oder auch nur um das Auftauchen von Knochenzombies zu kümmern. Aber man wusste ja nie.

„Was haben Sie mit dem armen Mann im Zug angestellt?“ fragte Jonathan Davox, als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war.

Davox zuckte mit den Schultern. „Das Gleiche, was ich mit Gera angestellt habe.“

Jonathan sah ihn zweifelnd an. „Wenn Sie das sagen. Aber Gera hatte es verdient. Dieser Mann hingegen …“

„Vielen Dank. Wie freundlich von Ihnen.“ Kommentiere Gera gleichermaßen sarkastisch wie ehrlich verletzt.

„Dieser Mann hatte es genauso verdient. Er war ein Frauenfeind und ein echter Dreckskerl!“ verteidigte Hexe ihren Freund.

„Das mag schon sein, aber das berechtigt uns nicht zur Selbstjustiz. Mal abgesehen davon, dass er nicht mal irgendeine Straftat begangen hat.“ wandte Jonathan ein.

„Davox hatte keine Wahl. Wie hätten wir sonst entkommen sollen?“ verteidigte nun auch Bianca den Weisen des Gebeins.

„Es war nicht schön, aber notwendig.“ meldete sich Davox seinerseits zu Wort.

Jonathans Stimme bekam einen fassungslosen Unterton. „Nicht schön, aber notwendig? Ist das Ihr Ernst? Sie hätten ihm Visionen von irgendeinem hübschen Märchenland geben könne, von sexuellen Fantasien, von mir aus auch von einem Gefängnis. Aber Sie haben diesen Mann dazu gebracht, sich das Auge herauszureißen. Und alles, was Ihnen dazu einfällt, ist: Nicht schön, aber notwendig?“.

Jonathan verstummte und blickte seine Gefährten der Reihe nach an. Davox sah wirklich ein wenig betroffen und vielleicht sogar ganz leicht schuldbewusst aus. Aber sonst sagte jeder so viel, wie der untote Professor Arnold Wingert: Gar nichts.

Schweigend gingen sie weiter, während Doktor Jonathan How darüber nachdachte, dass der moralische Kompass dieser Gruppe eindeutig seinen magnetischen Nordpol verloren hatte.

Davox hingegen fühlte in der Tat ein wenig Bedauern wegen seiner Aktion. Zur ganzen Wahrheit gehörte aber auch, dass es ihm gefallen hatte, diesen Mann zu quälen. Verdammt gut gefallen.

~o~

Elvira Djarnek feuerte aus allen Rohren. Sie hatte eine hervorragende militärische Ausbildung genossen, und auch wenn sie die letzten Jahre mehr in Laboren und Büroräumen verbracht hatte als auf dem Schlachtfeld, hatten ihre Reflexe kaum nachgelassen. Sie schoss zwei zehnjährigen Jungen, die gemeinsam auf ihren hässlichen Monsterfliegen auf sie zugeflogen kamen, als wären sie beschissene Zwillinge, direkt in den Kopf, durchlöcherte mehreren Fliegen die Flügel und wich geschickt einer tödlichen Ladung glibberigen Sabbers aus, den eine der übergroßen Schmeißfliegen auf ihren Kopf fallen lassen wollte.

Eine weitere Fliege wollte sie von hinten ausschalten, aber einer ihrer Konzernsoldaten holte das Viech samt Reiter vom Himmel, nur um seine Heldentat kurz darauf mit dem Leben zu bezahlen und in weißem Schleim zu verdampfen. Sie hörte den Mann um Hilfe schreien, ignorierte es aber. Zunächst einmal musste sie sich selbst helfen, und davon abgesehen hätte sie eh nicht gewusst, was sie für ihn hätte tun können.

Wo war nur diese Schlampe Lucy? Würde sie feige und sicher in irgendeinem Erdloch kauern oder war sie doch dumm genug gewesen, sich zu zeigen? Elvira riskierte es, ihren Blick kurz über das Gelände schweifen zu lassen. Ohnehin war offensichtlich gerade keiner ihrer Feinde in ihrer Nähe.

Dabei sah sie auch, warum das so war. Sämtliche der dicken, ekelhaften Fliegen hatten sich gruppiert und flogen nun gemeinsam einen Angriff gegen die Produktionsanlagen von „MannaRed“. Elvira wurde heiß und kalt vor Wut. Kein ungezogenes Gör würde ihr Lebenswerk zerstören.

