KreaturenMordSehr Lang

Ashes to Ashes Kapitel 3

Was hier passiert: Man ernüchtert von einer guten Welt

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Teil 3.1

Der Geruch trifft mich als erstes: Ein feuchtes, fauliges Aroma, das sich auf unangenehme Weise in meiner Nase festsetzt. Als nächstes der raue Stoff an meiner Wange. Folgend kommt das Gefühl in meine Glieder zurück; jede einzelne meiner Verletzungen nutzt die Gelegenheit, um laut schreiend auf sich aufmerksam zu machen. Meine Knie brennen immer noch, wo ich sie am Asphalt geschunden habe, die Brandwunden an meinen Händen und Füßen pochen dumpf, noch dazu kommen die Schnitte vom Barfuß gehen und dem Stacheldraht. Mein Arm und mein Bein, beide geprellt, sind geschwollen und zu warm, und mein Gesicht fühlt sich taub an, wo die Äste in mein Gesicht geschnalzt sind

Meine Zunge fühlt sich klobig an und schmeckt nach Eisen. Schwerfällig zwänge ich meine Augen auf. Sofort springen mir eine Handvoll Details entgegen: Eine schwach brennende, nackte Glühbirne flackert an der Decke, die Tapete und der Boden haben rot-bräunliche Flecken, ein Hirschgeweih hängt über einem ausgebrannten Kamin. Das Sofa, auf dem ich liege, ist teilweise an den Nähten aufgeplatzt und die Füllung quellt heraus.

Langsam hebe ich mich hoch. Mich packt sofort der Schwindel.

Hinter mir schlagen schwere Schritte auf dem Boden auf. Ich zucke zusammen, krieche vom Sofa herunter, verliere das Gleichgewicht und falle zu Boden.

„Ganz ruhig. Würde ich dich tot haben wollen, hätte ich dich einfach liegen gelassen.“

Der Mann, der sich vor mir wie eine Wand aufgebaut hat, spricht mit rauer, tiefer und langsamer Stimme. Er sieht mit desinteressiertem Blick auf mich hinunter und dreht beiläufig, aber deutlich eine Schrotflinte in seiner linken Hand hin und her. Schwarze Haare mit grauen Strähnen, sonnengegerbte Haut. Seine Augen sind blau und so strahlend hell, dass seine Pupillen winzig erscheinen.

„Und jetzt?“

Ich versuche, meinen Atem wiederzufinden, doch meine Lunge fühlt sich winzig an.

„Kommst du jetzt besser gegen mich an? Nein. Du brauchst nur länger, um auf die Füße zu kommen.“

Er lädt die Flinte nach und richtet sie an meine Stirn. Wie eingefroren starre ich den Lauf hoch, wo einige Gramm Metall darauf warten, sich in meinen Kopf zu graben. Alles in mir schreit danach, mich zu bewegen, wegzulaufen.

„Peng“, sagt er tonlos. Dann lässt er den Lauf wieder sinken und deutet auf das Sofa. „Setzen.“

Ich folge seinen Anweisungen so schnell es mein Zustand erlaubt. Er lehnt die Flinte an das Sofa, hockt sich vor mir hin und hält seine Hand aus. „Hände.“

Zögernd strecke ich beide aus. Er greift grob meine Handgelenke und dreht sie mit den Flächen nach oben. Erst jetzt bemerke ich, dass sie verbunden sind. Ich sehe an mir herunter; der Rest meiner Wunden ist ebenfalls versorgt. Bei dem Gedanken daran, dass der Mann mich angefasst hat, während ich bewusstlos war, läuft mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter.

Der Mann macht ein ausdrucksloses Geräusch und lässt meine Hände los. Dann nimmt er ohne Vorwarnung meinen Knöchel und überprüft auch die Verbände an meinen Fußsohlen. Wieder macht er das Geräusch, dann steht er auf, greift seine Flinte und geht wieder hinter das Sofa.

Ich sehe ihm nach. Das winzige Wohnzimmer teilt sich einen Raum mit einer Küche, die durch die Schränke und Armaturen noch kleiner wirkt. Überall hängen getrocknete Hasenpfoten, anscheinend als Dekoration. Es ist grotesk.

Der Mann setzt sich an einen Tisch, um den vier Stühle und ein Hocker stehen, legt die Flinte quer über seinen Schoß und nimmt ein kleines Messer. Vor ihm am Tisch liegt ein diffuser Haufen Holzspäne und eine halbfertige Schnitzskulptur.

„Dafür, dass das ein ziemlich heftiges Feuer war, hätte ich mehr Brandwunden erwartet“, sagt er in einer Tonlage, die verrät, dass er eine Antwort erwartet. Meine Stimme scheint jedoch in meiner Kehle festzustecken.

„Redest du?“, fragt er. Ich nicke. Er belasst es bei einem langen Blick.

Ich suche nach einem Ausgang. Rechts von mir ist eine Tür, doch mit den ganzen Wunden werde ich nicht einfach weglaufen können, geschweige denn schneller als der Mann. Sonst ist nur eine einzige weitere Tür im Raum, die aber bloß auf einen Flur führt.

Ich räuspere mich und finde meine Stimme wieder. „Wo—“

„Glaubst du, dass ich dir das sage?“, unterbricht der Mann mich.

„Also haben Sie mich entführt.“

Keine Antwort.

„Wieso bin ich hier?“

Wieder schweigt er. Ich schlucke schwer und presse die Lippen zusammen. Meine Handflächen werden schwitzig.

„Wenn Sie Geld wollen, gibt es niemanden mehr, der für mich Lösegeld zahlen würde“, sage ich. Er schabt weiterhin wortlos Holz von seinem Werk. Seine Stille lässt mich Schreckliches vermuten.

„Oder bin ich hier, damit Sie mich—“

„Du redest zu viel“, sagt er knapp und scharf.

Ich lasse mich mit dem Rücken zu ihm aufs Sofa sinken, obwohl jede Faser in mir mich anbettelt, ihn nicht außer Augen zu lassen. Mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb und klopft gegen mein Trommelfell. Ich verschränke meine Finger, um meine Hände vom Zittern abzuhalten.

Mein Schädel ist durch Panik wie leergefegt. Ich werde mir diesem Umstand schmerzhaft bewusst, erwische mich selbst dabei, wie ich meine Chancen vernichte, indem ich mich der Angst hingebe. Tief durchatmend zwinge ich mich dazu, gegen den Nebel in meinem Kopf anzukämpfen und zu überlegen.

Was ist passiert?

Sofort überflutet mich eine Welle Emotionen. Olivia, schreien meine Gedanken, Du hast Olivia getötet. Ich beiße mir auf die Zunge, bis ich Blut schmecke.

Das Heim ist abgebrannt. Ich bin schuld. Ein Mädchen ist tot und ich bin dafür verantwortlich. Jetzt sitze ich in der Hütte eines Fremden, der mich entführt hat, mitten im Wald.

Mein Versuch, alles objektiv zu betrachten, endet hier. Heiße Tränen sammeln sich in meinen Augen und laufen meinen Rachen hinunter. Von einem Moment auf den anderen entscheide ich, aufzugeben.

Ich hebe meine Füße vom Boden und zwänge meine Hände auseinander, um den Schmerz zu lindern, und lege mich wieder hin.

Soll er mich doch erschießen. Ich habe es verdient.

Ewigkeiten vergehen. Der Mann und ich sitzen in stiller Abmachung: ich tue so, als würde ich nicht weinen, und er tut so, als könnte er mich nicht hören.

„Aaron.“

Die Stimme ist neu, jünger, unbekannt. Ich schlage die Augen auf. Nur, weil die Rückenlehne des Sofas zwischen mir und dem Rest des Raumes liegt, bemerkt niemand, dass ich wach bin. Das tonlose Brummen des Mannes ertönt, wodurch ich rate, dass er der Angesprochene ist und daher Aaron heißt.

„Wir sind fertig“, sagt die jüngere Stimme.

„Gut. Du passt auf sie auf.“

„Samael ist dran“, sagt eine dritte Stimme, weiblich und monoton. Das macht Aaron, die beiden Stimmen, und wer auch immer Samael ist. Vier Leute. Meine Chancen zu entkommen stehen gegen Null.

„Wenn Quinn fertig ist, übernimmt er seine Arbeit.“

En“, korrigiert die monotone Stimme.

Aaron seufzt. „Der Scheiß schon wieder.“

„Thana, lass es“, sagt die dritte Stimme müde, Quinn anscheinend.

„Quinn passt auf sie auf. Du hast noch Arbeit“, sagt Aaron in einer Stimmlage, die keine Widerrede erlaubt. „Und du redest kein Wort mit ihr. Zeig ihr das Zimmer. Das war’s. Verstanden?“

Seine schweren Schritte ertönen wieder, die Tür wird geöffnet.

„Wenn ich zurück bin, will ich, dass sie von meinem verdammten Sofa runter ist, egal ob sie wach ist oder nicht“, sagt er und knallt die Tür zu.

Stille.

„Er ist so schon sauer genug“, sagt Quinn nach einem Moment. Thana gibt keine Antwort, was en aber nicht zu stören scheint. „Ja, er ist ein beschissener Mensch und ein noch beschissenerer Vater. Aber außer ihn zu erstechen kann ich nicht viel machen. Und ihn zu reizen bringt keinen von uns beiden was.“

Wieder keine Antwort.

„Ich weiß, dass du es nur gut meinst“, sagt Quinn, „Aber ich will nicht noch mal so ein Disaster wie als ich ihm gesagt habe, dass ich meinen Namen ändern wollte. Hätte ich ihn nicht tagelang ignoriert, würde er mich bis heute Timo nennen.“

Einige gedehnte Momente der Stille vergehen. Ich warte. Irgendwann seufzt Quinn.

„Geh ruhig. Ich muss nur dasitzen und warten, bis sie aufwacht. Du solltest fertig sein, wenn er zurückkommt, oder die Tore der Hölle öffnen sich.“

Leichte Schritte ertönen. Die Tür wird wieder geöffnet, geschlossen, dann knackt ein Schlüssel im Schloss.

Langsam strecke ich die Beine durch, dann die Finger. Vorsichtig öffne ich mein gutes Auge. Ich lasse mich still vom Sofa gleiten und komme hockend auf die Füße, halte den Atem an und spähe über das Sofa hinweg. Quinn steht mit dem Rücken zu mir am Fenster. En hat unordentliche, schwarze Haare mit einem gebleichten weißen Streifen in der Mitte, in dem die Wurzeln bereits wieder dunkel einwachsen. Es erinnert an ein Stinktier. En ist hochgewachsen und sieht, zumindest im Vergleich zu Aaron, nicht sonderlich kräftig aus. Das ist wahrscheinlich die beste und einzige Chance, die ich bekommen werde.

Im Schneckentempo mache ich mich auf den Weg in die Küche. Mein Blick bleibt dabei an Quinn gefesselt. Ich greife nach einem der Messer im Block und ziehe es Millimeter um Millimeter heraus. Die Bandagen machen es schwierig, den Griff zu halten.

Mein Blick wechselt zwischen Quinn und der Tür hin und her. Die Tür ist abgeschlossen, also kann ich nicht einfach weglaufen, aber wenn ich Quinn außer Gefecht setze, könnte ich ein Fenster einschlagen, oder nach einem anderen Ausgang suchen.

Ich nehme das Messer in beide Hände und schleiche mich an. Kurz bin ich dankbar, dass ich barfuß bin und meine Schritte dadurch kaum Geräusche machen, dann gibt eine Holzdiele unter meinen Füßen nach und knarzt. Quinn sieht auf. Bevor en sich umdrehen kann, springe ich auf en zu und jage die Klinge in Richtung von ens Nacken.

Es geht so schnell, dass ich nicht reagieren kann: en dreht sich um, lehnt sich in der Bewegung zur Seite, sodass mein Stich weit verfehlt, packt mein Handgelenk und zerrt daran. Durch den Schwung von meinem Angriff falle ich vor, werde herumgerissen, als würde ich nichts wiegen und gegen die Wand geschleudert. Mein Hinterkopf knallt dagegen. Das Messer verrutscht zwischen den Bandagen. Quinn greift die Klinge mit bloßen Händen, entwaffnet mich mühelos und presst das Messer gegen meine Pulsader. Ich bekomme gerade noch meine Hände darunter und drücke mit all meiner Kraft dagegen an, doch die Klinge bewegt sich keinen Millimeter.

Es sticht. Etwas Warmes läuft meinen Hals hinunter.

Quinns hellgraue Augen fixieren meine. Ens Gesichtsausdruck ist zwar entspannt und mühelos, doch gleichzeitig von einem genießerischen Lächeln verzerrt. Zwischen der Klinge und ens geweiteten Augen fällt mir bloß auf, dass ens Hände schmutzig sind.

„Schreckhaft?“, fragt en mit einem provokanten Grinsen.

Ich kralle meine Fingernägel in ens Haut und drücke fester dagegen. „Ich werde bald vergewaltigt und getötet, also ja. Etwas“, presse ich durch zusammengebissene Zähne heraus. Meine Stimme klingt mutiger, als ich mich fühle.

Das Messer hebt sich kaum merklich von meiner Haut.

„Mach schon“, fauche ich, „Bring’s endlich hinter dich.“

Quinns Grinsen weicht. En löst den Druck auf meine Hand, die kühle Klinge entfernt sich von meinem Hals. Ohne Grund, weiter aufrecht zu stehen, lasse ich mich an der Wand herunterrutschen, bis ich, Knie angewinkelt an der Brust, am Boden sitze. Der gesamte Mut fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Mir wird plötzlich schrecklich bewusst, dass ich noch immer nur einen Pyjama trage. Ich verschränke die Arme vor der Brust und ziehe die Knie enger an mich.

„Wirst du nicht“, sagt Quinn. Ich starre bloß auf das Messer, dass en immer noch in der Hand hält. En scheint im selben Moment zu bemerken, dass en es immer noch hält, und wirft es gezielt in die Küche, wo es mit der Klinge im ramponierten Holztisch stecken bleibt.

