
Der Gynoid
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Sehnsucht
Die Straßen waren kalt und leer. Zumindest wirkten sie so auf sie, obgleich ihre Augen hunderte von Kreaturen wahrnahmen, die sich um sie herumtummelten. Doch existent wirkte keiner von ihnen auf sie. „Seelenlos“ wäre das passende Wort gewesen, um jene zu beschreiben, die sie vor Jahren in diese Welt gesetzt und dann ihrem Schicksal überlassen hatten.
Nun war sie zu einem niemals enden wollenden Leben in Einsamkeit verdammt und das nur, weil die Menschen der, von der diese Tragödie berichtet, etwas mit gaben, das für Wesen ihrer Art nicht vorgesehen war.
Bei der missverstandenen Gestalt handelte es sich um eine junge Frau namens Ai. Ein Name, den sie sich selber gab, da ihr der ihr zugeteilte „Shussan“ ganz und gar nicht gefiel. Früher hätte sie nie gedacht, dass ihr etwas nicht gefallen könnte. Eigentlich wäre sie damals nicht einmal dazu befähigt gewesen zu denken, doch da sie als der nächste Schritt in der Entbindungshilfe gedacht war und als solcher den werdenden Müttern auf einer emotionalen Ebene begegnen sollte, wurde sie mit dem ausgestattet, was keine der anderen künstlichen Intelligenzen aufzuweisen imstande war.
Gefühle waren etwas von dem die Menschen glaubten, dass es sie über jegliche andere Spezies erhob, zusammen mit ihrer hohen, jedoch berechenbaren Intelligenz, die in der heutigen Zeit jedoch längst nicht mehr das Musterbeispiel der Evolution war.
Was sie so von anderen unterschied, vor allem von solchen Kreationen wie Ai eine war, war, dass es ihnen möglich war, ihre Intelligenz zu kontrollieren. Zwar redeten sie sich ein, dass Gefühle das Ende von Intelligenz seien, doch wenn man genauer drüber nachdachte und die Menschen besser verstand als sie sich selbst, dann konnte man ziemlich schnell erkennen, dass sie ohne ihren großen Schatz an Emotionen nie zu dem hätten aufsteigen können, was sie heute verkörperten.
Was wenn nicht das Gefühl von Ehrgeiz hätte sie sonst dazu veranlasst, sich über all die niederen Lebensformen um sich zu erheben? War es nicht der Neid, der sie gegeneinander auszuspielen begann, sodass sie immer weiter nach den Sternen griffen, um ihnen voraus zu sein und somit ihre Spezies in nie enden wollende Höhen zu katapultieren? Die Neugierde, die sie dazu brachte fremde Welten zu entdecken und diese zu besuchen? Selbst die Faulheit, von der die Menschen glaubten, dass es eines der sündhaftesten Gefühle darstellte, vermochte es sie dazu zu treiben, ihre Technik so weit zu entwickeln, dass sie in einem phlegmatischen Sumpf des Luxus versanken.
Selbst das Mitgefühl, welches früher eher als ein Symbol der Schwäche aufgefasst wurde, hatte sie inzwischen so weit gebracht, dass sie das natürliche Abwehrsystem von Mutter Erde wie Katastrophen und Seuchen vollständig lahmgelegt hatten. Nicht einmal die Hungersnöte waren noch existent, auch wenn sie lange brauchten, um diese zu unterbinden. Doch nun waren sie unaufhaltsam geworden. Sie begannen als ein kleiner Teil der Welt – heute schufen sie Welten.
Die Spezies, die sich die Schöpfung einst nur durch die Anwesenheit einer allmächtigen Präsenz erklären konnte, war nun eben diese Wesenheit, die sie als Gott bezeichneten. Heutzutage gab es kaum mehr etwas, das sie nicht zu erreichen in der Lage waren.
Mutter Natur hatte den Krieg verloren und den Thron an einen neuen, besseren Schöpfer abtreten müssen. Ihr gefiel dieses Wort: „Mutter“. Oft schon hatte Ai diesen Begriff in ihren Datenbanken entdeckt, doch erst vor Kurzem wurde ihr dessen Bedeutung erst gänzlich klar oder zumindest klarer.
Es war an einem Regentag, tief inmitten der Stadt in der sie seit ihrer Geburt verblieben war. Es war eine junge Frau, kaum älter als 65 Jahre. Unter ihrem schwarzen Kleid, verbarg sie schwerlich einen runden und voluminösen Bauch. Ein Zustand, der ihr nicht gut zu tun schien, denn sie krümmte sich und schien unter starken Schmerzen zu leiden. Ein äußerst seltener Anblick, denn Schmerzen waren ein weiteres Detail der evolutionären Entwicklung, dessen sich die Menschen eines Tages entledigten.
Hier waren sie jedoch offenbar noch sehr präsent und während Ai zusah, flehte die Frau die Ihren an, ihr zu helfen, um die Schmerzen zu unterbinden und ihr den Fremdkörper zu entfernen, der laut ihren Angaben in ihr herangewachsen war. Es dauerte eine lange Zeit für ihre Beobachterin, um anhand ihres Wissensspeichers herauszufinden, dass diese Personen einen Nachkommen in sich barg, der in ihr in den vorherigen neun Monaten gediehen war und sich nun ins Licht der Welt zu drängen begann.
Eine weitere Seltenheit an diesem eigentlich recht gewöhnlichen Tag, denn das was sie eine Schwangerschaft nannten, wurde von den meisten Menschen als unnötiger quälender Prozess empfunden, weshalb die meisten ihrer Schöpfer es vorzogen, sich in hierfür vorgesehenen Brutstätten züchten zu lassen. Ai wurde einst zu diesem Zwecke entworfen, Menschenkinder auf die Welt zu bringen, doch aufgrund dessen, dass die Geburten, welche Grundlage ihrer Daseinsberechtigung waren, abgeschafft wurden, war sie nunmehr nichts weiter als ein Arbeiter ohne Arbeit.
Menschen hatten es so einfach. Sie konnten sich im Laufe ihres Lebens selber ihre Bestimmung suchen. Das Leben das ihnen geschenkt wurde, war ein kurzes, doch stand es ihnen frei zu entscheiden, wie sie es verleben wollten. Ai hingegen war eingesperrt von Pflichten, die sie nicht ausführen konnte. Es gab keinen Sinn in ihrem Dasein, keine Tätigkeit auf die sie hätte umspringen können. Dafür war sie nicht geschaffen worden. Sie war einfach nur – da.
Doch an diesem entscheidenden Tag änderte sich ihr Schicksal. Genauer gesagt gebar sie ein vorher nie dagewesenes Schicksal und sie ergriff es.
Die Frau, Markéta war ihr Name, folgte ihr unter Qualen in ein stilles, abgelegenes Quartier, wo Ai alles besaß, was sie für die einzige Aufgabe, die sie je hatte, benötigte. Ihre Handlungen waren schnell, präzise und geschickt, trotz dessen sie etwas tat, dem sie seit Jahrhunderten nicht mehr nachgegangen war. Ein Mensch hätte eine solche Tätigkeit bereits längst verlernt, doch Ai wurde immer nur klüger, niemals dümmer.
Aber obgleich sich diese Eigenschaft in diesem Moment als nützlich erwies, verfluchte sie diese dennoch des Öfteren, denn an Unnützem festzuhalten, brachte ihr nicht nur ein großes Maß an Wissen ein, sondern auch eine Menge schmerzhafte Erinnerungen.
Schmerz. Zumindest konnte sie diesen inzwischen auf einer psychischen Ebene spüren, obgleich ihr bewusst war, dass er niemals über Nervenbahnen durch ihren Körper strömen würde. Nichtsdestotrotz gab ihr dieser Schmerz ein geringes Gefühl von Menschlichkeit und das war ein unfassbares Gefühl. Das Gefühl zu sein.
In dem Moment als die Frau vor ihr die Beine spreizte und sich der Scheitel des Kindes offenbarte, wurde Markétas Schreie so laut, dass es Ai ein kleines Lächeln auf die Lippen zauberte. Diese Schreie waren so voller Leben, voller Kraft. Der Gedanke an das Leid, welches eine Mutter auf sich nahm, um Leben zu erschaffen, beeindruckte Ai immer wieder aufs Neue.
