
Nur brave Kinder bekommen Kekse
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Jedes Kind kennt den Eisverkäufer.
Ihn und seinen kleinen Eiswagen, mit den quietschenden Rädern, dem bunten, löchrigen Sonnenschirm und dem aufgemalten, lustigen Kindergesicht darauf.
Er ist immer da.
Immer.
Wenn es heiß und auch wenn es kalt ist. Wenn es regnet und sogar wenn es schneit. Immer steht er an derselben Ecke, hinter dem kleinen, lustig bemalten Eiswagen und wartet auf Kundschaft. Wenn eine Mutter oder ein Vater mit ihrem Kind an ihm vorbeigehen, preist er sein Eis lautstark an. Dann lacht und singt er, zählt all die verschiedenen Sorten auf, die er in seinem kleinen Wagen hat und schwärmt von den herrlich knusprigen Eiswaffeln, die nur darauf warten, dass man in sie hineinbeißt. Kinder lieben den Eisverkäufer.,Sie lieben seine laute Stimme, den lustigen Singsang, mit dem er seine vielen Sorten aufzählt, und das breite, strahlende Lächeln seiner riesigen, weißen Zähne.
Erwachsene beachten den Eisverkäufer meistens gar nicht. Egal wie laut er auch lacht und singt, wie fröhlich und ausgelassen er hinter dem Eiswagen tanzt und dabei seine Eiswaffeln schwenkt, sie gehen einfach an ihm vorbei. Als würden sie ihn gar nicht sehen. Dabei ist er doch so auffällig mit dem bunten Sonnenschirm, dem lustigen Kindergesicht auf dem Eiswagen und dem breiten, strahlenden Lächeln. Wenn Kinder ihre Eltern darum bitten, ihnen ein Eis zu kaufen, sehen sie den Eisverkäufer nur kurz verwirrt an und kaufen den Kindern dann woanders ein Eis. Das Eis des Eisverkäufers ist das Beste auf der ganzen Welt. Jeder, der schon mal eines bei ihm gekauft hat, kann das bestätigen. Obwohl sein Wagen so klein ist, hat er immer die Lieblingssorte seines Kunden, völlig egal welche das auch sein mag. Ob nun Vanille, Waldmeister oder Schokoladenkuchen, Himbeerbrause, Feuerwerk oder Weltraumrakete, der Eisverkäufer hat immer deine ganz eigene Lieblingssorte.
Heute ist Marley auf dem Weg zum Eisverkäufer. Sie hat ihrer Mutter gesagt, dass sie auf den Spielplatz geht, auch wenn das eigentlich gelogen ist. Aber ihre Mutter mag es nicht, wenn sie über den Eisverkäufer redet. Sie meint dann immer, dass Marley zu viel fernsieht und sich komische Geschichten ausdenkt, um ihr und Papa Angst zu machen. Vielleicht hat sie einfach nur Angst vor den großen, weißen Zähnen des Eisverkäufers.
Marley hat keine Angst. Ihre Gedanken drehen sich einzig um das herrliche Eis in dem kleinen, lustig bemalten Eiswagen. Wobei… es gibt eine, eine einzige Sache, die noch viel, viel, VIEL besser ist!
Seine Kekse.
Marley hat sie noch nie gesehen, aber es heißt, es wären die schönsten und herrlichsten und allerleckersten Kekse, die man sich überhaupt vorstellen kann. Sie sollen so groß wie Suppenteller sein, goldbraun und mit faustgroßen, glänzenden Schokoladenstücken. Keiner weiß, wo sich diese Kekse befinden, aber jedes Kind weiß, dass der Eisverkäufer sie immer dabei hat.
„Nur brave Kinder bekommen Kekse“, sagt er, wenn man ihn danach fragt. Dabei lächelt er so breit, dass man alle seine riesigen, weißen Zähne ganz deutlich sehen kann. Wenn man dann antwortet, dass man ein braves Kind ist, nennt der Eisverkäufer dir den Preis.
Marley sieht auf die Münzen in ihrer Hand.
Der Eisverkäufer will kein Geld für seine Kekse.
Egal wieviel du dabei hast oder ihm geben willst, selbst wenn es eine Million ist, seine Kekse kann man nicht kaufen. Man muss sie gegen etwas tauschen.
Marley kennt ein Mädchen, das dem Eisverkäufer ihre Haarspange im Austausch für einen Keks gegeben hat. Es war eine alte, sehr alte Haarspange, die noch von ihrer Großmutter stammte. Bis zu dem Tag hat das Mädchen die Haarspange jeden Tag getragen und auch immer gut darauf aufgepasst. Bis der Eisverkäufer ihr einen seiner besonderen Kekse dafür angeboten hat. Marley weiß, dass das Mädchen zuhause furchtbar dafür ausgeschimpft wurde. Angeblich war es ein „Erbstück“, auch wenn Marley nicht weiß, was dieses Wort zu bedeuten hat.