„Ich verspreche dir, dir wird hier nichts passieren.“

„Ich weiß nicht, wieviel Wert ich auf das Versprechen von dem Kind meines Entführers lege“, sage ich stumpf.

Quinn sieht mehr verlegen als bedrohlich aus. En verschränkt die Arme und zieht leicht die Schultern hoch.

„Wieso en?“, frage ich.

Quinn zuckt zusammen, als hätte en keine Worte von mir erwartet. En zuckt mit den Schultern. „Ich bin weder ein Er noch eine Sie. Ist mir zu langweilig. Also en.“

Ich habe das Gefühl, die Erklärung dafür ist absichtlich viel zu kurz und nonchalant.

Ein Jucken am Hals erinnert mich daran, dass ich blute. Ich ziehe den Kragen meines Shirts hoch und wische über die Wunde.

„Fuck, tut mir Leid“, sagt Quinn und geht kurz in die Küche. Ich rapple mich auf und zerre am Fenster, doch es bewegt sich nicht. Quinn kommt mit einem Erste-Hilfe-Kasten in das Wohnzimmer zurück und belächelt meinen Versuch bloß.

„Du Stadtkind willst in den Wald? Du verreckst dort draußen. Entweder du verdurstest, verhungerst, oder du brichst dir was, oder kriegst eine Infektion. Weißt du überhaupt, wie du aus dem Wald wieder rauskommst?“

Ich antworte nicht. En legt den Koffer auf den Boden und schiebt ihn zu mir.

„Ich nehme an, das ist ein Nein.“

Ich öffne den Koffer und werde von einer spärlichen Menge Verbandszeug begrüßt. Wahllos nehme ich ein Pflaster und klebe es auf meinen Hals, dort wo ich die Wunde vermute.

Quinns Worte stechen. Selbst wenn die Tür weit offen stehen würde, könnte ich nicht fliehen. Wie weit bin ich gestern gelaufen? Wie weit hat Aaron mich getragen? Wie weit ist es, bis ich wieder aus dem Wald draußen bin?

Vor allem, was mache ich, wenn ich draußen bin? Ich kann weder zurück zum Jugendheim, noch zur Polizei. Bis jetzt werden sie wissen, dass ich das Feuer verursacht habe, und wenn nicht, werden sie wissen wollen, wieso ich weggelaufen bin.

Der bittere Geschmack eines fatalen Fehlers legt sich in meinen Mund. Ich habe gestern nicht einmal daran gedacht, einfach zu lügen. Hatten sie Beweise? Außer Aussagen von Zeugen?

Sie verdächtigen wahrscheinlich Elias.

Mir wird schlecht.

„Ich hab dich nicht angelogen“, sagt Quinn und reißt mich aus meinen Gedanken. „Wir wollen dir nicht wehtun. Dir wird kein Haar gekrümmt, das kann ich dir schwören.“

„Schwör mir nichts. Schwüre sind teuer“, sage ich fast automatisch. Der Satz fühlt sich abgenutzt und vertraut an.

En rappelt sich auf. „Gut. Keine Schwüre mehr, nur Beweise. Wir haben für dich dein eigenes Zimmer ausgeräumt.“

„Weil Aaron mich von seinem Sofa runter haben will“, sage ich trocken.

„Dann weißt du schon, dass ich dich jetzt dort hinbringe. Sonst stecken wir nämlich beide in der Scheiße.“

Ich stehe auf und folge en wortlos. En bringt mich zu einem Flur, der bloß sechs Türen beinhaltet: Zwei links, drei rechts, eine am Ende. Am Anfang des Flurs ist eine Klappe zu einem Dachboden an der Decke. Entlang der Wände steht eine groteske Ansammlung an Gerümpel: verschiedenste Jagdköder, einige Geweihe und Knochen, Kisten voll Leder, Pelzen und Fellen, einige Handvoll Munition, Feuerstarter, sogar ein ausgestopfter, von Motten angenagter Hirschkopf.

En deutet auf die erste Tür rechts, die offen steht. Das Zimmer ist klein genug, dass ich die gegenüberliegenden Wände mit beiden Händen gleichzeitig berühren könnte. Die Wände sind karg und mit rötlich-braunen Flecken bespritzt, ebenso wie der Boden. Die Luft ist stickig und kalt. Eine Lichtquelle gibt es nicht, bloß ein kleines Fenster mit verdreckter Fensterscheibe. Sonst nimmt bloß eine fleckige Matratze den Großteil des Bodens ein.

Ich gehe einen zögerlichen Schritt hinein und traue mich kaum, durch die Nase einzuatmen.

Quinn folgt mir einen Moment später und wirft einen Stapel Kleidung auf die Matratze. Ausgebleichte Jeans, ein zu großes Shirt, Wanderschuhe, eine Jacke und Männerunterwäsche.

Ich beiße mir auf die Lippe. „Krieg ich auch einen BH?“

Quinn wird rot, dreht sich verlegen lächelnd um und geht wieder auf den Flur. Ich nutze die Gelegenheit, um aufzustehen und aus dem Fenster zu sehen, doch erstens ist ein Gitter davor und zweitens lässt es sich nicht öffnen.

Kurz höre ich am Flur Quinns Stimme, dann kommt en zurück und legt einen Sport-BH auf den Stapel. En ignoriert meinen erbärmlichen Fluchtversuch mit einer Gelassenheit, die mir den letzten Rest Hoffnung nimmt. Geschlagen setze ich mich auf die Matratze und warte darauf, dass Quinn das Zimmer verlässt, doch en zögert.

„Weißt du, wieso du hier bist?“

Entgeistert starre ich zu en hoch. „Was?“

„Wieso hat Aaron dich mitgenommen?“, sagt en deutlicher.

„Ich bin im Wald zusammengebrochen und er hat mich entführt.“

„Ich hab nicht gefragt wie,“ sagt en, „Ich hab gefragt warum.“

„Ich weiß es nicht“, sage ich, hoffend, dass das unser Gespräch beendet.

Quinn lässt nicht locker. „Wieso bist du in den Wald gelaufen?“

„Ich glaube, sogar du konntest den Rauch sehen.“

„Was ist abgebrannt?“

Ich beiße mir auf die Zunge. „Das Jugendheim, in dem ich gelebt habe.“

„Also warst du das?“

„Unabsichtlich.“

„Ganz sicher?“

„Was soll die Scheiße?“

Ich rapple mich auf, obwohl ich mich nicht annähernd so mutig fühle, wie ich mich aufführe. „Ich bereue es, willst du das wissen? Willst du meine ganzen Wunden sehen? Soll ich dir die einzelnen Schritte zeigen, die ich gelaufen bin?“

Mit jedem Wort werde ich lauter, mit jedem Wort sammeln sich Tränen in meinen Augen und laufen meine Kehle hinunter, und ich schäme mich dafür.

Quinn sieht mich überrascht an und zieht die Schultern hoch. Ich lasse mich geschlagen an der Wand herunterrutschen und vergrabe mein Gesicht in den Armen.

„Ich würde vorschlagen, dass du dich umziehst“, sagt en nach einem Moment der peinlichen Stille. „Aaron wird von dir erwarten, dass du dein eigenes Gewicht trägst, also wird er dir Arbeit zuteilen.“

Ich will nicht antworten, also tue ich es auch nicht. Quinn verlässt das Zimmer wortlos.

Teil 3.2

Die Stille lässt mich mit der Schuld alleine. Quinn hat alle Erinnerungen, die sich einigermaßen gelegt haben, wieder aufgerührt. So verbringe ich meine Zeit zusammengekauert und weinend. Ein gewaltiger Druck lastet auf meiner Lunge. Es fühlt sich so an, als könne ich nicht einmal mehr atmen, nur nach Luft schnappen und versuchen, mich so klein zu machen, dass ich einfach durch die Ritzen im Boden fallen und verschwinden kann.

Mein Magen fühlt sich schrecklich flau an. Was ich Olivia angetan habe lässt mich zittern und schwitzen und gleichzeitig kalte Schauer meinen Rücken hinunterlaufen. Als ich versuche, über etwas anderes nachzudenken, finde ich nur Red und Elias.

Ich kneife die Augen zu, presse die Hände gegen die Ohren und schreie.

Die Tür wird aufgerissen und knallt gegen die Wand. Ich zucke zusammen und starre die Silhouette an, die im Rahmen steht. Das Licht aus dem Korridor sticht in meinen Augen.

„Was soll der Lärm?“

Die Stimme ist neu. Der junge Mann im Türrahmen sieht aus wie Quinns älterer Bruder. Er hat dreckig blonde Haare und dieselben schmutzig blauen Augen wie Aaron, und starrt mit einem genervten Gesichtsausdruck auf mich hinunter, das mich mehr an das Zähnefletschen eines wilden Tieres erinnert.

Hastig wische ich mir über das Gesicht. Die Silhouette legt den Kopf schief. Ist das dieser Samael, den Thana erwähnt hat?

„Aufstehen. Anziehen. Raus da.“

Er dreht sich am Absatz um und wirft die Tür so stark zu, dass sie gegen den Türrahmen prallt und wieder aufschwingt.

Ich komme zitternd auf die Beine, schließe die Tür und ziehe mich schnell um. Alles in mir sträubt sich, dieses winzige Zimmer zu verlassen, der einzige Ort, der mir noch halbwegs sicher erscheint. Doch obwohl ich die Konsequenzen, falls ich mich weigere, nicht kenne, will ich es nicht weit genug kommen lassen, um es herauszufinden.

Ich öffne die Tür und gehe auf den Flur. Bevor ich auch nur einen weiteren Schritt gehen kann, höre ich Aarons Stimme, „Hinsetzen.“

Ich gehe den Flur entlang in den Hauptraum, den sich Wohnzimmer und Küche teilen. Aaron sitzt am Kopf des Tisches. Links setzt sich gerade Samael. Rechts sitzt eine junge Frau, die dieselben schmutzblonden Haare hat wie er, jedoch dieselben grauen Augen wie Quinn. Ich ordne Thanas Stimme und Namen ein Aussehen zu. Neben ihr sitzt Quinn, gegenüber dem Hocker, der nicht zu dem Rest der Stühle passt.

Ich setze mich. Während vor allen anderen ein Teller mit Essen seht, ist mein Platz leer.

„Du sortierst und staubst alles ab, was am Flur steht“, sagt Aaron ohne Umschweife, „Dann bringst du so viele Kisten auf den Dachboden, dass der Rest in den Abstellraum passt, wenn du wieder hier draußen bist.“

Wenn ich wieder hier draußen bin?

Die Aussage hat für mich nur zwei Möglichkeiten: Ich werde getötet, oder ich werde verkauft. Beides bedeutet, dass meine Zeit langsam aber sicher abläuft.

Ich nicke kaum merklich, doch Aaron scheint es nicht zu interessieren. Er legt sein Besteck beiseite, schmeißt seinen Teller und sein Besteck in das Waschbecken der Küche und steht auf. Samael, der anscheinend noch nicht einmal mit dem Essen fertig ist, erhebt sich ebenfalls und folgt ihm wortlos nach draußen.

Ich sehe zu Quinn, doch en lässt den Blick auf ens Teller gerichtet. Von Thana erwarte ich weder Blicke noch Worte.

Es macht mich wahnsinnig, dass in dieser Hütte niemand spricht. Ich weiß nicht, wieso ich hier bin, was sie mit mir wollen, wie viel Zeit ich noch habe. Alles, was mir bleibt, ist ein einziger Auftrag. Und ich soll putzen.

Ich stehe auf und gehe auf den Flur. Meine Hände fühlen sich seltsam taub an. Ich nehme die erste Pappschachtel, die mir unter die Augen kommt, und fange damit an, einige Felle zusammenzulegen und wieder einzuräumen.

Die Arbeit fühlt sich unwirklich an. Nach kurzer Zeit schmerzen meine Knie und Hände, doch die Angst davor, was passiert, falls ich nicht fertig bin, wenn Aaron zurückkommt, treibt mich an. Schlussendlich entschließe ich, alles außer drei Kisten voll kleineren Gegenständen wie Flachmännern, kleinere Felle, einigen Hasenpfoten, Feuerstarter und Streichhölzer auf den Dachboden zu bringen.

Ich ziehe die Klappe mit einem Haken auf, den ich im Gerümpel gefunden habe, nehme eine der Kisten und trage sie vorsichtig die Leiter hoch. Der Dachboden ist schummrig, die Luft verstaubt und stickig. Irgendein Vieh scheint sich hier eingenistet zu haben, denn es liegt herausgerissene Isolierfüllung und Kot auf dem Boden. Die Kiste schiebe ich einfach in eine Ecke.

Ich ziehe die Kette, doch die Glühbirne springt nicht an, also bleibt die einzige Lichtquelle das schräge, verdreckte Fenster. Ich versuche, es zu öffnen und es springt auf. Mein Herz springt in meinem Brustkorb. Hastig klettere ich hinaus und krieche zum Rand des Daches. Meine Beine hängen bereits über dem Rand, bis ich die Idee bekomme, hinunterzusehen. Bei der Höhe packt mich ein ungnädiger Schwindel, der mich fast den Halt verlieren lässt. Ich packe die Ziegel des Daches fester und krieche rückwärts.

Mein Atem geht bloß noch in Stößen. Verzweiflung lässt meine Augen brennen. Ich lege den Kopf in den Nacken und lasse die Tränen frei fließen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wie lange ich dasitze. Nur langsam erhole ich mich, atme durch und wische mir abermals über das Gesicht.

Ohne das Risiko, eine Schrotflinte an meine Stirn oder ein Messer an meinen Hals gehalten zu bekommen, kann ich klarer denken. Es macht keinen Unterschied, ob ich zum Heim zurück oder zur Polizei gehen kann, denn ich weiß, dass ich hier nicht bleiben kann. So oder so, ich muss aus dem Wald. Das kann ich aber nicht unvorbereitet, das würde ich nicht überleben.