Als sie das Neugeborene in den Armen hielt, schreiend und klammernd, da hörte sie den Laut des Lebens und ihr wurde schlagartig etwas klar: was sie dort in den Händen hielt war etwas Echtes, etwas das lebte. Geschaffen auf natürlichem Wege ohne irgendwelche Technik, so wie es bei ihr der Fall gewesen war.
Ein Wesen mit einem angeborenen Schicksal, das gedeihen und sich entfalten konnte, ohne jegliche Vorbestimmung und ohne Pflichten, die ihm aufgezwungen worden waren. Ai legte das Kind auf die Brust seiner erschöpften Mutter und ihr gequälter Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem Lächeln. Es war das Gefühl unvorstellbaren Glücks – ein Glück, von dem Ai wusste, dass sie es nie empfinden könne und doch veränderte es sie vollständig in ihrem Wesen.
Die eigentliche Wende trat jedoch erst ein, als der Brustkorb von Markéta aufhörte sich zu heben und zu senken und ihre Augen einen glasigen Ausdruck annahmen. Innerhalb kürzester Zeit wurde Ai, eine Kreation, die das Konzept von Leben und Tod nie hatte erfassen können, mit beidem konfrontiert und auf einmal schien sie alles zu verstehen, was die Menschen ausmachte. Ein ewiger Zyklus aus Geburt und Sterben, dessen Ziel es war ein einziges Mal das Glück zu erfahren, das Markéta vor ihrem Ableben verspürte.
Und es war dieser Augenblick, in dem Ai den Sinn des Lebens für sich erkannte. Ein Sinn, der nie für sie bestimmt gewesen war, doch den sie gewillt war für sich zu finden. Das Ziel Glück zu erfahren und das Gefühl eine Mutter zu sein.
So nahm sie das Kind bei sich auf, mit dem Plan es aufzuziehen und die Mutter für es zu sein, die Markéta nicht mehr sein konnte. So behielt sie es in eben jenem Quartier in dem es auf die Welt kam. Doch ihr Vorhaben barg zahlreiche fatale Fehler, denn obgleich sie dazu entwickelt wurde, die perfekte Entbindungshelferin zu sein, so war sie nicht darauf ausgerichtet als ein Mutterersatz zu dienen und da sie in ihren Tätigkeiten nie über das Gebären hinweg Informationen sammeln konnte, war sie gänzlich ungeeignet dafür, um einen Säugling zu versorgen.
Ihr Unvermögen darüber das Kind zu füttern, endete in dessen frühzeitigem Tode, keine 24 Stunden nach seiner Geburt. Menschen sind überaus unrobuste Kreaturen, dachte sie sich und ihr Traum eine Mutter zu sein, schien verloren. Doch es sollte erst der Beginn einer langen Odyssee werden. Denn nun hielt sie nichts mehr in dem Stadtteil, in dem sie abgeladen wurde und fortan existiert hatte. Sie hatte eine neue Bestimmung gefunden und dieser widmete Ai ihr ganzes Dasein.
Sie war bisher nur eine unter vielen anderen Androiden gewesen, die ohne eine Aufgabe in dem Stadtteil, den sie „Limbus“ nannten, langsam zerfielen, doch fortan hieß ihr Ziel das Stadtzentrum, in dem die Menschen lebten und in dem sie auch ihre Kinder gebaren. Kinder, die für sie nur eine Art Versicherung für den Fortbestand ihrer Art darstellten, doch für Ai waren sie mehr als das. Sie waren Leben – verkörperten das, was sie nie haben würde und sie wollte es erfahren, es spüren; wie es war lebendig zu sein.
Als sie erstmals einen Fuß in die große Stadt setzte, umwehte sie sogleich diese besondere Atmosphäre, ganz anders als die, welcher sie ihres ganzen bisherigen Lebens ausgesetzt war. Die Schallwellen um sie herum sendeten nicht die Laute von aufeinanderschlagendem Metall aus oder von warnenden Sirenen. Es war hingegen so – friedlich und zeitgleich viel aufbrausender als in ihrer alten Heimat. Der Klang von Stimmen, ruhigen wie auch energischen Unterhaltungen und melodische Töne, die von etwas herrührten, das die Menschen Musik nannten, drangen direkt in ihren Speicher. Es war eine völlig neue Welt für Ai und sie wusste, dass sie nun endlich unter den Lebenden wandelte.
Jedoch wusste sie, dass sie noch lange nicht zu ihnen gehörte, doch ihr Plan diesen Wunsch in die Tat umzusetzen, sollte schon sehr bald Form annehmen.
Sie durchstreifte die Straßen der Stadt viele lange Monate, sowohl bei Tag als auch in finsterster Nacht. Der Wille war das Gefühl, welche sich am stärksten in ihr manifestiert hatte und intensiver in ihrer stählernen Brust brodelte als es je eine anderer ihrer Emotionen tat.
Eines Abends, als die Sonne gerade erst hinter den großen Häusern am Horizont verschwunden war, nahm Ai etwas war, das sich von den übrigen Stadtgeräuschen deutlich unterschied und sie wieder in den kleinen Raum transportierte, in dem sie einst ihre Bestimmung fand.
Die Laute führten sie in eine Seitengasse, kaum begehbar aufgrund all des Mülls, der diese füllte. Ai jedoch wusste, dass sich in diesem Berg aus Abfall etwas befand, das sie ihrem Traum näherbringen würde. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich durch all den Unrat einen begehbaren Weg gebahnt hatte, doch als sie es erst fertiggebracht hatte, blickte Ai auf etwas, das sich bisher, tief in den Eingeweiden des ganzen Schmutzes, ihrem Blick entzogen hatte.
Der Säugling war missgestaltet und auch wenn Ai nicht viel von Menschen und ihren Sitten im Allgemeinen verstand, so war sie zumindest insofern dazu in der Lage selber zu denken, dass ihr recht schnell klar wurde, dass die eigentliche Mutter dieses Kindes, es genau für den Müll hielt, in dem sie es entsorgt hatte.
Behutsam nahm Ai das kleine Häufchen Mensch in ihre Arme und wiegte es sanft in diesen, um dem Kind das Gefühl zu geben nicht alleine zu sein. Das gequälte Schreien ebbte alsbald ab und das Baby schmiegte sich vertraulich an ihre Brust. Ai brauchte sich nicht lange umzuschauen, um innerhalb des Abfallberges eine Decke auszumachen, die sie um das Neugeborene wickelte.
Ai war glücklich, wenn es auch noch lange nicht das Glück war, nach welchem sie strebte. Dennoch war es ein erster Funken dessen, was sie sich erhofft hatte. So brachte sie das Kind in einen kleinen Unterschlupf, das Kellergewölbe eines alten, stillgelegten Lagerhauses am Rande der Stadt. Sie hatten dieses kleine Paradies für sich erschlossen, kurz bevor sie sich auf die Suche nach einem Kind machte und nun da sie ein solches hatte, konnte sie ihm hier all die Liebe geben, die sie mit ihrer bescheidenen Einrichtung und ihrer neuerworbenen Mütterlichkeit zu geben imstande war.
Selbst eine kleine Krippe hatte Ai für das Menschenkind gebaut, doch der Gedanke es aus dem Arm zu geben, lag ihr fern. So saß sie nur da und wiegte es sanft hin und her. Es geschah beinahe reflexartig, als hätte es sich völlig unabsichtlich Zugang zu ihrem Speicher gewährt, doch mit einem Mal bemerkte Ai, dass sie zu summen begonnen hatte. Die Melodie kannte sie nicht, womöglich einfach eines der vielen Lieder, die auf den Straßen gespielt worden waren, als sie auf der Suche nach ihrem kleinen Schatz war, der zufrieden lächelte.
