
Und das Wort ward Fleisch
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Ich saß vor meinem alten Eichenschreibtisch, eine Lampe entzündet, ein ruhiges Klaviersonett auf dem Plattenspieler aufgelegt. Vor mir lagen Stapel von Papier, Bücher und Stifte. Ich überflog kopfschüttelnd die geschmierten Zeilen des Papiers, das direkt vor mir lag. In meiner Zeit als Lektor hatte ich schon so manchen Schund ertragen müssen. Mehr als einmal hatte man von der Straße einen Wutschrei aus meinem Fenster vernommen, gefolgt von einem Stapel Papier, der sich auf die Straße ergoss. Viele versuchten sich derzeit an der Schriftstellerei, als könne man diese Begabung erlernen. Dabei weiß jeder Dichter von Welt, dass einem das Talent zum Schreiben im Blut liegen muss, wenn man den Sprung vom Groschenroman zur Weltliteratur schaffen will. Ich selbst zog mich früh aus dem Autorendasein zurück und verbrachte meine Zeit nunmehr damit, den drittklassigen Schund aufstrebender „Talente“ zu korrigieren. Das meiste taugte nicht mal als Kaminfutter, obgleich den meisten Manuskripten früher oder später die knisternde Umarmung der Flammen zuteilwurde. Der vorliegende Text stammte von einem aufstrebenden Autoren, der im beiliegenden Brief ganz unbescheiden sein aufstrebendes Talent bemerkte und sich anpries, der neue Dichter von morgen zu sein. Er beschrieb mit geradezu vollkommener Eitelkeit seinen belanglosen und langweiligen Werdegang vom Gesellen über den Studenten bis hin zum Dichter, wobei er weder Lehre noch Studium je abgeschlossen hatte. Das beiliegende Manuskript war eine verkitschte Romanze einer Jungfrau in Not, die von besagtem Autor – in Gestalt eines weißen Ritters – erretten werden sollte.
Während ich über den Stilblüten, Klischees und erzählerischen Fehlgriffen verzweifelte und bereits mehr als sonst zum Fenster blickte, entsann ich mich, dass meine Post für heute noch nicht gelesen war. Ich pflegte es, meine Post nur selten zu lesen, da sie ohnehin wieder gefüllt sein würde von den Manuskripten drittklassiger Autoren, die um ein Lektorat baten, natürlich ohne Bezahlung und unverbindlich. Nebst diesen Anfragen erreichten mich zuweilen die Briefe befreundeter Lektoren, die ihrem Frust über ähnliche Schicksale Luft machen wollten. Es war unsere Methode, den Schund zu ertragen. Wir schrieben uns gegenseitig und berichteten von dem Grauen, dem wir ausgesetzt waren. Es war der einzige Weg, angesichts dieser Arbeit nicht den Weg der Manuskripte – aus dem obersten Fenster – zu gehen. Wir nannten und den „Zirkel der gepeinigten Lektoren“, was etwas kitschig und langweilig klingt, aber wir waren eben keine Groschenromanautoren, die für jeden noch so banalen Vorgang einen verblümten Begriff erfanden und so selbst den nächtlichen Gang zum Nachttopf in ein episches Manuskript von dreihundert Seiten verwandeln konnten. Ein Talent, um das ich jene armen Geschöpfe in keinster Weise beneidete
Wider Erwarten quoll der Briefkasten nicht über, sondern war erstaunlich licht. Vier Umschläge lagen darin. Drei waren einfache, weiße Couverts. Einer war ein großer, brauner Umschlag. Ich überflog die Anschriften. Anfragen drittklassiger Autoren. Ich riss einen der weißen Couverts auf und überflog die Zeilen des beiliegenden Briefes.
Sehr geehrter Signor Puccini,
Mein Name ist Guiseppe Fiore. Ich bin ein aufsteigender Dichter und erbitte Ihre Meinung über mein bescheidenes Manuskript, das…
Ich warf den Brief mit den anderen beiden ungelesen ins Kaminfeuer. Dann griff ich den brauen Umschlag, bereit auch diesen an die Flammen zu übergeben, als ich stutzte. Ich erkannte die gestochene Schönschrift von Signor Rossi, meinem geschätzten Kollegen und Leidensgenossen. Wir schrieben uns oft, um uns über die literarischen Torturen auszutauschen, durch welche uns die aufstrebenden Dichter jagten. Angesichts meines bereits recht hohen Grades der Frustration erfreuten mich der Brief Rossis und die damit verbundene Ablenkung. Ich öffnete den Briefumschlag. Darin befanden sich ein handgeschriebener Brief, sowie ein weiterer mit Wachssiegel verschlossener Umschlag. Der Umschlag war mit den Worten „Non aprire“ (Nicht öffnen) beschrieben. In roter Tinte. Ich stutzte ein wenig. Dann überflog ich den Brief.
