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V.erlorene R.uhestätten

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

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Sie sind ein junger – oder auch älterer – engagierter Mensch, mit Lost-Place-Erfahrung oder können mit dem Begriff rein gar nichts anfangen, sind aber zumindest neugierig geworden und zudem bereit, ein Unternehmen in den Kinderschuhen ein wenig unter die Arme zu greifen?

Dann melden Sie sich bei uns als Tester, eines unvergleichlichen Programms. Dem V.erlorene R.uhestätten-Programm um genau zu sein – der Name ist noch nicht final.

Als junges Start-Up-Unternehmen können wir Ihnen zwar keine Entschädigung, für Ihre unschätzbaren Dienste anbieten, dafür aber die besagte Erfahrung ermöglichen, die Ihr Leben vielleicht nicht in seinen Grundfesten umkrempeln wird, die Sie jedoch sicher auch nicht bereuen werden.

Neugierig? Dann melden Sie sich unter…

 

Rundgang

„Guten Tag Mister Thompson. Schön, dass Sie es so bald einrichten konnten. Haben Sie gut hergefunden?“

Der junge Mann, der ihn begrüßte, schüttelte stürmisch seine Hand. Er lächelte breit und ehrlich, was jedoch nicht über seine Nervosität hinwegtäuschen konnte. Verständlich, wenn man bedachte, dass ihm heute vermutlich ein großer Tag bevorstand.

„Ja, sehr gut, danke der Nachfrage. Und bitte, nennen Sie mich Tom, das macht jeder.“ Eine glatte Lüge, doch er erkannte, wie von ihm erwartet, dass die Anspannung seines Gegenübers schlagartig ein wenig abnahm.

Dieser wiederum, gehörte zu dieser klischeehaften Kategorie Jungunternehmer, die zur Arbeit kamen, wie es ihnen gefiel und einen eher lockeren Umgangston zu ihren Kollegen pflegte. Er war hier nicht der Chef – niemand nahm diese Rolle ernstlich ein – aber nun mal derjenige, der vorgeschickt wurde, den Besuch zu empfangen, welcher vermutlich zum ersten Mal als Außenstehender ihre heißgeliebte Erfindung testen sollte. Dies bedingte wiederum, dass er die Professionalität, die man an dieser Stelle von anderen, größeren Unternehmen erwartet hätte, missen ließ, was jedoch durch seinen Eifer und dem Feuer in seien Augen kompensiert wurde. Eine Eigenschaft, die ihn, wie Tom fand, äußerst sympathisch erscheinen ließ.

Außerdem hieß es ja nicht, dass er sein Projekt nicht trotzdem wie jede andere Unternehmung ernstnahm. Womöglich tat er das sogar mehr, als so manch anderer, weil er im Gegensatz zu ihnen wirklich dafür lebte und sich seine gesamte Existenzgrundlage darauf aufbaute.

Zumindest würde dieser Zustand wohl solange anhalten, bis ihn entweder der große Erfolg oder aber der endgültige Ruin ereilte. Beide Wege konnten auf ihre Art, finstere Schatten auf jedwede innige Liebe zu seinem kleinen Schatz werfen.

Tom konnte davon ein Lied singen. Vermutlich auch der Hauptgrund für sein Hiersein. Einmal noch Teil eines solchen Mikrokosmos sein und sei es auch nur für einen Moment. Einmal noch leben, träumen, sich gleiten lassen. Noch einmal jung sein.

„Also gut Tom“, sagte sein Reisebegleiter ein klein wenig gefasster, nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte. „Dann folge mir bitte. Oh, und ich bin übrigens Marthi.“

„Erfreut“, nickte der andere, um kurz darauf gehorsam hinterherzutraben. Der Weg war nicht allzu weit, was vor allem daran lag, dass die Büroräumlichkeiten, nicht gerade vor Quadratmeterzahlen strotzten. Vermutlich hätten sie ohne Weiteres in seine Eigentumswohnung gepasst.

Anders verhielt es sich da mit der Einrichtung, bei der Tom sich unweigerlich fragte, wie sie hier drinnen überhaupt Platz fand. Während der Eingangsbereich, dieser Etage eines meterhoch in den Himmel reichenden Gebäudes, sich noch offen und hell zeigte, änderte dieser Eindruck sich gleich hinter der ersten Tür maßgeblich.

Hier türmten sich auf einmal Regale und Aktenschränke bis an die Decke. Schreibtische nahmen jeden freien Zentimeter ein. Computer und ihr Equipment wiederum diese. Kabel führten scheinbar ziellos und wirr, hier und dort hin, überall lagen und standen Notizen, Kaffeebecher und Tassen verteilt. Freie Wände gab es nicht, da an ihnen Flip-Charts oder andere Papiere hingen, welche Grafiken, Zahlen, Tabellen oder Bilder zierten.

Gleichzeitig herrschte rege Triebsamkeit. Überall rauschte, ratterte und klapperte es. Man unterhielt sich flüsternd, brabbelte vor sich hin oder fluchte leise.

Tom betrachtete diese Szenerie sowohl fasziniert wie auch berauscht. Ja, das war es gewesen, was er gesucht hatte. Fühlt sich an, wie nach Hause kommen. Ein Gedanke, der ihn lächeln ließ, jedoch breitete dieses Lächeln sich nur halbherzig aus, da mit ihm die Erkenntnis schwang, dass dieser kleine Ausflug in die Vergangenheit, nicht ewig währen würde.

Ein deutliches Räuspern entstieg Marthis Kehle. Es dauerte einen Augenblick, doch plötzlich begann das Wissen darum, dass sie nicht mehr unter sich waren, von den vordersten Reihen der gut ein Dutzend emsigen Arbeiter, sich wie eine Welle auszubreiten.

Erst blickten zwei Gesichter, die am nächsten Tisch zu Tom saßen, irritiert auf, ehe ihre Mienen sich erschrocken erhellten. Dann verstummte neben ihnen eine Person, die vorher noch murrend über einem Problem gebrütet hat. So ging es immer weiter, bis auch das letzte Gespräch eingestellt wurde und zwölf Augenpaare auf dem Neuankömmling ruhten.

Da niemand etwas sagte, drohte die Situation schnell peinlich zu werden. Ein Umstand, den Marthi in letzter Sekunde abwendete, indem er ihren Gast endlich vorstellte. Nun ja, fast abwendete…

„Hey Leute“, setzte er mit einem Ton an, der so viel sagte, wie: Hättet ihr nicht wenigstens versuchen können, für ein bisschen Ordnung zu sorgen? „Das hier ist Tom.“

„Hi Tom“, kam es gleich darauf im Chor zurück, wobei dieser ein Gefühl dafür bekam, wie AA’s sich bei ihrem ersten Treffen fühlen mussten. Eine Erfahrung, auf die er gerne hätte verzichten können.

Mit leicht verzogenem Gesichtsausdruck und darum bemüht, nicht rot anzulaufen, hob er kurz die Hand zum Gruß. Da sie ihn immer noch alle anstarrten, als wüssten sie nicht, wie sie mit ihm umgehen sollten, wurde es noch unangenehmer. Vor allem, da diese Jungspunde allesamt gute fünfzehn oder mehr Jahre hinter ihm zurücklagen, wodurch er sich zu allem Überfluss auch noch unweigerlich – wieder –alt fühlte.

„Tom ist heute unser kleines Testsubjekt“, fand sein Führer schließlich endlich seine Stimme wieder. Dumm nur, dass er dabei versuchte witzig zu sein und zudem wie ein Lehrer zu einer Kinderschar sprach. Die „Schüler“ rangen sich brav zu einem gezwungenen Lachen durch.

Im „Versuchskaninchen“, erwuchs indes das Bedürfnis schlagartig die Flucht zu ergreifen, sich in einem Loch zu verkriechen und die nächsten zehn Jahre nicht mehr rauszukommen. Oder wie lange auch immer es nötig sein sollte, dass die Welt diese peinliche Episode aus ihrem Gedächtnis tilgte.

Erneut räusperte Marthi sich. „Nun, ich werde unseren Gast dann mal weiter rumführen. Eric, bereite du doch schon mal alles vor.“

Kaum ausgesprochen, katapultierte ein weiterer junger Mann mit Drei-Tage-Bart und kratertiefen Augenringen sich plötzlich aus seinem Stuhl und schien es gar nicht eilig genug haben zu können, die ihm übertragende Aufgabe nachzugehen.

Als wäre dies ein Startschuss gewesen, ruckten sämtliche Köpfe wieder in Richtung ihrer Bildschirme oder Notizen. Das vorige, geschäftige Klima kehrte zurück und Toms Fluchtreflex verschwand, wenn auch nicht gänzlich.

Er sah zu seinem Gastgeber herüber, welcher halb entschuldigend, halb vor Scham im Boden versinkend meinte: „Wenn du mir dann weiter folgen magst…“

Und wie er das wollte. Über die Szene von eben, konnte er gerade deswegen hinwegsehen, da Marthi ihn irgendwie an sich selbst erinnerte. Nun, an eine deutlich jüngere Version von sich, versteht sich. Auch er war einst bei jeder Präsentation seiner Projekte nervös geworden. Höllisch nervös sogar. Er hatte sich diverse Fauxpas erlaubt und war in so manches Fettnäpfchen getreten, aber er hatte nie aufgegeben und immer für seine Arbeiten gekämpft.

Wenn dieser Kampfgeist doch nur heute noch so präsent wäre. Stattdessen war er eintönigem Grau, dem Alltag und der Routine gewichen. Alles lief auf festen Bahnen, geplant und durchdacht. Keine Überraschungen mehr, keine Spontanität und nur bedingte Freude an seinem Tun. Dafür mehr Geld als er brauchte und sich früher nie erträumt hatte. Es stimmte wohl, wenn die Leute sagten, dass man von dem finanziellen Mittel allein, nicht glücklich wurde.

Während sie an einigen der Tische vorbeigingen oder sich vielmehr, durch das Gewühl hindurchkämpften, wobei Marthi sich wesentlich geschickter anstellte, da er es gewohnt war und die gangbaren Pfade kannte, erläuterte dieser: „Tut mir leid, wegen der Unordnung. Im Eifer des Gefechts, vergisst man schnell mal, dass dieses angebliche System, für Außenstehende nur eines sein muss: Chaos.“

Tom, der sich mit chaotischen Systemen nur allzu gut auskannte, hatte dafür vollstes Verständnis. „Ist schon in Ordnung“, versicherte er deswegen. „Immerhin lässt es erkennen, dass ihr eure Arbeit ernst nehmt.“

„Ja“, lachte der andere. „Das kannst du laut sagen. „Wir verbringen Tag und Nacht hier drinnen, gehen fast nur noch nach Hause, um zwischendurch mal zu schlafen.“ Mitten im Laufen hielt er an, wodurch sein Verfolger beinahe in ihn hineingerannt wäre, was Marthi jedoch kaum mitzubekommen schien. Stattdessen breitete er mit verträumten Blick die Arme aus und verkündete voll Stolz: „Das hier ist unser Traum, weißt du. Wir geben alles dafür und hoffen wirklich, damit etwas zu erreichen.“

Wenn das jemand verstehen konnte, dann er. Wann hatte er nur aufgehört, so zu empfinden? Wann war der Punkt erreicht worden, an dem er eine Schwelle überschritten hat, von der es kein Zurück mehr gab? Ach ja, richtig. Als eine ihrer vielversprechenden Ideen gegen eine große Summe verkauft worden war und ihnen das Ganze über die Köpfe gewachsen ist. Sie hatten sich in ihrem Ruhm gebadet und gleichwohl, ohne es zu merken, darin verloren.

„Das kommt dir bestimmt völlig verrückt vor“, führte Marthi weiter aus. „Ein paar junge Menschen, die ernsthaft glauben, die Welt irgendwie beeinflussen zu können und sei es auch nur, dass wir ein winziges Beben auslösen, ein kleines Funkeln, das Beachtung findet.“

„Das klingt ganz und gar nicht verrückt…“, murmelte Tom unbedacht vor sich hin.