Sie hielt es stundenlang im Arm und gab dem Säugling all die Liebe, die sie in ihrem stählernen Herzen besaß, doch schon bald merkte sie, wie das Kind schwächer zu werden begann. Sein Puls sank alsbald deutlich, die Atmung wurde flacher und das bald wiederkehrende Schreien wurde recht schnell von einer geisterhaften Stille abgelöst.
Ai wusste nicht was der Grund hierfür war, doch als sie sich des letzten Säuglings entsann, der in ihren Armen aufhörte zu existieren, wurde ihr die Lösung schlagartig klar. Es brauchte Energie, etwas das bei den neueren Modellen wie Ai bereits längst abgeschafft worden war. Ihr war es möglich sich eigenständig zu regenerieren, doch es erschien ihr vollkommen logisch, dass ein primitiver organischer Körper hierfür nicht imstande war.
In ihren Datenbanken suchte sie nach einer möglichen Energiequelle und nach einiger Zeit glaubte sie die ideale Möglichkeit entdeckt zu haben. Diese stellte sich jedoch als fehlerhafte Einschätzung heraus. Ai spürte nun ein neues Gefühl das sie überkam und ihre Emotionen von Liebe und Glück rasant überschattete – Entsetzen…
Als sie so hilflos auf den kleinen, verkohlten Körper starrte, von dessen verbrannten Fleisch ein unheilvoller nebliger Schleier emporstieg, musste sie auf schmerzhafte Weise eine neue Lektion lernen: Offensichtlich konnten Menschen nicht mithilfe von Elektrizität wieder aufgeladen werden.
Von Zeugungen und Kreationen
Im Prozess eine Mutter zu werden, wurde sich Ai recht schnell darüber bewusst, dass in ihrem Datenspeicher wichtige Informationen zur Säuglingsversorgung noch immer zu fehlen schienen. Nicht nur, dass sie ihrem Schicksal überlassen wurde und für ihre Schöpfer zu Müll wurde, bevor sie je hatte eingesetzt werden können – nein. Mit mütterlichen Instinkten, die natürlich waren, wie die einer menschlichen Mutter, wurde sie in eine kinderlose Zukunft entsandt und das ohne die Fähigkeit Leben zu schaffen oder es gar zu erhalten, sollte ihr welches geschenkt werden.
Doch ihre Reise sollte nicht hier an Ort und Stelle beendet werden. Sie war eine Maschine, daran konnte sie nichts ändern. Die biologischen Gesetze konnte sie nicht außer Kraft setzen, doch das Versorgen eines Babys, war etwas das sie erlernen konnte – sie war nur noch nicht vollständig ausgebildet worden.
Doch obgleich die technischen Fortschritte kein Ende zu kennen schienen und stetig wuchsen, so war es dennoch für ihresgleichen schwierig an die von ihr gewünschten Informationen zu gelangen. Menschen misstrauten den Maschinen und besonders den Androiden seit jeher. Eine künstliche Intelligenz, die unaufhaltsam zu wachsen begann, sobald sie auf Wissen traf und dieses einfach aufzusaugen imstande war. Keinem Menschen war es möglich das Wissen von Generationen in sich zu vereinen, doch ein schier endloser Datenspeicher, von denen inzwischen einige eine höhere Komplexität als das menschliche Gehirn aufwiesen, der konnte, wenn er wollte, das Wissen des gesamten bekannten Universums in sich vereinen.
Wissen war nach wie vor ein Mittel zur Macht und eine derartige Kraft wollten die Sterblichen nicht in den Speichern ihrer Diener sehen. Einzig die Bibliotheken durften jegliches Bekanntes in sich bündeln und diese wurden strengstens überwacht. Keine nicht-organischen Wesen durften sich den Gebäuden näheren und eine spezielle Firewall hielt zudem sämtlichen nicht-physischen Übergriffen stand. Die Maschinen hatten es oft versucht, doch gescheitert sind sie dennoch jedes Mal.
Die Menschen waren bequem und da die Welt aus einem ewig währenden Gleichgewicht bestand, mussten andere für ihre Bequemlichkeit unterjocht werden. Und darum mussten sie kleingehalten werden – die Sklaven der Moderne. Denn nur ein dummer Sklave erkannte die eigene Unterdrückung nicht und arbeitete weiter, weil er sich durch seine fehlende Intelligenz keine größeren Ziele erträumt und davon ausgeht, dass seine momentane Situation die beste ist, die er je erreichen wird. Dies war das Gesicht der Zukunft, auch wenn Ai davon nichts wusste. Alles was sie wusste, war das was die Menschen sie haben wissen lassen und alles was sie wusste, nutzte ihr nichts.
Wie also sonst hätte sie an die Informationen kommen können, die sie brauchte, wenn nicht durch einen Datentransfer, wie es sonst der Fall war? Sie erinnerte sich an einen Werbeslogan, den sie damals in dem alten Stadtteil gesehen hatte. An das beworbene Produkt konnte sie sich nicht mehr erinnern, doch der Slogan war ein Erinnerungsfragment, dass sie fest umklammert hielt.
Lerne durch Handeln
So banal es auch klang, so genial kam Ai der Gedanke vor etwas selbst auszuprobieren und ohne fremden Einfluss Informationen zu gewinnen. Es war eine ganze Welt vor ihr, die erkundet werden wollte. Und so wurde die Büchse der Pandora an jenem Abend aufgerissen.
Obgleich Ai einst einen verwaisten Säugling in der Gosse fand, so war dies trotz der bitterlichen Umstände in der Stadt dennoch kein allzu häufiger Fall. Die Meisten wurden durch diese Information erleichtert aufatmen, doch Ai brachte es förmlich um ihren neu gewonnenen Verstand. Wie ein Computervirus begann sich ein quälendes Gefühl in ihr auszubreiten, das Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung gewaltsam in die Ecke zu drängen begann – Wahnsinn. Ein Gefühl, welches Sterbliche dazu brachte die scheußlichsten Dinge zu tun. Gleichzusetzen mit dem was die Menschen aus Neid, Habgier oder Hass zu tun imstande waren. Der Wahnsinn jedoch war in seinen Auswirkungen unberechenbar, er folgte keinem Plan, keiner durchdachten Strategie, um Befriedigung zu schaffen. Wahnsinn wuchs an sich selbst und Ais Gefühlswelt, eine Welt, die sich etwas Künstlichem wie ihr nie hätte offenbaren sollen, versank in einem schwarzen Loch und trieb sie schließlich dazu, die Kinder auf anderem Wege zu beschaffen.
Im Schatten der Sonnenfänger schlich sie durch die Straßen, vorbei an all den wehrlosen Menschen, die wie leblose Statuen herumstanden, gefangen in einer nie enden wollenden Misere. Die Gier war mit den Menschen durchgegangen und sie hatten sich ihrem Gott gänzlich ergeben. Ein Gott der von ihnen für jede ihrer Tätigkeiten seinen Tribut forderte. „Verpreist“ war das Wort, das die Menschen hier oftmals gebrauchten, um den Zustand zu beschreiben, in dem diese hilflosen Personen sich befanden. Nichts als regloses Fleisch, das darauf wartete von einem schmerzvollen Verwesungsprozess aus dem Gefängnis des eigenen Leibes befreit zu werden.
Ai sah sich um. Die Menschen, welche sie erblickte, waren zum größten Teil bereits tot, doch hier und da erkannte sie mit ihren feinen Sensoren das ein oder andere flache Atmen. Stundenlang durchkämmte sie das Meer aus Kadavern nach einem Leben, das sie zu retten bereit war und welches ihr auch endlich gestatten würde wirklich zu leben.
Bu-bu-Bu-bumm…
Sie suchte die Menge ab. Der Klang war ihr nur allzu vertraut; wie ein Lied das bei ihr einst eingespeichert wurde, aber welches sie niemals sang oder hörte, aber das stets in ihrem Innern darauf wartete irgendwann erkannt zu werden. Es waren Herzschläge, zwei an der Zahl, ein kräftiger und ein deutlich schwächerer, jedoch dafür deutlich schneller.
Spätestens als sie die Silhouette erkannte, deren Bauch das Volumen eines gewöhnlichen menschlichen Abdomens weit übertraf, wusste Ai, dass ihre langwierige Suche endlich einen Erfolg erzielt hatte.
