
Knochenwald: Nektar der Götter
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Eine harmonische, paradiesisch anmutende Musik erklang, und der
Bildschirm erwachte zum Leben, wobei er den Zuschauer mit einer
exotischen Regenwaldszenerie gefangen nahm Hohe Bäume, Lianen, ein
malerischer See, ein kleiner, rauschender Wasserfall, bunte Frösche und
prachtvolle Vögel.
„MannaRed!“ rief eine sanfte Frauenstimme, die über allem schwebte wie die Vögel über den hohen Baumkronen.
„MannaRed ist ein Drink für die Götter. Und das erste Getränk aus
Glasbeeren, dem neuen Superfood aus den Tiefen des Regenwaldes. MannaRed
enthält alle wichtigen Nährstoffe, schmeckt unbeschreiblich gut und
macht jede andere Nahrung überflüssig. Probieren Sie es selbst aus!“
„MannaRed! The best you will get!“
Der Spot endete mit dem Bild einer durchsichtigen Dose, die sich vor
der Dschungelszenerie materialisierte. Auf der Dose glitzerten
Wassertropfen, und im Inneren schwappte eine köstlich aussehende, rote
Flüssigkeit. Der Schriftzug des Getränks war in filigranen, silbernen
Lettern eingraviert.
„Was halten Sie davon?“ fragte Winner. Er war ein blasser, schlanker
Mann mit kurzen dunkelblonden Haaren und Leiter der internen
Marketingabteilung von Infinite Technologies und gehörte zu den Besten
seines Fachs.
Elvira war begeistert. Aber das würde sie nicht zu offen zeigen. Zu
viel Lob verdarb die Moral genauso, wie zu wenig. „Ganz ordentlich.“
gestand sie zu. „Damit können wir arbeiten. War das der Spot für
YouTube?“
Winner nickte erleichtert. „Ja. Eine etwas abgewandelte Variante
verwenden wir als TV-Spot. Darüber hinaus haben wir Online-Banner,
Plakatwerbung, Zeitungsanzeigen, Radiospots und Suchmaschinenwerbung
geschaltet. Und natürlich bespielen wir alle sozialen Netzwerke. Die
Leute werden förmlich in MannaRed ertränkt, wenn wir erst mit der
Hauptphase starten.“
Winner räusperte sich kurz und fuhrt dann fort.
„Auch unser Vertrieb hat ganze Arbeit geleistet. Wir werden in allen
wichtigen Supermärkten und Discountern vertreten sein. An jeder
Tankstelle. An jedem Kiosk. Und natürlich steht auch unser Online-Shop
bereit.“
„Wie ist die Testkampagne gelaufen?“ Elvira hatte Winner angewiesen,
das Getränk vorerst in irgendeiner mittelgroßen Stadt zu bewerben und zu
verkaufen, bevor sie richtig loslegten. Elvira wollte Ergebnisse und
harte Fakten sehen und sich bei der Beurteilung der Effektivität ihrer
Strategie nicht allein auf ihr Bauchgefühl verlassen. Dafür war das
Produkt viel zu wichtig.
Winner grinste breit. Jetzt war er in seinem Element. „Hervorragend.
In unserer Testregion haben wir eine Marktdurchdringung von über 90 %
erreicht. Die ersten Chargen waren in Kürze ausverkauft, aber natürlich
haben wir so schnell wie möglich Nachschub besorgt. Wie besprochen haben
wir die Dosen geradezu verschleudert. Mit dem Ergebnis, dass der
Verkauf aller anderen Nahrungsmittel und Getränke praktisch zum Erliegen
gekommen ist. Die Produkte der Konkurrenz verrotten in den Regalen, und
die Leute nehmen sie nicht einmal geschenkt. Sobald wir die Preise wie
geplant anheben, wird MannaRed zur Gelddruckmaschine.“
Jetzt konnte selbst Elvira sich ein Lächeln nicht verkneifen. Schon
als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, einmal wirklich
einflussreich zu sein. Dieser Traum ging jetzt in Erfüllung, und daran
hatte Winner durchaus einen maßgeblichen Anteil. Wahrscheinlich konnte
etwas mehr Lob doch nicht schaden.