Ich presse die Hände gegen die Ziegel, bis die Wunden unter den Verbänden schmerzen. Es ist ein spitzes, greifbares Gefühl, das mich zurück auf den Boden bringt.

Ich brauche Vorräte. Wasser, Essen, Verbandszeug, falls ich mich verletze. Wie viel brauche ich davon? Zwar weiß ich, dass Aaron mich innerhalb etwa eines Tages hergebracht hat, doch dann müsste ich erstens annehmen, dass ich in die richtige Richtung gehe und so schnell und durchgängig laufe wie er. Mit den Wunden an meinen Füßen ist das unwahrscheinlich. Also mindestens zwei Tage. Der Gedanke daran, auf dem Waldboden zu übernachten, lässt mich erschaudern.

Ich fahre mir durch die Haare. Die Sonne steht mittlerweile hoch genug, um über die Wipfel der Bäume das Dach zu erreichen. Die jungen Blätter rascheln im sanften Wind. Zwar ist es noch nicht sonderlich warm, doch der Frühling hat sein Gesicht schon genug gezeigt, dass die kühle Luft sich nur frisch und gut anfühlt. Wenn ich alles vergesse, was bis jetzt passiert ist, könnte es fast friedlich sein.

Erst nach einer ganzen Weile kann ich mich wieder aufraffen und zurück auf den Dachboden und dann auf den Flur klettern. Ich habe immer noch Kisten wegzuräumen und ich möchte mir einige Dinge daraus zurechtlegen. Ein Flachmann ist eine gute Idee, ebenfalls ein Rucksack. Ich verstecke beides hinter der Kiste, die ich bereits hochgebracht habe. Danach mache ich das, was Aaron mir aufgetragen hat, nämlich die ganzen Kartons auf den Dachboden bringen.

Als ich fertig bin und wieder die Leiter zum Dachboden hinunterklettere, locken mich der Geruch von Essen und das Geräusch von laufendem Wasser in die Küche. Wäre ich nicht durstig und mein Mund nicht von Staub verklebt, hätte ich mich nicht einmal dort blicken lassen.

Zu meiner Überraschung steht ein Teller mit etwas, das aussieht wie leicht grünliches Kartoffelpüree und ein Glas Wasser an meinem Platz. Ich setze mich wortlos und esse schnell und in Stille. Was auch immer es ist, es ist nicht gut aufgetaut worden und ist immer noch leicht angefroren. Es schmeckt nach nichts. Das Wasserglas leere ich in einem Zug. Danach stehe ich auf, ohne mich zu trauen, die anderen Leute an dem Tisch anzusehen, und gehe zurück in die kleine Abstellkammer, in der ich schlafen soll.

Ich setze mich auf die Matratze. Schlaf scheint mir unmöglich.

Auf dem Flur ertönen nach einer Weile Schritte, dann das Geräusch einer Dusche und ächzenden Rohren, dann Türen, die zugeworfen werden. Bis wieder Stille eintritt, ist es draußen stockdunkel.

Ich sehe sehnsüchtig aus dem Fenster. Die Bäume verdecken die Sterne und den Mond und verschlingen jegliches Licht, das sie spenden würden. Die Idee, einfach loszulaufen und zu riskieren, im Wald zu sterben, ist immer noch verführend.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich etwas rührt. Als ich hinsehe, kann ich gerade so erkennen, wie sich die Türklinke bewegt und die Tür aufschwingt. Ich krieche rückwärts, bis ich die Wand im Rücken spüre.

Jemand kommt ins Zimmer. Der Unterschied in der Schwärze ist genug, um das zu erkennen, aber nicht genug, damit ich ausmachen könnte, wer es ist. Die Silhouette schließt die Tür geräuschlos und kriecht zu mir. Ich hole Luft, um zu schreien, doch wer würde mich hören?

Eine Hand wird gegen meinen Mund gepresst. Automatisch greife ich nach dem Handgelenk dahinter und versuche, es von mir wegzudrücken. Der Schatten flüstert.

„Shh. Leise. Ich sollte nicht hier sein“, flüstert die Stimme von Quinn.

Ich kann nicht atmen, Arschloch.

„Ich nehme jetzt meine Hand von deinem Mund“, sagt en leise, „Ich verlasse mich darauf, dass du nicht schreist. Wir würden beide Probleme bekommen. Okay?“

Ich nicke. En nimmt die Hand weg. Obwohl ich sehr gerne aus voller Lunge kreischen würde, halte ich mein Versprechen, presse meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und beiße mir auf die Zunge, bis ich Eisen schmecke.

„Ich weiß, mein erster Eindruck war nicht sonderlich… gut. Aber ich schwöre dir, ich will dir nichts Schlechtes. Vielleicht kann ich dir sogar helfen.“

„Schwör mir nichts“, sage ich taub.

„Du hast also das Heim abgebrannt.“

Ich nicke.

„Was war davor?“

„Davor habe ich dort gelebt.“

„Aber was hast du gemacht?“

Ich starre en durch die Dunkelheit entgeistert an. Langsam kann ich ens Gesichtszüge erkennen, insbesondere jetzt, wo en näher am Fenster ist. „Was soll ich gemacht haben?“

„Wieso hat dich mein Vater entführt? Was hast du angestellt?“

„Ich weiß es nicht! Außer den letzten paar Monaten kann ich mich an nichts erinnern. Ich hab’ Amnesie.“

„Davor wusste Aaron noch nicht einmal von dir“, sagt en abwinkend.

Wieder kann ich spüren, wie sich meine Kehle zuschnürt. Ich schlucke die Tränen hinunter.

„Das Heim geht ihn einen Scheißdreck an“, sagt Quinn nachdenklich. Ens Augen werden dunkel. „Du bist unschuldig.“

Ich nicke bloß.

„Aaron hat eine Unschuldige entführt“, sagt en ungläubig.

Vorsichtig setze ich mich auf und sehe en sanfter an. „Weißt du, wieso ich hier bin?“

En schüttelt den Kopf. „Nein. Aaron hat mir eigentlich verboten, mit dir zu reden, aber genau deshalb bin ich hier.“

Ich lächle schwach. „Weil er dir’s verboten hat, oder weil du’s wissen willst?“

Quinn grinst zurück. „Beides.“

En setzt sich neben mich auf die Matratze. „Ich hab mich gewundert, wieso er dich hergebracht hat. Normalerweise interessieren ihn Dinge außerhalb von seinem Wald gar nicht, aber in letzter Zeit ist er immer wieder in die Stadt verschwunden.“

„Ihm gehört der Wald?“

En verzieht das Gesicht. „Nicht wirklich. Aber er lebt trotzdem hier.“

Wir verfallen in Stille. Quinn streckt die Beine aus, legt den Kopf in den Nacken und zieht die Augenbrauen zusammen. „Was will er von dir?“

Ich ziehe die Knie an die Brust und zucke mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. In den letzten Tagen ist alles… so viel. So laut.“

Quinn sieht mich mitleidig an, streckt eine Hand aus, doch kurz bevor en meine Schulter berührt, zögert en und zieht sie wieder zurück.

„Du solltest wirklich versuchen, zu schlafen“, sagt en und steht auf.

Ich bringe ein halbherziges Lächeln zustande. „Ich werd’ mein Bestes geben.“

Teil 3.3

Papa sitzt im Wohnzimmer. Sein Kopf liegt im Schatten. Egal wie sehr ich die Augen zusammenkneife und genau hinsehe, ich kann sein Gesicht nicht sehen.

Ich gehe zu ihm und setze mich auf die Armlehne des Sessels. Papa ist immer noch in das Buch versunken, das auf seinem Schoß liegt. Ich klappe es zu und sehe seinen Kopf genauer an, doch der Schatten hat sich darauf festgefressen und will mir sein Gesicht nicht zeigen.

Papa lacht und streicht mir über den Kopf. Eine angenehme Wärme breitet sich in meiner Brust aus. Endlich fühle ich mich sicher, endlich bekomme ich einen Moment der Ruhe. Seltsamerweise kann ich mich nicht daran erinnern, was mich unsicher gemacht hat und vor was ich Ruhe wollte.

Plötzlich legt Papa das Buch weg und zieht eine Taschenuhr aus der Hosentasche. Er macht sie auf, dann erhebt er sich. Ich greife nach seiner Hand. Er lacht, hockt sich zu mir herunter und küsst mich auf die Stirn, nimmt meine Hand, legt die Taschenuhr sanft hinein und schließt meine Finger darum. Dann steht er auf und verschwindet in die Schatten, dort, wo sein Gesicht wahrscheinlich ist.

Ich öffne die Taschenuhr. Statt eines Zifferblattes sprühen Funken.

Von dem Moment, in dem ich die Augen aufmache, weiß ich bereits, dass etwas brennt. Ohne nachzudenken schlage ich auf die nackte Matratze ein, bis die kleinen Flammen erstickt sind und das Glühen vergeht. Eigentlich sollte ich verwirrt sein, vielleicht besorgt, doch alles, was das Feuer von mir bekommt, ist ein genervtes Seufzen.

Vor der Tür sind Schritte und andere Lebenszeichen zu hören. Ich will nicht, dass noch einmal jemand hereingeplatzt kommt, um mich zu holen, also stehe ich auf und gehe auf den Flur. Kaum bin ich draußen, werde ich von einem vorbeirauschenden Samael wieder hineingeschubst. Ich kann gerade noch meine Balance halten. Samael verschwindet im letzten Zimmer rechts und knallt die Tür zu, dann ächzen wieder Rohre.

Aus der zweiten Tür rechts, der zwischen meinem und dem Badezimmer, kommt Quinn. En stellt sich vor die Badezimmertür und wartet.

Thana kommt fertig angezogen aus ihrem Zimmer, der ersten Tür links, und nickt Quinn kurz zu. En nickt zurück. Sie geht den Flur entlang zur Küche, wobei mir auffällt, dass ihre Schritte seltsam klingen. Beim näheren Hinsehen erkenne ich, dass ihr rechtes Bein fehlt und sie eine Prothese trägt.

Samael braucht Ewigkeiten. Quinn geht nach ihm ins Bad. Bis ich dran bin, ist jegliches Warmwasser, das es vielleicht gegeben hätte, weg. Mittlerweile bin ich kalte Duschen schon gewöhnt, und einfach nur froh, mir den ganzen Dreck abwaschen zu können.

Bis ich am Tisch sitze, sind alle mit ihrem Essen fertig. Aaron wartet keinen Moment, als ich mich gesetzt habe, und verteilt Aufgaben.

„Quinn, Rundgänge“, sagt er.

„Mach ich“, sagt Quinn tonlos.

„Samael, du passt auf sie auf“, sagt Aaron mit einem Nicken zu mir.

„Oh, was? Ich will nicht Babysitter spielen“, motzt Samael.

„Jeder trägt seinen Teil bei“, sagt Aaron, nur auf seine Tasse konzentriert.

„Wieso muss ich auf sie aufpassen! Thana kann das genauso gut. Oder Timo.“

Quinn“, faucht Quinn.

„Was auch immer“, winkt Samael ab, „Ich mach das nicht.“

Aaron sieht ihn einen langen Moment an. Mich hätte das in der Mitte durchgebrochen, doch Samael scheint es kalt zu lassen.

„Thana. Du passt auf sie auf“, sagt er schließlich. Sie nickt bloß. „Samael, Jagd.“

Der Angesprochene grinst breit und steht sofort vom Tisch auf. Aaron nimmt seine Flinte und geht mit ihm hinaus.

Quinn erhebt sich einige Sekunden später und stellt ens eigenes Geschirr, sowie Samaels und Aarons in das Waschbecken. „Samael ist mal wieder gut drauf“, sagt en sarkastisch zu Thana.

Sie verdreht ihre Augen. „Verzogen“, sagt sie und belasst es dabei.

Quinn zieht sich eine Jacke und Wanderstiefel an, die aussehen wie meine, nur weniger zerfleddert. „Wir sehen uns“, sagt en, wieder an Thana gerichtet. Sie nickt. En folgt Aaron und Samael aus der Tür, ein Schlüssel knackt im Schloss. Insgeheim frage ich mich, ob sie nur wegen mir zusperren, oder ob sie wirklich glauben, dass irgendjemand mitten im Wald in ihre Hütte einbrechen könnte.

Thana steht auf und stellt ihr Geschirr weg. Ich tue es ihr gleich und will schon wieder in meine Kammer verschwinden, bis sie mich anstupst und mir ein seltsames kleines Messer in die Hand drückt. Sie öffnet den Kühlschrank und zieht die unterste Schublade heraus.

Ich würge und drücke den Ärmel meines Shirts gegen die Nase. Die gesamte unterste Lade ist mit frisch gejagtem Wild vollgestopft, von Hasen zu Enten zu Wildtauben. Der Geruch ist schrecklich und der Anblick nicht gerade besser.

Thana legt zwei Hasen auf die Ablage und deutet mir, ihr zuzusehen. Sie schneidet ein Loch in das Rückenfell des Hasen, greift unter die Haut und zieht die beiden Enden auseinander. Die Haut löst sich mit einem Schmatzen vom Fleisch. Sie zieht die Beine des Hasen mit etwas mehr Aufwand ab und wirft das Fell auf die Ablage. Dann sieht sie mich erwartend an.

Mir wird flau im Magen. Das Frühstück will sich unbedingt seinen Weg wieder nach oben suchen, doch ich schlucke und schneide ein Loch in das Fell des Hasen, wie es Thana gemacht hat. Während ich das Fell greife, nimmt Thana den Mülleimer. Ich zerre an dem Fell. Es reißt in der Mitte um den Bauch des Hasen auf, dann schält es sich von dem Rest seines Körpers ab. Es schmatzt. Ich schnappe nach Luft und der Geruch trifft mich in einer neuen Welle. Zusammen mit dem kalten, nassen Fleisch unter meinen Fingern ist es zu viel. Mein Magen verkrampft sich, mein Mund schmeckt sauer. Thana hält mir kommentarlos den Mülleimer hin und ich übergebe mich.