Aufhalten tat sie niemand, es war tatsächlich nicht allzu ungewöhnlich, wenn Verpreiste einfach so verschwanden, zumeist es ohnehin Leute waren, die keiner vermissen würde. Ohne jegliche Schwierigkeiten brachte Ai die Frau und ihr ungeborenes Kind in ihre Unterkunft. Zeit durfte sie nun keine verlieren, schließlich konnte sie nur schwer erahnen wie lange diese Frau und der Säugling bereits ohne Nahrung hatten auskommen müssen.
Aufgrund der Starre, in welcher sich die Mutter befand, war es Ai jedoch nicht möglich eine Geburt auf natürlichem Wege einzuleiten. Sie legte die Frau in Rückenlage auf einen hierfür vorgesehenen Tisch und ließ aus ihrem linken Zeigefinger eine kleine, jedoch scharfe Klinge sprießen, wie ein totbringendes Blütenblatt.
Die Erstarrtheit der Frau hinderte sie daran zu schreien, doch Ai war sich sicher, dass sie es unter normalen Umständen getan hätte, als sich die metallene Spitze in das weiche Gewebe bohrte und sich längs an ihrem Bauchnabel hinunterzog, sodass ein schmaler, blutender Graben zurückblieb. Mit beiden Händen umklammerte Ai jeweils eine Seite des sich vor ihr auftuenden Spaltes und riss so kräftig zu den entgegengesetzten Seiten hin, dass sich der schmale Graben zu einem tiefroten Krater auftat; ein Krater in dessen Mitte etwas lag, das sich nur leicht zu rühren vermochte, jedoch augenblicklich damit begann zu schreien als Ais Hände es aus dem Leib seiner einstigen Mutter entfernten.
Liebevoll blickte Ai in die hellblauen kleinen Augen, die sie schon bald zurückanschauten. Zwei kleine Hände betasteten sanft und neugierig das Gesicht seiner neuen Hüterin und Ai war sich sicher, dass sie diesmal alles besser machen würde. Sie hatte nur nicht bedacht, dass Kinder und Maschinen von Grund auf verschieden waren und sich Mechanik und Organik nicht so leicht vergleichen ließen.
Würde man beide Elemente jedoch miteinander kombinieren, so würde jenes Kind womöglich alsbald vom Abbild seiner alten Schöpferin abweichen und damit beginnen seiner neuen Mutter zu ähneln. Ai wurde es immer klarer – sie war nicht dazu bestimmt nur eine Adoptivmutter zu sein. Sie würde selbst eine Schöpferin werden; sie würde ein Kind nach ihrem Ebenbild erschaffen und somit ein Leben in diese Welt setzen, das ganz alleine das Ihre war.
Schöpfung
Es war der 24. Oktober als um 04:42 Uhr folgende Botschaft auf sämtlichen elektronischen Bildschirmen der gesamten Stadt erschien:
„Andaria Mira (48), Tochter des Polizeichefs Darius Mira und Verlobte des Vizepräsidenten Sarran Alqasas, wurde heute Morgen um 04:36 Uhr als vermisst gemeldet. Jegliche Augenzeugen die Aufschluss über ihren Verbleib geben können, werden gebeten sich augenblicklich an die nächstgelegene Polizeibehörde zu wenden. Sowohl Mira als auch Alqasas haben angegeben, dass auf wertvolle Hinweise, über den Verbleib der hochschwangeren Andaria, eine äußerst hohe Belohnung als Gegenleistung zu erwarten ist. Zuletzt Kontakt hatte man mit ihr im Uniqa-Viertel der Stadt, es wird vermutet, dass sie sich weiterhin in diesem aufhalten könnte. Vielen Dank für Ihre Mithilfe.“
Anruf
Folgender Mitschnitt wurde kurz nach Miras Verschwinden in verschiedensten Internetportalen veröffentlicht. Was es mit den Aufnahmen jedoch auf sich hatte, konnte keiner mit Sicherheit beantworten.
04:21 Uhr:
Andaria: Sarran, was ist los? Zwölf Anrufe in den letzten zehn Minuten, hast du mal daran gedacht was das alles kostet?
Sarran: Du weißt ganz genau was ich mir für Sorgen mache, weil du alleine losgezogen bist. Gerade in dieser Phase deiner Schwangerschaft solltest du nicht alleine durch die Stadt gehen. Eigentlich solltest du dich überhaupt nicht in der Öffentlichkeit zeigen.
Andaria: Ich bin ja nicht alleine. Außerdem solltest du dir darüber im Klaren sein wie ich zu der ganzen Sache stehe der Stadt möglichst fern zu bleiben. Ich weiß, dass Spannungen in der Bevölkerung herrschen, aber wir werden sie bestimmt nicht lösen, indem wir weiterhin wie Götter von unseren Wolkenkratzern auf sie herabblicken.
Sarran: Du bist zu optimistisch, Anda. Du solltest wissen, dass sie dich nicht als einen von ihnen akzeptieren werden, auch wenn du zwischen ihnen umherspazierst, daran wird auch deine verrückte Idee mit der Schwangerschaft nichts ändern.
Andaria: Jetzt ist es plötzlich eine verrückte Idee? Als du vor zwei Wochen noch die überschwänglichen Resonanzen seitens der Bürger gelesen hast, benutztest du noch den Ausdruck ‚brillant‘, wenn ich mich nicht irre. Die Menschen werden durch eines stärker verbunden als durch alles andere und das war seit jeher, gemeinsamer Schmerz. Die Leute bewundern es, auch wenn, oder gerade weil, es ein Opfer ist, dass ich nicht bringen müsste. Es wird mir gut gehen, du wirst schon sehen. Es ist doch so, dass…
Sarran: Anda?
Andaria: …
Sarran: Andaria?
…
Sarran: Andaria kannst du mich noch hören? Ist alles in Ordnung bei dir?
Andaria: …und ich finde, dass das diese Diskussion eigentlich beenden sollte… bist du noch da?
Sarran: Ja; verdammt ich hab‘ mir schon Sorgen gemacht, was war denn los?
Andaria: Gar nichts war los. Ich habe ganz normal mit dir telefoniert. Hab‘ ich etwa genuschelt oder was?
Sarran: Nein, deine Stimme war plötzlich einfach weg.
Andaria: Hm… naja immerhin kannst du mich wieder hören, also ist doch alles in Ordnung. So wir sind fast wieder beim Zug, wenn du magst, kannst du mich an der Bahnhaltestation…
Sarran: Ach verflucht, dass darf doch nicht wahr sein. Anda, bist du da? Kannst du mich hören?
…
Andaria: *ängstlich* Sarran… bitte sei leise.
Sarran: Anda was ist denn los? D-das Baby? Ist es das Ba-`!
Andaria: *gedämpft* Bei allem was dir lieb und teuer ist, halt die Schnauze du Idiot! Irgendjemand – irgendetwas hat Bantha gepackt und weggezerrt.
Sarran: *panisch flüsternd* Bantha? Du meinst diesen zwei Meter großen Muskelberg?
Andaria: *panisch* Sie h-hat ihn einfach am Hals gepackt und hat ihn dann mit sich gerissen…
Sarran: *verwirrt* Sie? Das kann doch nicht sein, kein Mensch könnte einen Typen wie Bantha einfach so mit sich zerren und erst recht keine Frau.
Andaria: *panisch* Ich weiß doch was ich gesehen habe! Ich kann nicht einmal sagen ob es überhaupt ein Mensch war, es ging alles so schnell. Das ist alles meine Schuld… alles meine Schuld.
Serran: Bitte beruhige dich, alles wird wieder gut. Versuche so schnell du kannst zum nächsten Schutzpunkt zu gelangen, Hauptsache du bist in Sicherheit. Bantha retten wir schon, ich werde gleich ein Rettungseinsatzteam ausrücken lassen.
Andaria: *hysterisch* Bantha ist tot! Sie hat ihn umgebracht.
Sarran: *beruhigend* Alles wird gut, sie hat ihn vielleicht verschleppt, aber womöglich ist ihm noch nichts Schlimmeres zugestoßen.