„Wunderbar. Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen. Auch wie Sie das mit
der Lebensmittelzulassung geregelt haben, war sehr eindrucksvoll. Im
Grunde handelt es sich bei MannaRed ja um nichts anderes als eine
Droge.“
Winner grinste ironisch. „Eine Droge? Mitnichten. MannaRed hat keine
Nebenwirkungen, keine erwartbaren Langzeitfolgen, schädigt weder den
Körper noch das Gehirn und beeinträchtigt auch nicht die
Leistungsfähigkeit. Es erzeugt auch keine Halluzinationen oder extreme
Gemütszustände, und das einzige Suchtpotenzial besteht in dem besonders
guten Geschmack. Wer es deswegen als Droge deklariert, kann auch gleich
Sterneköche als Dealer verurteilen.“
Elvira nickte. „Genau meine Meinung.“
„Sollen wir mit dem Verkauf starten?“ fragte Winner.
„Auf jeden Fall. So schnell wie möglich!“ kam die entschlossene Antwort von Elvira.
„Bundesweit oder weltweit?“
„Zunächst nur bundesweit. Für den weltweiten Verkauf müssen wir
zuerst noch unsere Produktionskapazitäten ausbauen. Wo wir gerade davon
reden. Haben sie eigentlich schon einmal eine unserer Produktionsstätten
besucht?“
Winner schüttelte den Kopf.
Genau diese Antwort hatte Elvira auch erwartet. Der
Produktionsprozess war eigentlich streng geheim, und jede Kommunikation
der dort Beschäftigten nach draußen wurde drakonisch sanktioniert. Ihre
Marketing- und Vertriebsmitarbeiter wussten nur, dass es sich bei der
Hauptzutat des Getränks um eine Beere handelte, deren Geschmack extrem
süchtig machte. Wie sie entstand, ahnte niemand. Aber auch wenn Winner
sich als wertvoll erwiesen hatte – sie wollte seine volle Loyalität.
Dafür musste er alles wissen, was vorging, und dennoch hinter ihr
stehen.
„Dann sollten wir das ändern“, sagte sie zu ihm und wies ihm den Weg.
Die Produktionshallen lagen ein wenig abseits des eigentlichen
Komplexes, in dem Elvira und der Rest ihres Teams Quartier bezogen
hatten. Es war ein großes Glück, dass Infinite Technologies hochwertige
Immobilien und Grundstücke aller Art besaß. Andernfalls hätten sie
niemals so schnell diesen neuen Komplex beziehen und herrichten können.
Neben einer hochmodernen Forschungsanlage und einem gut ausgerüsteten
Bürokomplex verfügte sie nun auch über drei gigantische Fabrikhallen,
die alle mit kostspieliger Sicherheits- und Überwachungstechnologie
ausgestattet waren. Möglich wurde dies durch ein Heer von Ingenieuren,
Architekten, Bauarbeitern, Elektrikern und anderen Fachleuten, deren
Loyalität und Verschwiegenheit maßgeblich durch zwei Anreize
sichergestellt wurde: Eine mehr als ordentliche Bezahlung und einen
direkt ins Gehirn implantierten Chip, der bei der Erwähnung bestimmter
Buzzwords explodierte und mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit eine
massive Hirnblutung auslöste. Bisher musste dieser Mechanismus
allerdings nur selten zum Einsatz gebracht werden.
Unwillkürlich musste sie an die Kameraübertragung von Dr. Jameson und
seinem kleinen Team von Versagern denken. Bei ihnen war alles ein Bluff
gewesen. Sie hatten diese Chips nicht besessen, und auch wenn Dr.
Kiving große Freude daran gehabt hatte, ihnen Angst vor der
vermeintlichen Bombe in ihrer Kamera zu machen, war das Ding nichts als
eine stinknormale, hochauflösende Digitalkamera gewesen.
Und doch hatte diese Lüge dazu geführt, dass Jameson ein höchst
amüsantes Massaker an seinen Kollegen verübt hatte. Zwar hatte er die
Kamera am Ende fallen lassen und lebte womöglich noch, aber angesichts
der apokalyptischen Bilder, die sie zuvor übertragen hatte, glaubte sie
nicht, dass das von Dauer sein würde. Die Schneidmaden und die
wahnsinnigen Kinder, die sie begleiteten, würden ihn genauso vernichten,
wie sie es mit dem Rest der Stadt getan hatten. Ehrlich gesagt war sie
gar nicht so überrascht gewesen, als sie Lucy unter ihnen entdeckt
hatte. Es war so, wie sie es schon zu Jonathan gesagt hatte: Das Mädchen
war eine außer Kontrolle geratene biologische Waffe, und ihre
Freilassung würde der Welt noch große Wunden zufügen. Dass sie sich
anscheinend ein Heer von kindlichen Missgeburten geschaffen und eine
ganze Kleinstadt ausgelöscht hatte, war ein überzeugender Anhaltspunkt
dafür.
Kurz hatte Elvira mit dem Gedanken gespielt, gegen sie vorzugehen.