Sie rannte, so schnell sie ihre Beine trugen, auf das große Gebäude zu. Während sie lief, schrie sie kraftvoll ihre Soldaten an: „Verteidigt die Anlage. Verteidigt die verdammte Anlage!“. Jedoch musste sie mit Schrecken feststellen, dass nur noch eine Handvoll ihrer Konzernsoldaten am Leben waren. Einer von ihnen, der gerade aus nächster Nähe miterlebt hatte, wie seinem Kameraden das Gesicht samt darunterliegendem Schädel weggeschmolzen war, ergriff die Flucht. Elvira zögerte nicht lange. Sie legte an, zielte und schoss dem Flüchtenden mehrmals in den Rücken. „Sie sind gefeuert!“ rief sie dem sterbenden Mann noch zu, bevor sie weiterlief. Sie konnte Treulosigkeit auf den Tod nicht ausstehen.

Elvira bewegte sich weiter auf die Produktionsanlage zu, kletterte über den ekelhaften Kadaver einer Schneidfliege, sprang über die Leichen einiger weiterer Soldaten und wurde dabei allein von dem Wunsch getrieben, diese Bedrohung für ihr Geschäft und ihre Macht um jeden Preis auszuschalten. Doch sie war auch klug genug, um zu wissen, dass sie das allein nicht schaffen konnte. Sie war weder Rambo noch Wonder Woman.

Statt also weiterhin einen auf Einzelkämpferin zu machen, holte sie das Funkgerät aus ihrer Tasche. „Dr. Kiving, Winner. Schicken sie die Madensoldaten aus. Wir müssen es wenigstens versuchen. Vielleicht können sie zumindest diese Blagen töten.“ Keine Antwort. „Kiving, Winner, wo seid ihr? Jetzt ist nicht die Zeit, um aufs Klo zu gehen. Wir werden hier abgeschlachtet!“

Noch immer keine Antwort. Kein Geräusch, außer dem lauten Sirren und Brummen der Fliegenflügel und dem Zischen ihres ätzenden Sekrets. „Wo seid ihr, verdammt? Wo zum Teufel seid ihr?“

Der Klang von Rotoren beantwortete ihr diese Frage. Er kam vom Dach des Bürokomplexes und sie musste nicht lange überlegen, um zu wissen, wer sich an Bord des Hubschraubers befand, der sich da in die Lüfte erhob. Die Ratten verließen das sinkende Schiff. Bei aller Wut über diesen Verrat fühlte Elvira Djarnek sich unendlich allein und machtlos. Das war der Moment, wo alle Schneidfliegen aufhörten, das Produktionsgebäude von MannaRed zu attackieren, und sich stattdessen wie eine zum Schlag geballte Faust auf sie zubewegten.

~o~

Es dauerte noch mehr als eine halbe Stunde, bis sie das Maisfeld hinter sich gelassen hatten.

Christopher Gera, der der Gruppe vorausging, war auch der Erste, der einen Fuß auf das freie Feld dahinter setzen wollte. Aber bevor er das tun konnte, hielt Jonathan ihn zurück. „Warten Sie!“

Gera drehte sich um und sah den Doktor halb zornig und halb verwirrt an. „Was soll der Scheiß?“ fragte er.

Jonathan deutete mit seinem Kinn in die gleiche Richtung, in die auch die Taschenlampe seines Smartphones leuchtete, dessen Akku sich langsam dem Ende näherte.

Gera zog die Augenbraue hoch. „Na und? Da steht eben ein Busch. So etwas passiert schon mal, wenn man sich dort unten nicht rasiert.“ er ließ ein kurzes, trockenes Lachen hören und wollte weitergehen. Aber Jonathan hielt ihn erneut fest. „Dieser Busch ist kein gewöhnlicher Busch. Es ist ein Glasstrauch.“

Davox, dem das Wort ebenfalls nichts sagte, bekam ein ungefragtes Update von Professor Arnold Wingert direkt in seinen Kopf.

„Ein Gewächs aus dem Knochenwald, welches die Lebenskraft seiner Opfer und am Ende seine Seele in sich aufnimmt, um daraus schmackhafte und suchterzeugende Beeren herzustellen.“ wiederholte Davox die Worte des Professors.

„Exakt.“ bestätigte Jonathan. „Das Teufelszeug aus Elviras Labor, dessen Geheimnis ich dieser charmanten Frau nach der liebevollen Zuwendung von Dr. Kiving preisgegeben habe.“

Plötzliches Begreifen breitete sich auf Christopher Geras Gesicht aus. „Sie meinen, wenn ich weitergegangen wäre, hätte das hässliche Gestrüpp dort mich ausgesaugt?“

„Hässlich ist es nicht.“ sagte Bianca, die zu den anderen aufgeschlossen hatte. „Ganz im Gegenteil.“ Und damit hatte sie recht. Die Zweige des filigranen Strauchs glitzerten im Mondlicht wie reinstes Eis und die roten Beeren waren saftig und prall und sahen köstlicher aus als jede andere Frucht auf diesem Erdball.