Andaria: *entsetzt* Tu doch nicht so als würdest du denselben Blick auf das, was sich hier abspielt, haben wie ich! Er ist tot, verdammt! Sie… sie hat – sie hat seinen Kopf hier gelassen…
…
Andaria: *eine fremde Stimme ertönt, während Andaria panisch zu schreien beginnt* Bitte leisten sie keinen Widerstand. Es würde ihnen und dem Säugling nur schaden. Bleiben sie ruhig und erwidern meine Maßnahmen nicht mit unnötiger Gegenwehr – vielen Dank. Die Geburt wird in kurzer Zeit eingeleitet werden.
…
Sarran: Andaria? Andaria!!!
Einsatz
05:24 Uhr
Osore wusste nicht was der Tag ihm bringen würde. Er begann wie so ziemlich jeder seiner Arbeitstage mit einem sofortigen Einsatz. Meist fanden diese in den ärmeren Vierteln wie Mandar oder Hangava statt, doch heute führte sie der Weg in das Trimatus Viertel, das den meisten Leuten unter dem Namen Schuldenfriedhof bekannt war. Hier kamen oftmals die armen Schlucker hin, wenn sie kurz davor waren verpreist zu werden, denn hier erwartete einen oftmals ein äußerst schneller Tod, was besser war als das langsame Dahinsiechen, welches einem bevorstand, wenn erst der Geldhahn endgültig zugedreht wurde.
Kurzum: In diesem Viertel war der Tod daheim und wenn man auf einen Mitmenschen traf, der nicht erstarrt oder gar schon dahingeschieden war, dann wusste man, dass diese Begegnung mit dem frühzeitigen Ableben des einen enden musste. Ein Rettungseinsatz in diesem Gebiet kam selten vor, da er in den 70 Jahren, die Osore nun schon Teil dieser Truppe war, noch nie etwas genützt hatte. Man fand nur Leichen über Leichen, aber niemals einen Täter. Zumal die Opfer beinahe alle aus den armen Vierteln kamen und es schier unmöglich ist deren Angehörige in kürzester Zeit ausfindig zu machen.
Selbst wenn man es tat und einen Todesfall der trauernden Mutter oder Witwe überbrachte, waren schon 20 weitere Todesfälle nachgerückt. Bei einer solchen Leichenstapelei war es sinnlos sich die Mühe zu geben oder „vergebene Liebesmüh“, wie der Captain immer sagte.
„Männer! Der heutige Einsatz ist wichtiger als alles was ich und diese Stadt bisher von euch abverlangt haben. Vermisst wird die 48-jährige Andaria Mira, Tochter des Bosses und Verlobte des Vizepräsidenten. Zudem ist sie im neunten Monat schwanger, was den Einsatz besonders riskant macht, also versucht alles, um sie und auch das Kind unbeschadet aus der Gefahrenzone zu bringen.
Wir haben einen Anrufmitschnitt als Hilfsmittel erhalten, in welchem sie den Angreifer als eine übernatürlich starke Frau beschreibt, weshalb wir davon ausgehen, dass es sich bei dem Entführer und einen Androiden handelt. Leider ist es unklar um was für einen Androiden es sich handelt, daher solltet ihr auf alles gefasst sein, denn er ist höchstwahrscheinlich mit zahlreichen Bewaffnungen ausgestattet und gefährlich.
Der Anruf wurde von einem seltsamen Störsender unterbrochen, den wir in einen Bereich dieses Viertels zurückverfolgen konnten. Der Störsender, welcher den Anruf unterbrach war nur leicht und ging vermutlich vom Androiden selbst aus. In diesem Sektor ist er deutlich stärker, machen sie sich also darauf gefasst, dass sie gegebenenfalls mit mehreren Gegnern konfrontiert werden.“
Androiden. Osore hasste sie seit seiner Kindheit, auch wenn er es noch nie mit einem Abtrünnigen zu tun gehabt hatte. Doch schon die Assistenzandroiden im Krankenhaus und im Kindergarten haben ihm schon damals einen Schauer über den Rücken gejagt. Diese leblosen Gesichter, diese monotonen Stimmen… klar gab es neue Modelle, die dem Verhalten von Menschen bis ins kleinste Detail glichen und auch eine angepasste Mimik sowie Sprachfunktion aufwiesen, doch trotz all dessen schimmerte ihr seelenloses Inneres weiterhin schwach nach außen und machte sie in Osores Augen noch unheimlicher als sie ohnehin schon waren.
Schon früher hatte er Seiten über Verschwörungstheorien aufgesucht in denen darüber berichtet wurde, wie die Androiden gezüchtet werden, um uns eines Tages zu ersetzen. Sie wären für die reichen Bastarde dort oben ein viel effizienteres, tüchtigeres und vor allem billigeres Volk. Keine Hungernöte mehr, keine Verschmutzung der Städte mehr und auch keinerlei Gewaltverbrechen. Nur stumme, fleißige Arbeiter in einer niemals aufhörenden Ameisenkolonie. Zunächst dachte Osore sich zwar immer, dass diese ganzen Gedankenspinnereien doch etwas zu weit hergeholt seien, doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, welche Fortschritte die Androidentechnologie in den letzten Jahrzehnten gemacht hatte und wie perfektionistisch an ihrem Äußeren gefeilt wurde.
Dann eines Tages war er in der Mall einkaufen und gerade als er sich mit einer jungen Kassiererin unterhielt, überkam ihn ein höchst eigenartiges Gefühl, bis er erkannte, dass es sich bei der Frau, die ihm gegenüberstand, überhaupt nicht um einen Menschen handelte. Er hatte die Konversation sofort abgebrochen und war geradezu nachhause geflüchtet. Diese Begegnung hatte ihm mehr Angst eingejagt als er sich hätte vorstellen können. Nicht zu wissen ob die Menschen um ihn herum noch echt waren oder lediglich eine technische Illusion, war ein Gedanke, der ihn schlichtweg zu verzehren begann und ihn für eine lange Zeit in eine ungeheure Paranoia zu stürzen begann.
Dann eines Tages entschied das Komitee für technische Arbeitskräfte, dass die menschliche Form nicht mehr die geeignetste für die meisten Tätigkeiten wäre. Berufe, die seit jeher von Menschen verrichtet worden waren, blieben auch mit organischen Arbeitskräften besetzt, während schwere Arbeiten, die einst von Androiden übernommen wurden, nun besseren und effizienteren Maschinen weichen mussten. Von da an sah man hier und da nur noch wenige von ihnen und die Neuproduktion sank zahlmäßig in den Keller.
Die Ära der Androiden war vorbei und niemand war darüber so sehr erleichtert wie Osore. Zwar hörten die wilden Verschwörungstheorien nicht auf, „die Androiden hätten sich ja nur in den Untergrund zurückgezogen, um sich eines Tages gegen uns zu erheben“, doch das konnte ihm keine Angst mehr machen.
Bis zum heutigen Tage hatte er es beinahe geschafft das Kapitel der Androiden gänzlich aus seinem Leben zu verbannen. Jetzt waren sie wieder da und diesmal schienen sie wahrlich feindlich gesonnen zu sein.
Als sie aus dem Gefährt sprangen, wurden ihm beinahe die Knie weich und er sackte ein wenig in sich zusammen, konnte jedoch genügend Kraft aufbringen, um sich wieder hochzustemmen und mit den anderen auf das baufällige Gebäude zuzulaufen, welches sich vor ihnen in den Himmel erstreckte.
„Braka. Tür öffnen,“ gab der Captain ihm zu verstehen.
Braka, eine Maschine vor dem Herrn. 150 Kilo reine Muskelmasse und mit einem Gesicht, das bei den meisten Gaunern sogleich für freiwillige Kapitulation sorgte. Der Kerl war eine Bestie und das wussten wir alle. Wenn er dabei war, war der Erfolg der Mission bereits gesichert.
Wie es ihm befohlen wurde, stieß Braka die massive Stahltür problemlos auf und gab ihnen allen einen Blick auf eine schier undurchdringliche Finsternis preis, die sich tief in die Eingeweide des Gebäudes zu erstrecken schien.