„Wie war das?“

Er schüttelte entschuldigend den Kopf. „Schon gut, ich habe nur laut gedacht. Machen wir weiter.“

Das scheinbar immer noch Interesse an ihrer Arbeit bestand, erfreute ihn sichtlich. „Sehr gerne“, frohlockte er, wandte sich ab und setzte von Neuem dazu an, die Führung fortzusetzen. Während sie an den ganzen Arbeitsplätzen und Gerätschaften vorbeiliefen, erläuterte er zum Teil deren Funktionsweise oder was wo wie verarbeitet, genutzt oder verwertet wurde. Reichlich technische Details und Zahlen also, mit denen Tom, herzlich wenig anfangen konnte. Das lag nicht daran, dass er nicht technisch versiert war – was er war –, sondern dass er schlicht und ergreifend nicht in der Materie steckte. Hätte man ihn ein paar Stunden gegeben, sich einzuarbeiten, er hätte vermutlich problemlos an dem Projekt mitwirken können, aber dafür sollte er ja nicht hier sein.

„Aber kommen wir lieber zu dem interessanten Teil“, schloss Marthi schließlich, nachdem sie die Etage soweit flächendeckend durchschritten hatten. Nun standen sie vor einer noch verschlossenen Tür, hinter der sich vermutlich der Teil verbarg, wegen dem man den Tester eingeladen hatte.

„Hinter dieser Tür“, setzte der junge Mann mit verheißungsvoller Stimme an und versuchte somit Spannung zu erzeugen, die Tom mehr amüsierte, als ihn den Nervenkitzel spüren zu lassen – dennoch lobte er den Versuch –, „erwartet dich, die Vergangenheit.“

Sein Gesprächspartner ließ ihm die aufgebaute Stimmung noch einen Moment, ehe er trocken fragte: „Was, habt ihr da drinnen noch alte Analogrechner versteckt?“

Der Scherz ging mehr oder minder nach hinten los, da er Marthi sichtlich aus dem Konzept brachte. Es dauerte einen Moment, bis er verstand, dass er auf die Schippe genommen worden war und ein verunsichertes Lachen über seine Lippen kam. Ja, der Knabe hatte noch einiges vor sich, wenn er in der Geschäftswelt zurechtkommen wollte. Dennoch wurde er Tom immer sympathischer, eben wegen seiner ungeschliffenen, „fehlerhaften“ Art.

„Also, worauf ich eigentlich hinauswollte“, setzte der andere holprig wieder an, „ist, dass hinter dieser Tür der Prototyp unserer mühevollen Arbeit liegt.“

„Das Verlorene Ruhestätten-Programm.“

„Ganz genau“, nickte er eifrig. „Bist du zufällig mit der VR-Technologie vertraut?“

„Ein wenig, ja.“ Strenggenommen hatte er in seiner Firma bereits ausgiebig damit zu tun gehabt, da sie Mittel und Wege testeten, diese Technologie auch für sich sinnvoll einzusetzen. Eine virtuelle Realität „greifbar“ vor sich zu haben, bot Unmengen an Möglichkeiten der Anwendung. Aber er wollte sich hier nicht als selbsternannten Experten darstellen und den Jungunternehmer damit womöglich noch mehr verunsichern, als er es ohnehin schon getan hatte.

„Gut, dann brauche ich dir ja nicht erklären, wie sie grundsätzlich funktioniert. Dann die viel wichtigere Sache: Am Telefon hast du ja bereits erwähnt, dass du mit dem Begriff Lost Place nicht allzu viel anfangen kannst“, tatsächlich hatte er vorher recherchiert, aber auch das, behielt er für sich, „deswegen will ich dir das noch mal eben erklären: Lost Places sind häufig Orte, Gebäude oder ganze Städte, die verwaist der Natur überlassen wurden. Die Menschen haben sich aus ihnen zurückgezogen und nun verfallen sie still, leise und unbemerkt. Naja, meistens jedenfalls. Oft genug locken solche Orte abenteuerlustige oder geschichtsneugierige an, die es sich gegen etwaige Grundstücksansprüche oder anderweitige gesetzliche Regelungen, nicht nehmen lassen können, dort einzudringen, um die Atmosphäre in sich aufzunehmen, sich künstlerisch zu entfalten oder eine Tee-Party zu veranstalten.“

Verwundert zog Tom eine Augenbraue hoch. „Eine Tee-Party?“

Der andere zuckte mit den Schultern. „Es gibt die verrücktesten Leute. Jedenfalls bürgen solche Besuche natürlich immer ein gewisses Risiko für Leib und Leben, von dem bereits angesprochenen gesetzlichen Aspekt mal abgesehen. Gerade deswegen gibt es sicher viele, die sich zwar dafür interessieren, aber eben dieses Risiko einzugehen, nicht bereit sind. Aus diesem Grund haben wir, die wir zugegebenermaßen selbst begeisterte Lost Place-Gänger sind, es uns zur Aufgabe gemacht, einen Weg zu finden, dieses Erlebnis jedem zu offenbaren. Ganz gleich, ob sie das Wagnis in der Realität nicht eingehen wollen, sie zu alt oder vielleicht auch krank sind, um derartige Abenteuer auf sich zu nehmen, wir bringen es zu ihnen nach Hause.“

Da war es also wieder, das Feuer, der Eifer. Keine Spur von Unsicherheit, nur Überzeugung für die eigene Sache, das Projekt, das Kind, dass er und sein Team liebevoll aufgezogen haben. Und er machte es gut. Diese Präsentation konnte hier und da sicher noch geschliffen werden, doch kam Tom nicht umhin, zuzugeben, von der Euphorie gepackt worden zu sein, die durch die in diesem Augenblick durch die Venen dieses Kerls strömte. Wäre dies hier ein Verkaufsgesprächen, der Ältere hätte zumindest in Erwägung gezogen, das angepriesene Objekt zu kaufen. Er hatte es geschafft, ihn zu überzeugen und dazu gehört schon einiges.

Allerdings waren Worte nur Schall und Rauch, wenn ihnen keine Taten folgten oder in diesem Fall, ein präsentables Produkt, das für sich allein stehen und sprechen konnte. Große Reden schwingen aber nur Schrott verkaufen, ging selten gut aus, was freilich nicht bedeutete, dass es nicht möglich war, aber an dem Punkt, sich derartiges Gebaren erlauben zu können, stand dieses kleine Unternehmen, dass seine jungen Besitzer ihr Eigen nannten, noch lange nicht.

„Soweit so gut“, sagte Tom deswegen in altmeisterischem Tonfall, wobei er es sich nur mit Mühe verkneifen konnte, nicht skeptisch und defensiv die Arme vor der Brust zu verschränken, „aber was genau macht das Programm nun?“

„Schön, dass du fragst“, erwiderte der junge Mann, ohne ein Anzeichen dafür, dabei aus der Ruhe zu kommen. Sehr gut. „Es ist eigentlich recht simpel. Wir waren vor Ort, also an einigen Lost Places und haben unzählige, nein wirklich, unzählige Aufnahmen gemacht, solange bis wir auch den letzten Winkel abgedeckt hatten. Diese wiederum wurden dann eingespeist, bearbeitet und übertragen, so dass es mit Hilfe der VR-Technologie möglich ist, durch eine realitätsnahe Version des Lost Places zu gehen, nur eben ohne die damit verbundenen Gefahren.“

Das klang wirklich simpel und musste in der Umsetzung einen Höllenaufwand bedeuten. Immerhin wurden hier nicht einfach irgendeine Engine genutzt, um den Ort grafisch nachzustellen, sondern die Realaufnahme des Ortes selbst umgewandelt. Um ein realistisches Gefühl zu erzeugen, musste diese aber auch auf seinen Nutzer reagieren, was bedeutete, dass Beispielsweise eine geschlossene Tür, zu einem Zeitpunkt, den der Anwender festlegt, in einer Geschwindigkeit, die durch seinen Kraftaufwand bestimmt wurde, zumindest ansatzweise überzeugend geöffnet werden musste.

Die Anzahl der Aufnahmen, die allein für diese simple Tätigkeit erforderlich waren, wollte Tom sich gar nicht erst ausmalen. Und sie redeten hier von einem großen Objekt. Wie verhielt es sich mit etwaigem Schutt, kleinen Steinen, verfluchte, einzelne Grashalme, die es überall geben konnte. Würde man ohne Reaktion durch sie hindurchlaufen können, wäre die Illusion zerstört, der Zauber davon und der Käufer nicht länger interessiert.

Ein Mammutprojekt also, in das unsagbar viel Arbeit geflossen sein musste. Sofern es denn tatsächlich funktionierte. Tom wollte es, Marthi und seinem Team zuliebe, glauben, hegte jedoch gesunden Zweifel daran.

„Das klingt…“, setzte er vorsichtig an.

„Größenwahnsinnig?“, unterbrach der Jungunternehmer ihn. „Kann schon sein, aber was wäre die Erfüllung eines kleinen Traums, ohne eine Prise Wahnsinn?“

Über diese Aussage musste Tom unweigerlich lächeln. Genauso hatte er auch einst gedacht, womöglich gar in dem gleichen Wortlaut. Ach, er hoffte wirklich inständig, dass an dem Projekt was dran war, dass es so arbeitete, wie seine Schöpfer es sich vorstellten und er sie nicht enttäuschen musste, indem er ihnen das Gegenteil attestierte.

„Aber genug der Worte“, meinte Marthi, der auf einmal vor Aufregung fast zu platzen schien. „Es wird Zeit, dir unser kleines Baby zu zeigen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um, legte seine Hand auf die Türklinke, drückte sie herab und stieß die Tür auf.

Eine so einfacher Ablauf, welcher tagtäglich, überfall auf der Welt stattfand und in einer anderen Realität, so unendlich viel komplexer sein konnte…

 

Virtualität vs. Realität

„Das ist es also.“

„Japp.“

Tom nickte knapp. Er hatte nicht mehr erwartet und dennoch wirkte der erste Eindruck ein wenig enttäuschend.

Sie fanden sich in einem weitgehend leeren Raum wieder. Lediglich ein Schreibtisch, samt Computer, in einer Ecke und die VR-Ausrüstung in der Mitte, füllten ihn. Und natürlich der bereits wartende Mitarbeiter, der alles vorbereitet hatte.

„Na dann wollen wir mal, nicht wahr?“

Marthis Miene blieb aufgehellt. „Freut mich zu hören, dass du keine Zeit verlieren willst.“ Er streckte den Arm aus, um in den Raum hineinzudeuten. „Bitte nach dir, ich werde ich verkabeln und Eric das Programm starten.“

Er tat wie geheißen, trat auf das Equipment zu und wartete, darauf, angeschlossen zu werden. Marthi arbeitete routiniert und schnell, es war definitiv nicht das erste Mal, dass er jemanden in fremde Welten abtauchen ließ. Während er alles vorbereitete, erläuterte er, was als nächstes passieren würde.

„Zu der Ausrüstung gehört, wie du siehst, die VR-Brille, samt Headset, Handschuhe und eine Matte zu seinen Füßen. Du wirst eine Geräuschkulisse hören, die wir aufgenommen haben, aber auch mit mir über das Headset kommunizieren können. Allerdings werde ich mich im Hintergrund halten, damit dein Erlebnis möglichst authentisch bleibt. Die VR-Technik wird jede deiner Bewegungen akkurat wiedergeben. Wenn du dich nach links drehst, dreht sich auch dein Bild nach links. Deine Hand- beziehungsweise Armbewegungen werden imitiert. Zum Laufen musst du jedoch auf der Stelle gehen. Die Geschwindigkeit, in der du trabst, bestimmt die Geschwindigkeit, in der du läufst. Physische Objekte, die du berührst, werden mit einem Vibrationssignal an deine Hände übertragen und deine Bewegung wird zumindest visuell gestoppt. Du kannst also nicht durch Wände greifen oder so. Du wirst dich schnell daran gewöhnen, auch wenn es anfangs alles ein bisschen irritierend sein kann. Sollte dir während des Prozesses schlecht werden oder du dich sonst irgendwie unwohl fühlen, gib einfach Bescheid. Wir sind die ganze Zeit bei dir und beobachten über den Bildschirm, was du siehst. Es gibt also keinen Grund sich zu sorgen.“

Warum sollte er sich sorgen? Tom konnte nicht leugnen ein wenig aufgeregt zu sein, aber Sorge verspürte er ganz sicher nicht. Mittlerweile hatte man ihn komplett ausgestattet. Die überraschend leichte VR-Brille ruhte samt Headset auf seinem Kopf und musste nur noch runtergeklappt werden, damit es losgehen konnte. Die Handschuhe passten wie angegossen. Er fühlte sich bereit.