Aber das würde Ressourcen binden – und höchstwahrscheinlich vernichten,
die sie anderswo dringender benötigte. In der Produktion von MannaRed
zum Beispiel. Aber auch für andere Geschäftsbereiche. Vielleicht würde
sie sich später noch um das Mädchen kümmern. Bis dahin konnten sich
andere mit ihr auseinandersetzen.
Nachdem sie durch alle Sicherheitskontrollen hindurch gelangt waren,
standen sie endlich vor der großen Tür einer der eigentlichen
Fabrikhallen, die – passend zu den Früchten, die hier kultiviert wurden –
blau und rot lackiert waren. Während des ganzen Weges hatten sie
geschwiegen. Selbst Winner, der sich für gewöhnlich sehr gerne reden
hörte, hatte still vor sich hin gegrübelt, als ahnte er irgendwie, was
ihn erwartete. Am Ende war es Elvira, die die Stille brach. „Sind Sie
bereit, Ihre Unschuld zu verlieren?“ sagte sie zu Winner und lächelte
dabei so stolz, als würde sie ihm gleich ihre einzigartige Kunstsammlung
zeigen.
Winner nickte nur knapp.
„Dann: Herzlich Willkommen im Kaninchenbau.“ Mit diesen Worten
öffnete sie die gewaltige Tür und offenbarte damit das Innere der
Produktionsstätte.
Sie bedeute Winner, ihr zu folgen und begann mit der Führung durch
den Komplex. Die Anlage war gewaltig. Und sie war genauso ein
Gewächshaus, wie sie eine Fabrikhalle war. Denn dort standen in
ordentlichen Reihen hunderte von durchsichtigen Sträuchern mit
filigranen, fast transparenten und kristallartigen Ästen. An diesen
Ästen hingen pralle rote und ganz selten auch blaue Früchte, die einen
betörenden, süß-säuerlichen Duft verströmten. All das hätte einem naiven
Märchen aus einem Kinderbuch entstammen können.
Aber zwei Dinge trübten den zauberhaften Eindruck. Erstens schwebten
und surrten über den Reihen der wunderschönen Sträucher an Schienen
befestigte Roboterarme, die die Beeren ernteten und sie dem weiteren
Produktionsprozess zuführten. Zweitens stand vor jedem dieser Sträucher
ein in einen roten Overall gekleideter Mensch und glotzte sie mit leeren
Augen an. Jeder von ihnen atmete, aber darüber hinaus zeigte kaum eine
dieser Personen irgendein Interesse an seiner Umwelt. In ihren Mündern
steckten Schläuche, durch die gelegentlich irgendeine Flüssigkeit
gepumpt wurde. andere Schläuche führten von Zeit zu Zeit etwas ab, was
an Kot oder Urin erinnerte. Außer den Schläuchen gab es keine
Apparaturen oder Fesseln, die ihre Bewegungsfreiheit hätten einschränken
können. Und doch unternahm niemand den Versuch zu fliehen.
„Was ist das hier?“ fragte Winner erschüttert. Elvira war ein wenig
enttäuscht. Aber eigentlich hatte sie eine solche Reaktion erwartet. Es
war eine Sache, daran zu arbeiten, die ganze Welt von einem Produkt
abhängig zu machen, und eine ganz andere, zu sehen, wie lebende Menschen
in Rohstoffe verwandelt werden. Selbst sie war darüber nicht erfreut.
Sie war niemand, den es aufgeilte, Menschen zu schaden, auch wenn viele
sie anders einschätzen mochten. Wenn sie ihre Ziele durch Licht, Liebe
und Regenbögen hätte erreichen können, hätte sie es auch getan. Aber so
funktionierte die Welt nun einmal nicht. Das musste auch Winner
letztlich begreifen. Sonst wäre er künftig nutzlos.
„Dies, mein Guter, sind die Tiefen des Regenwaldes. Zumindest wenn man
ihrem hübschen Werbespot Glauben schenken darf.“ antwortete sie ihm gut
gelaunt.
Winner wurde aschfahl. Kurz dachte Elvira, dass er sich übergeben
würde. Stattdessen stellte er eine weitere Frage. „Warum laufen sie
nicht weg?“
„Weil feine, aber äußerst stabile Wurzeln im Boden sie festhalten und
das Blut aus ihnen heraussaugen. Diese wertvolle Flüssigkeit lässt dann
diese Schätzchen hier wachsen.“ sie zeigte auf einige pralle, rote
Glasbeeren, deren verführerischer Duft sofort Lust auf eine Kostprobe
machte. Selbst mit dem Wissen um ihre Herkunft.