„Das dürfte der Kerl dort anders sehen.“ widersprach Gera, der inzwischen selbst seine Taschenlampe auf den Strauch gerichtet hatte. Oder besser gesagt: Auf eine Stelle direkt vor dem Strauch. Dort nämlich lag der ausgemergelte und vertrocknete Körper eines alten Mannes. Zuerst hielten sie ihn für tot, aber kurz nachdem der Lichtstrahl ihn berührte, begann er zu zucken, stemmte sich zitternd ein Stück weit mit den Armen hoch und sagte im flehenden Ton: „Helft mir. Das Ding bringt mich um. Bitte, helft mir doch!“

Gera wechselte einen Blick mit Jonathan. „Das macht sogar mir Bauchschmerzen. Soll ich ihn holen?“, bot Gera an.

Jonathan aber schüttelte den Kopf. „Der Strauch würde sofort seine feinen Glaswurzeln tief in ihr Fleisch einflechten und sie ebenfalls aussaugen. Es gibt leider keine Möglichkeit, ihn zu retten. Wir können ihn höchstens erlösen, bevor auch seine Seele zu einer Beere wird.“

Gera zuckte mit den Schultern. „Den Job kann ich gern übernehmen. Wann kann man schon mal jemanden mit gutem Gewissen abknallen.“ Er hob seine Waffe und zielte auf den Mann, dessen Augen sich vor Schreck weiteten.

„Nein! Ihr müsst mir helfen.“

Gera legte den Finger auf den Abzug.

„Nein! Warten Sie.“ rief Davox. „Professor Arnold hat mir angeboten, ihn zu holen.“

„Das könnte funktionieren.“ sagte Hexe „immerhin ist er kein normaler Mensch.“

„Auf keinen Fall! Wir wissen doch gar nicht, ob er gegen Glassträucher immun ist.“ widersprach Jonathan.

„Wollen Sie diesen Mann lieber sterben lassen?“ konterte Davox. „Sie haben doch vorhin noch die hohe moralische Keule geschwungen. Und ich kann ihnen versichern, dass Arnold selbst der festen Überzeugung ist, dass ihm nichts passieren kann.“

Jonathan zögerte noch. Er wollte seinen alten Freund nicht gänzlich verlieren. Aber Davox hatte ihn geschickt der Doppelmoral überführt, und das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Im Grunde hatte er ja recht.

„Na gut.“ sagte Jonathan.

Gera senkte enttäuscht seine Waffe. Gleichzeitig setzte sich Arnold Wingert in Bewegung. Alle – ganz besonders Jonathan – achteten gespannt darauf, was passieren würde, als der untote Professor das freie Gelände vor dem Glasstrauch betrat. Aber es geschah rein gar nichts. Es war fast so, als würde der Strauch ihn gar nicht registrieren.

Der Professor beugte sich mit steifen Knien herunter, schob mechanisch seine Hände unter den ausgezehrten Körper des Mannes und zog ihn mit eine Ruck nach oben.

Der Mann schrie wie am Spieß, als Hunderte feiner Wurzeln mit einem Mal aus seinem Leib gerissen wurden. Sofort begann er aus dutzenden Stellen zu bluten.  

Ungeachtet dessen setzte Arnold sich in Bewegung und legte den schreienden Mann auf die dicht gewachsenen Maispflanzen, die unter dessen Gewicht umknickten.

„Er wird sterben.“ sagte Hexe mit einer seltsam entrückten Stimme, als sie in sein runzliges Gesicht sah, in dem verstörend junge Augen lagen. Obwohl sie nie viel von Medizin verstanden hatte, wusste sie es ohne jeden Zweifel. „Er wird sterben und dem gefühllosen Gott anheim fallen.“ fuhr sie düster fort.

„Was reden Sie da? Es tut so weh! Bitte, tun sie irgendwas!“ klagte der Mann schwach, während das Blut stoßweise im Rhythmus seines Herzschlag aus dem Körper gedrückt wurde. Die Wurzeln des Glasstrauches mussten mehrere Arterien durchbrochen haben.