„Wollen wir dann?“

„Beam me up“, erwiderte er lachend. Dieses Mal lachte auch Marthi. Die Nervosität war gänzlich von ihm abgefallen und begeisterter Vorfreude gewichen. Sein großer Tag war gekommen, blieb zu hoffen, dass er auch als solcher enden würde.

„Dann starten wir genau… jetzt.“ Damit schob er die Brille vor Toms Augen und kaum, dass das geschehen war, breitete sich auch schon eine gänzlich andere Landschaft vor ihm aus, welche die Büroetage ersetzte.

Der Anblick ließ ihn kurz taumeln. Nicht, weil er so monumental oder hyperrealistisch war, sondern einfach, weil er sich tatsächlich fühlte, als wäre er in eine andere Welt teleportiert worden.

Nach einigen Sekunden hatte sein überstrapaziertes Hirn sich daran gewöhnt, was ihn erleichtert aufatmen ließ. Erst jetzt konnte er wirklich aufnehmen, was er vor sich sah.

Der Gebäudekomplex lag leicht l-förmig vor ihm. Betonplatten zierten den Weg dahin, welche weitflächig von Unkraut und anderen Gewächsen durchbrochen wurden. Eine baufällige Mauer umringte das Geländer und ein verrostetes Tor, erweckte trotz seines Zustandes, den Eindruck allen menschlichen Widrigkeiten zu trotzen. Um das eigentliche Gebiet herum, lag eine weite grüne Fläche, dessen Horizont ein dichter Wald umschloss.

Tom registrierte nur am Rande, wie fasziniert, ja regelrecht überwältigt, er sich zu allen Seiten umdrehte. Alles wirkte so… realistisch. So plump, das in diesem Zusammenhang auch klang, aber so war es nun mal. Beinahe meinte er den Wind auf der Haut spüren zu können, den seine Augen ihm vortäuschten, da das Gras sich sanft darin hin und her wiegte.

„Beeindruckt?“, ertönte eine sanfte Stimme in seinen Ohren. Sie erklang nicht aufdringlich oder störend, fügte sich beinahe nahtlos in das Bild ein, als spräche die Welt selbst zu ihm.

„Allerdings. Das ist… erstaunlich.“

Ein leises, selbstzufriedenes Lachen erklang. „Schön zu hören. Wenn du dich noch einmal umdrehen willst, dann verrate ich dir, wo du dich gerade befindest.“

Dem kam er nur zu gerne nach. Erneut fiel sein Blick auf das verwahrloste Gebäude, dem er bisher noch gar keine Beachtung geschenkt hatte.

„Was du da vor dir siehst, ist ein altes Krankenhaus, dass schon lange leer steht. Strenggenommen existiert es gar nicht mehr. Würdest du in diesem Augenblick tatsächlich davor stehen, würdest du hinter dir eine kleine Wohnsiedlung sehen und vor dir eine Baustelle, in der sich nur noch wenige, klägliche Überreste der Ruine finden. Hier jedoch, in dieser konservierten Version, siehst du das Gebäude, wie es noch vor einiger Zeit jahrelang ausgesehen hat. Klar, es ist über die Jahre weiter zugewachsen und baufälliger geworden. Leute haben ihm ihre persönliche Note verpasst, aber im Großen und Ganzen, hat sich hier wenig getan. Ohne menschlichen Einfluss, ist es beinahe in der Zeit still stehen geblieben und wir haben dafür gesorgt, dass es auch so bleibt.“

Das Hauptgebäude umfasste mitsamt dem Dachgeschoss gerade mal drei Stockwerke, breitete sich dafür jedoch umso mehr zu den Seiten hin aus. Es war der Inbegriff dessen, was man sich unter einer zurückgelassenen Ruine vorstellte: Eingeschlagene, wenn überhaupt noch vorhandene Fenster, großflächig fehlende Dachziegel, aufgeplatzte und beschädigte Fassade. Die Eingangspforte, die Tom in mehreren Metern Entfernung ausmachen konnte, war nicht mehr als ein gähnendes Loch, in dem die Dunkelheit darauf lauerte, jeden Eindringling zu verschlingen. Der Gedanke jagte ihm einen leichten Schauer über den Rücken, was ihn selbst überraschte, da er sich eigentlich nicht als sonderlich ängstlichen Menschen betrachtete.

Was ihm noch auffiel, war die unfassbare Stille die hier herrschte. Bis auf den Wind, den er leise durch die Kopfhörer wispern hörte, konnte er keine weiteren Geräusche vernehmen. So würde es in Natura vermutlich auch sein. Ihm, der er sonst den Großstadtlärm gewohnt war, kam das seltsam vor, befremdlich. Gleichwohl genoss er es aber auch und konnte unweigerlich, zumindest im Ansatz verstehen, was so viele Menschen an Orte wie diese zog.

„Willst du nicht hineingehen?“ Eine ruhig gestellte Frage, nicht drängend oder fordernd, eher einen Vorschlag unterbreitend.

Am liebsten hätte Tom geantwortet, nein, wolle er nicht. Nicht, weil er sich sorgte oder unwohl fühlte, ganz im Gegenteil. Vielmehr wollte er noch einen Augenblick, nur ein paar Minuten, weiter diese unfassbare Atmosphäre in sich aufnehmen. Allerdings verstand er, dass er als Tester des Programms, nicht hierher beordert wurde, um in der Landschaft zu stehen und dem Wind zu lauschen, weswegen er sich bereit zeigte, dem Vorschlag Folge zu leisten.

Dabei stieß er jedoch auf das erste Hindernis. Sprichwörtlich.

„Ähm…“, kam es ihm über die Lippen, was normalerweise höchstselten geschah, da er sich darauf geschult hatte, derartige Laute zu unterlassen. Entweder er gab wohlformulierte Worte und Sätze von sich oder er schwieg, dazwischen gab es nicht viel.

„Fragst du dich, wie du da reinkommen sollst?“, lachte Marthi aus einer anderen Sphäre.

„Allerdings…“, gestand Tom ein, wobei er sich noch einmal nach links und rechts umsah. Keine Chance, die Mauer reichte, wenn auch in teilweise schlechtem Zustand, vollständig zu allen Seiten entlang und durch das Tor, konnte er sich auch nicht einfach zwängen… Nun, konnte er theoretisch schon, immerhin existierte es nicht wirklich, auch wenn es danach aussah, aber dies, sollte das Programm ja unterbinden. Anderseits wäre es wohl eine gute Gelegenheit, diesen Umstand auszutesten. Dafür war er schließlich hier.

Er machte ein paar Schritte vorwärts, wobei er anfänglich noch explizit darauf achtete, auf der Stelle zu laufen, schon nach ein paar Metern aber schon glaubte, tatsächlich vorwärtszulaufen und nur noch unterbewusst registrierte, dass dem nicht so war. Kurz darauf stand er direkt vor dem eisernen Tor, es sah wahrlich massiv aus.

Na, dann wollen wir mal. Eine Hand ausstreckend, berührte er einen der Stäbe. Eine leichte Vibration ging durch die Finger, die mit dem Metall Kontakt herstellten und durch die visuelle Übertragung, meinte er bis zu einem Grad tatsächlich die rostige Struktur auf seiner Haut zu spüren. Nach einigem ausgiebigem Tasten ging er dazu über, den Druck zu erhöhen. Die Vibration wurde stärker, seine Hand verharrte an Ort und Stelle. Erst jetzt stellte er fest, dass er tatsächlich sich selbst sah, beziehungsweise seine behandschuhte Hand und den darüber liegenden Arm.

Wie ist das möglich? Mein eigener Körper sollte doch gar nicht in die „grafische“ Visualisierung übertragen und dann auch noch durch diese beeinflusst werden können. Er würde Marthi später darauf ansprechen, für den Moment wollte er die Kommunikation, wie von diesem gewünscht, so gering wie möglich halten.

Als nächstes umschloss er den Stab komplett, statt ihn nur mit den Fingerspitzen zu berühren. Die Vibration ging auf die Handfläche über. Er rüttelte kurz und entschlossen. Zu seiner Überraschung bewegte das Tor sich dabei leicht und gab lautes Geratter von sich. Erstaunt blickte er das metallene Konstrukt hinauf, wobei ein hauchendes „Wow“, seiner Kehle entstieg. Beinahe glaubte er, dass selbstgefällige Grinsen auf Marthis Gesicht zu sehen.

Sie hatten es wirklich geschafft. Sie hatten eine im Rahmen der technischen Möglichkeiten – und gefühlt darüber hinaus – perfekte Illusion eines lange vergangenen Ortes erschaffen. Auf einmal begann der Drang in ihm zu wachsen, von hier fortzukommen. Hineinzugehen in das Krankenhaus und noch mehr solcher kleinen Wunder zu bestaunen.

„Ok, wie komme ich rein…?“, murmelte Tom mehr zu sich selbst, bekam aber trotzdem eine Antwort.

„Der offensichtliche Weg ist manchmal doch der richtige.“

Der offensichtliche Weg… natürlich. Aber… Nein, nichts da Aber. Probieren ging über Studieren und mittlerweile glaubte er fest daran, dass es möglich sein würde. Möglich, realitätsnah über die Mauer zu klettern, um genau zu sein.

Er machte ein paar Schritte zur Seite, bis er einen Bereich der Mauer erreichte, der durch den Verfall besonders tief hing. Tief genug zumindest, dass er sich streckend, den oberen Bereich gut erreichen konnte. Auch hier fühlte sich das Mauerwerk überraschend echt an. Seine Euphorie kam leicht ins Wanken, als er sich zu fragen begann, wie es jetzt weitergehen sollte. Er konnte sich ja schlecht einfach hochziehen, oder?

„Bewege dich ganz natürlich, das Programm erledigt den Rest von selbst“, kam der Rat von Marthi.

Na, wenn du das sagst… Also tat er, was er normalerweise in einer solchen Situation getan hätte – wenn man davon absah, dass er in seinem bisherigen Leben schon seit Jahren nicht mehr über eine meterhohe Mauer geklettert war – und setzte, sich weiterhin oben festhaltend, einen Fuß an das Gemäuer. Dann zog er sich mit einer ruckartigen Bewegung hoch und tatsächlich, sein gesamter Körper ging nach oben, während sein Bein sich wieder ausstreckte. Natürlich spürte er dabei keine Anstrengung und die Bewegung fühlte sich irgendwie… falsch an, weil seine Augen eine andere körperliche Ertüchtigung sahen, als er sie tatsächlich ausübte, doch musste er dennoch zugeben, dass die Illusion weitgehend erhalten blieb.

Die restliche Klettertour ging ähnlich vonstatten. Das er die physikalischen Begebenheiten nur an den Händen, nicht aber an anderen Körperstellen spürte, kam ihm ebenso suspekt vor, aber auch das nur für eine kurze Zeit, bis er sich daran gewöhnte oder besser gesagt, darauf einließ. Zuließ, dass sein Verstand getäuscht wurde. Ohne ein wenig Bereitwilligkeit dazu, abzutauchen in eine fremde Welt, ging es eben doch nicht. Obgleich Tom bereits Ideen vorschwebten, wie sich das Erlebnis noch intensivieren ließe.

Hör auf, es ist nicht dein Projekt. Was nichts daran änderte, dass er sich bereits als Teil davon fühlte und irgendwo auch danach sehnte, weiterhin Teil davon zu bleiben. Vielleicht… Nein, nichts da. Er hatte einmal ein Unternehmen, sein Unternehmen auf dunkle, oder vielmehr graue, Pfade geführt. Er würde nicht auch noch die Verantwortung für diese jungen Menschen übernehmen, die diese Erfahrung, auch ohne sein Zutun, noch früh genug machen würden. Mit ihm, würde der Weg dahin, vermutlich nur umso schneller daherkommen.

Mittlerweile hatte Tom die andere Seite der Mauer sicher und wohlbehalten erreicht. Dabei stellte er erstmalig fest, dass das Gras zu seinen Füßen, zur Seite weggeknickt wurde. Und zwar physikalisch genau, was… unmöglich sein sollte. Marthi und sein Team hatten doch nie und nimmer, jeden Flecken Gras auf jede nur erdenkliche Weise biegen können, um entsprechende Aufnahmen davon zu machen… oder doch?