„Die ursprüngliche Version der Pflanze hat sie in wenigen Minuten
ausgesaugt und zu nutzlosen, leeren Hüllen gemacht. Absolut
unwirtschaftlich. Aber unsere findige Forschungsabteilung hat ein wenig
am Genpool der Sträucher herumgepfuscht. Nun ernten sie die Lebenskraft
ihrer Opfer viel nachhaltiger.“
„Ernten?“ fragte Winner, wobei er noch immer ein leichtes Zittern in der Stimme trug.
„Ganz recht. Die Pflanzen ernten die Menschen. Hat doch etwas von
ausgleichender Gerechtigkeit. Oder nicht? Jedenfalls passiert es langsam
genug, dass wir den Blutverlust durch eine Nährlösung ausgleichen
können. Je nachdem, wie fit das jeweilige Exemplar ist, können wir den
Produktionsprozess Wochen, Monate, oder auch Jahre aufrechterhalten,
bevor der Körper doch aufgibt und die Seele des Geernteten zu einer
blauen Beere wird. Sobald wir genug von diesen Beeren haben, werden wir
daraus MannaBlue herstellen: Ein besonders kostspieliges und exklusives
Getränk für illustre Kreise.“
Ein gepeinigtes Stöhnen des jungen Mannes, der ein Gefangener des Strauchs direkt vor ihnen war, unterbrach kurz ihr Gespräch.
Winner trat reflexartig auf den Mann zu, um ihm beizustehen.
„Das würde ich unterlassen“, warnte ihn Elvira. „Jenseits der
Wegbegrenzung besteht die Gefahr, dass die Pflanze Sie ebenfalls
erntet.“
Sofort sprang Winner wieder auf den eingezeichneten Weg zurück und
wäre dabei fast in den Strauch hinter sich gekippt. Als er wieder sicher
stand, wandte er sich erneut an Elvira. „Sind sie bei Bewusstsein?“
Elvira nickte. „Mehr oder weniger. Anfangs mehr, mit der Zeit
weniger. Die Pflanze nimmt ihnen nicht nur ihr Blut, sondern nach und
nach auch den Willen, gegen ihre Gefangenschaft anzukämpfen. Wobei
dieser Kampf schon am Anfang aussichtslos ist, denn die Wurzeln dringen
sofort durch ihren gesamten Körper, und sie sind so gut wie
unzerbrechlich. Jedenfalls – auch wenn ihr Wille zu Staub zerfällt, so
empfinden die doch nach wie vor Angst und heftige Schmerzen, dessen
können Sie sich sicher sein.“
„Könnte man sie nicht sedieren oder in ein künstliches Koma versetzen?“ fragte Winner.
„Das wäre natürlich möglich.“ antwortete Elvira. „Aber es wäre eine
dumme Idee. Die Mittel würden am Ende das Produkt verunreinigen und die
Produktionskosten in die Höhe treiben. Auch könnte sich die Lebensdauer
der Geernteten durch die Nebenwirkungen verkürzen. Interessanterweise
besaß die ursprüngliche Pflanze ihre eigenen betäubenden Substanzen.
Aber sie waren giftig und töteten die Versuchspersonen binnen einer
Stunde. Das würde in der Praxis einer betriebswirtschaftlichen
Katastrophe gleichkommen. Da sind ein paar Schmerzen und miese Gefühle
die günstigere Lösung. Sie wissen schon: Return on Investment.“
Winner nickte, auch wenn er nach wie vor nicht glücklich über die Situation zu sein schien. “Woher stammen diese Menschen?“
Elvira schüttelte genervt den Kopf. „Sie sollten aufhören, sie als
Menschen zu betrachten. Menschen haben Verstand, können Entscheidungen
treffen, können über ihr Leben frei bestimmen. Auf die Geernteten trifft
das nicht mehr zu. Es sind Rohstoffe. Weiter nichts.“
Winner sah aus, als wollte er Einwände erheben. Aber er tat es nicht. Kluger Mann.
Elvira machte eine kurze Pause, um ihre Gedanken zu ordnen. Dann
sprach sie weiter, um doch noch auf seine ursprüngliche Frage zu
antworten. „Größtenteils handelt es sich um Obdachlose. Aber auch um
freiwillige Teilnehmer an angeblichen Teststudien für experimentelle
Medikamente. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen man mit ein paar
Tausend Euro und dem vagen Versprechen auf die Heilung irgendeines
Leidens ködern kann. Dann gibt es da noch ein paar Häftlinge mit
lebenslangen Haftstrafen sowie Insassen von geschlossenen Psychiatrien.