Ein anderer Junge aus Marleys Schulklasse hatte eine zahme Eidechse, die er immer wieder in die Schule mitgenommen hat, um damit die Mädchen zu erschrecken. Eines Tages hat er die Eidechse gegen einen der Kekse des Eisverkäufers eingetauscht. Genau wie das Mädchen ist er auch heute noch sehr traurig über den Verlust. Manchmal fangen beide sogar zu weinen an, wenn man sie auf das einspricht, was sie beim Eisverkäufer eingetauscht haben. Zumindest bis man nach den Keksen fragt. Dann trocknen die Tränen von einen Moment zum anderen und aus Schluchzen wird gehauchtes, wohliges Flüstern darüber, wie gut und wunderbar und herrlich die Kekse doch waren.
Marley überlegt, was sie dem Eisverkäufer wohl zum Tausch anbieten könnte. Sie hat keine alte Haarspange. Sie hat auch keine zahme Eidechse. Was der Eisverkäufer wohl sonst noch im Tausch annimmt? Sie bleibt stehen, als ein Rettungswagen an ihr vorbei fährt. Mit nachdenklicher Miene sieht sie dem weißen Kastenwagen hinterher. Vor ein paar Tagen ist ein Mitschüler aus der Parallelklasse ins Krankenhaus gekommen. Marley kennt ihn nicht, weiß aber, dass sein Name Mario lautet. Ein schlanker Junge mit roten Haaren und langen, sehr langen Beinen, der nach der Schule oft mit anderen Kindern Fussball gespielt hat. Alle haben immer gesagt, wie schnell er doch laufen kann. Dass er fast schon über das Gras fliegt und sicher mal ein ganz großer Fussballspieler werden wird.
Marley weiß, dass Mario vor einigen Tagen beim Eisverkäufer war und ihn nach seinen Keksen gefragt hat. Vorgestern hat ihre Lehrerin ihnen dann mitgeteilt, dass Mario einen sehr schlimmen Unfall hatte und in Zukunft wohl in einem Rollstuhl sitzen wird. Marley versucht sich an das komplizierte Wort zu erinnern, das sie dabei erwähnt hat. Irgendetwas mit Pro… Propesen? Propeller? Ach egal.
Marley geht weiter.
Abwesend spielt sie mit den Münzen in ihrer Hand. Immer noch überlegt sie, was sie dem Eisverkäufer im Austausch für einen Keks wohl geben könnte. Da hört sie auch schon seine laute, fröhliche Stimme. Marley beschleunigt ihren Schritt. Die Münzen fest in der Hand, biegt sie um die letzte Ecke. Da steht er. So wie immer. Der Eisverkäufer, mit seinem kleinen Eiswagen, dem bunten, löchrigen Sonnenschirm und dem lustigen aufgemalten Kindergesicht. Ein Mädchen steht im Schatten des Sonnenschirms, die Hände weit ausgestreckt. Marley sieht das Gesicht des Eisverkäufers nicht, denn es ist halb verdeckt von dem viel zu niedrigen Sonnenschirm. Sie sieht nur sein breites, strahlendes Lächeln.
Was für riesige, weiße Zähne er doch hat.
Er gibt dem Mädchen etwas in die weit ausgestreckten Hände, das diese sofort fest an die Brust drückt. Als sie im Anschluss herumwirbelt, rennt sie beinahe in Marley. Marley erkennt sie sofort. Es ist Gabriela, ihre Klassenkollegin und Tischnachbarin. Gabriela ist blass wie ein Gespenst und ihre großen, blauen Augen glänzen feucht, so als würde sie gleich anfangen zu weinen. Ihre Lippen sind tiefrot, vermutlich von der Erdbeersoße, die noch in ihren Mundwinkeln klebt. Gabriela lächelt Marley zu. Trotz ihrer in Tränen schwimmenden Augen wirkt sie geradezu glücklich. In den Händen hält sie einen kleinen, unansehnlich braunen Klumpen mit schwarzen Punkten. Als Marleys Blick darauf fällt, weicht sie beinahe panisch zurück. Den Klumpen an sich gedrückt, hastet sie mit wehendem Haar davon. Marley sieht ihr verdutzt hinterher. Eigentlich mag sie Gabriela sehr. Sie kann sehr schön singen. Ihre Lehrerin nennt sie oft „Engelszunge“, was immer das auch heißen mag. „Was darf es sein, Marley?“
Marley dreht sich um. Der Eisverkäufer sieht mit seinem strahlenden Lächeln auf sie herab. „Ich habe alle Sorten, die du dir nur vorstellen kannst.“ Er öffnete den Deckel des kleinen Eiswagens. Marley beugt sich vor und sieht in das runde Loch. Ein Geruch, der sie an den Keller zuhause erinnert, wehte ihr dabei um die Nase. Wie viel Platz in so einem kleinen Eiswagen doch vorhanden ist. Noch nie hat sie so viele verschiedene Eissorten auf einem Fleck gesehen. Ob sie wohl beide Arme reinstrecken könnte? Und den Kopf und den Bauch und die Beine…
Der Eisverkäufer schließt den Deckel abrupt. „Ich sehe, du hast dich schon entschieden.“
Marley nickt leicht verwirrt. „Ja. Ich möchte bitte einen Keks.“
Das breite Lächeln des Eisverkäufers zieht sich von einem Ohr zu andern. Was für riesige, gewaltig große Zähne er doch hat.