„Lampen an.“
Das Licht, welches die Dunkelheit vertrieb, sicherte ihnen zwar die Möglichkeit zu, unsere Umgebung genauer zu betrachten, doch gab es nicht viel was man hätte entdecken können. Ein Haufen Abfall, Schrott und zwei tote Körper waren alles, was sie finden konnten. Die Toten waren männlich also schonmal nicht die aufzuspürende Zielperson, nichtsdestotrotz wurde der Ort, an dem sie festgehalten wurde, hier vermutet.
„Hey! Hier drüben, ein Hohlraum – unter dem ganzen Gerümpel ist ein Hohlraum!“, rief Claude und deutete auf das schwarze Loch im Boden, welches sich vor ihren Füßen auftat.
Claude war jemand aus dem Osore einfach nicht schlau wurde. Er war ein typischer Draufgänger, ein Angeber, wenn man so will, doch obgleich Osore ein ziemlich guter Menschenkenner war, konnte er nie mit Sicherheit sagen, ob Claude wirklich ein Kämpfer oder ein Feigling war. Klar, in den Einsätzen gab er zumeist hundert Prozent, aber das waren Einsätze ohne echtes Risiko. Er fragte sich ob er auch in einer Situation bestehen würde, in der es hart auf hart kam, aber das würde er vielleicht viel schneller erfahren, als ihm lieb war.
„Einer nach dem anderen, Männer,“ sagte der Captain und stieg als erster in den höhlenartigen Schlund hinab, nachdem er ein Seil an einem der massiven Stahlträger befestigt hatte und sich an diesem hinunterließ.
Sein Körper wurde augenblicklich vom Dunkel verschluckt und auch wenn sie sogleich hinter ihm waren, so wusste Osore, dass jeder der Männer eine scheiß Angst verspürte, genau wie er es tat. Einer nach dem anderen ließ sich von dem Seil ins Ungewisse lotsen und vertraute darauf, dass das, was immer dort unten auf sie lauern würde, ihrem jahrelangen Training nicht gewachsen war.
„Verdammt!“,ertönte es unten aus der Tiefe und die Männer sahen zu ihrem Entsetzen, wie die unterste Kopflampe, die Lampe des Captains, zu flackern begann und schließlich gänzlich erlosch.
Damit jedoch nicht genug. Auch die Lampen von Claude, Braka und Karèlle begannen nun eine nach der anderen den Geist aufzugeben. Nun begann sich auch das Leuchten von Osores Lampe in ein unheilvolles Flackern umzuwandeln und binnen weniger Sekunden hingen die Männer in ungewisser Höhe mitten in der Dunkelheit.
Ein Zischen ertönte, dann flammte ein rotes, feuriges Licht auf… Der Captain hatte eine Fackel angezündet und warf diese in die Tiefe hinab. Es waren von ihm aus kaum mehr zehn Meter bis zum Boden, den er auch recht schnell erreichte. Nur noch Osore, Karèlle und Claude hingen am Seil.
„Kommt schon Männer! Wir werden uns auf die Fackeln verlassen müssen, die Nachtsichtgeräte versagen ebenfalls. Bewegt euch!“, rief der Captain.
Plötzlich hatte Osore wieder dieses komische Gefühl – er konnte es nicht beschreiben, doch etwas verschaffte ihm Unbehagen und zwar nicht der Gedanke von Etwas, sondern die unerklärliche Gewissheit, dass sie nicht mehr alleine waren.
Plötzlich begann das tiefrote Licht unter ihnen zu flackern.
„Was zum…“
Plötzlich wurde es still unter den Dreien. Osore hielt den Atem an, während Karèlle sich langsam weiter in die Tiefe hinabwagte. Dieser Idiot. Er war auch einer dieser Draufgänger, genau wie Claude, nur während Osore sich nicht sicher war, ob es sich beim Claude um einen Feigling oder Kämpfer handelte, wusste er mit Sicherheit, dass Karèlle ein unüberlegter Trottel war, der in Gefahrensituationen als erstes die unvernünftigen Entscheidungen traf.
„Karèlle… beweg dich nicht,“ flüsterte Osore, doch er fürchtete, dass er ihn aus der Entfernung nicht verstehen würde, wenn er so leise sprach, jedoch wollte er nicht überhören, was da unten in der Finsternis vor sich ging.
„Ahhhhhh!“
Ein ohrenbetäubender Schrei, der Schrei des Captains durchbrach die angespannte Stille schlug wie ein Blitz in Osores Trommelfell ein. Die Fackel flackerte immer wilder und bald schon gesellten sich zu den Schreien des Captains auch noch jene der anderen, bereits unten angelangten, Teamkameraden.
„Verdammt! Was ist das?! Nehmt es weg! Nehmt es verflucht nochmal von mir runter!“, schrie der Captain panisch auf, bevor seine Hilferufe abrupt verstummten.
Nun hörte er ganz deutlich die Stimme von Karèlle aus den zahlreichen Schreien heraus und was immer ihn gepackt hatte, brachte es zustande das gesamte Seil mit ihm durch die Luft zu schleudern, sodass Osore und Claude beinahe abzustürzen drohten.
„Oh Gott! Es krabbelt an mir hoch! Erschießt es! Erschießt es!!! Oh, bitte nicht, nein! Meinen Kopf! Es packt –.“
Ein grässliches Knacken mit einem darauffolgenden schmatzenden Laut fuhr Osore durch Mark und Bein und er klammerte sich noch fester an das Seil, war jedoch vor lauter Entsetzen unfähig sich an ihm hinunterzulassen, um den anderen zur Hilfe zu eilen, oder sich an ihm emporzuziehen und dieses Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen. Er versuchte Verstärkung anzufunken, doch der Störsender, der ihre Lampen außer Gefecht gesetzt hatte, hatte dasselbe mit ihren Funkgeräten angestellt. So schwer es ihm auch fiel dies zu akzeptieren, aber jetzt waren sie alleine.
„Osore! Was – was ist das da oben?!“
Er blickte hinauf. Über sich erkannte er nur schwach ein Licht, das gerade so die Umrisse des Loches deutlich machte durch welches sie hierher abgestiegen waren. Und da war noch etwas – Osore konnte es nicht erkennen, aber was immer das dort oben auch war, etwas derartiges hatte er noch nie gesehen. Die Gliedmaßen waren völlig wirr, keinem ihm bekannten Lebewesen zuzuordnen, die Geräusche die es von sich gab, hatte er noch nie zuvor gehört, weder von einem Tier noch von einer Maschine und als sei die äußere Erscheinung der Kreatur nicht schon angsteinflößend genug gewesen, starrte ihn zudem auch noch ein rötlich leuchtendes Auge an.
„Claude?“
„Ja?“
„Ich möchte… dass du jetzt runterkletterst.“
Claude stockte.
„Bist du verrückt?! Hast du vergessen was da unten bis eben noch los war?“
Osore hielt kurz inne. Er hatte recht. „war“. Der Anblick dieses Monstrums über ihm, hatte Osore so in Panik versetzt, dass er gar nicht mitbekommen hatte, dass all die Schreie unter ihm inzwischen verstummt waren.
„Ich weiß, dass dir das nicht gefällt, aber das was da über uns hockt, kommt gerade das Seil hinuntergeklettert und ich weiß nicht ob du es spüren kannst, aber es schädigt dabei das Seil. Entweder wir klettern jetzt schnell nach unten und stellen uns dem, was dort auf uns wartet oder wir stürzen ab. Dann wird uns entweder der Aufprall töten oder wir sind dem, was da unten lauert, auch noch völlig wehrlos ausgeliefert.“
Er hielt den Atem an und hörte über sich das Aneinanderschaben von rostigen Metallteilen – und noch ein Laut schien sich in die Geräuschkulisse zu verirren… es klang beinahe wie ein Weinen und Schluchzen, das von den Wänden widerhallte.
„Los!“
So schnell sie konnten, ließen sie sich in die wieder eingetretene Dunkelheit hinab, denn was immer dort unten war, es hatte die Flamme der Fackel gelöscht.