Hin und wieder inszenieren wir aber auch Todesfälle oder suchen uns
Freier aus dem ein oder anderen Bordell heraus. Wir sind recht kreativ,
wenn es um die Beschaffung geht.“
Inzwischen hatte Dennis Winner noch mehr von seiner Gesichtsfarbe
verloren. Elvira fragte sich, ob sie ihn falsch eingeschätzt hatte.
Würde sie ihn loswerden müssen? Sie forschte in seinen Augen nach einer
Antwort, konnte aber keine finden. Also stellte sie die Frage
stattdessen laut.
„Hören Sie zu, Winner! Ich muss wissen, ob sie weiter für mich
arbeiten wollen, jetzt, wo Sie wissen, was Sie da eigentlich vermarkten.
Wenn ich weiter auf sie zählen kann, habe ich noch eine Menge mit Ihnen
vor, und Sie werden sich dabei eine goldene Nase verdienen und sich
wahrscheinlich in ein paar Jahren irgendwo sorgenfrei in der Sonne
räkeln können. Wenn Sie Koks und Nutten brauchen, um ihr Gewissen zum
Schweigen zu bringen, helfe ich Ihnen gerne damit aus. Wenn Sie sich all
dem aber nicht gewachsen fühlen, ist jetzt der Moment, um auszusteigen.
Dann bekommen Sie eine kleine Abfindung …“ (Zum Beispiel eine Kugel
zwischen die Augen.) „…unterschreiben eine Verschwiegenheitserklärung…“
(In Form eines Abschiedsbriefs) „…und können sich wieder auf die
Jobsuche begeben.“ (Falls im Jenseits gerade Stellen frei sind.) „alles
kein Problem. Ich muss es nur jetzt wissen.“
Winner sah ihr fest in die Augen, und sie konnte förmlich sehen, wie
sich die kleinen Rädchen hinter seiner Stirn drehten. Letztlich kam er
zu einer Entscheidung. „Ich bin dabei.“ presste er hervor.
Einige der ringsum stehenden Geernteten stöhnten zustimmend. Oder zufällig. Je nachdem, wie man es interpretieren wollte.
„Wunderbar!“ antwortete Elvira erleichtert. Es wäre tragisch gewesen,
Winner zu verlieren. Nicht nur aus fachlichen Gründen. Auch menschlich
konnte sie ihn recht gut leiden.
„Dann können wir auch über die nächste Kampagne reden. Es geht um
unsere Entdeckung im Bereich der Militärtechnik, über die wir letztens
bereits kurz gesprochen hatten. Ich würde Sie auch hier gerne in die
Details einweihen. Allerdings habe ich zuvor noch ein paar andere
Termine. Würde es Ihnen passen, wenn wir uns um 16:30 Uhr in meinem Büro
treffen?“
Winner nickte, und Elvira ließ ihn in der grauenhaften Produktionsanlage zurück.
Als er seine Chefin aus dem Blick verloren hatte, erlaubte sich
Dennis Winner, das Grauen, welches ihn erfasst hatte, endlich
zuzulassen. Er betrachtete die bedauernswerten Geernteten, die stumpf
und doch vor Schmerzen stöhnend wie lebende Statuen vor den verräterisch
schönen Glassträuchern standen. Es waren Menschen – was immer Elvira
auch behauptete. Niemand von ihnen hatte als Dünger für eine monströse
Pflanze enden wollen. Sie alle hatten sicher andere Pläne für ihr Leben
gehabt. In diesem Moment hasste sich Winner zutiefst. Er war nie ein
übertriebener Moralist gewesen, aber es gab eine Grenze, die man nicht
überschreiten sollte. Und die hatte er gerade mit einem großen Satz
übersprungen.
Das Leben bestand für gewöhnlich aus unzähligen moralischen
Grautönen. Aber das hier war keiner davon. Was sie hier taten, war
tiefschwarz. Liebend gern wäre er jetzt aus der ganzen Sache
ausgestiegen. Aber Winner war nicht dumm. Er wusste genau, dass das
seinen Tod bedeutet hätte. Er war nun eingeweiht, und Elvira war nicht
der Typ für versöhnliche Abschiede. Das Beste, was er bei einem Ausstieg
erwarten konnte, war ein kurzer und schmerzarmer Tod, und selbst darauf
zu hoffen erforderte ein gewisses Maß an Naivität. Also blieb ihm nur
die Wahl zwischen einem ehrenhaften Heldentod und einem Leben als
Handlager einer wirklich miesen Sache. Und da Winner kein Held war, traf
er die gleiche Wahl wie schon Tausende vor ihm, die in einer ähnlichen
Situation gewesen waren. Er entschied sich für das Leben.
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