Sie wartet, bis ich fertig bin, und deutet auf das Waschbecken. Ich wasche mir die Hände und den Mund.

Als nächstes nimmt Thana den Kopf des Hasen und dreht in einige Male um die Achse. Die Knochen knirschen, während sie brechen und aneinander reiben. Thana ist von dem Ganzen ungerührt. Sie nimmt das Messer, durchtrennt die Sehnen des Halses und wirft den Kopf in den Mülleimer.

Meine Hände zittern. Ich greife den Kopf und den Rumpf des Hasen, doch bevor ich ihn drehen kann fühle ich das kalte Fleisch, das unter meinen Fingern nachgibt. Ich erschaudere und trete einen Schritt zurück.

„Ich kann das nicht“, sage ich und sehe Thana flehend an. „Ich will nicht—“

Ich sehe auf meine Hände hinunter, zitternd und blutbefleckt. Meine Augen brennen.

Thana legt das Messer weg und wäscht sich das Blut ab. Sie hockt sich vor mir herunter und legt mir die Hände ans Gesicht. Ich zucke zusammen.

„Es ist nur Fleisch“, sagt sie ruhig und wischt mir die Tränen von den Wangen.

Ich schniefe und nicke. Thana steht wieder auf, bringt mir ein Taschentuch und geht zurück zu ihrem Wild.

Ich putze mir die Nase, dann nehme ich den Kopf des Hasen und drehe ihn. Die Knochen drücken sich durch das Fleisch des Hasen gegen mein eigenes. Schluckend durchtrenne ich den Rest des Halses und werfe den Kopf in den Müll.

Thana schneidet den Schwanz des Hasen ab und zieht Teil des Darmes damit heraus. Nach dem, was ich gerade durchgemacht habe, scheint es lächerlich einfach, auch wenn es schrecklich riecht. Danach brechen und entfernen wir die Pfoten. Schlussendlich zeigt mir Thana, wo entlang ich schneiden muss, um den Hasen auszuweiden. Sie greift mit der Hand hinein und zieht die Organe heraus, ohne dabei mit der Wimper zu zucken.

Ich muss die Augen zukneifen und mir auf die Zunge beißen, um es zu überstehen. Der Geruch nach Eisen ist mittlerweile so stark, dass er zum Geschmack geworden ist. Leise wiederhole ich Thanas Worte, Es ist nur Fleisch, immer wieder.

Als wir endlich fertig sind, zerteilt Thana die beiden Hasen und legt sie beiseite. Beim Anblick des Haufens an Tieren, die noch vor mir liegen, wird mir wieder schlecht.

Wir arbeiten uns durch das Wild, ich etwas langsamer. Dabei übernehme ich nur Hasen, weil ich mit dem Rest nicht umgehen kann.

Es ist nur noch wenig Wild übrig, als Quinn mit einem ganzen Bündel Kleinviecher am Gürtel zurückkommt.

„Wie läuft’s bei euch?“, fragt en und wirft sie in die Schublade, die wir gerade erst geleert haben.

Thana nickt bloß zu mir und meiner Arbeitsfläche, auf der etliche Fetzen Fell und Hasenpfoten liegen.

„Wow. Das Stadtkind packt an“, sagt en grinsend. Ich presse die Lippen zusammen und schneide den letzten Hasen im Haufen auf.

„So schwer ist es nicht“, sage ich mit hohler Stimme.

„Ist deshalb Kotze in unserem Mülleimer?“

Meine Wangen brennen. Quinn lacht.

„En hat auch gekotzt, als en zum ersten Mal etwas ausweiden musste“, sagt Thana leise.

Quinn sieht sie empört an. „Es war auch ein Reh! So ein kleiner Hase ist nichts dagegen.“

Ich lächle schwach und lege Thana den Hasen hin. Mittlerweile sind meine Finger schrumplig und aufgequollen, und ich kann es kaum erwarten, mir endlich die Hände zu waschen.

„Also, Stadtkind—“

„Nona.“

Quinn blinzelt mich an.

„Mein Name ist Nona“, sage ich, während ich mir das Blut abwasche, „Du kannst jetzt aufhören, mich Stadtkind zu nennen.“

Quinn lächelt. „Okay, Nona. Ich hab mir überlegt, dass wir uns gegenseitig helfen könnten.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe en skeptisch an. Bevor en jedoch weitersprechen kann, hält en inne und sieht zur Tür. Erst einige Sekunden später höre ich die Schritte, dann fliegt die Tür auf und Aaron und Samael kommen in die Hütte.

Ich sehe zu Thana hoch. Ihr Gesicht ist unlesbar und ihr Mund geschlossen. Als ich mich zu Quinn zurückdrehe, ist en bereits aus der Küche verschwunden, als hätten wir nie geredet. Thana wäscht sich die Hände, ohne mich ein einziges Mal anzusehen.

Samael öffnet den Kühlschrank und legt mit einem sauren Gesichtsausdruck eine einzige Taube hinein. Aaron legt drei weitere hinzu. Er sieht auf unsere Arbeit hinunter und brummt, „Putzen. Dann Kochen.“

Teil 3.4

Trotz meiner Erfahrung mit Fleisch esse ich das, was Thana und Quinn zubereiten, mit Gusto und so schnell, dass sich die Übelkeit vom Ausweiden in eine Übelkeit von einem vollen Magen wandelt. Alles in allem habe ich immer noch die zweite Variante lieber.

Nach dem Essen verstecke ich mich sofort wieder in dem kleinen Zimmer. Bevor ich mich hinlege, drehe ich die Matratze um, um den Brandfleck zu verstecken.

Es scheint Stunden zu dauern, bis ich mich auch nur annähernd imstande fühle, mich zu entspannen oder gar einzuschlafen. Gerade als ich in einem angenehmen Halbschlaf schwebe, höre ich wieder das Quietschen der Türklinke und reiße die Augen auf.

Im Dunkeln erkenne ich Quinns Haare, den weißen Streifen in der Mitte, und atme auf.

„Wie ich vorhin sagte“, fangt en ohne umschweife an, „Ich dachte mir, dass ich dir ein bisschen aushelfen kann.“

„Vorhin? Du meinst vor ein paar Stunden.“

„Bevor ich so unhöflich unterbrochen wurde, ja.“

En wirft mir etwas zu, das ich aufgrund der Dunkelheit und meiner fehlenden Tiefenwahrnehmung nicht fange. Es landet dumpf auf der Matratze. Ich setze mich auf und halte es in das spärliche Mondlicht, das durch das Fenster fällt. Es ist ein Jagdmesser. Ich falte es auf; die Klinge ist zerkratzt, aber scharf, und der hölzerne Griff ist durch scheinbar jahrelangen Verschleiß bleich geworden. In zittrigen, ungeraden Buchstaben wurde QUINN ins Holz eingeritzt.

„Soll das eine Drohung sein? Weil mir vorher eine Waffe zu geben, bevor du versuchst, mich umzubringen, ist keine gute Idee.“

„Du nimmst auch einfach an, dass wir dir nur Schlechtes wollen, oder?“

„Dein Vater hat mich entführt.“

Quinn hält die Hände hoch. „Fair. Aber selbst wenn, wir haben beide gesehen, was passiert, wenn du mich angreifst.“

Ich verdrehe die Augen. „Was mache ich damit?“

„Kämpfen, natürlich! Was glaubst du?“

Ich falte das Messer zu. „Ich kämpfe nicht.“

Selbstverteidigung, wenn sich das mit deinem moralischen Kompass besser verträgt.“

Quinn grinst. Ich ziehe die Augenbrauen hoch und seufze. „Okay.“

„Geht doch!“ En steht auf und hält mir die Hand aus. Ich lasse mir hochhelfen. En öffnet leise die Tür und deutet mir, en zu folgen.

„Wo gehen wir hin?“, flüstere ich, doch en schüttelt den Kopf und legt einen Finger an die Lippen.

Ich folge en wortlos den Flur entlang, vorbei an der Leiter zum Dachboden, die noch immer niemand zurückgeschoben hat, dann durch das Wohnzimmer. Schnarchen, das etwa so leise ist wie eine Motorsäge, und ein Paar Füße, die über den Rand des Sofas hängen, verraten mir, dass Aaron auf der Couch eingeschlafen ist. Seltsamerweise sind alle Vorhänge zugezogen und sogar in der Mitte mit Faden zusammengebunden.

Quinn nimmt einen Schlüssel aus der Hosentasche und schiebt ihn ins Schloss. In der Stille und der Nähe zu Aaron hören sich das leise Quietschen und Knacken, als en ihn umdreht, ohrenbetäubend an. Schließlich steht die Tür offen und wir schleichen uns aus der Hütte.

Erst als kühler Wind mein Gesicht trifft, bemerke ich, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe. Ich atme auf und bereue es fast sofort. Mir schlägt ein feuchter, ranziger Geruch entgegen. Er kommt von einer seltsamen Ansammlung von Aufhängseln: Mehr Hasenpfoten, zusammengebundene Zweige, sogar ein Windspiel aus Knochen.

„Hey, Qui-“

„Nein! Nicht hier draußen“, unterbricht en mich. Ich sehe en befremdet an.

„Sag einfach nicht meinen Namen, wenn wir draußen sind. Sag überhaupt keine Namen.“

„Okay? Wieso habt ihr die Vorhänge zugezogen?“, frage ich.

„Damit uns nichts beobachtet.“

Ich nicke langsam. Die Bräuche von diesen Leuten sind so seltsam.

Quinn lässt sich von meiner Skepsis nicht beirren und geht schnurstracks ins Grün hinein. Ich laufe en hinterher und verheddere mich fast sofort im dichten Unterholz. Stolpernd und fluchend versuche ich, mit en mitzuhalten.

„Gott, du bist lahmarschig“, spottet en belustigt, „Kommt das Stadtkind etwa nicht mit ein paar Blättern zurecht?“

„Meine Füße bluten, du Genie“, zische ich und zerre an meinem Shirt, das an einem Busch festhängt. Ein Stück des Stoffes reißt ab.

„Steck das Shirt in die Hose“, sagt en und kommt zu mir zurück. En deutet in den Wald und hebt meinen Kopf an. „Sieh nicht auf deine Füße, sondern weit in den Wald hinein. So siehst du, wo vor dir schon jemand gegangen ist, wo die Äste abgebrochen sind, wo es Pfade gibt. Dort kannst du am leichtesten gehen.“

Ich hebe meinen Kopf und sehe in die Dunkelheit hinein. Wenn ich meine Augen etwas zusammenkneife und genau hinsehe, erkenne ich, was Quinn meint.

„Und heb die Füße an“, sagt en und läuft wieder voraus, jedoch etwas langsamer als vorhin.

„Was machen wir, wenn jemand aufwacht und nach mir sieht?“, frage ich.

„Niemand macht sich die Mühe“, sagt en gleichgültig, „Aaron glaubt, dass er dich sowieso finden würde, wenn du versuchst, wegzulaufen. Und ich gebe ihm Recht, du hast dich fast von Zweigen aufhalten lassen.“

Ich mache empörte Geräusche und gebe doppelt so viel Aufwand dazu, Quinn einzuholen.

Wir hechten eine gefühlte Ewigkeit durch das Gebüsch. Um uns rufen Nachtvögel, Grillen zirpen, der Wind bringt die Blätter zum Rascheln. Schließlich öffnet sich der Pfad in eine Lichtung. Quinn schlüpft aus dem Unterholz und breitet stolz lächelnd die Arme aus.

„Und? Was sagst du?“

Rund um uns hängen improvisierte Laternen aus Glasflaschen in den Bäumen. In der Mitte ist eine kleine Feuerstelle, die mit Steinen begrenzt ist und anscheinend mehrfach verwendet wurde. Ein kleiner Baum wurde gefällt, damit der Stumpf und der Stamm als Sitzgelegenheit und Tisch verwendet werden kann.

Ich drehe mich im Kreis und betrachte die ganzen Flaschen. „Wie viel hast du dafür gesoffen?“

Quinn kichert und wirft mir etwas kleines zu, das ich, wie das Taschenmesser, nicht fange. Es trifft mich an der Stirn und fällt zu Boden.

„Hilf mir, die alle anzuzünden“, sagt en. Ich hebe das Feuerzeug auf und lasse eine kleine Flamme daraus wabern. Kurz bleibt mein Blick daran hängen, dann gehe ich im Kreis herum und fange an, alle Kerzen anzuzünden.

Das grün, braun und weiß der verschiedenen Flaschen vermischt sich in seltsamen Formen und wirft ein hypnotisierendes Muster ins Gras. Da die Laternen an Drähten aufgehängt sind, drehen sie sich langsam hin und her und machen das Muster bloß noch schöner.

„Messer!“, sagt Quinn. Ich ziehe das Jagdmesser heraus und schnappe die Klinge auf.

„Haltung“, sagt en als nächstes und entfaltet ein zweites, weitaus neuer aussehendes Messer. „Wenn du dir angewöhnst, richtig zu stehen, hast du im Kampf bereits einen großen Vorteil.“ En schubst mich ohne Warnung. Ich stolpere zurück und verliere beinahe das Gleichgewicht.

„Hey!“

„Stell dich breitbeinig hin, und knick die Knie etwas ein.“

Ich folge ens Anweisung. Quinn schubst mich abermals, doch dieses Mal bewegt sich bloß meine Schulter.

„Die Art, wie du dein Messer hältst, bestimmt dein Ziel.“ En hält das Messer mit der Spitze zu mir, seitlich vom Körper, den anderen Arm schräg vorgehalten. „So kannst du zustechen und schlitzen. Die schnellste Art, dein Gegenüber zu töten.“

„Ich will niemanden umbringen“, murre ich.

Nicht noch jemanden.

„Dann stirbst du lieber?“, fragt Quinn entgeistert.

„Du tust so, als wären das meine einzigen Möglichkeiten.“

Möglichkeiten hast du, wenn du hier wieder draußen bist.“

Ich verschränke die Arme. Einige Sekunden starren Quinn und ich uns an, bis en seufzt und die Position ändert. Die Klinge zeigt nun quer zu mir, parallel zu ens Körper.