„Wir können seine Seele retten. Wenn wir seinen Geist vom Schrecken reinigen, kann er auf den Friedhof der weißen Götter gelangen und dort Ruhe finden.“

„WAAS?!“ frage Bianca, die zu der Auffassung gelangt war, dass ihre Freundin gerade den Verstand verlor.

Aber Hexe achtete nicht auf sie. Mehr noch als das: Ihre Augen sahen in eine gänzlich andere Welt. Plötzlich ergriff sie Davox‘ Hand. „Hilf mir, Liebster! Hilf mir, oh Knochenprinz! Berühre diesen Menschen! Schenk ihm eine Illusion, die seine Seele rettet! Eine von Ruhe, Sicherheit und brennender Fülle, die ihm erlaubt, bei den Göttern zu schlafen!“ Davox sah Hexe kaum weniger verwirrt an als die anderen, tat aber dennoch, was sie von ihm verlangte, und berührte den Kopf des Mannes mit seinen Händen. Was konnte es schon schaden, einem Sterbenden ein wenig Frieden zu schenken?

Davox versuchte eine friedliche Szenerie in seinem Geist entstehen zu lassen. Ein Ort, an dem auch er selbst sich gerne im Jenseits wiederfinden würde. Aber es fiel ihm schwer. Unendlich schwer. Es war fast, als würde ein Teil von ihm von diesen Gedanken geradezu abgestoßen. Aber dennoch brachte er am Ende etwas zustande:

Die Szene eines großen Konzertes. Auf der Bühne eine richtig gute Band (nicht etwa Knochenherz, sondern eine gänzlich menschliche Kombo), die melodischen Metal spielte. Unter den Zuschauerrängen eine fröhliche und gelöste Stimmung und an der Bar so viel kostenlose Getränke, wie man sich nur wünschen konnte. Außerdem ein Platz in den Armen einer hübsche Frau. Frische Liebe. Häufige Küsse. Ein Rausch, noch ungetrübt von den Kompromissen des Alltags. Es war ein gutes Bild. Keine Vision von Engeln, Einhörnern, Wolken und anderem Kitsch, aber dennoch ein Refugium. Auch wenn Davox zugestehen musste, dass er nicht mal eine Ahnung hatte, ob der Typ hier etwas mit Metal (vielleicht war er ja ein Freund von Klassik oder Schlager) oder mit einer schönen Frau (vielleicht war er ja homosexuell oder gar asexuell) anfangen konnte. Aber es war ja auch nicht so, dass er diese Dinge jeden Tag machte.

An dem Lächeln, dass sich plötzlich auf dem verbrauchten Gesicht ausbreitete, erkannte er zumindest, dass es wirkte.

Der Mann machte mit einem Mal einen vollkommen schmerzfreien und zufriedenen Eindruck, während sein Blut aus ihm herauslief wie aus einem perforierten Wasserballon.

Ein paar Atemzüge später starb er.

Hexe fasste Davox an beiden Händen und sah ihn mit einem entrückten Lächeln an. „Es ist gut. Er wird schlafen. Lächeln und schlafen.“

Plötzlich wurde ihr Gesicht wieder normal. „Was ist passiert?“ fragte sie verwirrt. „Wie ist der Mann hierhergekommen? Ist er etwa tot?“ ihre Stimme drückte aufrichtiges Bedauern aus.

Die anderen klärten Sie über die Geschehnisse der letzten Minuten auf. Das Geheimnis ihres seltsamen Geisteszustandes konnten sie hingegen nicht lüften.

~o~

Das Schicksal war ein Kreis. Elvira war wieder an der Straße. Und das Auto kam herangerast. Doch diesmal war sie nicht das Mädchen, sondern der hilflose Igel. Der Igel, der im Begriff war, überfahren zu werden. Überfahren und zermatscht von drei Dutzend monströser Insekten, geritten von einem Kindergarten aus der Hölle.

In so einer Situation kann man entweder weglaufen und dabei sterben oder aufrecht stehen, dem Feind ins Angesicht sehen… und dabei sterben. Elvira entschied sich für keine der beiden Möglichkeiten. Sie entschied sich gar nicht. Sie war so paralysiert wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Oder der Igel vor dem Auto.

Das Summen der Fliegen kam näher. Sie sah schon die Details der ernsten Kindergesichter. Immerhin würden sie nicht über sie lachen. Immerhin nicht das.

Noch näher. Sie fragte sich, wie es sich anfühlen würde, wenn sich eine aggressive Lauge durch den ganzen Körper frisst. Aber darüber nachzudenken hatte wohl keinen Sinn. Schon bald würde sie es erfahren.