Mio amico Carlo,
Du bist mir immer der treuste meiner Freunde gewesen, weshalb ich dir – und nur dir allein – dies anvertrauen kann. Es dürfte dir bekannt sein, dass ich jüngst einen Ausflug nach Venedig unternahm, um dort aufstrebenden Dichtern beizuwohnen. Ihre Texte reichten von mittelmäßig über Schund, doch das ist nicht der Grund meines Schreibens. Es geht um ein Manuskript, in dessen Besitz ich unglücklicherweise kam. Es liegt dir im versiegelten Umschlag bei, doch Carlo, mein guter, treuer Carlo. Öffne den Umschlag nicht. Das Manuskript darin darf nicht gelesen werden. Auf keinen Fall. Ich wagte nicht, es länger bei mir zu tragen, also schickte ich es dir in der Hoffnung, dass du es sicher verwaltest. Um dir den Schmerz der Neugier zu nehmen, lass mich dir erklären, worum es sich handelt.
Ich stutzte abermals. Der Brief war derart verwirrt und seltsam, dass es mir fast vorkam, als sei mein Freund berauscht gewesen, als er ihn verfasste. Ich las gebannt weiter.
Das Manuskript ist nach meinen Schätzungen mindestens 430 Jahre alt. Doch das Papier ist erstaunlich intakt. Aber das allein ist nichts im Vergleich zum Inhalt. Es ist das makelloseste Stück Prosa, das ich je gelesen habe. Ich behaupte sogar, es ist das makelloseste Stück Prosa, das jemals geschaffen wurde. In ganz Italien, in der ganzen Welt. Es ist DAS Werk an sich. Ich las es und vergas um mich herum alles. Tagelang saß ich einfach da und starrte auf die Zeilen. Als ich aus der Starre erwachte, hielt ich die Tasse erkalteten Kaffees noch immer umklammert in der Linken, während das Papier in meiner Rechten lag. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich weinte stundenlang, dann lachte ich weitere Stunden hysterisch und geradezu wahnhaft, ehe ich abermals in markerschütterndes Schluchzen versank. Ich wagte es nicht, das Werk erneut zu lesen, aus Angst, ich könnte den Verstand verlieren.
Alles was ich bislang gelesen, jedes meiner Werke, selbst jene Prosa, die in unserer Welt als Geniestreich gefeiert wird, wirkte gegen diese Zeilen belanglos und banal. Ich wusste, ich könnte nie mehr etwas zu Papier bringen, da nichts auch nur annährend so gut sein könnte, wie jenes Meisterstück in meinen Händen. Doch nicht seine Reinheit verstörte mich, sondern das, was darin stand.
Das Manuskript ist Gottes Wort. Und das Wort ward Fleisch.
Es folgte ein Absatz, in dem einige Tintenkleckse und unsaubere Wörter auf Unschlüssigkeit oder großes Zittern hindeuteten. Ich konnte nicht entziffern, was mein Freund dort – offenbar unter großen Mühen – verfasst hatte. Dann folgte wieder ein sauberer Abschnitt.
Carlo, buono Carlo! Vernichte dieses Manuskript. Ich flehe dich an. Zerstöre es oder verstecke es an einem Ort, an dem selbst il Diavolo es nicht finden würde. Aber verberge es vor aller Augen. Die Welt ist nicht bereit für diesen Text und wird es vielleicht nie sein. Doch versprich mir eines: Carlo, mein treuer Carlo, lese es niemals! NIEMALS!
Gezeichnet
Il tuo amico Onesto Rossi
Damit brach der Brief ab. Ich las ihn abermals und erneut konnte ich nicht begreifen, was mein Freund damit sagen wollte. War er umnachtet? Ich betrachtete den versiegelten Umschlag. Rossi war ein sehr kluger und gebildeter Mann, der nicht zu scherzen pflegte und auch ansonsten von absolut edlem Gemüt war. Wenn er mich warnte, den Umschlag nicht zu öffnen, dann musste er einen Grund dazu haben. Ich beschloss, seiner Warnung vorerst zu entsprechen. Rasch raffte ich meinen Mantel und machte mich bereit für eine Reise. Rossi lebte in Verona. Ich beschloss, ihm einen Besuch abzustatten und ihn über den seltsamen Brief zu befragen. Eine Stunde später saß ich in der Kutsche auf dem Weg nach Verona. Die Reise würde einige Tage dauern, also hatte ich einige gute Bücher mitgenommen und las. Den Brief hatte ich auch dabei, sicher verwahrt in der Tasche meines Mantels. Ungeöffnet.
Ich blätterte in meiner Bibel, denn die von Rossi angesprochene Bibelstelle „das Wort ward Fleisch“ kam mir gleich bekannt vor. Im Vangelo di Giovanni wurde ich fündig. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns; und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“. Ich studierte die Bibelstelle ausführlich, doch konnte keinen Zusammenhang finden. Ich beschloss, einen befreundeten Priester in Verona nach dieser Stelle zu fragen. Meine theologischen Kenntnisse waren zu lückenhaft. Rossi hingegen kannte sich gut aus in der heiligen Schrift und möglicherweise entging mir ein Hinweis, den er gestreut hatte. Daher wollte ich nichts unversucht lassen.