„So ist es schwerer, jemanden zu töten, aber einfacher, jemanden zu entwaffnen und dich selbst zu beschützen.“ En hebt den anderen Arm auf Augenhöhe. „Einen Arm solltest du als Schild verwenden. Stell dich darauf ein, dass du verletzt wirst.“

Ich spiegle ens Haltung, und so beginnt unsere erste Unterrichtseinheit.

Erst lerne ich die Basics, dann imitiert Quinn Angriffe in Zeitlupe und sagt mir an, wie ich mich verteidigen soll. So bleiben mir wenigstens Messerwunden erspart— die Wunden unter den Verbänden schmerzen trotzdem. Am Ende fühle ich mich nicht wirklich fähig, aber weniger wehrlos.

Der Mond verschwindet gerade hinter den Baumwipfeln als Quinn entscheidet, dass es genug für heute ist. Ich klappe das Messer zu und will es en zurückgeben, doch en winkt ab.

„Wofür bringe ich dir das alles bei, wenn du dann keine Waffe hast?“

Ich lächle und stecke das Messer ein. Quinn klopft mir auf die Schulter und nickt in Richtung des Pfades, auf dem wir hergekommen sind. „Und jetzt zurück und ab ins Bett, bevor uns jemand sucht.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Ich hab kein Bett.“

Quinn seufzt. „Du weißt, was ich meine.“

Teil 3.5

Als ich zum ersten Mal aufgewacht bin, hat das Feuer gekreischt. Hier, im Nichts, höre ich es zum ersten Mal flüstern.

Die Funken in der Schwärze mühen sich ab, am Leben zu bleiben. Sie flackern, verglühen, richten sich wieder auf. Und sie flüstern.

Was sagst du da?

Ich strecke die Hand aus, damit die Flamme etwas größer wird, damit ich sie verstehen kann. Doch das Feuer wächst zu schnell, beginnt wieder zu kreischen und frisst trotz allem meine Haut von meinem Fleisch.

Die Echtheit des Schmerzes reißt mich aus dem Schlaf. Stöhnend balle ich die Hände zu Fäusten, massiere meine Finger. Die Narben auf meinen Händen pulsieren schmerzhaft. Ich nehme die Verbände ab— wenigstens ist von den Kratzern nur noch Schorf übrig.

Ich stehe auf taste mich zur Tür. Es ist noch dunkel draußen und ich bin die erste, die wach ist, also nutze ich die Gelegenheit, um mich auf den Tag vorzubereiten. Anscheinend gibt es in der Hütte einfach kein Warmwasser, also kann ich mir keine lange, heiße Dusche gönnen.

Als ich das Badezimmer verlasse, wartet Thana draußen mit ihrer Prothese in der Hand. Sie reibt sich über die Augen und nickt mir zu. Ich nicke zurück und sie geht ins Bad.

Ich bin nur kurz alleine in der Küche, dann kommen Quinn und Thana gleichzeitig zum Frühstück. Ab dann geht alles wie nach Uhrwerk: Sie decken den Tisch, richten an— dieses Mal trockenes Dunkelbrot mit krümeligem Käse— und keine Sekunde später kommen Aaron und Samael dazu, setzen sich hin und beginnen zu essen. Jedes seiner Kinder scheint sich abzumühen, vor ihrem Vater fertig zu sein, denn sobald er den letzten Bissen fertig hat, beginnt er wieder Arbeiten auszuteilen.

„Thana, Rundgänge. Quinn, Jagd. Samael, du passt auf sie auf“, sagt er und deutet mit dem Daumen auf mich, „zeigst ihr, wie man Felle säubert und hilfst ihr dabei.“

Samael verzieht das Gesicht, doch bevor er zur Widerrede ansetzen kann, steht Aaron auf. Quinn folgt ihm wortlos.

Thana isst mit Ruhe fertig, bleibt jedoch sitzen, bis ich ebenfalls fertig gegessen habe. Sie sammelt alle Teller außer Samaels und stellt sie in das Waschbecken, bevor sie ebenfalls die Hütte verlässt und die Tür abschließt.

Samael lässt mich warten, bis er fertig ist, dann steht er auf und brummt, „Folgen.“ Es klingt so, als wollte er Aaron imitieren, doch er scheitert kläglich und klingt so, als würde ihm etwas im Hals feststecken.

Er führt mich aus der Hütte. Es riecht immer noch ranzig, nach Blut, Haut, Haaren und abgestandenem Wasser. Wir gehen um das Haus herum; mit jedem Schritt wird der Geruch stärker, und als wir um die Ecke biegen, finde ich die Quelle davon.

Zwischen den Ästen von Bäumen sind Wäscheleinen gespannt, auf denen geputzte Felle trocknen. In der Mitte steht ein Balken, der teilweise morsch ist, die Erde darum aufgeweicht und schlammig. Daneben steht ein Bottich, in dem mehrere Felle in Wasser aufweichen, und ein Müllsack, der umgekippt im Gras liegt.

Mir treibt der Geruch Tränen in die Augen. Ich halte mir den Ärmel über die Nase und atme langsam, um die Übelkeit zu unterdrücken. Es riecht in der gesamten Hütte nach Moder und Fäulnis, aber das hier übertrifft alles.

„Du nimmst ein Fell“, sagt Samael, greift in den Bottich und nimmt eines heraus, „Und breitest es so über den Balken.“ Er wirft das Fell mit den Haaren nach unten über das Holz. Dann nimmt er eine seltsame, große Klinge. Sie ist gebogen und hat an beiden Enden einen Griff.

„Dann schabst du den ganzen Dreck ab“, sagt er und zeigt es mir kurz. „Verstanden?“

Ich nicke. Er wirft mir das Messer zu. Ich versuche, es zu fangen, schneide mir dabei jedoch nur den Handballen auf. Leise fluchend hebe ich es wieder auf und gehe an die Arbeit.

Das erste Fell ist schwierig. Es verrutscht ständig, ich schneide einige Male in die Haut und der Schnitt an der Hand, so seicht er auch ist, macht die Dinge nicht gerade einfacher. Sobald ich fertig bin, sammle ich die kleinen Fetzen zusammen, die ich abgeschabt habe, und werfe sie in den Müllsack. Einige Fliegen flüchten aufgerührt. Ich überlege mir scharf, ob ich Vegetarier werden soll.

Die Felle, die in dem Fass liegen, sind alles andere als sauber. Fleisch und Fett hängen noch an der Innenseite und die Haare sind mit verdrecktem Wasser vollgesogen. Mühsam entwirre ich ein weiteres von dem Rest, wringe es naserümpfend aus und mache mich wieder an die Arbeit.

Trotz Aarons Anweisungen hilft mir Samael nicht. Stattdessen setzt er sich auf den Boden und sieht mir eine Weile zu. Anscheinend wird es ihm schnell langweilig, denn er geht wieder hinein und kommt einige Minuten später mit dem Hocker und einer dampfenden Tasse zurück. Er beobachtet mich während der gesamten Arbeit, doch ich tue so, als würde ich es nicht bemerken, obwohl es mir eine Gänsehaut verpasst.

Ich komme nur langsam voran und arbeite bis in den Mittag hinein. Die Felle scheinen einfach nicht weniger werden zu wollen. Mir läuft Schweiß den Rücken hinunter, obwohl ich meine Jacke seit Ewigkeiten ausgezogen habe. Meine Hände sind vom Wasser verschrumpelt und schmerzen von der ständigen Arbeit. Ich schätze, dass ich morgen davon Blasen bekommen werde.

Ich wische mir über die Stirn und beschließe, eine Pause zu machen. Sollte Samael mir nicht eigentlich helfen?

Er liegt im Schatten der Hütte am Boden, Hände hinter dem Kopf verschränkt, und döst friedlich vor sich hin.

Ich gehe auf ihn zu und bleibe vor ihm stehen. Statt der Angst davor, ihn aufzuwecken, finde ich ein anderes, weitaus spitzeres Gefühl: Wut.

Das Schabmesser in meiner Hand fühlt sich zu warm an, insbesondere an dem Schnitt an meinem Handballen. Ich werfe es neben seinem Kopf auf den Boden. Das laute Pochen des Aufschlags reißt Samael aus dem Halbschlaf.

„Du bist dran.“

Er blinzelt, dann lacht er. Ich weiß nicht wieso, doch genau diese Reaktion bringt mich dazu, ihm die Zähne einschlagen zu wollen.

„Aaron hat dir gesagt, du sollst mir helfen“, sage ich, „Stattdessen liegst du am Boden und machst nichts.“

„Ich mache was!“, sagt er selbstgefällig, „Ich genieße die Aussicht.“

Mein Magen verkrampft sich.

„Schau nicht gleich so verzwickt drein“, sagt er, steht auf und streckt sich genüsslich durch, „War doch nur als Kompliment gemeint!“

„Deine Komplimente kannst du dir hinten reinschieben!“, schreie ich ihn an. Kurz meldet sich wieder die Angst in mir und ermahnt mich zur Vorsicht, doch ich übergehe sie.

„Jeder in dieser verdammten Hütte arbeitet sich die Haut von den Händen, und du faule Sau liegst herum und beschwerst dich, wenn du irgendwas machen musst“, fauche ich.

Ein Schlag Stille vergeht zwischen uns.

Samael grinst wieder dieses Grinsen, das ihn wirken lässt, als würde er die Zähne fletschen.

„Du hast hier nichts zu sagen,“ knurrt er, „Das fehlt mir gerade noch. Wir füttern dich durch, halten dich wie ein verdammtes Haustier, und du denkst, du kannst verfickte Befehle geben.“

Er geht auf mich zu. Ich stolpere einige Schritte zurück, doch er greift vor und packt mein Gesicht. Die Wut verpufft und hinterlässt nichts als eine eiskalte Welle Panik.

„Und gerade du brauchst jedes Kompliment, das du kriegen kannst.“ Er drückt zu. Meine Wangen brennen, die Narbe spannt unter seinem Griff. „Bild dir nichts darauf ein. Ich würde dich nicht mal ficken, wenn du die letzte Frau auf der Welt wärst.“

Das Messer.

Ich greife zu meiner Hosentasche, doch bevor ich die Finger darum bekommen kann, packt er mein Handgelenk.

„Aber das weißt du. Oder du hast in letzter Zeit nicht in den Spiegel geschaut.“

Er zieht seinen Daumen über die Narbe, von meiner Wange bis zur Nasenbrücke. Überall, wo seine Haut meine trifft, fühle ich mich dreckig. Meine Rippen schlingen sich enger um meine Lungen und zwingen ein Wimmern aus mir.

„SAMAEL!“

Die Stimme war bestimmt, befehlend, fast totalitär. Samael lässt mich sofort los und tritt einen Schritt zurück.

Ich stolpere zurück und schnappe panisch nach Luft. Meine Hände sind verschwitzt und zittrig, mir laufen kalte Schauer den Rücken hinunter.

Thana stapft aus dem Wald und rauscht auf Samael zu. Ihre Arme sind von den Händen bis zu den Ellbogen mit Blut bedeckt. In ihrer Linken hält sie ein Jagdgewehr. Sie packt Samael am Kragen und drückt ihn einige Schritte rückwärts. Ihr Gesicht, das normalerweise kaum Emotionen zeigt, ist von Wut verzerrt.

„Rein. Sofort.“

Ihre Stimme ist ein tiefes Knurren. Sie hat eindeutig mehr von ihrem Vater.

Samael stolpert zurück und geht schnurstracks zurück in die Hütte. Thana sieht ihm hinterher. Erst jetzt bemerke ich, dass sie ihren Finger auf den Abzug gelegt hat.

Zögernd greife ich mir an die brennende Wange, wo sich Samaels Daumennagel in meine Haut gegraben hat. Ich spüre die Erhebung in meinem Gesicht, wo sich das Stück Schrapnell in meinen Kopf gegraben hat.

Thana setzt sich ins Gras und patscht neben sich auf den Boden. Ich setze mich zu ihr und tue mein Bestes, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Sie legt einen Arm um mich, dabei schmiert sie etwas Blut auf mein Shirt.

Es braucht eine ungewohnt kurze Weile, bis ich mich wieder einkriege.

Thana sieht mich besorgt an. „Geht’s wieder?“

Ich nicke. „Hab mich nur erschreckt.“

Sie klopft mir leicht auf die Schulter, steht auf und hält ihre Hand hin— die, die sie vorher an meinem Shirt gesäubert hat. Ich nehme sie und stehe auf.

„Danke“, sage ich leise. Thana nickt.

Ich entschließe, dass die Felle auch warten können, und dass ich für den Moment von jeglicher Arbeit genug habe. Thana und ich gehen leise nebeneinander in die Hütte, doch am Flur teilen sich unsere Wege wieder.

Teil 3.6

Ich lasse das Abendessen aus, weil draußen geschrien wird.

Anscheinend hat Thana Aaron von Samaels Verhalten erzählt. Nun scheint die ganze Familie in der Küche oder im Wohnzimmer versammelt zu sein, und Aaron und Samael schreien sich gegenseitig an.

Ich sitze in der Ecke und halte mir die Ohren zu.

Es beginnt zu nieseln. Kleine Tropfen tappen gegen die Fensterscheibe und waschen nach und nach eine dünne, gelbe Schicht Pollen von dem Glas.

Das Fenster ist bereits sauber, als ich mich traue, die Hände von den Ohren zu lösen. Ich werde von Stille begrüßt.

Ich stehe auf und öffne langsam die Tür. Der Flur ist dunkel und ruhig, und so traue ich mich, die Abstellkammer zu verlassen und in die Küche zu linsen. Wenn ich Glück habe, schlafen alle bereits und ich kann etwas zu Essen stehlen.

Das Wohnzimmer ist mit warmen, sanftem Licht erfüllt. Vor dem Kamin hockt ein massiver Schatten. Ich sehe etwas genauer hin und erkenne Aaron. Er stochert mit einem Kamineisen in einigen glühenden Flecken Asche herum, wirft Papier dazu, dann einen Holzscheit.