Das müssen mehr als unzählige Aufnahmen gewesen sein. Allein bei der Vorstellung schwindelte ihm, weswegen er sich regelrecht dazu zwingen musste, seinen Geist wieder auf das vor ihm Liegende zu fokussieren. Immerhin sollte seine Tour durch das verfallene Krankenhaus, nicht durch seine zwanghaften Analysen gestört werden.

Sich wieder auf die Atmosphäre und die Umgebung als Ganzes konzentrierend, ging er weiter, wobei er an einem kleinen Pförtnerhäuschen vorbeikam und wenige Schritte später, den Hauptplatz erreichte, welcher von dem Krankenhaus zu zwei Seiten umringt wurde. Dazwischen stehend, während die leeren Fenster auf ihn herabstarrten, fühlte er sich klein und unbedeutend, vor allem aber fehl am Platz. Als einziges lebendes Wesen, in einer sonst toten Welt, meinte er, hier nichts verloren zu haben. Er empfand das Krankenhaus nicht länger als Ruine, sondern vielmehr als eine Art Gericht, welches hoch über ihm thronend, anklagend auf ihn herabsah.

Verschwinde von hier, schien es zu sagen. Du hast hier nichts verloren.

Eine Gänsehaut zog sich einmal über seinen gesamten Körper. Unsinn, was dachte er da nur? Über sich selbst den Kopf schüttelnd, machte er sich selbst bewusst, dass er sich immer noch in einer Art Simulation befand und selbst wenn nicht, dann wäre dies hier immer noch nur ein leerstehendes Gebäude und kein lebendiges Wesen, das zu derartigen Ausdrücken fähig wäre.

Das Gefühl beobachtet zu werden verging. Weitgehend zumindest. Der Tatsache, dass finstere Löcher bedrohlich um ihn herum in der Luft hingen, konnte er sich trotz seiner rationalen Herangehensweise, nicht gänzlich erwehren.

„Alles in Ordnung?“

Die Frage, die direkt in seinen Gehörkanal drang, ließ ihn heftig zusammenfahren. Beinahe hatte er vergessen, dass er nicht allein war. Nicht in der realen Welt, zumindest.

„J-ja“, stotterte er. „Alles gut.“

„Wirklich? Du klingst ein wenig nervös.“

„Nein, ich meine ja, mir geht es gut, ich war nur…“ Er räusperte sich verlegen. „Das ist das erste Mal für mich an einem solchen Ort.“

Marthi kicherte leise, was Tom ein wenig ärgerte. Zwar konnte er sein Amüsement durchaus verstehen, an seiner Stelle wäre es ihm vermutlich nicht anders ergangen, doch auf der anderen Seite dessen zu stehen, war nicht unbedingt erheiternd.

„Entschuldigung, ich wollte nicht lachen“, meinte der junge Mann sogleich, womit die Situation ein wenig entschärft wurde. „Es ist nur… Wir haben das alle schon durch. Die erste Tour, ist immer die aufregendste. Aber glaub‘ mir, man gewöhnt sich daran, nicht mehr Teil des berauschenden Lebens zu sein, sondern nur ein kleines Licht inmitten der Vergänglichkeit. Ist dieser Punkt erst einmal erreicht, beginnst du es wirklich zu genießen.“

Obwohl er sich darin natürlich keineswegs sicher sein konnte, da jeder Mensch für sich genommen als Individuum mit ganz persönlichen Einstellungen und Empfindungen genommen werden musste, glaubte Tom ihm. Ja, wenn er sich nur nicht von seiner irrationalen Angst übermannen ließ, würde er schon bald wieder der Erhabenheit dieses Ortes unterliegen, wie er sie zu Anfang noch verspürt hatte.

Bis dahin jedoch… nun, unterschwellig konnte er sich einer leichten Sorge nicht erwehren, was ihn aber nicht daran hinderte, weiter auf den Haupteingang zuzugehen. Dass dieser mit jedem zurückgelegten Meter mehr und mehr einem finsteren, endlosen Schlund ähnelte, welcher ihn bereitwillig in sich aufnehmen und nie wieder gehen lassen würde, trug nicht gerade dazu bei, etwas an diesem Umstand zu ändern.

Dennoch schritt er mutig voran – mehr oder weniger –, wodurch er schon bald das klaffende Maul des Krankenhauses erreichte, welches aus der Nähe betrachtet, einen Teil seines Schreckens verlor. Logsicherweise, immerhin handelte es sich dabei nur um einen einfachen Durchgang. Nichts, wovor man sich fürchten musste.

Aus dem Inneren des Gebäudes drang ein Hauch, der wie ein tiefer Seufzer klang und von bitterer Kälte begleitet wurde. Tom fröstelte, bis ihm klar wurde, dass er gar nichts hatte fühlen können, da er sich in einem geschlossenen Raum befand, in dem es seines Wissens nach dank geschlossener Fenster, nicht zog. Er musste dringend aufhören, die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verschwimmen zu lassen.

Eine gute Möglichkeit dafür, sollte das folgende Experiment darstellen, welches ihm auf einmal in den Sinn kam. Bevor er das Gebäude betrat, entschied er, sich nach etwas umzusehen. Schnell wurde er fündig und bückte sich zu einem naheliegenden Stein, faustgroß und perfekt geeignet. Er nahm ihn in die Hand – er ließ sich problemlos aufheben –, holte weit aus und warf ihn mit Kraft durch die Tür. Das Projektil flog in hohem Bogen durch die Luft, schlug irgendwo im Inneren auf den Boden und ließ ein entsprechendes Poltern erschallen.

Ungläubig schaute Tom dem Stein hinterher. Allein, dass er ihn hatte aufnehmen können, hatte ihn mehr als erstaunt, aber diese physikalisch korrekte Flugbahn und der akkurate akustische Laut dazu, übertraf alles, was er erwartet hatte. Wenn er jetzt ein weiteren Stein gegen eines der wenigen, noch intakten Fensterscheiben warf… Nein, das wollte er gar nicht erst probieren, da er sonst womöglich anfangen musste, an seinem Gefühl für das, was echt war und was nicht, zu zweifeln.

Er wartete noch einen Moment in der Erwartung, dass Marthi einen Kommentar alá Beeindruckt? abgeben würde, doch blieb dieser aus. Vermutlich zum Wohle der Authentizität. Nur, dass es in diesem Fall bewirkte, dass Tom dem Alleinsein unterlag, obwohl er wusste, dass er das nicht war, allein. Naja, wissen konnte er das natürlich nicht, da er keinen der Jungunternehmer mehr sehen konnte, doch diese Gewissheit jetzt auch noch anzuzweifeln, hätte vermutlich früher oder später zur Folge gehabt, dass er sich die VR-Brille panisch vom Haupt gerissen und zu Boden geschleudert hätte.

Alles Zaudern nutzte nichts. Nachdem er noch ein paar Augenblicke lang unschlüssig vor der offenen Tür gestanden hatte, setzte er sich nun wieder langsam – und wenn ehrlich zu sich selbst war, immer noch ein wenig widerstrebend – in Bewegung. Er hatte sich dazu bereit erklärt, dieses Programm zu testen, jetzt musste er das auch durchziehen. Oder sich eingestehen, dass er ein Feigling war und den Testlauf beenden, aber das, wollte er nun wirklich nicht. Nicht nur seines Stolzes wegen, sondern auch Marthi und den anderen zuliebe. Außerdem, es war ja immer noch nur ein Programm, oder? Nicht viel bedrohlicher als ein Horror-Roman, der einen zwar in Angst und Schrecken versetzen, aber einem nichts tun konnte.

Als er die drei Stufen hinaufstieg, blies ihm noch einmal ein leiser, eisigkalter Windhauch entgegen. Tom erschauderte erneut, ließ sich davon jedoch nicht länger auf seinem Pfad beirren. Einmal eingetreten, stellte er fest, dass es im Inneren gar nicht so dunkel war, wie es von außen den Eindruck erweckte. Die vielen Fensteröffnungen sorgten zwar nicht für die besten, aber doch ausreichende Lichtverhältnisse, um das Bild der Verwahrlosung und des Verfalls mehr als deutlich zu offenbaren.

Die Eingangshalle, in der er sich nun befand, war nicht viel mehr, als ein nackter, leerer Raum. Bis auf einen Tresen, der früher einmal vermutlich als Anmeldestelle gedient hatte, gab es hier nicht viel zu sehen. Die Tapete, die einst die Wände geziert haben musste, war zu Weiten teilen runtergerissen oder schlicht verfault, so dass der blanke, abbröckelnde Putz sichtbar wurde. Ähnlich verhielt es sich mit dem Boden, welcher zusätzlich noch von Schutt und Staub bedeckt wurde. Von der Decke hingen hier und da lose Kabel herab und weiter hinten fand sich noch eine von wenigen Neonröhren, welche allerdings nur mit knapper Not, von einer einzigen Halterung in Position gehalten wurde, weswegen sie senkrecht runter baumelte und sanft hin und her wiegte.

Tom beobachtete sie eine Weile lang, ließ sich regelrecht von der rhythmischen Bewegung einlullen und wäre vermutlich in einen tranceartigen Zustand verfallen, wenn nicht ein lauter Knall ertönt und durch das gesamte Gebäude geschallt wäre. Vor Schreck wäre er beinahe rückwärts wieder rausgetaumelt, sammelte sich aber gerade rechtzeitig, um zu erkennen, worum es sich bei dem Geräusch gehandelt hatte. Irgendwo in den Tiefen des Krankenhauses, war eine Tür auf- und mit Wucht wieder zu geschwungen. Nur der Wind also, der ihm einen Streich spielte.

Ich sollte mich besser gleich daran gewöhnen… Vermutlich keine schlechte Idee, da dieses Geräusch vermutlich als geskriptetes Ereignis noch häufiger, nach einem festen Schema erklingen würde.

Nun galt es aber erst einmal zu entscheiden, wo er hinwollte. Es gab drei Richtungen zur Auswahl: Nach links, den langen Flügel entlang, der irgendwann einen weiteren Knick nach links machen würde. Nach rechts, wo er auf der kurzen Seite vermutlich relativ bald in einer Sackgasse enden würde oder geradeaus. In Letzterem Fall, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, was ihn erwartete, da er das Gebäude bisher nur frontal gesehen hatte und seinen Aufbau im rückwärtigen Teil nicht kannte.

Mit einem Schulterzucken entschied er, dass es wohl im Grunde keine Rolle spielte, weswegen er sich nach links wandte und einfach loslief. Irgendwann würde er ohnehin einen Großteil des Gebietes erkundet haben, also konnte er auch genauso gut, mit dem anfangen, der ihn vorerst mutmaßlich am weitesten führen würde.

Im Vorbeigehen sah er aus dem Augenwinkel einen Stein mitten auf dem Boden liegen. Freilich konnte er es nicht mit Sicherheit wissen, doch irgendwie glaubte er, dass es eben dieser war, der hier inmitten unzähliger weiterer Trümmer lag, den er hier herein geworfen hatte. Aus einem unerfindlichen Grund machte ihn der Anblick nervös. Als wäre dieses nutzlose Stückchen Fels ein Vorbote dafür, dass ihm noch ein schlimmes Schicksal bevorstand.

Unsinn, tat er diesen flüchtigen Gedanken ab und marschierte erhobenen Hauptes weiter. Was sollte hier drinnen schon passieren? Außer ihm, war schließlich niemand hier und abgesehen davon, befand er sich immer noch in einer virtuellen Realität, in der er sich nicht wirklich verletzen konnte.

Eine für ihn felsenfeststehende Tatsache, die er schon bald anzuzweifeln beginnen sollte.

 

Verschwimmen der Grenzen

Die nächste halbe bis dreiviertel Stunde – Tom verließ langsam sein Zeitgefühl – durchstreifte er scheinbar ziellos das Krankenhaus, während außerhalb davon die Sonne sich langsam dem Horizont näherte. Bis sie unterging, würde noch einige Zeit vergehen, aber allein, dass sie sich fortbewegte und der Tag das Potenzial besaß, sich von seinem Bruder der Nacht ablösen zu lassen, ließ den Mann wieder ein wenig nervös werden. Wenn er auf eines verzichten konnte, dann in der Dunkelheit hier drinnen umherwandern.