Das Summen wurde noch lauter und… veränderte sich… es wurde schriller, dröhnender, … mechanischer? Eine Sekunde später zerbarst der vorderste Fliegenreiter in einer rötlichen Explosion. Dann zwei weitere. Reflexartig hielt Elvira sich die Ohren zu, die aber trotzdem bereits von einer Mischung aus Taubheit und fiependen Lauten erfüllt waren.

Dennoch hörte – und sah – sie, wie weitere Fliegen platzten und als schwarze Chitinhaufen auf die Erde bröckelten und nun erkannte sie auch den Grund dafür. Irgendjemand hatte eine ganze Staffel von Kampfflugzeugen und Hubschraubern geschickt, die die Viecher ohne jede Mühe zerlegten. Innerhalb weniger Sekunden waren sämtliche Insekten und Reiter vernichtet.

Einer der Hubschrauber setzte zur Landung an und ein Mann stieg aus. Er war Ende Dreißig, groß gebaut, recht gutaussehend und hatte kurzes, blondes Haar.

„Hallo Frau Djarnek, mein Name ist Thomas Eden. Und es freut mich, sie endlich einmal persönlich kennenzulernen.“

~o~

Sie ließen den Mann im Feld zurück – für eine Bestattung hatten sie keine Zeit – und machten einen weiten Bogen um den Glasstrauch. Dabei achteten sie unterwegs nun doppelt so genau wie zuvor auf jeden ihrer Schritte.

Und das war auch gut so. Denn während sie sich zu Elvira Djarneks ehemaliger Forschungsanlage durchschlugen, begegneten ihnen noch zwei weitere Glassträucher (diesmal ohne frisches Opfer), mehrere Pfützen mit weißlicher Lauge, vereinzelte Knochenbäume und auch einige kleinere Schneidmaden, die Gera mit schnellen Schüssen erledigte. Die Veränderungen der Natur durch die Magie des Knochenwaldes waren inzwischen mehr als offensichtlich.

Dennoch kamen sie letztlich – es war bereits kurz vor Sonnenaufgang – zu der Forschungsanlage, in der nun nicht mehr Elvira Djarnek, sondern, zumindest nach den Informationen, die Mara ihr gegeben hatte, ihr ehemaliges Versuchskaninchen Lucy Herrmann das Kommando führte.

Als Sie die Anlage aber endlich vor sich sahen, wirkte sie fast wie ausgestorben. Das Loch, durch das Davox und Gera entkommen waren, sah noch genauso aus wie früher. Auch der Haupteingang zu der unterirdischen Anlage war noch unverändert. Allerdings gab es nun weder Zelte noch Gitter, Lagerstätten oder sonstige oberirdische Konstruktionen. Nur einen Haufen glatter, steril wirkender Knochenbäume.

„Also für mich sieht das hier nach einem Friedhof aus.“ stellte Christopher Gera nüchtern fest und dachte dabei, dass er seit seinem letzten unfreiwilligen Besuch hier kein Bonbon mehr gelutscht hatte. So seltsam es klang, aber anscheinend konnte man ernsthaftte Entzugserscheiungen wegen Zitronenbonbons bekommen. Das menschliche Gehirn war schon eine seltsame Konstruktion. Nach einem kurzen Räuspern fuhr er fort. „Nicht, dass ich mich darüber beschweren will. Ich verbinde nicht gerade angenehme Erinnerungen mit diesem Misthaufen von Labor, aber wenn diese Esotante glaubt, dass hier ihr kleines, irres Scheißblag rumturnt, dann liegt das wohl eher an übermäßigem Pilzkonsum als an prophetischen Fähigkeiten. Wahrscheinlich sind wir den ganzen Weg umsonst …“

„Kleines, irres Scheißblag?“ erklang plötzlich eine kindliche, aber zugleich düstere und unglaublich wütende Stimme. „So behandelt man aber keine Hausherrin. Und schon gar nicht die Mutter der Maden. Ihr seid mir unartige, kleine Grinsekätzchen. Ja, das seid ihr.“

Erst jetzt trat die Besitzerin der Stimme hinter einem der Knochenbäume hervor. Ein zierliches Mädchen mit weißlichen Adern unter der Haut und mit Augen, die rot wie Kohlen glühten.

„Lucy!“ sagte Jonathan.

„Doktor How!“ erwiderte Lucy, während ein Dutzend weitere Kinder und ein groß gewachsenes, mehrfach gepierctes Teenagermädchen hinter ihr auftauchten. „Ich glaube, wir haben einiges zu bereden.“

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