Ich halte meinen Atem an.

Aaron hat einen Haufen Papiere vor sich ausgebreitet. Er überfliegt die Seiten, fasst zwei Stapel zusammen, wobei einer weitaus kleiner ist als der andere, und wirft den kleineren ins Feuer. Funken stieben unter den Papieren hervor, Asche wirbelt auf. Gierig klammern sich die Flammen an das neue Fressen.

Ich schaffe es gerade noch, mich in dem kleinen Zimmer zu verstecken, bevor Aaron sich ächzend erhebt und umdreht. Seine schweren Schritte gehen draußen am Flur entlang, dann herrscht Stille. Ich gebe mir nur genug Zeit, um aufzuatmen, bevor ich aus dem Zimmer zum Kamin husche.

Die Hoffnung, dass mir das, was gerade verbrennt, sagen könnte, wieso ich hier bin, lässt mich Logik und Vernunft vergessen. Ich greife mit beiden Händen in das Feuer, packe die Seiten und werfe sie vor dem Kamin auf den Boden. Hastig schlage ich mit bloßen Händen darauf ein, bis die Glut vergeht.

Erst mache ich mir Sorgen, wie ich die Asche wegputzen soll, dann erst realisiere ich, was ich gerade getan habe. Ich starre auf meine Hände hinunter, doch ich erkenne keine Verbrennungen und spüre auch keinen Schmerz. Neugierig nähere ich mich mit der Hand dem Feuer, doch als ich zu nahe komme stechen meine Finger.

Ich schüttle den Kopf. Die Seiten fasse ich zu einem ordentlicheren Stapel zusammen, bevor ich sie weglege, um die Asche, die ich auf dem Boden verstreut habe, so gut es geht wegzuwischen. Dann nehme ich den Stapel wieder und drücke ihn so fest gegen meinen Körper, dass ich die Wärme durch mein Shirt an meiner Haut spüren kann.

Ich haste zurück in die Abstellkammer und breite die Papiere auf dem Boden aus. Große Flächen sind zu Asche zerfallen oder verschwärzt. Ganz unten finde ich einen braunen Umschlag. Die äußere Beschichtung Plastik ist zwar etwas geschmolzen und gebogen, doch die Aufschrift ist lesbar. In schwarzer Tinte sitzt ein Stempel in der rechten unteren Ecke. Er zeigt die Buchstaben Z-E-F-H-A. In roter Tinte wurde Zur Überprüfung eingereicht — Veraltet quer über die Akte gestempelt.

Ich starre den Umschlag einige Sekunden verwirrt an. Eine Akte passt in diese Hütte im Wald etwa so gut hinein wie ein Flachbildfernseher.

Die Seiten der Akte sind außer Ordnung, doch bei einigen ist die Seitenzahl in der rechten oberen Ecke noch lesbar. Nach einigem Sortieren sind meine Hände von der abgefallenen Asche grau.

Die erste Seite fehlt. Seite zwei beginnt am Ende eines Absatzes, auf dem der Anfang eines roten Stempels die Buchstaben ZUR quer über die Seite zeigt.

woraus geschlossen werden kann, dass sie nicht immun gegen Feuer ist, selbst, wenn es von ihr selbst erschaffen wurde.

Weitere Effekte, die sich durch ihre Kräfte ausdrücken, sind:

1. Erhöhte Körpertemperatur, sowie starke Schwankungen dieser;

2. Starke Kälteempfindlichkeit;

3. Leichte euphorische Reaktion auf Wärmeabgaben (bspw. Feuer, Sonnenlicht, Infrarot-Lampen)— diese passt sich der Temperatur und Größe der Abgabe an;

4. Erhöhte Resistenz gegen Kohlendioxid- und Kohlenmonoxidver

Der Rest der Seite ist entweder so von Ruß verschmiert, dass der Text unlesbar ist, oder in Asche zerfallen. Wieder und wieder lasse ich meinen Blick über die wenigen Zeilen schweifen. In mir formt sich eine schreckliche Vorahnung.

In dieser Akte geht es um mich. Was bedeutet das?

Ich presse die Hände gegen meine Augen. Dort draußen gibt es jemanden, der Informationen über mich gesammelt hat, und das seit einiger Zeit. Dem Stempel und der Akte nach zu urteilen sind es sogar mehrere Leute, eine Organisation. Sie wissen von meiner seltsamen Verbindung zu Feuer, mehr als ich selbst weiß. Aaron wurde anscheinend von ihnen bezahlt, um mich für sie zu fangen, und hat deshalb die Akte bekommen.

Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Sofort male ich mir aus, wer mich sucht; Sammler, die mich bloß als exotische Kreatur sehen, wahnsinnige Forscher, die mich auseinandernehmen und untersuchen wollen. Erst sind es in meinem Kopf Sektenführer, dann Sklavenhändler, dann Serienmörder.

Energisch schüttle ich den Kopf und reibe mir die Augen. Ich habe seit mehreren Tagen nur wenige Stunden geschlafen, es ist mitten in der Nacht und meine Fantasie spielt verrückt. Nichts von alldem ist wahrscheinlich.

Aber nicht unmöglich.

Die nächste Seite ist kaum beschädigt, doch an manchen Stellen hat das Feuer sich durch das Papier gefressen. Auch hier sitzt ein Stempel, und zeigt das vollständige Wort ZURÜCKGEZOGEN in großen Lettern. Zusätzlich ist der Text darunter von Hand geschrieben worden und die Handschrift macht es nicht einfacher, die Wörter zu entziffern.

Ich schlage mehrere Tests vor, um ihre Grenzen zu finden. Wir müssen wissen, wie heiß sie ihr Feuer machen kann, falls wir sie isolieren müssen. Wir sollten sie bis zur körperlichen Erschöpfung treiben, um genaue Ergebnisse zu gewährleisten. Darüber hinaus müssen die Kapazität und Entfernung, in der sie Flammen beschwören kann, getestet werden, sowie wie Sauerstoffgehalt, bereitgestellte Materialien, Feuchtigkeit und ihr eigenes körperliches Wohlbefinden dazu beitragen.

Weiters sollten emotionale Trigger festgestellt werden, die einen Ausbruch verursachen könnten. Wir können nicht riskieren, dass sie zufällig in eine Flammenwolke platzt, nur weil sie sauer ist.

Unter einer Signatur, von der ich nur das „Dr.“ entziffern kann, befindet sich ein zweites Statement, dieses Mal in schwarzem Kugelschreiber anstatt in blauem.

Wenn Sie einen Testantrag stellen wollen, nehmen Sie das mit dem Supervisor auf, nicht mit uns. Das ist nicht unser Department.

Hören Sie auf, uns unvollständige Reports zu schicken. Das gesamte Department kennt bereits Ihren Namen, und nur deswegen, weil wir ständig Ihre Arbeit machen müssen. Es liegt nicht an uns, aus Schwesternreporten die Daten herauszuholen, die Sie eintragen müssten.

Weiters schlägt das gesamte Department vor, Ihre Testvorschläge einmal jemandem von der Ethik-Kommission zu zeigen. Nehmen Sie sich das Feedback, was sicher sehr ausführlich sein wird, gerne zu Herzen.

Wenn so etwas noch einmal passiert, schreibe ich eine Beschwerde. Das wäre weitaus weniger Arbeit, als Ihre Lücken zu füllen.

Bericht zurückgezogen.

Dr. Evie-Rose Searle

Das bestätigt meinen Verdacht restlos. Dort draußen ist eine organisierte Gruppe von Leuten, die mich auseinandernehmen und untersuchen wollen. Meine Zeit läuft langsam ab und ich bin meiner Flucht noch immer keinen Schritt näher.

Ich durchsuche den Rest der Seiten, doch viel kann ich nicht entziffern. Der größte Absatz, den ich intakt finde, ist anscheinend ein Teil von einem Transkript eines Interviews, und lautet bloß, Nein. Niemand außer mir weiß davon. Ich habe meinem, und ist von Brandflecken umrundet.

Insgesamt bleibt mir nur eine Seite, die fast vollständig intakt ist, zwei halbe Seiten und einige Papierfetzen. Ich sammle alles zusammen, nehme den Umschlag und stecke alles hinein.

Als ich die Akte hochhebe, fällt aus dem Pappdeckel etwas auf den Boden. Ich schiebe die Akte unter die Matratze und hebe es auf; es ist ein kleiner Zettel. Ich rutsche näher an das kleine Fenster. Das Mondlicht beleuchtet den Zettel vollständig und zeigt dieselben Buchstaben wie auf der äußeren Seite der Akte, darunter einige verblasste Zahlen. Ich drehe ihn um. Mein Atem verfängt sich in meinem Hals.

Kein Zettel. Ein Foto.

Mama steht links, Papa rechts. Vor ihnen steht mein kleiner Bruder, um dessen Schulter mein jüngeres Ich ihren Arm gelegt hat. Mama und Papa haben ebenfalls die Arme um uns gelegt. Papa muss sich etwas hinunterbeugen, um ins Bild zu passen. Wir lächeln in die Kamera.

Ich erinnere mich an Gelächter. An Stimmen, Umarmungen, daran, wie ich mit meinem Bruder gespielt habe und mit Papa gekocht und mit Mama gelesen. Plötzlich höre ich Mamas Stimme und mir wird bewusst, dass sie diejenige war, die mir immer gesagt hat, dass Schwüre teuer sind, und dass ich das Sprichwort von ihr habe.

Kleine Fetzen von Erinnerungen tun sich vor meinem inneren Auge auf. Meine Vergangenheit ist ein endlos schwarzes Feld, in dem kleine Flecken Licht funkeln, die ich nicht reihen oder verbinden kann.

Ich blinzle Tränen aus meinen Augen, um das Foto wieder sehen zu können. Mama und ich haben dieselben dunkelbraunen Haare, dieselben Gesichtszüge, dieselbe Hautfarbe, dasselbe Lächeln. Nur die Augen sind unterschiedlich, meine grau, ihre braun. Dafür ist mein Bruder Papa wie aus dem Gesicht geschnitten, von der Nase bis zum Grinsen bis zu denselben blauen Augen. Im Bild fehlt ihm ein Zahn.

Schluchzend drücke ich das Bild an mein Herz.

Sie sind weg.

Ich kneife die Augen zu. Mein Körper verkrampft sich, weigert sich anzunehmen, dass sie tot sind. Mama und Papa und mein Bruder…

Er war zu jung.

Trotzdem ist er tot.

Deine Familie hatte nicht so viel Glück, hallt in meinem Kopf, das letzte, was noch Sinn ergibt, bevor eine Welle Schmerz alles auslöscht.

Teil 3.7

Mama sitzt auf meinem Bett und beobachtet mich. Ein Schleier, der eher an einen Lampenschirm erinnert als an Mode, verdeckt ihr Gesicht. Sie klopft neben sich auf die Matratze.

Ich hüpfe auf das Bett und setze mich neben sie. Es ist den Versuch nicht einmal wert, den Schleier abzunehmen— wahrscheinlich wartet darunter nur Dunkelheit, oder ein zweiter Schleier, oder Rauch. So oder so, ihr Gesicht werde ich nicht sehen dürfen.

Jaanu“, sagt sie, ein Spitzname in Hindi, den sie mir gegeben hat, „Kannst du meinen Schleier abnehmen?“

Ich zögere. Langsam greife ich den Stoff und hebe ihn von ihrem Gesicht. Sie sieht genauso aus wie ich.

Sie lächelt.

„Danke“, flüstert sie und küsst meine Stirn.

Ich falle ihr in die Arme und weine.

Teil 3.8

„Guten Morgen, Brandgefahr.“

Jemand stupst in meine Seite. Ich biege mich weg und schlage nach demjenigen.

„Verpiss dich. Nenn mich nicht so.“

„Dann guten Morgen, Dornröschen.“

„Das ist noch schlimmer, du Stinktier.“

Ich öffne die Augen und erkenne Quinn im Halbdunkel.

„Tut mir Leid, dass es heute so lange gedauert hat, aber Aaron wollte einfach nicht schlafen gehen.“

Ich schlucke und versuche, das Foto vor Quinn zu verstecken, indem ich es in meine Handfläche hineinfalte. En scheint es nicht zu bemerken und steht aus der Hocke auf.

„Komm schon, wir haben schon genug Zeit verschwendet.“

Ich stehe auf und wische mir über das Gesicht. Anscheinend habe ich im Schlaf geweint, denn meine Wangen sind nass.

Leise folge ich Quinn auf den Flur, durch das dieses Mal leere Wohnzimmer und aus der Hütte. Dabei falte ich das Foto sorgfältig und stecke es in meine Hosentasche.

Der Weg durch das Untergrün geht dieses Mal weitaus einfacher. Meine Hände pochen von den Blasen, die sich langsam darauf formen. Quinn und ich sind innerhalb von wenigen Minuten an der Lichtung und gehen herum, um die Laternen anzuzünden.

Wenn ich das Feuer kontrollieren könnte, würde das alles bestimmt schneller gehen.

Ich halte in der Bewegung inne und wiederhole den seltsamen Gedanken noch einmal in meinem Kopf, dann verwerfe ich ihn und zünde die letzten Kerzen an.

„Messer! Haltung! Los geht’s!“, ruft Quinn freudig und geht in Stellung. Ich ziehe mein Taschenmesser.

Quinn geht mit mir alles durch, was en mir gestern beigebracht hat, und korrigiert kleine Fehler. Schlussendlich wirft en ens Taschenmesser zwischen linker und rechter Hand hin und her und grinst. „Gut gemacht! Kommen wir zu unserem ersten Übungskampf.“

Ich blinzle en an. „Übungskampf?“

„Hab ich genuschelt?“

Ich verziehe das Gesicht. „Ich werde mich nicht von dir abstechen lassen. Wie lange kämpfst du schon? Und ich hab, was, ein paar Stunden Training hinter mir?“

En winkt ab. „Es ist kein wirklicher Kampf. Ich simuliere langsam Attacken auf dich, und du versuchst darauf zu antworten. Aber ich gebe dir keine Hilfe mehr.“

Ich seufze, nicke und gehe in Position. En lässt keine Sekunde auf sich warten und sticht von der Seite zu, zwar langsamer als eine echte Attacke, doch viel schneller, als mir lieb ist. Ich blocke ens Arm ab und steche nach ens Schulter. En weicht spielerisch aus.