„Nur brave Kinder bekommen Kekse“, erwidert er.
„Ich bin ein braves Kind“, antwortet Marley.
Der Eisverkäufer lacht und zieht hinter seinem Rücken den größten und schönsten Schokoladenkeks hervor, den Marley je gesehen hat. Er ist tatsächlich suppentellergroß, so dick wie ihre Hand und von einer tiefen, goldbraunen Farbe. Die Schokoladenstücke darin sind so groß wie Hühnereier und Marley zweifelt nicht daran, dass sie aus der besten Schokolade der Welt bestehen.
„Nun, Marley“, sagt der Eisverkäufer. „Was tauscht du gegen den Keks?“
Marley überlegt fieberhaft. Je länger sie den Keks ansieht, umso mehr weiß sie, dass sie ihn einfach haben muss. Es geht gar nicht anders, sie kann nicht gehen ohne diesen herrlichen, alles andere übertreffenden Keks!
Sie greift nach der bunten Plastikperlenkette um ihren Hals, doch der Eisverkäufer schüttelt den Kopf.
Sie sieht auf ihr pinken Hello-Kitty-Sandalen, aber wieder verneint er, ohne dabei sein Lächeln einzubüßen.
Die Verzweiflung in Marley steigt. Sie fühlt zeitgleich das Verlangen zu heulen und sich unter wilden Kreischen auf die Hand zu stürzen, die ihr nach wie vor den herrlichsten Keks der Welt vor die Nase hält.
„Ich habe nichts zum Tauschen“, sagt sie mit bebender Stimme. Da beginnt der Eisverkäufer zu lachen. Es ist nicht das fröhliche Lachen, mit dem er seine Eissorten anpreist, sondern ein tiefes, schweres Lachen. Aus irgendeinem Grund erinnert es sie ebenfalls an den Keller bei sich zuhause. Marley senkt den Blick. Das lustige Kindergesicht auf dem Eiswagen strahlt sie an. Das Kind hat den Mund weit aufgerissen, seine Augen quellen ihm wie weiße Golfbälle aus den Kopf. Es sieht so glücklich aus, es scheint vor Glück zu schreien.
Der Eisverkäufer neigt sich zu ihr herab. Was für gewaltige Zähne er doch hat! So groß und so strahlend weiß… genau wie seine Augen.
„Was hast du, Marley?“, fragte er sanft mit dieser neuen, tiefen Stimme. „Was besitzt du, was andere gerne hätten? Was macht dich anders als die anderen? Was macht dich besonders?“
Marley überlegt, die Augen nach wie vor auf den Keks gerichtet.
Was besitzt sie?
Die Haarspange ist noch von meiner Großmutter. Ich habe sie sehr geliebt.
Was hätten andere gerne?
Das ist meine Eidechse. Ich hab sie selbst gezähmt.
Was macht sie anders, als alle anderen?
Ich kann schneller rennen als alle anderen in meiner Klasse.
Was macht sie besonders?
Meine Lehrerin sagt, ich kann singen wie ein kleiner Engel.
„Meine Mama sagt immer, dass ich dass ich das hübscheste Kind an meiner Schule wäre“, antwortete Marley langsam. „Dass ich ein sehr, sehr hübsches Köpfchen habe.“
Die weißen Augen des Eisverkäufers werden schwarz, doch Marley hat keine Angst. Alles was sie sieht, ist der herrliche Keks in seiner Hand.
„Das ist ein guter Tausch“, sagte der Eisverkäufer mit dieser seltsamen, tiefen Stimme.
Er gibt ihr den Keks.
Marleys Finger schließen sich um den endlich erkämpften Schatz. Sie spürt, wie ihre Fingernägel sich in die Kruste graben, fühlt, wie die dicken Schokoladentropfen durch die Wärme ihrer Finger schmelzen. Glücklich beißt sie in den Keks. Der Geschmack treibt ihr die Tränen in die Augen. Niemals wird sie je wieder so glücklich sein wie in diesem Moment.
Vor ihr schwebt das breite, strahlende Lächeln des Eisverkäufers.
Wie riesig doch seine Zähne sind.
So strahlend weiß… und messerscharf…