Auf eine Anmerkung diesbezüglich hatte Marthi ihm geantwortet, dass sie planten ihren Nutzern in zukünftigen Versionen auch Ausrüstungsgegenstände, wie eine Taschenlampe mitzugeben. Allerdings bräuchte er sich keine Sorgen machen, bevor es dunkel wurde, wäre er entweder schon lange wieder raus oder sie würden die Zeit manuell anpassen, damit er nicht in der Finsternis umherstolpern musste.

Beruhigend, hatte Tom noch gedacht und sich doch nicht so gefühlt. War es im anfangs noch angenehm erschienen, dass er Marthis Stimme nicht präsent und allgegenwärtig hatte hören können, so dass sie sich nicht aufdrängte und die Illusion zunichtemachte, sorgte genau dieser Umstand jetzt dafür, dass er sich isoliert vorkam. Schlimmer noch, es schien ihm eher so, dass er Selbstgespräche mit einer Stimme in seinem Kopf führte, denn mit einer richtigen Person aus Fleisch und Blut. Obwohl er ganz genau wusste, dass das der Fall war, machte sein Kopf ihm doch etwas anders vor.

Wenigstens blieb es innerhalb der Krankenhausruine ruhig. Außer dem mal stärker, mal schwächer wehendem Wind und einigen klappernden Türen – geknallt hatte bisher keine mehr –, gab es nicht viel das die Stille störte. Außer vielleicht seiner eigenen Schritte, da seine Schuhe auf Glassplittern knirschten oder kleinere Trümmerteile bewegten.

Viel zu sehen gab es indes nicht. Ein leerer und verwaister Gang folgte dem nächsten, mit den unzähligen Räumen verhielt es sich ähnlich. Der Zahn der Zeit – und etwaige Besucher – hatten hier so ziemlich alles leergeräumt und nur das knöcherne Gerüst übriggelassen, welches kein Leben mehr füllte. In ein zwei Zimmern hatte Tom nackte, verbogene und eingedellte Bettgestelle gefunden, mehr aber auch nicht. Nun, abgesehen vielleicht von diversen Hinterlassenschaften in Form von Bierflaschen oder leeren Farbdosen. Obgleich Letztere nur wenig Anwendung gefunden zu haben schienen, da die Wände und Böden nur vereinzelt Graffiti zierten.

„Das liegt daran, dass das Gebäude bei unserem Besuch noch nicht lange geöffnet gewesen war“, hatte Marthi ihm bereitwillig erklärt. „Vorher hat man es regelrecht hermetisch abgeriegelt, mit Metallplatten vor den Fenstern und allem. Kein oder nur schweres Reinkommen. Frag‘ mich nur bitte nicht, wer sich für die ‚Öffnung‘ verantwortlich zeichnet.“

Tat er nicht, dafür war sein rastloser Geist viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Obgleich dieser, zusammen mit der verstreichenden Zeit, in der nichts Außergewöhnliches geschah, sich zumindest wieder ein klein wenig beruhigte. Sich zwar gleichwohl selbst verrückt machte, indem er die Grenzen zwischen den beiden Bewusstseinszuständen weiter aufweichte, aber seinen Körper wenigstens nicht mehr mit hektischer Panik überspülte.

Die Zeit, sich daran zu gewöhnen, sollte ihm jedoch nicht gewährt werden.

Es geschah in einem Moment, in dem Tom gerade aus einem der vielen leerstehenden Zimmer trat, die vermutlich einmal Patienten beherbergt hatten. Er wollte sich nach dem Hinaustreten auf den weiten Flur, zur Seite wenden, als plötzlich eine Art Schatten direkt an seinem Gesicht vorbeizog.

Der Mann erschrak so sehr, dass er kurz aufschrie, während ihm das Herz in der Brust stehen blieb. Er taumelte rückwärts, stieß dabei gegen die offenstehende Tür, welche durch die Berührung angestoßen wurde und ein leises Knarzen von sich gab. Da er damit nicht gerechnet hatte – immerhin hatte er sie ja nicht in seinem Rücken spüren können – drehte er sich panisch danach um und erkannte erst mit Verzögerung, dass er sich ganz unbegründet verrückt machte. Nun, zumindest was diesen Aspekt anging.

Ein paar Mal atmete er in dem Versuch, wieder ein paar Gänge runterzufahren, tief durch, ehe er zischend fragte: „Was zur Hölle, war das?“

Sogleich bekam er die zähneknirschende Antwort. „Tut mir leid Tom, das hätte nicht passieren dürfen, dachte wir hätten sie mittlerweile alle ausgemerzt.“

Was ausgemerzt?“, verlangte er schärfer als beabsichtigt zu wissen.

„Die Schatten. Naja, so nennen wir sie zumindest. Im Grunde sind es blinde Flecken. Stellen, die wir bei unseren Aufnahmen übersehen haben. Winzige Winkel meistens, die wir durch mühevolle Kleinstarbeit nachträglich füllen mussten. Wobei wir offensichtlich nicht gründlich genug vorgegangen sind.“

Tom meinte in seinem Ton eine Verärgerung herauszuhören, die im Laufe des Tages noch dafür sorgen würde, dass jemand angebrüllt wurde. Vielleicht würde es nicht ganz so drastisch kommen, doch der Verantwortliche für diesen Fehler, würde diesen in jedem Fall auf irgendeine Art zu spüren bekommen. Beinahe tat es ihm leid, auf diesen „Schatten“ gestoßen zu sein, da er den sonst, bisher sehr gut laufenden Testlauf – zumindest für die Entwickler des Programms – trübte.

„Ich mache dann mal weiter“, erklärte er, obwohl sein Herz immer noch wild raste und er am liebsten aufgehört hätte.

„Danke“, erwiderte Marthi ehrlich. „Ernsthaft. Ich weiß, dass dir das nicht leichtfällt, aber du bist uns eine immense Hilfe.“

Die Worte rührten ihn so sehr, dass er gar nicht mehr daran dachte, abzubrechen. Gleichzeitig sprach aber auch eine leise Verzweiflung in ihnen mit, die ihn betrübte. Denn sie drückten aus, dass das Kontingent an Testern, die sich hierfür angemeldet hatten, nicht gerade groß war, sofern es neben Tom denn überhaupt andere Anwärter gab.

Die nächste viertel Stunde oder so – eine Uhr wäre echt praktisch! – verlief wieder ereignislos. Genug Gelegenheit also, dass der einsame Wanderer erneut in der eigentümlichen Atmosphäre versinken konnte. Nicht gerade in ihre tiefsten Abgründe, denn dafür ließ seine emotionale Lage ihn zu sehr nach oben treiben, aber doch genug, damit er wenigstens erneut eine Ahnung darüber bekam, warum Menschen die Risiken auf sich nahmen, verletzt, von der Polizei oder anderen Sicherheitskräften entdeckt oder in Angst und Schrecken versetzt zu werden.

Eine Künstler mochte hier von seiner Muse geküsst werden und seiner kreativen Ader entweder gleich an Ort und Stelle oder später, in den sicheren vier Wänden Form und Farbe verleihen. Abenteurer bekamen das gewisse Etwas, den Nervenkitzel. Rastlose Seelen, die von der Welt geplagt wurden, konnten hier für eine gewisse Zeit dem Trubel entfliehen und ein wenig Frieden finden. Mehr als genug Anreize also und sicher nicht die einzigen, die so manche Seele an Lost Places lockte. Selbst Tom, der durch diverse Ereignisse eigentlich den Reiz beinahe verloren geglaubt hatte, konnte sich nicht der stummen Frage erwehren, ob eine solche Tour nicht einer Wiederholung würdig wäre.

Eine Überlegung, die er gleich darauf restlos und endgültig, revidieren sollte.

Ein weiterer leerer Gang, der nicht viel mehr zu bieten hatte als die zuvor. Mittlerweile zeichnete sich eine gewisse Gleichförmigkeit ab, was allerdings keineswegs für Monotonie oder Langweile sorgte. Der Ort bot genug Spannung, auch wenn viele Räume und Flure sich wie ein Ei dem anderen glichen oder sie sich wenn, dann nur durch den Grad ihrer Zerstörung unterschieden.

Was ebenfalls für Spannung und damit verbunden, mit einem weiteren Beinahe-Herzinfarkt sorgen konnte, war das plötzlich Erschallen eines glockenhellen Kinderlachens, welches Tom nicht nur das Blut in den Adern, sondern ihn auch gleich mitten in der Bewegung erstarren ließ. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er dumpf den Gang herunter, welcher mittlerweile nur noch spärlich von draußen beleuchtet wurde.

Das hatte er sich eingebildet, oder? Ja, ganz sicher, so musste es sein. Sein Hirn spielte ihm einen Streich vor… oder… „Marthi…?“, brummte er gedehnt, wobei seine Angst schlagartig wieder von ihm abfiel.

„Was ist?“, fragte dieser die Unschuld in Person, was Toms Verdacht nur verstärkte.

„Hast du was damit zu tun?“

„Womit?“

„Ach nun komm schon, hör…“ Er verstummte mitten im Satz, als das Lachen erneut erklang. Näher dieses Mal. Außerdem war es ihm nun möglich, die Richtung zu bestimmen, weswegen er sich auf dem Absatz umdrehte, auch wenn alle seine Instinkte ihm zuschrien es zu lassen und das Weite zu suchen. Zu seiner Erleichterung fand er niemanden vor. Kein kleines Mädchen, keine geisterhafte Erscheinung, nur die Überreste eines leerstehenden Krankenhauses.

„Scheiße, was war das…?“, hauchte Marthi in sein Ohr.

„Ich hatte gehofft du könntest mir das sagen.“ Das der junge Mann immer noch versuchte, ihm weiszumachen, er hätte damit nichts zu tun, machte ihn langsam echt wütend.

„Das sollte nicht…“, setzte der andere an, unterbrach sich dann aber mitten im Satz selbst. „Oh diese verdammten…“ Er fluchte unverständlich weiter, fasste sich nach ein paar Sekunden halbwegs und fuhr fort. „Entschuldige mich kurz Tom, ich fürchte, da hat sich jemand aus unserem Team einen ganz schlechten Scherz erlaubt. Bin gleich zurück. Eric wird dich solange betreuen. Mach… mach einfach so gut es geht weiter, ok? Und tut mir leid, wirklich.“ Kurz darauf hörte er, wie in scheinbar weiter Ferne, eine Tür etwas zu energisch auf- und wieder zugemacht wurde. In der realen Welt, in dem Büroraum.

Einerseits sorgte diese Botschaft dafür, dass Toms Wut verflog, andererseits bereitete es ihm wieder Sorge über die Unstimmigkeiten in diesem kleinen Unternehmen, dass durch eben solche Lappalien schnell ein ähnliches Schicksal erleben konnte, wie das Krankenhaus, in dem Tom sich gerade befand: Es endete als Trümmerfeld. Als rauchende Ruine. Als Ort, der dem Vergessen anheimfiel.

„Also Eric“, leierte er nun das nächste Gespräch an, „einer deiner Kollegen scheint ja einen ziemlich schrägen Sinn für Humor zu haben.“

„Ja“, murrte dieser und gähnte danach erst einmal herzlich. „Dabei ist das eigentlich nicht mal witzig.“

„Das kannst du laut sagen.“

„Nein du verstehst nicht“, widersprach er. „Ich meine die Sache mit dem Mädchen.“

Aus irgendeinem Grund ließen diese Worte den Puls des Testsubjektes wieder ein bisschen höher schlagen. Er war sich nicht sicher, ob er das Folgende wirklich hören wollte, konnte seine Neugierde aber auch nicht genug um Zaum halten, um die Frage nicht zu stellen. „Was genau meinst du?“

„Ach, das sind nur unbestätigte Berichte. Von einigen Lost Place-Gängern hat man gehört, dass ihnen Seltsames wiederfahren wäre. Eine unheimliche Stimmung, die sich plötzlich ausbreitet und die Leute zur übereilten Flucht animiert. Das Gefühl, dass eine Art… Präsenz anwesend wäre, solche Dinge halt. Nichts Außergewöhnliches ehrlich gesagt, allen Lost Places haften solche Geistergeschichten an. Manchen mehr, manchen weniger. In diesem Fall jedoch…“

„Was? Was ist mit ‚diesem Fall‘?“

„Naja, wie gesagt, dass ist alles unbestätigt, aber es heißt, man hätte bei den Bauarbeiten die Gebeine eines kleinen Mädchens gefunden, das vor etwas über zwanzig Jahren verschwunden sein soll. Keine Ahnung, ob da was Wahres dran ist, aber wenn man bedenkt, dass nicht wenige Besucher des Krankenhauses von unheimlichen Kinderlachen berichtet haben, ist das schon ein bisschen schaurig. Wenn es dich beruhigt: Bei den vielen Malen, die wir dort waren, ist uns nie etwas Derartiges begegnet.“

Das beruhigte ihn keineswegs. Unbestätigte Berichte hin, – in diesem Zusammenhang – makabrer Scherz her, das Lachen hatte ihm eine Scheißangst eingejagt und wenn der Witzbold es so programmiert hatte, dass es mehrfach auftrat, würde er sich dem vermutlich noch öfter stellen müssen und er konnte nicht mit Sicherheit sagen, das auszuhalten.