„Du musst es nicht langsam machen“, sagt en spöttisch. Ich knirsche mit den Zähnen und blocke einen weiteren Angriff, versuche wieder, zuzustechen.

„Schon besser, Brandgefahr, könnte aber schneller sein.“

Ens Attacken werden schneller. Wieder und wieder versuche ich, en irgendwie zu erwischen, treffe jedoch kein einziges Mal.

Quinn springt tänzelnd einen Schritt zurück und lacht. „Wow. Ja, du musst wirklich unschuldig sein. Jemand wie du könnte nie im Leben richtig Schaden anrichten.“

„Oh mein Gott, halt den Mund!“, zische ich und stürme auf en zu, ohne auf einen Angriff zu warten. Ich habe keine Ahnung, worauf ich ziele, doch es macht keinen Unterschied, denn sobald mein Messer auch nur in ens Nähe kommt, greift en meinen Arm und rammt mich mit der Schulter, sodass ich nach hinten taumle und auf den Boden falle.

„Tolle Arbeit, Brandgefahr“, sagt en spöttisch und stellt sich über mich, „Du warst fast so erfolgreich wie als du mich aus dem Hinterhalt angegriffen hast.“

„Klappe, du Stinktier“, zische ich und trete gegen ens Bein. Ens Knie knickt ein und en stolpert rückwärts auf den Boden.

Statt einem beleidigten Keuchen oder Schimpfen höre ich nur Gelächter.

„Das Stadtkind kämpft also schmutzig!“

Ich seufze, kann aber nicht anders als zu lächeln.

„Du hast dir wenigstens alles gemerkt“, sagt en und setzt sich auf, „Das war für ein mal Üben schon ziemlich gut.“

„Pass auf, mein Ego fühlt sich schon belästigt, so wie du es streichelst“, sage ich und stehe auf. Ich gehe wieder in Position, so auch Quinn, und unser zweiter Übungskampf beginnt spotthaft langsam.

„Ich hab Aaron heute belauscht“, sagt en.

„Wobei?“

„Er hat telefoniert.“ En verzieht das Gesicht. „Er hat uns noch nie Telefone haben lassen, aber anscheinend hat er eines in seinem Zimmer versteckt. Oder er hat mit sich selbst geredet.“

„Was hat er gesagt?“, frage ich en.

„Er hat mit jemandem geredet, der dich abholen soll“, sagt en. „Hat sich beschwert, dass es so lange dauert.“

„Wer war es?“

Quinn zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass Aaron dich schon lange hätte holen sollen, aber er wollte nicht in das Heim einbrechen, in dem du warst“, sagt en und deutet einen Stich von unten an, nur um auszuweichen und von links anzugreifen. Überraschenderweise kann ich den Stich abblocken.

„Dann war ja das Feuer ein Segen für ihn“, murre ich.

Quinn nickt.

„Und wieso dauert es so lange, bis…“ Ich zögere. „…bis ich geholt werde?“

„Anscheinend sucht ihn die Polizei.“

„Wieso? Hat er noch jemanden bezahlt, um ein Mädchen zu entführen?“

„Nein“, sagt Quinn, „Er hat ein Haus angezündet.“

Ich stocke. Quinns Messer verhakt sich in der Jacke und reißt ein Loch in den Ärmel.

„Hey! Bist du wahnsinnig?“

„Er hat was?“, frage ich. En blinzelt mich verwundert an. „Er hat ein Haus angezündet?“, frage ich. Plötzlich kann ich nur noch keuchen.

„Hey. Hey!“

Ich gehe an Quinn vorbei und setze mich auf den gefällten Baum. Er hat ein Haus angezündet. Mein Haus. Mein Zuhause.

Quinn legt die Hände auf meine Schultern. „Was ist los?“

„Gib mir eine Sekunde.“

Ich lege mir die Hände auf die Augen und atme durch. Derjenige, der den letzten Rest meines Lebens verbrannt hat, ist derselbe, der jetzt Aaron auf mich gehetzt hat. Und er kommt wahrscheinlich von dieser Organisation, von der die Akte immer noch unter der Matratze in dem Abstellraum liegt.

„Wie lange habe ich noch?“, frage ich.

Quinn sitzt nun neben mir und starrt mit mir in den Dreck. Ens Gesicht spiegelt nichts als Mitleid. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ein paar Tage. Vielleicht nicht.“

Wir sitzen einige Sekunden in gegenseitigem Anschweigen.

„Er hat dich Feuermonster genannt.“

Ich zucke zusammen.

„Aaron. Während dem Telefonat“, sagt Quinn. Hinter dem Mitleid funkelt Misstrauen.

Mir fehlen die Worte. Wie zur Hölle soll ich das bitte erklären?

„Es passieren immer wieder… Dinge“, sage ich langsam.

Quinn sieht mich erwartend an. Ich entscheide, so oder so, en wird denken, dass ich wahnsinnig bin.

„Sachen gehen in Flammen auf“, sage ich, „Um mich herum. Ohne Feuerzeug, ohne Streichhölzer. Ich weiß nicht, wie das passiert, oder warum, aber ich kann es nicht kontrollieren, und…“

Die Worte verlieren sich irgendwo zwischen meinem Hals und meinem Mund.

„Ich schwöre, ich bin nicht verrückt“, flüstere ich.

Ens Gesichtsausdruck ist unlesbar. Spätestens jetzt denkt en, dass ich verrückt bin. Katatonisch zupfe an einem Stück loser Haut, die sich um meinen Fingernagel herum löst.

„Das ist also im Jugendheim passiert?“, fragt en. Ich nicke. En seufzt, „Fuck.“

Die Stumpfheit trifft mich komplett unvorbereitet und ein Kichern kämpft sich in mir hoch.

„Du denkst also nicht, dass ich wahnsinnig bin?“

„Oh doch! Aber ich glaube dir trotzdem.“ En steht auf und streckt sich. „So oder so, du musst hier raus, und das pronto.“

Ich rapple mich hoch und zücke wieder mein Messer. „Runde drei?“

„Runde drei“, wiederholt en, „Und diesmal ohne plötzliches Stillstehen, bitte.“

Mittlerweile ist es einfach genug, ens Angriffe instinktiv abzuwehren, aber das auch nur, weil sie in Zeitlupe passieren. Meine Gedanken sind woanders, bei dem Bastard, der mein Haus niedergebrannt hat, und der Organisation, die mich für sich haben will.

Wieder kämpft sich die Wut über die Angst, die mich seit Tagen verfolgt. Doch diesmal ist es keine kurzlebige Stichflamme, die sofort ausgeht und nichts als Asche und Konsequenzen hinterlässt, sondern ein tiefes, glühendes Gefühl, das sich in mir festsetzt und meinen Kopf, meinen Geist und mein Herz umklammert.

Insgeheim schwöre ich Rache für das, was er mir genommen hat. Rache für das, was ich durchmachen musste. Ich finde eine Offenbarung, die mich weniger erschreckt, als sie es sollte: Trotz dem, was ich Olivia angetan habe, wünsche ich mir, noch einmal zu töten.

Teil 3.9

Der Tag wiederholt sich: Ich mache mich fertig, esse mein karges Frühstück und bekomme Arbeit zugeteilt. Samael soll den Rest der Felle abschaben, anscheinend als Strafe. Thana soll einen Teil des Daches reparieren, der im gestrigen Regen undicht war. Quinn wird wieder auf die Jagd geschickt.

„Du“, sagt Aaron schließlich und deutet auf mich, „Kommst mit.“

Ich blinzle überrascht, doch das ist alle Erklärung, die ich bekomme. Danach steht er auf, greift seine Flinte und geht aus der Hütte.

Trotz der Müdigkeit, die sich mittlerweile in mir festgesetzt hat, laufe ich ihm hinterher. Mir fehlen die Stunden Schlaf, die ich mit Quinn für das Training verwende.

Aaron geht schnurstracks in das Gebüsch, ich folge ihm so gut ich kann. Es dauert nicht lange, bis die Hütte hinter uns inmitten von Gestrüpp aus meinem Sichtfeld verschwindet und der Wald uns ins schummrige Halbdunkel taucht. Das Gestrüpp ist noch voll Tau, die Luft ist kalt, kriecht schnell meine Ärmel hoch und verpasst mir eine Gänsehaut.

Wie sich Aaron orientiert, ist nicht klar, doch er scheint zu wissen, wo es langgeht. Lange bin ich mir nicht einmal sicher, wieso wir einen Rundgang machen, bis einige Meter vor uns ein brauner Fleck in der Luft auftaucht. Beim Näherkommen entpuppen sich zwei Ohren, dann eine Schnauze, dann ein Draht.

Der Hase hängt etwa auf Aaron’s Kopfhöhe. Sein Genick ist gebrochen und liegt unbequem in der Schlinge. Blut ist an Mund und Nase getrocknet, tropft von dem Fell an seinem Kinn und weicht die Erde unter der Schlinge auf. Seine Augen sind glasig.

Daher kommen die also.

Aaron vermischt die blutige Erde, löst die Schlinge und wirft mir den toten Hasen zu. Seitdem ich mit Thana das Wild ausgeweidet habe, widert mich nichts mehr an, und so halte ich ihn locker bei den Ohren.

Aaron setzt die Falle neu und geht weiter.

Bis wir die nächste erreichen, sind die Beine meiner Hose bis zum Knie durchnässt und der Stoff klebt an meiner Haut. Aaron löst die Schlinge, setzt die Falle neu und gibt mir den Kadaver. Fast tut es mir Leid, wie ich sie bei den Ohren gepackt herumzerre, aber sie spüren es nicht mehr, also denke ich, es macht ihnen nichts aus.

Die nächste Falle ist leer. Die folgende ist zwar ausgelöst und blutig, aber ohne Beute. Wir finden ein Eichhörnchen und müssen dann bei der folgenden innehalten, weil etwas den Draht zerrissen und den Auslöser aus der Erde getreten hat. Aaron brummt missmutig und zieht eine Spule aus der Tasche. Ich warte still, während er die Falle neu spannt.

Je länger wir laufen, desto seltsamer kommt es mir vor, dass Aaron eine Flinte mithat. Anscheinend sammeln wir nur die Beute ein, die in die Fallen getappt sind, wozu braucht er also ein Gewehr? Ich hätte gesagt, dass er es wegen mir mithat— anscheinend weiß er von meiner Sache mit dem Feuer und könnte annehmen, dass ich es kontrollieren kann— doch selbst als er mit seinen Kindern auf Rundgänge gegangen ist, hatte er es mit.

Meine Aufmerksamkeit wird von der nächsten Falle beschlagnahmt. Der Hase hängt nicht mit dem Genick darin, sondern mit dem Bein. Die Schlinge hat seinen Knochen aus der Haut getrieben. Aaron greift danach. Das Vieh beginnt zu zappeln.

Seine Augen sind weit aufgerissen und blutunterlaufen. Es tritt und kratzt um sich, verzweifelt, aus der Falle zu kommen, und dann kreischt es. Ich höre es weniger, eher fühlt es sich an wie eine Nadel, die durch meine Trommelfelle getrieben wird.

Aaron hält die Hand in meine Richtung aus, zuckt mit den Fingern. Verwirrt lege ich die Beute hinein.

„Brich ihm das Genick.“

Ein bitterer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. „Nein.“

Aaron starrt mich bloß an. Es braucht keine Worte, um das zu übermitteln, was er mir sagen will: Wir bleiben, bis ich den Hasen töte.

Wenn du keinen Hasen töten kannst, wie willst du dann denjenigen umbringen, der dein Leben ruiniert hat?

Ruckartig greife ich den Rumpf des Tiers. Es zerkratzt meine Haut in wilder Panik, windet sich unter meinen Händen, also greife ich fester zu, damit es nicht verrutschen kann. Wieder kreischt es, und ich kann es in meinen Zahnwurzeln spüren, also presse ich meine Hand gegen sein Maul und verdrehe seinen Hals.

Es knackt.

Stille folgt.

Aaron löst die Schlinge. Er legt die Leiche zu den anderen, drückt sie mir in die Arme und setzt seinen Weg durch das Dickicht fort. Ich stakse ihm hinterher, der Geschmack von Galle im Mund.

Aus meinen Armen starren mich die toten Tiere aus hohlen, glasigen Augen anklagend an, ihre Münder leicht offen. Ihr Fell ist rau und unnachgiebig. Ich streichle sie trotzdem.

Wir kommen nur noch an leere, unausgelöste Fallen, also nehme ich an, dass wir auf dem Rückweg sind. Geistesabwesend starre ich auf meine Füße hinunter, wie meine Schritte mich durch Gebüsch und über Wurzeln und Steine führen, wie Erde und Gestrüpp unter mir vorbeizieht. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich mich fühlen soll. Es erscheint mir seltsam, doch ich habe den Hasen getötet, um mir selbst zu beweisen, dass ich es kann. Jetzt, wo es vorbei ist, fühle ich mich seltsam leer.

Ich sehe die Schlinge erst dann, als ich in ihr stehe. Mein Zeh stupst gegen den Auslöser in der Erde, den ich Aaron immer und immer wieder neu setzen gesehen habe, dann brennt mein Knöchel. Einen Wimpernschlag später schlage ich auf dem Boden auf, einer der Hasen schmiert Blut quer über mein Gesicht, dann liege ich rücklings auf dem Boden, mein Fuß einen halben Meter in der Luft, und kann nicht atmen. In einem Moment der Panik zerre ich an dem Draht, der sich bloß verengt und sich tiefer in mein Fleisch gräbt.

„Stopp“, sagt Aaron, und sein Ton ist so befehlend, direkt, ruhig und kontrolliert, dass ich sofort stillliege.