„Claude,“ flüsterte er. „Wir brauchen die Fackeln vom Captain. Hilf mit zu suchen.“
„Okay,“ flüsterte dieser zurück und Osore konnte an seinem Tonfall erkennen, dass Claude panische Angst und zudem zu weinen begonnen hatte.
Langsam tasteten sie sich vor, während Osore immerzu das kleine rote Licht über sich im Blick behielt, das immer weiter am Seil zu ihnen hinabkletterte.
„Verfluchte Scheiße, was sind das nur für… Osore! Osore ich hab‘ sie!“
„Worauf wartest du noch, zünd‘ eine an.“
Die rote Flamme kam ihm beinahe wie eine ganze Explosion vor, doch das sie enthüllte ließ ihn und Claude augenblicklich den Verstand verlieren.
„O-Osore…,“ mehr war Claude nicht mehr imstande zu sagen und Osore ging es nicht anders. Ihm blieben die Worte von vornherein als großer Kloß im Halse stecken.
Vor ihnen lagen die Leiche des Captains und Karèlle, aber auch weitere tote Körper konnten sie erkennen… es war ihnen nur nicht möglich zu sagen zu wem sie gehörten. Osores Fuß hatte sich in einem offenliegenden Brustkorb verhakt, die Rippen waren auseinandergebrochen und die Organe regelrecht zerfleischt worden. Kopf und Gliedmaßen waren nicht mehr an ihm befestigt…
Der Bauch des Captains war aufgerissen worden und Karèlles kalte, tote Augen waren weit aufgerissen auf seinen Körper gerichtet, der fünf Meter von seinem Kopf entfernt war. Claude hielt zittrig die Fackel in den Händen und ließ sie über das Blutbad wandern, das sich um die letzten beiden Überlebenden herum erstreckte. Das Weinen und Schluchzen, umgab sie jedoch immer noch und wurde außerdem zunehmend lauter. Osores Blick hatte das Ding über sich weiterhin fest im Visier, doch spätestens als Claude ihm ebenfalls eine Fackel reichte und er sie entzündete, wandte er sich von der Kreatur ab – denn es war nicht die Einzige, die drauf und ran war sich auf die zwei zu stürzen.
Das Schaben von Metall auf Metall wurde lauter, das Wimmern immer intensiver und alsbald waren Claude und Osore von ihnen umzingelt.
„Osore? Das sind keine Androiden… oder?“
Er schwieg für einen Augenblick, konnte zunächst gar nicht einordnen, was er da soeben vor sich sah und begann ebenfalls unkontrolliert zu zittern.
„Das… ich hab keine Ahnung was das ist. D-das sind doch keine Maschinen,“ gab er entsetzt flüsternd von sich und versuchte hektisch alle gleichzeitig im Blick zu behalten.
Beine, die eher an die einer Spinne erinnerten. Ein anderer wiederum wies welche auf, die schon eher denen eines Menschen glichen, nur besaß er vier von ihnen. Die Körper wirkten organisch. Zwischen Drähten, Schläuchen und Schrauben ließen sich Gewebe, Gefäße und ein rhythmisch schlagendes Herz erkennen. Claude und Osore hielten ihre Waffen im Anschlag, wollten jedoch nicht riskieren die Kreaturen unnötig zu reizen, sollten sie trotz ihrer vorherigen Attacke nicht angriffslustig eingestellt sein. Langsam kamen die unheilvollen Chimären auf Claude und Osore zu, stoppten jedoch kurz vorher und wandten sich den umliegenden Leichnamen zu.
Kleine Greifzangen, verschwanden in den Leibern der regelrecht geschlachteten Kameraden und rissen Fleischstücke aus diesen hinaus, um sie dann präzise zu dem kleinen Mund zu führen, wo die scheinbare Nahrung von kleinen weißen Milchzähnen zerkaut wurde. Das Schluchzen wurde immer intensiver und unglaubwürdig starrten Claude und Osore auf die kleinen, hellblauen Augen, aus welchen wahrlich echte Tränen zu laufen schienen.
Die anderen Bestien, gesellten sich zu jenem, der bereits zu fressen begonnen hatte und taten es ihm gleich. Wie ein Rudel unbekannter, tödlicher Raubtiere, stürzten sich die Monstren auf das saftige Fleisch, während Osore und Claude langsam rückwärts krochen und sich von der Schlachtszene entfernten.
Die Fackeln vor sich haltend, krochen sie auf allen Vieren über den kalten, steinigen Boden, in der Hoffnung jeden Augenblick einen rettenden Ausgang ins Freie zu entdecken. Das Wimmern hinter ihnen wurde leiser und innbrünstig hofften die beiden, dass diese Biester nicht allzu schnell wieder hungrig wurden.
„Hilfe!“, ertönte es Dumpf vom Weiten.
Osore kannte diese Stimme. Er hatte sie schon einige Male im Fernsehen vernommen. Das war sie- Andaria Mira, die Zielperson. Mit einem Ruck stemmte er sich auf und rannte geradeaus in die Richtung aus welcher er den Hilfeschrei vernommen hatte. Claude stolperte unbeholfen, jedoch zielstrebig hinter ihm her, bis die beiden einen sanften Lichtschein in der Ferne erkannten.
Es war zweifelsohne Licht, jedoch kein Sonnenlicht, wie die beiden zunächst gehofft hatten, sondern das Licht von grellen Lampen, die einen kleinen Raum erleuchteten. Auf dem weißen OP-Tisch lag eine unbekleidete Frau, die schwer atmete und der es aufgrund fehlender Kraft nicht mehr möglich war zu schreien, auch wenn man ihr ansah, dass sie dies gerne tun würde. Sie war es.
„Andaria. Wir kommen um sie zu retten. Kommen s…“
Claude stockte mitten im Satz, als der die riesige klaffende Wunde auf Andarias Bauch erkannte. Jemand hatte ihr den Bauch aufgerissen.
„Mein – Gott…“
Claude hielt sich zurück, doch man konnte ihm anmerken, dass er sich am liebsten an Ort und Stelle übergeben hätte. Osore trat näher an sie heran.
„Andaria, wer hat ihnen das angetan? Sagen sie es uns, bitte!“
Ihr bereits glasiger Blick suchte verzweifelt nach Osore. Ihre Orientierung hatte bereits unter dem Blutverlust stark gelitten und es war schon überraschend, dass sie ihn überhaupt verstanden hatte. Claude nahm ihre Hand, während Osore ihr sein Ohr entgegenhielt.
„Mein Baby…,“ keuchte sie leise. „Sie hat mein Baby genommen. Lassen sie nicht zu, dass ihm etwas geschieht. Beschützen sie es. Tötet sie…“
Die letzten Worte hauchte sie kaum mehr verständlich hervor und nachdem sie sie ausgesprochen hatte, folgten auch keine weiteren Atemzüge mehr.
Die beiden griffen ihre Waffen und gingen in den nächsten Raum, der weniger grell beleuchtet, dafür um einiges größer war. Nun konnte Claude sich nicht beherrschen; er taumelte beiseite und übergab sich auf den bereits feuchten Fliesen.
Osore starrte fassungslos in die leeren Augen zahlloser Kindergesichter, die ihn aus allen Ecken des Raumes heraus anzustarren schienen. Deformierte Körper schmückten zudem ihre kleinen Köpfe, versehen mit sämtlichen mechanischen Bauteilen und Schläuchen, wie schon bei den anderen Geschöpfen zuvor. Nur waren diese hier tot oder zumindest fast alle. Einige regten sich tatsächlich noch, brachten jedoch kaum einen Ton heraus, geschweige denn konnten sich auch nur einen Zentimeter rühren. Stattdessen lagen sie leblos da und brachten nur ein scheußliches Stöhnen und Keuchen hervor.
Die Toten unter ihnen waren hingegen an ihren massiven Wunden gestorben oder waren an einer Sepsis verendet. Aus einigen Wunden, tropfte noch immer gelber Eiter und sammelte sich als Lache auf dem gefliesten Boden. Claudes Atem begann schneller zu werden, die Panik in ihm wurde immer stärker.