Gerade als er sich überwinden und das ansprechen wollte, kam Eric ihm zuvor, schien aber nicht zu ihm zu sprechen. „Wie? Ja, aber… ok, ok, ist ja gut, beruhig‘ dich man, komme schon.“ Hey, Tom?“

„Ja?“

„Marthi… dreht gerade ein bisschen am Rad, ich muss dich mal kurz allein lassen. Ich beeil mich, ok?“

Ehe er auch nur den Hauch einer Chance bekam zu widersprechen, bemerkte er schon, wie die Verbindung gekappt wurde. Er vermutete, dass Eric sich gleich darauf auf den Weg machte, konnte es aber natürlich nicht mit Gewissheit sagen, da er ihn ja weder hörte noch sah.

Ich sollte einfach… Just in diesem Moment kam es wieder, das Kinderlachen. Es klang hell und fröhlich, aber auch irgendwie verzerrt, als läge noch etwas unter dieser Heiterkeit. Nicht direkt etwas Düsteres oder Bedrohliches nur… Traurigkeit.

Ein ganz, ganz übler Scherz. Wahrlich.

Aber all diese Dinge interessierten ihn nicht, nicht in diesem einen Augenblick zumindest, da das Lachen dieses Mal nicht aus der Ferne, sondern von direkt hinter ihm erklungen war und sein Hirn ihm, entgegen jeder Vernunft, nur einen einzigen Befehl zuschrie: Lauf!

Er rannte, rannte davon, so schnell ihn seine Beine nur trugen. Nun, schnell war er, nur weit kommen sollte er nicht, da er in dieser Sekunde, in der seine Instinkte die Kontrolle übernahmen, vergaß, dass er sich in einer Simulation befand und nur auf der Stelle laufend, fortbewegen konnte oder besser, sollte. So kam es dass er keine fünf Schritte schaffte, ehe er in angesetztem vollen Sprint gegen eine Wand rannte, die er nicht sah, er zurückgeschleudert wurde, noch einmal mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug und dabei restlos das Bewusstsein verlor.

 

Isolation

Tom erwachte mit dröhnenden Kopfschmerzen. Außerdem tat sein Rücken höllisch weh, weil ihm etwas hartes, spitzes ins Fleisch drückte. Er rollte sich zur Seite und von dem Gegenstand runter, schon besser. Auf der Seite liegend hob er seine Hand an den Kopf, wobei er ein festes Material aus Kunststoff ertastete. Die VR-Brille, natürlich. Hoffentlich hatte sie bei seinem Sturz keinen Schaden genommen. So oder so, jetzt musste er sie erst einmal loswerden, da sie dem Hämmern in seinem Schädel nicht gerade zuträglich war. Außerdem sah er mit ihr nichts mehr, da war vor Finsternis. Das Programm musste während seines Unfalls unterbrochen worden sein.

So vorsichtig wie irgend möglich, schob er das Gerät von sich runter, schaffte es jedoch nicht, es auch behutsam abzusetzen, da er gleich darauf eine Feststellung machte, die ihm seine Sorge um technische Gerätschaften, witzlos erscheinen ließ.

Das kann nicht sein… Und doch, seine Augen bezeugten es. Vor sich sah er einen von Trümmern übersäten Boden, welcher in einer nackten Wand mündete, von dem der Putz rieselte. Ein eisiger Wind fegte durch den kaum mehr beleuchteten Gang und ertönte dabei einen schaurigen Laut. Sonst herrschte nichts als Stille. Totenstille.

Tom schloss die Augen, verkniff das Gesicht und schüttelte den Kopf, als könne er damit die Realität, die sich vor ihm aufgetan hatte, ungeschehen machen. Aber so funktionierte die Welt nicht. Sie konnte bis zu einem gewissen Grad geformt und beeinflusst werden, nicht jedoch gänzlich dem Willen ihrer Bewohner unterworfen werden, weswegen der Mann, als er die Augen vorsichtig wieder öffnete, sich noch immer in dem verlassenen und Verfall überlassenen Krankenhaus wiederfand.

„Was passiert hier nur?“, flüsterte er leise und bereute es sogleich. Seine Stimme schien fehl am Platz an diesem Ort. Sie gehörte nicht hierher. Er gehörte nicht hierher. Er war ein Störenfried, ein Lebender im Reich des Vergessens.

Doch nein, das war unmöglich. Eben hatte er sich doch noch in einem Büroraum befunden, wie hatte er dann hierherkommen können? Träumte er vielleicht? Nein, dafür fühlte sich das Alles zu real, zu greifbar an. In dem Krankenhaus konnte er aber auch nicht sein, das existierte ja schließlich nicht mehr, oder besser gesagt, nicht in der Form, in der Marthi und sein Team es dargestellt hatten.

Moment, Marthi! Das war es! Nein… das ergab auch keinen Sinn. Er hätte ihn wohl kaum bewusstlos vorgefunden und entschieden, statt ihm zu helfen, ihn an einen solchen Ort zu verschleppen und allein zurückzulassen und selbst wenn, wäre jemand anderes aus dem Team doch dazwischengegangen, oder? … Oder?

Unsinn!, ermahnte Tom sich selbst. Es gab sicherlich für alles eine mehr oder weniger logische Erklärung. Er musste nur… ja, was? Aufstehen, wäre wohl für den Anfang eine gute Idee. Hier rumliegend, würde er sich bei der Kälte nur den Tod holen. Ganz schlechtes Wortspiel, alter Knabe…

Dennoch gab er sich recht. Aufstehen sollte er und dann herausfinden wo er hier war und wie er hier wegkam. Wie er wieder in seine vertraute Umgebung zurückgelangte.

Schwerfällig richtete er sich auf, wobei ihm leicht schwindelte. Er musste sich den Kopf härter als bisher angenommen, angeschlagen haben. Vorsichtig tastete er ihn noch einmal ab – wobei ihm auffiel, dass er immer noch die Handschuhe trug –, zuckte bei einigen Berührungen zusammen, bemerkte dafür aber erleichtert, dass er wenigstens nicht blutete. Das war doch schon mal was. Man musste die kleinen Dinge im Leben zu schätzen wissen, vor allem wenn alles andere um einen herum in die Brüche ging. Sprichwörtlich.

Seinem Schwindelgefühl zum Trotz, führte er seinen Ansatz zu Ende und stand so gefasst wie möglich auf. Zwar schwankte er dabei ein wenig, doch blieb er halbwegs sicher auf den Füßen, weswegen er sich jetzt erst einmal ausgiebig umsehen konnte. Hätte er es doch nur nicht getan. Wäre er doch nur liegen geblieben. Augen zu und darauf warten, dass der Albtraum endete. Das hätte er tun können.

Unmöglich, dachte er schon wieder. Der Anblick, der sich ihm bot, sprach andere Bände. Es war der gleiche Ort, der gleiche verfluchte Lost Place, das Krankenhaus. Schlimmer noch, er stand immer noch in dem Gang, an den er sich zuletzt erinnern konnte, in dem die Panik ihn so sehr übermannt hatte, dass er blindlings drauf los und gegen eine Wand gerannt war.

Aber das konnte nicht sein, oder? Wenn er sich in der realen Welt befand, dann sollte dieses Gebäude doch zum Großteil bereits abgerissen worden, was… Halt, zum Großteil? Stimmt, Marthi meinte es wäre gerade Baugelände, das bedeutete…

So schnell vorpreschend, dass er beinahe über seine eigenen Füße stolperte, näherte er sich einem der vielen offenen Fenster, stürzte fast daraus heraus und erkannte… Nein… Nichts. Oder besser gesagt alles. Alles beim Alten, um genau zu sein. Es hatte sich rein gar nichts verändert, das Gelände lag noch immer so da, wie er es vor – was, wenigen Stunden? – bereites erkundet hatte. Aber das musste ja bedeuten…

Nein, auf keinen Fall, eine derartige Erklärung wollte und konnte er nicht akzeptieren. Etwas anderes ging hier vor sich. Es musste so sein! Womöglich war dies hier gar nicht das Krankenhaus, von dem Marthi die ganze Zeit gesprochen hatte, oder besser noch, er hatte sich schlichtweg geirrt. Es war nie abgerissen worden. Ja, das klang logisch, das ergab Sinn, mit dieser Vorstellung konnte er sich zufriedengeben. Es erklärte zwar immer noch nicht, wie er hierhergekommen war, aber darum würde er sich später kümmern. Erst einmal galt es hier rauszukommen und einen Weg nach Hause zu finden.

Also gut… der Weg nach Hause… Wo genau befand er sich eigentlich? Da er die ganze Zeit in dem Glauben gewandert war, er bräuchte nur die Brille abnehmen, um in seine Welt zurückzukehren, hatte er natürlich nicht darauf geachtet, wo er hingegangen war und wie er den Weg zurückverfolgen konnte.

Das wurde ihm jetzt zum Verhängnis, denn das Gebäude stellte vielleicht nicht gerade ein Labyrinth dar, sah doch aber an jeder Ecke beinahe identisch aus, weswegen es recht wenig Fixpunkte gab, an denen er sich orientierten konnte. Aus diesem Grund entschloss er sich kurzerhand einfach eine Richtung einzuschlagen, von der er meinte, dass es die richtige sein müsste. Auf die Idee, einfach aus einem der vielen Fenster zu klettern, um ins Freie zu gelangen, kam er erst gar nicht, weil sie in seinem althergebrachten Verständnis für geschlossene Bauten eine unüberwindbare Grenze darstellten…

Nach ein paar Metern, die er hinter sich gebracht hatte, geschah, was geschehen musste. Der rhythmische Ton erreichte gerade erst Toms Ohren, da nahm er bereits die Beine in die Hand und rannte einfach drauf los, um von ihm wegzukommen. Er wusste nicht wohin, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Das hier war nicht länger ein virtuelle Realität, ein Programm, das hier war bitterer Ernst und wenn man in einer solchen Situation, an einem solchen Ort, das Lachen eines kleinen Kindes hörte, dann tat man das einzig Richtige: Man sah zu, dass man wegkam, so schnell es nur gelang.

Er bog um eine Ecke, er bog um eine andere, er rannte durch irgendeine größere Halle, die ihm entfernt bekannt vorkam, er hielt nicht an, sah sich nicht um, achtete darauf nicht zu stolpern, stellte unterbewusst überrascht fest, wie gut seine Lungen – und sein lädierter Kopf! –  das Prozedere mitmachten und erreichte sie schließlich, wie durch ein Wunder, wie durch göttliche Fügung, die Haupthalle. Jetzt nur noch durch die Tür raus und er war frei. Gleich. Jeden Moment.

Das Lachen, dass ihn unentwegt nicht leiser werdend verfolgt hatte, verstummte. Er wusste das es dämlich war, wusste, dass er einen Fehler beging, und doch tat er es.

Statt aus dem rettenden Loch, dass ihn vor einer gefühlten Ewigkeit verschlungen hatte heraus zu preschen, blieb er stehen. Ich kann immer noch schnell abhauen, versicherte er sich und das so glaubwürdig, dass er tatsächlich zu der Überzeugung gelangte, dass es so wäre.

Dann beging er, in vollem Bewusstsein darüber, was er da tat, den nächsten Fehler. Er drehte sich von der Tür weg und wandte sich erneut dem Innenleben dieses schaurigen Ortes zu. Es hatte sich nicht verändert. Weiterhin keine Geister oder andere, unerklärliche Erscheinungen, die seinen Weg kreuzten oder versuchten ihm das Leben auszuhauchen. Nur leere Gänge, Zimmer und eine stillstehende Zeit. Leblosigkeit. Verfall.