Als ich schließlich in Verona ankam, lag der Himmel blau und klar über mir. Die Sonne stand hoch droben am Firmament und strahlte auf mich herab, als ich durch die Gassen Veronas zum Haus meines Freundes eilte. Seltsamerweise griff ich mir auf dem Weg immer wieder an die Brust, dort wo das Manuskript verborgen war, insbesondere, wenn mir ein Passant zu nahe kam. Es war keine Entscheidung des Hirns, denn es geschah unbewusst und irrational. Und doch beschlich mich von Zeit zu Zeit das Gefühl, man verfolge mich und wolle mir mein Manuskript stehlen. Mein Manuskript? Nein! Es klang falsch, obgleich es der Wahrheit entsprach.
An seinem Haus angekommen läutete ich die Türglocke und wartete. Das Haus lag merkwürdig still und dunkel da. Es wirkte leblos. Ein Fräulein in schwarzer Tracht öffnete mir. „Sie wünschen?“, fragte sie mit brüchiger Stimme. „Buongiorno Signora“, sagte ich und deutete eine leichte Verbeugung an. „Ich wünsche Signor Rossi zu sprechen.“ Das Fräulein brach in Tränen aus. Ich was verdutzt. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Sie bat mich herein, noch ehe ich fragen konnte, was los war. Im Salon des Haues bot sie mir einen Stuhl und etwas zu trinken an. Dann erzählte sie mit brüchiger und tränenschwerer Stimme über das traurige Schicksal meines Freundes. „Ich bin Signora Albertelli.“, sagte sie. „Ich bin die Gesellschafterin von Signor Rossi. Das heißt, ich war es.“ Abermals beginnt sie zu schluchzen. „Signor Rossi ist von uns gegangen. Er starb vor zwei Tagen im schrecklichen Delirium. Der Doktor musste ihn ans Bett fesseln, da er sich unentwegt die Augen aus dem Kopf schneiden wollte. Er schrie und tobte. Wir verstanden nicht, was er sagte.“ Sie schnäuzte sich in ein besticktes Taschentuch. „Was rief er?“, fragte ich ungehalten. Ich war höchst erregt über den Tod meines Freundes, aber besonders auch über die Umstände desselben. „Er rief, er wolle es ungesehen machen und er wolle es verbrennen. Er hatte furchtbare Angst. Der Doktor sagt, es war ein starkes Fieber, das seinen Geist trübte. Er muss es sich auf seiner jüngsten Reise nach Venedig zugezogen haben. Seit der Rückkehr war er ein anderer.“
Ich beschloss das aufgelöste Fräulein nicht länger zu belästigen. Ich bedanke mich und verschwand eilig aus dem Haus, mit mehr Fragen, als zu Anfang meines Besuchs. Der Brief in meiner Tasche wog inzwischen Zentnerschwer und ich wurde zunehmend übermannt von den starken Strapazen der vergangenen Tage. Die anstrengende Reise, der Tod meines Freundes, die vielen Fragen. All das ergab ein bitteres Tonikum von Schmerz und Verzweiflung, dessen Macht mich nun unvermittelt traf und mich dazu veranlasste, mich auf eine Gartenmauer zu setzen. Wie hypnotisiert nahm ich den versiegelten Brief aus meiner Tasche. Ich starrte auf das ungebrochene Siegel. Mechanisch glitten meine Finger über das Siegel und brachen es. Obgleich es keinen Ton gab, klang das Brechen es Siegels in meinen Ohren wie Kanonenfeuer gemischt mit dem Grollen von Donner. Ich zuckte merklich zusammen und begann zu zittern, als ich den Brief entfaltete.
Oh meine getreuen Freunde, es ist schwer die nachfolgenden Ereignisse zu beschreiben. Denn kein Wort unserer Sprache kann dem gerecht werden, was ich nun empfand. Die Zeilen des Manuskriptes, das nur eine Seite umfasste, waren so rein, so makellos, so perfekt, dass jede wörtliche Beschreibung von Perfektion roh und banal gewirkt hätte. Jedes Wort, jeder Buchstabe, sogar die Abstände zwischen den Wörtern schienen perfekt gewählt. Es saß jeder Tintenfleck an der rechten Stelle. Ich begann zu weinen, überwältigt von der Schönheit des mir vorliegenden Textes. Dann las ich den Inhalt und so gleich breitete sich eine ungekannte Heiterkeit in mir aus. Ich begann zu prusten, dann lachte ich lauthals auf. Ich kreischte hysterisch und krümmte mich unter Lachkrämpfen, nur um wieder in ein tiefes Tal der Tränen abzusinken. Schließlich saß ich unbewegt da. Ich starrte auf dem Brief und regte mich keinen Millimeter.
„Signore, aiutami![1]“, keuchte ich noch, ehe mich der süße Kuss des Wahns ereilte und mich einhüllte in die ersehnte Dunkelheit der Umnachtung.
[1] „Herr, steh mir bei!“