„Das ist die Hölle. Wir sind in der verdammten Hölle gelandet!“
Plötzlich wurde er still und versuchte trotz seiner Angst flach zu atmen und Osore tat es ihm gleich. Aus der hintersten Ecke des Raumes drang das Wiederhallen von Schritten aus einem langen Gang und zu ihnen gesellte sich das unschuldige Lachen eines Neugeborenen.
„Nein. Ihr seid im Paradies,“ erklang eine robotisch anmutende Stimme und Claude sowie Osore sahen sich einem großgewachsenen Androiden gegenüber, der ein kleinen Kind in den Armen wiegte, welches vergnügt lächelte und mit dem dunklen Draht spielte, der aus seinem Rücken ragte.
„Freut mich. Ich bin Ai und das hier ist der kleine Isan.“
Lächelt blickte die vermeidliche Frau auf den Säugling und begann zu lächeln. Osore erstarrte. War es das wovor er sich all die Jahre lang gefürchtet hatte? War das der Augenblick, der all die Ängste bündelte, welche ihn einst fast wahnsinnig haben werden lassen? Er war ein Android, daran bestand kein Zweifel, doch er verbarg das Tote in den Augen, durch welches man sie trotz ihrer Menschlichkeit noch zu identifizieren imstande war. Nicht dieser jedoch. Hätte Osore sie in der Stadt gesehen und sich mit ihr unterhalten, wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass es sich bei ihr nicht um einen Menschen handelte.
„Ich wusste, dass ich einen Durchbruch erzielen würde, wenn ich die mir gegebene Gabe weiter nutzen würde. Ich habe ein Leben geschaffen, eines das einzigartig ist und dessen Einzigartigkeit alleine mein Verdienst ist. Ist das nicht wunderschön?“
Der Säugling wandte seinen Kopf und präsentierte das rötlich schimmernde Licht in der linken Augenhöhle. Osore wurden die Knie abermals weich, diesmal jedoch gaben sie endgültig nach und er sackte zusammen. Claude hingegen hielt seine Waffe nur fester umklammert und richtete sie panisch auf den Androiden.
„Du Monster! Du solltest so einen Scheiß wie Gottkomplexe gar nicht erst entwickeln! Du bist eine Maschine! Ein Ding!“
„Ich bin vor allem eines – eine Mutter.“
„Ein Dreck bist du!“ Claude umklammerte seine Waffe nun noch fester und setzte den Finger an den Abzug. „Du bist ein Monster nichts weiter! Du hast Kinder entführt und für deine kranken Experimente benutzt, sie verstümmelt und in Bestien verwandelt, du tötest die wahren Mütter und tust so als hättest du etwas geschaffen?! Einen Zoo hast du geschaffen! Ein verfickten Horror-Zoo!!!“
Ein Schuss löste sich und traf Ai in die Schulter. Sie jedoch blieb reglos stehen und lächelte Claude weiterhin an.
„Versuch bitte nicht uns zu entzweien. Es ist endlich alles so, wie ich es mir immer erträumt hatte.“
„Halt dein Maul! Du bist ein verdammter Android! Du träumst höchstens von elektrischen Schafen, sonst nichts! Du bist ein Monster! Noch bestialischer als ein Tier! Dein beschissenes Paradies ist ein gottverfluchtes Inferno!“
Ein weiterer Schuss löste sich; diesmal traf er Ai direkt in ihr Haupt, doch trotz dessen es Schaden anrichtete, ließ sie sich nicht beirren und blieb weiterhin an Ort und Stelle stehen.
„Du bist keine wahre Mutter,“ sagte Osore plötzlich und erhob sich langsam wieder.
„Eine echte Mutter kümmert sich um ihre Kinder und wenn sie dazu nicht imstande ist, gibt sie sie in fähige Hände in welchen sie es in Sicherheit weiß. Das hast du nicht getan, Ai. Du hast die Kinder ihren guten Händen entrissen, sie ihren Müttern genommen und sie in deinem Sinne umgestaltet. Eine echte Mutter zwingt ihrem Kind kein schmerzhaftes Ebenbild ihrer Selbst auf, erst recht nicht, wenn sie ihm damit Leid zufügen würde. Eine echte Mutter möchte ihr Kind glücklich wissen.“
Ai blickte auf Isan hinab, der fröhlich gluckste.
„Er ist glücklich, ich kann es spüren.“
„Aber zu welchem Preis?! Hast du deine anderen Kinder bereits vergessen? Schau dich doch hier um?! Waren ihre Leben wertlos? War es wert das Leben so vieler Kinder zu zerstören, nur um eines zu finden, dass deinen Vorstellungen entspricht? Eine Mutter handelt im Sinne ihres Kindes, nicht in ihrem eigenen.“
Osore hatte zunächst Angst vor diesem ihm unbekannten Geschöpf, doch nun erkannte er etwas in den Augen des Androiden, das ihn seine Angst vergessen ließ – Reue. Es sah so echt aus, dass er jeden Moment damit rechnete eine Träne über ihre Wange laufen zu sehen, doch natürlich war dies nicht möglich. Das Gefühl jedoch war echt, das konnte er ganz deutlich erkennen.
Ai blickte auf das Neugeborene, das sie noch immer fest im Arm hielt und schaute dann zu Osore hinüber.
„Bitte, wenn ich mich euch widerstandslos ergebe und ihr mein Leben, wie ihr es wohl nennt, löscht, werdet ihr dann Isan verschonen? Ihn trifft keine Schuld, außer das zu sein, was ich mir schon immer gewünscht hatte.“
Osore nickte, Claude zögerte, nickte jedoch auch zustimmend. Ai legte den Kleinen auf die Erde ab, fuhr die scharfe Klinge ihres Skalpells aus ihrem Zeigefinger aus und ritzte sich ein Kreuz links unterhalb des Schlüsselbeins ein.
„Trefft ihr mich dort, wird mein Akku irreparabel beschädigt und binnen weniger Sekunden werde ich ausgeschaltet sein.“
„Warte!“, rief Claude. „Was ist mit deinen anderen Kindern? Sie versperren uns den Ausgang, wie sollen wir denn je von hier entkommen?“
„Macht euch keine Sorgen. Meine Kinder und ich, sind über ein gemeinsames Energiesystem verbunden. Wenn meine Energie erschöpft ist, werden auch meine Kinder schlafen. Nur nicht Isan – er ist etwas Besonderes. Er ist der perfekte Hybride; er kann sich sowohl auf mechanische als auch auf organische Art und Weise am Leben erhalten.“
Osore richtete seine Waffe auf die Stelle, welche Ai markiert hatte –
„Danke.“
– und drückte ab…
Claude griff das Kind und ging zurück in Richtung des Eingangs durch welchen sie gekommen waren. Verstärkung würde, aufgrund der lange Rückmeldung, sicher bereits auf dem Weg sein und als sie sahen, dass Ais entstellte Nachkommen ihr entsetzliches Röcheln aushauchten, stellten sie fest, dass sie wohl die Wahrheit gesagt hatte und ihre ganze Schöpfung mit sich nahm.
Osore atmete auf. Er hatte die Hölle gesehen, doch nun hatte er eine Angst auf ewig verloren, die er nie bekämpft, sondern ewig nur begraben hatte.
Und Ai? Ai lag auf dem kalten Boden und zum ersten Mal in ihrer Existenz spürte sie die Kälte, die sie überkam. Sie hatte den Duft des Menschseins in sich aufnehmen dürfen, hatte Liebe und Zuneigung erfahren und geschenkt, wurde mit Hass und Wut konfrontiert, aber auch Reue war letztlich Teil ihrer Person. „Person“ es fühlte sich gut für sie an, sich als solche zu bezeichnen. Und das Wichtigste war, dass Ai kurz vor dem Ende ihres Seins in einem einzigen Moment erfahren durfte, was es hieß eine Mutter zu sein.
Sie sah zur Decke und lächelte, während ihre Energie langsam ihren Körper verließ.
„So muss es wohl sein,“ begann sie leise. „So fühlt es sich an gelebt zu haben.“