Beinahe kam Toms Seele wieder so zur Ruhe, dass er hätte hierbleiben können. Ja, die ewig währende Stille schien gar zu locken und zu wispern, dass er nicht gehen bräuchte, dass er sich ihr anschließen könnte. Für immer, wenn er das wollte.

Als der Hauch eines Impulses durch seinen Körper strömte, der sich dagegen zur Wehr setzte, der ihn warnte, ihm zuschrie, nicht darauf zu hören, sondern seine Flucht fortzusetze, änderte sich die Stimmung von einer Sekunde auf die andere.

Aus der leisen Brise wurde ein regelrechtes Unwetter. Eine gewaltige Windböe fegte durch das gesamte Gebäude, stark genug ihn umzureißen, wenn er sich nicht dagegen gestemmt hätte. Das war sie also gewesen, die berüchtigte Ruhe vor dem Sturm. Jetzt wusste er, dass es für ihn noch nur eines zu tun gab: Von hier wegkommen.

Erneute drehte er sich um, doch mitten in der Drehung wurde ihm auf einmal schwarz vor Augen und gleichzeitig ertönte ein lauter Knall. Oder erschallte zuerst der Knall und dann wurde alles schwarz? Ganz egal, etwas stimmte hier nicht und Tom bereute jetzt schon, nicht gleich abgehauen zu sein. Eine Nachlässigkeit, die er jetzt schnellstmöglich nachholen würde.

Glücklicherweise war er direkt vor dem Ausgang stehen geblieben, weswegen er nur einen Schritt machen brauchte, um ihn zu erreichen und ins Freie zu gelangen. Als er genau diesen hinter sich brachte, erkannte er seinen Fehler. Ein dumpfes Klonk ertönte, als Tom mit dem Fuß gegen irgendetwas hartes stieß. Dank der Finsternis konnte er nicht ausmachen, worum es sich dabei handelte, doch sein Geist malte ihm bereits farbenreiche Bilder, welche ihn in einen panischen Zustand versetzten.

Bitte sag‘, dass das nicht wahr ist. Vorsichtig und vor allem langsam, streckte er die Hand aus, um seine These zu überprüfen. Je länger er dafür brauchte, desto mehr hoffte er sich geirrt zu haben, dass seine Hand bereits über die Grenze, die sein Fuß ausgemacht hatte, hinausgekommen war. Ein weiterer Trugschluss, wie er gleich darauf feststellen sollte.

Seine Finger strichen ungläubig über die massive Metallplatte, erkundeten jeden Zentimeter davon und fanden doch keine einzige Lücke, keinen noch so schmalen Spalt. Wie konnte das sein? Wo kam sie her?

Toms Augen wanderten zur Seite, die Wand entlang. Da es immer noch stockdunkel war, konnte er kaum etwas erkennen, obgleich sein Sehsinn sich mittlerweile ein wenig daran gewöhnt hatte. Dennoch war er sich nun ziemlich sicher, dass auch sämtliche Fenster eine ähnliche Metallkonstruktion aufweisen würden. Es gab kein Entkommen mehr, keinen Weg raus. Die Freiheit, so nah und doch so fern, war ihm schlichtweg genommen worden. Einfach so, als hätte eine höhere Macht entschieden, dass er genug Zeit gehabt hätte, um seinen Arsch zu retten.

Aber so leicht würde er nicht aufgeben. Und wenn er jeden verfluchten Winkel dieses Krankenhauses erkunden musste, er würde irgendwo ein Fenster finden, dass man vergessen hatte, das nicht versiegelt worden war. Oder aber eine Möglichkeit, eben jene Versiegelung aufzubrechen. Um das Wie, also wie es überhaupt so weit hatte kommen können, kümmerte er sich schon gar nicht mehr. Es gab keine rationale Erklärung für ein derartiges Ereignis, also blieb nur es zu akzeptieren und mit heiler Haut davonzukommen.

Insbesondere der letzte Teil sollte nicht ganz einfach werden. Nicht etwa, weil er durch die Dunkelheit tappend Gefahr lief, zu stolpern oder überall gegenzulaufen – wobei dies durchaus einen nicht zu verachtenden Aspekt darstellte –, sondern weil ihm auf einmal ein verräterischer Geruch in die Nase stieg, welcher ihm bewusst machte, wie schnell der Sand durch das Glas der Zeit rann.

Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Ungefähr so schlecht, wie der mit der geisterhaften Erscheinung, die in das Programm eingespeist worden war. Nur, dass er sich längst nicht mehr darin befand und der Rauchgeruch, der sich immer stärker ausbreitete, ihm tatsächlich unter Umständen das Leben rauben konnte. Das hieß, wenn er nicht vorher von den Flammen, von denen der Geruch ausging, verzehrt wurde.

Jedenfalls würde er der Feuersbrunst nicht entkommen, wenn er weiter tatenlos nur rumstand. Was den letzten Funken überspringen brauchte, den er für seine Motivation benötigte, erschien in Form von flackernden Lichtern, die ihm den Pfad erhellten. Noch musste das Feuer weit weg sein, da er es weder hören noch sehen konnte, nicht direkt zumindest, doch wollte er es nach Möglichkeit auch gar nicht erst dazu kommen lassen, weswegen er sich eilig von ihnen abwandte und lossprintete. Wohin, dass wusste er nicht, wieder einmal, aber überall würde es wohl besser sein, als in einer Eingangshalle, von der es kein Hinauskommen gab.

 

Inferno

Tom rannte und rannte immer weiter, während seine Sicht erst besser und dann zusehends, immer schlechter wurde. Ebenso wie die Luftverhältnisse.

Das Feuer schien überall zu sein, es loderte und brannte und fauchte ihn von allen Seiten an. In jeden Raum, den er betrat, erwartete es ihn schon. In jedem Gang konnte er es in weiter Entfernung ausmachen. Zwar erhellt es ihm in den Weg und verhinderte, dass er über etwaige Trümmer stolperte, doch breitete sich auch gleichzeitig oder vielmehr schneller als das Inferno selbst, der Rauch aus, welcher in schwarzen Schwaden jeden Winkel erfüllte.

Mit jeder verstreichenden Minute wurde das Atmen für Tom mehr und mehr zur Qual. Er hustete, er schwitzte, wurde schwächer. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Entweder er verlor das Bewusstsein und erstickte oder aber er machte einen falschen Schritt und landete inmitten eines Brandherdes.

Ihm blieb keine Zeit sich über derartige Dinge Gedanken zu machen. Dafür pumpte sein Herz zu viel Adrenalin durch seine Venen. Selbst Angst oder Panik verspürte er nur unterschwellig. Sein Überlebensinstinkt, hatte die Oberhand ergriffen.

Dennoch drang irgendwo aus den Tiefen seines Verstandes immer wieder eine Botschaft durch seinen Verstand: Es gibt keinen Ausweg. Es gibt keinen Ausweg. Es gibt keinen verfluchten Ausweg!

So weit er auch suchte, so viel er sich auch versuchte wenigstens den Hinweis eines unverschlossenen Fensters zu finden, es brachte nichts. Vor allem da er mittlerweile komplett die Orientierung verloren hatte und sich nur noch leiten ließ, leiten, von den Flammen, die immer mehr Wege versperrten, seine Möglichkeiten einschränkten.

Aufgeben kam für ihn trotzdem nicht in Frage. Nicht, weil seine Kämpfernatur ihn antrieb, sondern weil er schlicht nicht daran dachte. Dafür ließ ihm sein Körper erst gar nicht die Option offen, da er ihn immer weiter vorantrieb. Antrieb, doch noch etwas zu finden. Irgendetwas.

Und dann bewies das Universum erneut seinen schlechten Sinn für Humor.

Tom bog in einen Gang ein, der ihm, wenn er sich die Zeit hätte nehmen können und er nicht gerade von pechschwarzen Schwaden verdeckt worden wäre, sicher wiedererkannt hätte. Mittlerweile war seine Sicht so schlecht und sein Körper so ausgelaugt von der Hitze und den Einschränkungen der Atmung, dass er mehr schlecht als recht durch die Gegend hinkte und stolperte und polterte, denn, dass er noch auf sicheren Beinen lief, geschweige denn rannte.

Vielleicht rettete ihm dies sein Leben.

Irgendwann geschah, was sich kaum hatte vermeiden lassen. Etwas kreuzte seinen Weg und zwar in einem Augenblick der Unachtsamkeit. Einem Moment, in dem er nicht genau hinsah oder besser gesagt, generell kaum mehr bis gar nichts sehen konnte. Er stieß in – nicht mehr ganz vollem Lauf – voll dagegen, geriet ins Schlingern und fand sich nach einer verzweifelten Aktion, in der er mit den Armen rudernd noch irgendwie versuchte das Gleichgewicht zu behalten, auf dem Boden wieder. Die Schmerzen, die dabei durch seinen Körper zuckten, spürte er kaum.

Gar nicht mehr bemerkte er sie, als sein Blick auf das Objekt fiel, das sich ihm so dreisterweise zwischen die Beine geworfen hatte: Die VR-Brille, die er zurückgelassen hatte.

Eine wahnwitzige Idee schoss durch seinen Kopf. Allein, dafür dass er auf diesen Gedanken kam, müsste er sich selbst für verrückt erklären und unter normalen Umständen, hätte er das auch, doch dies waren keine normalen Umstände, ganz im Gegenteil.

Tom war von Kinderlachen verfolgt, in eine andere Welt gezogen und in einem hermetisch abgeriegelten Gebäude eingesperrt worden, der sich dann auch noch in einen riesigen Backofen verwandelt hatte. Nein, von Normalität konnte hier schon lange nicht mehr gesprochen werden, was sprach da noch dagegen, diesem völlig abwegigen Ansatz nachzugehen? Gar nichts, kam die simple Antwort. Vor allem da er sowieso nicht daran glaubte, noch viel länger durchhalten zu können. Aufstehen, würde ihn mittlerweile vermutlich schon vor eine unschaffbare Herausforderung stellen, vom Weitergehen wollte er da gar nicht erst anfangen.

Was soll’s, dachte er also, wobei er langsam, mit schwachen und zittrigen Armen, die Hände nach dem VR-Gerät ausstreckte. Er umklammerte es, zog es an sich heran und schaffte es nur mit knapper Not, es überhaupt zu seinem Haupt hochzuschieben. Seine Kräfte schwanden nun rapide, wahrscheinlich blieben ihm nur noch Minuten, wenn überhaupt.

Ein heftiger Hustenanfall stieg seine Kehle hinauf und ließ seinen gesamten Körper erbeben. Dabei entglitt ihm die VR-Brille wieder und schien, nachdem er sich halbwegs wieder im Griff hatte, auf einmal unendlich weit weg. Beinahe erschien es ihm verlockend, sie einfach liegen zu lassen, ebenso wie sich selbst. Hatte er nicht genug getan und war es nicht ohnehin ein vergebliches Unterfangen?

Doch nein, er konnte nicht; dürfte nicht aufgeben, ehe alle Möglichkeiten ausgereizt worden waren.

Also noch mal von vorn. Erneut streckte er sich nach dem Gerät aus, erneut bekam er es mit Mühe zu fassen. Dieses Mal blieb der Husten aus, weswegen er es sich tatsächlich nach vielem Hin und Her über den Kopf ziehen konnte.

So lag er nun da, den technischen Firlefanz auf dem Kopf, während um ihn herum das Feuer immer näher rückte. Immerhin sah er es nicht mehr, da vor seinen Augen dank der Brille nur Finsternis lag. Hören konnte er es dafür noch sehr gut und den Rauch hinderte es natürlich auch nicht daran, weiter in seine Lungen zu geraten, so dass er ihn langsam umbrachte.

Wie töricht von mir, dachte er, während sich ein weiterer Hustenanfall seinen Hals hocharbeitete. Habe ich etwa wirklich geglaubt, so leicht hier wegzukommen? Vielleicht hatte er das. Vielleicht hatte ein winziger Teil von ihm, tatsächlich an eine Art Magie geglaubt, die ihn in das sichere Heim bringen würde. Hätte er doch nur an seine roten Schuhe – die er nicht besaß – gedacht, dann hätten seine Chancen womöglich ein klein wenig besser gestanden.

Tom schloss die Augen, er konnte eh nichts mehr sehen. Außerdem fühlten seine Lider sich so unendlich schwer an. Sie auf zu halten, schien ihm eine unmöglich stemmbare Aufgabe. Seine restlichen Sinne registrierten, wie das Feuer näherkam. Es knisterte, breitete eine immer größer werdende Hitze über das gesamte Innenleben des Krankenhauses aus. Gleich musste es soweit sein, jeden Moment würde es ihn erreichen, ihn verschlingen und nur Asche von ihm übriglassen.

Gleich…

Jeden Augenblick…

Die Zeit verstrich, dehnte sich von Sekunden zu Minuten zu Stunden. Zumindest kam es ihm so vor. Nichts geschah. Was hatte das zu bedeuten?

Ein letztes Mal kämpfte sich ein Funken Zorn seine Fasern entlang. Er hatte es getan, hatte sich hingegeben, wollte… aufgeben. Und dann ließ man ihn nicht? Dann wurde er hier liegengelassen, unberührt, geschont? Und was jetzt? Verschwand das Feuer dahin, wo es hergekommen war, damit er als ewig rastloser Wanderer durch diese verkohlten Ruinen streifen sollte? Da starb er lieber einen grausamen Tod!

Gleich darauf merkte er es: Tatsächlich, die Flammen entfernten sich. Erst ließ das Knistern nach, gefolgt von der schwächer werdenden Hitze, selbst die Luft wurde auf einmal wieder ein wenig frischer, atembar.

Tom riss die Augen wieder auf, seine Wut füllte ihn nun mehr und mehr aus. Dank dieser dämlichen Brille sah er natürlich immer noch nichts, weswegen er sie sich energisch vom Kopf riss und ungeachtet, irgendwelcher potenziellen Schäden wegwarf. Erst mit Verzögerung registrierte sein geschundener Geist, dass er seine Umgebung sich einmal mehr, drastisch verändert hatte.

Nur langsam, zähflüssig regelrecht, sickerte die Erkenntnis in seinen Verstand, dass er es geschafft hatte. Vor sich, sah er die kahlen Wände eines Büroraumes. Er lag auf weichem Teppichboden. Ein Schreibtisch, samt Computer stand in der einen Ecke des Zimmers. Als er es endlich begriff, platzte ein kurzes Lachen aus ihm heraus. Ich hab’s geschafft, jubilierte er. Ich bin zurück.

Außer ihm befand sich niemand in dem Raum, was wohl bedeutete, dass Eric immer noch nicht wieder da war. Hieß das, man hatte ihn einfach nicht entdeckt? Das er wirklich nur geträumt hatte, während er ohnmächtig hier gelegen hat? Er wollte das gerne glauben, konnte sich aber – noch nicht – gänzlich davon überzeugen. Später, wenn er zu Hause in seinem Bett lag, würde es ihm vermutlich leichter fallen, das Ganze als Hirngespinst abzutun. Jetzt jedoch erschienen ihm die Ereignisse noch zu nah, zu greifbar, als dass er das so einfach hätte tun können.

Ein Nachteil hatte seine Rückkehr jedoch: Da für ihn keine direkte Gefahr mehr bestand und sein Adrenalinpegel runtergefahren wurde, kehrten seine rasenden Kopfschmerzen zurück. Außerdem schwindelte ihm wieder und das schon, während er nur auf dem Boden lag.

Muss Hilfe finden, dachte Tom knapp. Dafür musste er allerdings erst einmal aufstehen oder sich zumindest genug aufraffen, damit er zur Tür kam. Mit bedachten, ruhigen Bewegungen schaffte er es irgendwie sich hochzustemmen. Das Schwindelgefühl wurde dabei immer heftiger, er versuchte es so gut es ging zu ignorieren. Auf allen Vieren kroch er zur Tür herüber, es kostete ihn eine unbeschreibliche Anstrengung, weswegen er selbst nicht sagen konnte, wie er es überhaupt bis dahin schaffte.

Dort angekommen, hob er eine Hand und hämmerte, so fest es ihm möglich war, gegen das Holz, in der Hoffnung, dass ihn jemand hören möge. Ob das geschah, vermochte er nicht zu sagen, dafür bemerkte er jedoch etwas anderes. Ein Geräusch, dass ihn erstarren ließ.

Nein.

Von der anderen Seite der Tür, knisternd: Doch.

Da er sich nicht auf eine endlose Nein-Doch-Diskussion einlassen wollte, nutzte Tom die Tür als Stütze, um sich ganz aufzurichten. Durch die neuerliche Panik, die sein Herz übermannte, bemerkte er sein Taumeln kaum mehr. Schließlich stehend, verschwendete er keine weitere Zeit, sondern langte sogleich nach dem Türgriff. Ein Fehler, wie er herausfinden sollte, da er die Hand sofort wieder zischend zurückzog, als sie das kochend heiße Metall berührte, welches ihn verbrannte. Ein Umstand, der seinen Verdacht nur noch bestätigte, ihn aber nicht daran hinderte, auch nach dem letzten Beweis dafür zu suchen. Er musste es sehen, um es akzeptieren zu können.

Also zog er den Ärmel seines Pullovers ein wenig herunter und startete den zweiten Versuch. Die Hitze drang selbst jetzt noch zu seiner Haut hindurch, aber wenigstens verbrannte sie ihn nicht mehr gleich, weswegen es ihm nun gelang, den Griff hinunterzudrücken. Gleich darauf sollte er es sich wünschen, es nicht getan zu haben.

Eine Feuersbrunst erwartete ihn, wie er sie erwartet hatte. Dennoch, obwohl er damit gerechnet hatte und seine Augen sie definitiv und ohne jeden Zweifel sahen, wie die gelbstichigen Flammen, sich über der gesamten Etage ausbreiteten, wobei sie gnadenlos alles verschlangen und in eine einheitliche, schwarze, verkohlte Masse verwandelten, weigerte er sich.

Selbst als diverse Computer aufgrund der Hitze zerbarsten und Splitter durch den Raum schossen, weigerte er sich.

Als die Hitze ihm in Wellen immer wieder entgegenschlug, weigerte er sich.

Als ein Ausreißer des höllischen Elements vorpreschte und für eine Sekunde an seiner Haut leckte, weigerte er sich nicht nur, er tat gar etwas ganz und gar Irrationales: Er schüttelte den Kopf und warf die Tür wieder zu.

Dem nicht genug, wandte er sich in aller Ruhe von dem Tosen vor sich ab, ging in den Raum hinein und auf die VR-Brille, die er so achtlos weggeworfen hatte zu. Er bückte sich nach ihr, nahm sie auf und in eine der hintersten Ecken des Zimmers mit, wo er sich an der Wand entlangrutschend nach unten fallen ließ, das Gerät erst einige Sekunden sich sanft hin und herwiegend, fest umklammerte, irgendwann tief durchatmete, erneut nickte und es aufsetzte.

Finsternis umspielte sein Bewusstsein, er schloss die Augen, wartete, öffnete sie wieder. Noch immer hörte er die Flammen wüten, während der Lack langsam von der Tür schmolz.

Erneut schloss er die Augen, wartete, öffnete sie wieder. Immer noch Finsternis, immer noch das Knistern, dass immer näher rückte. Dazu der Rauch, der abermals in seine Lungen drang.

Tom schloss die Augen, drückte Lider ganz fest zu und wartete.

Wartete darauf, in eine andere Welt gezogen zu werden, eine andere Realität. Die richtige Realität, seine Realität. Keine virtuelle wie diese hier, in der man sich üble Scherze mit ihm erlaubte, mit ihm spielte, ihm Angst einjagte, ihn zu Tode erschreckte.

Na, komm schon, dachte er verzweifelt, während das Inferno sich im Zimmer ausbreitete. Und dann, irrwitzigerweise: Beam me up! Er lachte beinahe darüber. Hätte es vielleicht sogar, wenn ihn nicht ein heftiger Hustenfall übermannt und daran gehindert hätte.

Kurz bevor auch seine Kleidung begann in Flammen zu stehen, dachte er noch: Tut mir leid Marthi, aber von mir bekommt dieses Ding eine Null-Sterne-Bewertung. Und dann lachte er doch noch. Wie ein Wahnsinniger, der auch den letzten Funken seines gesunden Menschenverstandes verloren hatte. Er lachte selbst dann noch, als das Feuer sich durch seine Haut fraß und die langsam schmelzende VR-Brille sich in sein Gesicht sengte.

 

Auszug aus einem Interview

Wir mussten komplett von vorne anfangen, verstehen Sie? Also, finanziell meine ich. Unsere Ausrüstung, sämtliche Computer, alles war einfach weg. Die Versicherung abgedeckt, klar, aber trotzdem mussten wir beinahe alles neu aufbauen. Glücklicherweise hatten wir alle unsere Daten online gespeichert. So hatten wir wenigstens eine Grundlage, auf der wir weitermachen konnten.

Tja und das haben wir dann auch. Weitergemacht, meine ich. Es war ein herber Rückschlag, für uns. Wäre es wohl für jedes junge Unternehmen, wie das unsere es gewesen war. Aber wir haben uns geschworen nicht aufzugeben, niemand von uns, das waren wir ihm einfach schuldig. Tom, meine ich.

Kurz vor dem Feuer, wir… Es ist so dumm. Wir haben uns wegen einer Kleinigkeit in die Haare bekommen. Wegen eines mutmaßlichen Scherzes, der sich bis heute nicht aufgeklärt hat. Wir haben uns richtiggehend gefetzt. Der ganze Stress der vergangenen Wochen und Monate hat sich mit einem Mal entladen. Ausgerechnet am Tag des Testlaufes, an dem die Anspannung am größten war.

Aber wer hätte auch damit rechnen können, dass es ausgerechnet in diesem Moment zu einem Kabelbrand kommt, der sich zu einem ausgewachsenen Großfeuer ausbreitet? Wir jedenfalls nicht. Und dann haben wir es auch noch viel zu spät bemerkt. Erst als das Gebäude schon weiträumig evakuiert worden ist. Und wir waren so… so panisch, aber gleichzeitig noch so in Rage, wegen unseres dummen Streits, dass wir ihn einfach vergaßen. Erst, als wir draußen waren, ist mir eingefallen, dass… dass… Tut mir leid.

Puh…

Naja, jedenfalls haben wir von vorn angefangen und jetzt stehen wir hier. Unsere erste Veröffentlichung war ein voller Erfolg. Das Krankenhaus ist Gerüchten zufolge mittlerweile öfter aufgesucht worden als zu Zeiten, in denen es noch betrieben worden ist. Das liegt vermutlich auch an den unterschiedlichen Modi, die wir in das V.erlorene R.uhestätten-Programm implementiert haben. Angepasst auf die jeweiligen Wünsche, ist von der einfachen Erkundung, bis hin zu einer wahren Horror-Tour alles möglich. Der Scherz, so er denn einer gewesen ist, hatte also auch etwas für sich. Außerdem haben wir die Technik noch verfeinert und sie um weiteres Equipment ergänzt, damit das Erlebnis noch realistischer wird – wenn man das denn will.

Aktuell arbeiten wir schon an unserem nächsten Projekt. Der Ort, den wir uns auserkoren haben, ist ein altes Kinder-Hospital, dass mit ähnlichen, schauderhaften Berichten aufwartet, wie das Krankenhaus. Unsere Fans dürfen also gespannt sein.

 

Anm. des Redakteurs:

Drei Jahre nach diesem Interview, ist das V.erlorene R.uhestätten-Programm immer noch eines der erfolgreichsten VR-Programme, das für Unterhaltungszwecke genutzt wird. Kritiker führen noch heute an, dass dieser Erfolg das Grabmal des Mister Thompson als Fundament ausnutzt, welcher damals für einiges Aufsehen gesorgt hat, da er ein bekanntes Gesicht der Geschäftswelt war und noch immer ist. Manche Stimmen gehen sogar so weit, den Betreibern des Programms Mutwilligkeit zuzuschreiben, dass es nie einen Scherz und einen daraus entstandenen Streit gegeben hätte.

Die Welt wird es wohl nie erfahren. Nicht in dieser Realität, zumindest.

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