„Was bringt dir das, wenn du herumzappelst?“, fragt er. Er macht keine Anstalten, mir zu helfen, er lacht mich nicht aus, er steht einfach ein paar Schritte von mir entfernt und starrt.

„Bist du das Vieh?“, fragt er, und deutet auf den zerstreuten Haufen von Hasenkadavern, den ich fallengelassen habe. „Bist du Beute?“

Ich atme durch. Der Schmerz von dem Fall ist längst vergangen. Mein Fuß hängt bloß in einem Stück Draht fest. Der größte Schaden kommt davon, dass ich daran gezogen habe. Ich setze mich auf und löse die Schlinge.

„Jetzt setz die Falle neu“, brummt Aaron, der sich bereits wieder zum gehen wendet, „und heb das Wild auf.“

Teil 3.10

Ich weiß, dass es dir leidtut, sagt der Hase in der Schlinge und spuckt dabei Blut auf den Boden, Aber du wirst hier sterben, wenn du mich nicht tötest.

„Ich will niemanden umbringen“, wiederhole ich das, was ich schon Quinn erklärt habe.

Und ich will nicht sterben, sagt der Hase, So leiden wir beide.

Er dreht sich in der Schlinge. Kurz finde ich es seltsam, dass er zwei Mäuler hat, dann wird mir bewusst, dass ich meinen Körper nicht spüren kann. Ich sehe an mir herunter und starre dem Nichts entgegen. Als ich wieder hochsehe, sind der Hase und die Schlinge verschwunden, und ich starre in die Dunkelheit. Langsam gewöhnen sich meine Augen daran, und ich erkenne die hölzerne Decke des Abstellraums.

Murrend setze ich mich auf und reibe mir über die Stirn. Es ist dunkel und leise.

Wo bleibt Quinn?

Ich schleiche auf den Flur und öffne ens Zimmertür annähernd geräuschlos. Der Raum ist nicht viel größer als die Abstellkammer, aber immerhin könnte ich mich durchstrecken, ohne mit beiden Ellbogen gegen die Wände zu stoßen. Auf dem Boden liegen Magazine und einige Schnipsel Papier verteilt. Dutzende von Seiten, die daraus entfernt worden sind, tapezieren die Wände, Bilder von Autos und Gebäuden, vom Meer und seltsame Collagen von mehreren Prominenten. Ein offener Schrank steht in der Ecke des Raumes, zur Hälfte gefüllt mit Kleidung, zur anderen voll mit kleinen Habseligkeiten wie Kristallen, Schnitzskulpturen und einer kleinen Anzahl von Büchern. Eine Collage mit der Aufschrift „Nichts da“ hängt an der Schranktür. Sonst ist nur noch ein Sofabett an die Wand geschoben, in dem Quinn mit offenem Mund schläft, alle viere von sich gestreckt.

Ich setze mich an die Bettkante, hole genüsslich aus und klatsche Quinn die Hand gegen die Stirn.

En grunzt, zuckt hoch und murrt schlaftrunken, „Arschloch!“

„Guten Morgen, Dornröschen“, flöte ich.

„Klappe“, seufzt en und wälzt sich aus dem Bett.

„Ich hab so ewig lange auf dich gewartet“, sage ich theatralisch und lege mir den Handrücken an die Stirn, „Ich konnte sogar noch ein kleines Schläfchen einlegen. Hab von nem Hasen geträumt.“

„Und war das kleine Plüschvieh denn süß?“, fragt en, während en sich umzieht.

„Nein. Hat aus dem Mund geblutet und mich gebeten, ihn zu töten.“

„Hast du?“

„Beim Rundgang mit Aaron, ja.“

Quinn verzieht das Gesicht. Wieder höre ich in mich selbst hinein, suche nach Schuld oder nach Ekel, doch ich finde nichts Entscheidendes.

„Wir trainieren heute nicht nur“, sagt Quinn, „Wir bereiten dich auf deine Flucht vor. Ich würde sagen, dass du noch ein paar Tage Zeit hast, aber wir riskieren besser nichts.“

„Einen Rucksack und einen Flachmann hab ich schon“, sage ich, „Die sind am Dachboden.“

„Guter Anfang, aber du brauchst mehr als das. Haltbares Essen. Kleidung. Feuerstarter. Einen Schlafsack. Irgendwas, was dich und deine Vorräte vor Regen schützt. Hygieneartikel. Ich nehme an, du hast keine Lust, deine Hosen vollzubluten?“

Ich schüttle den Kopf.

„Dann musst du von Thana Tampons klauen.“ Quinn zieht sich eine Jacke über. „Du brauchst Verbände. Desinfektionszeug. Nadel und Faden, falls es ernst wird.“

„Verarsch mich nicht. Als müsste ich jemals meine eigenen Wunden nähen.“

En zieht die Augenbrauen hoch und krempelt ens Hosenbein hoch. Entlang ens Schienbein verläuft eine ungerade Wulst.

„…Oh.“

En grinst selbstgefällig. „Das Meiste davon können wir heute schon packen. Geh und hol deinen Rucksack. Und nimm gleich Streichhölzer und Starter aus dem ganzen Gerümpel mit.“

Ich schleiche mich auf den Flur, klettere so leise wie möglich die Leiter hoch und hole den Rucksack hinter den Schachteln hervor. Zusätzlich stehle ich noch eine Regenplane. Aus einer der Kisten, die noch am Flur stehen, hole ich Streichhölzer, Feuerstarter, und nehme schlussendlich auch eine kleine Schachtel Nadeln und eine Spule Faden mit. Falls ich meine Kleidung noch mehr ramponiere, als sie ohnehin bereits ist, sollte ich sie reparieren können.

Als ich alles auf Quinns Bett werfe, wirft en kurzerhand drei Sets Kleidung und eine kleine Tasche mit Erste-Hilfe-Zeug dazu.

„Ich geh schnell den Flachmann auffüllen“, sage ich.

Quinn schüttelt den Kopf und beginnt, alles zusammenzupacken. „Zu laut. Ich mach das morgen, während Aaron aus dem Haus ist. Ich schmeiß auch gleich was zu Essen dazu.“

Ich nicke dankbar. „Was fehlt noch?“, frage ich.

„Alles aus dem Bad. Mindestens zwei Handtücher. Zahnbürste und Zahnpasta. Seife. Vielleicht einen Kamm?“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. En sieht zu meinen Haaren hoch, die kaum einige Zentimeter lang sind. „Läuse interessiert es nicht, wie lang deine Haare sind.“

„Kannst du das morgen auch gleich dazupacken?“, frage ich.

„Sicher. Hoffen wir mal, dass alle aus dem Haus verschwinden.“

Quinn schiebt den halb gepackten Rucksack unter das Sofabett, dann schleichen wir uns wieder aus dem Haus und laufen zur Lichtung.

Wir machen einen Übungskampf, dieses Mal einen richtigen. Hin und wieder kann ich Quinns Angriffen nur noch knapp entgehen, doch dass ich überhaupt ausweichen kann sagt mir entweder, dass Quinn mich absichtlich verschont, oder dass ich langsam lerne, zu kämpfen.

Nach der kurzen Wiederholung streckt sich Quinn durch und ändert die Haltung, mit der Spitze des Messers nach vorne anstatt der Schneide. Bevor en irgendwelche Anweisungen geben kann, falle ich en ins Wort.

„Du hast gesagt, so soll ich das Messer halten, wenn ich jemanden töten möchte.“

En verdreht die Augen. „Du kannst dich nicht auf Selbstverteidigung verlassen. Wenn du—“

Ich kopiere ens Haltung.

Einen Moment sieht Quinn mich nur verwundert an, dann beginnt en damit, mir Angriffe beizubringen. En zeigt mir, wo ich einsteche, um den meisten Schaden zu verursachen, wo die Klinge widerstandslos durch Fleisch gleiten kann, wo Rippen im Weg sind. Wo ich mit meiner freien Hand hinschlagen kann, um Zeit, oder Abstand, oder die Überhand zu gewinnen.

Während ich gerade einen Stich imitiere, schießt Quinn ohne Warnung vor und sticht nach meinem Arm. Ich zucke zurück, weiche aus und keuche auf. „Was soll das werden?“

„Bei einem echten Kampf bekommst du auch keine Warnung!“, ruft en amüsiert und greift wieder an. Ich weiche einen Schritt zurück und setze einen Gegenangriff an, der damit endet, dass ich abgeblockt und zurückgeschubst werde.

„Das kannst du besser. Komm schon!“

Ich fange den nächsten Stich ab und will die stumpfe Seite des Messers in ens Schulter drücken, doch bevor ich überhaupt in die Nähe kommen kann, stellt en ein Bein hinter mich und schubst mich. Ich stolpere darüber und lande auf dem Boden.

Genervt und erschöpft stöhne ich auf und werfe halbherzig das Messer von mir. Quinn stellt sich mit einem Grinsen breitbeinig über mich.

„Komm schon, auf mit dir.“

Ohne mich vom Fleck zu bewegen schiele ich Quinn vom Boden aus an. „Kann nicht.“

„Wieso nicht?“

„Bin tot.“

En lacht auf. „Du siehst auch so aus!“

„Dafür sieh ich nicht aus wie ein Stinktier“, schieße ich zurück, „Du stinkst sogar wie eines.“

En beugt sich zu mir herunter und stupst mir gegen die Nase. „Und du stinkst, als wärst du verwest.“

Ich strecke die Zunge heraus. Quinn lacht.

„Komm schon. Zu verlieren bedeutet nur, dass du dranbleiben solltest.“

Ich rapple mich auf. Dieses Mal gebe ich keine Warnung, sondern hechte auf en zu und greife an. Ich schaffe einen halben Angriff, bevor en meinen Arm packt und nach mir sticht. Nur durch Panik und mein gesamtes Körpergewicht kann ich mich losreißen und nach hinten weichen, doch ich stolpere, meine Haltung bricht. Beim zweiten Angriff falle ich beinahe, und kann mich nur retten, weil ich gegen einen Baum pralle und mich abfange. Ich ducke mich weg. Quinns Klinge schlägt in den Baum ein und reißt ein Stück Rinde heraus.

Panik krampft sich in mir zusammen. Meine Messerhand ist schwitzig, ich packe den Griff fester, obwohl die Blasen auf meiner Hand dabei schmerzen, und steche von unten zu. Quinn weicht zurück, doch ich behalte nicht lange die Oberhand. Ich kann ens nächster Attacke gerade noch entgehen, indem ich mich zur Seite drehe. Mein Herz donnert gegen meine Rippen. Quinn und ich verfallen wieder in denselben, hässlichen Tanz: Zustechen und Zurückweichen.

Ich passe nicht auf meine Umgebung auf, missachte die wichtigste Lektion, die mir Quinn beigebracht hat, und stoße an den gefällten Baumstumpf, der in der Mitte der Lichtung liegt. Zwar kann ich mich noch abfangen, doch der nächste Stich zielt auf meine Kehle.

Feuer.

Quinn zuckt verwirrt zusammen, als auf der windstillen Lichtung plötzlich alle Flammen in ihren Laternen auf ein mickriges, flackerndes Rot hinunterbrennen. Der Moment reicht mir, um mich rückwärts über den Baumstumpf fallen zu lassen, wieder aufzustehen und mich mit meinem gesamten Gewicht gegen Quinn zu werfen. Wir landen keuchend auf dem Boden.

Wenn ich en jetzt töte, kann ich weglaufen. Ich bin aus dem Wald, bevor mich jemand vermisst. Niemand wird mich finden.

Ich ramme die Klinge in Quinns Kehle.

Die Kerzen in den Laternen kommen langsam wieder ins Leben zurück und werfen ihre Muster auf die Erde. Einen langen Moment starren Quinn und ich uns bloß an, dann ziehe ich das Messer aus der Erde neben ens Kopf.

Meine Hände zittern unkontrolliert. Langsam komme ich auf die Beine und atme durch.

Quinn beginnt lauthals zu lachen. „Wenigstens weiß ich, dass du zugehört hast!“, keucht en und rappelt sich auf. „Du hast wirklich die Wahrheit gesagt? Du kannst Feuer kontrollieren? Nicht schlecht, Brandgefahr, nicht schlecht.“

Benommen stolpere ich zurück und setze mich auf den Baumstamm. „Ich… hab vergessen, dass es nur ein Übungskampf war.“

En setzt sich neben mich und klopft mir auf den Rücken. „Hab ich bemerkt. Gute Arbeit!“

Ich schüttle bloß den Kopf. Erst jetzt scheint en zu bemerken, dass ich nicht in Feierstimmung bin.

„Hey, ist nichts passiert.“

„Gerade noch so“, murre ich.

„Aber es ist nichts passiert.“

Ich zucke bloß mit den Schultern.

„Wieso willst du nicht kämpfen, Nona?“

Verwundert sehe ich Quinn an. Ens Grinsen ist verschwunden.

„Du bist gut. Du lernst schnell. Du weißt, dass du es brauchst. Aber jedes Mal, wenn du Fortschritte in die Richtung machst, siehst du aus wie ein verschrecktes Reh.“

Ich bleibe still und beiße mir auf die Zunge. Quinn sucht Augenkontakt, doch ich starre entschieden auf meine Schuhspitzen.

„Hör mal, ich weiß, was mit Samael passiert ist.“

In mir zieht sich alles zusammen. Mir ist es mehr peinlich als alles andere.

„Wenn du so gehandelt hättest, wie du’s jetzt gemacht hast, wäre er nie wieder ein Problem für dich gewesen!“

„Ich hab ein Mädchen getötet“, sage ich leise.

En schnappt nach Luft.

„Ihr Name war Olivia“, fange ich langsam an, „Sie war eine meiner Mitbewohnerinnen. Ich kann nicht sagen, dass wir befreundet waren, aber…“

Ich wickle meine Arme um mich. „Ich hab immer wieder diese… Träume. Und wenn ich aufwache, brennt irgendwas. Dasselbe ist im Jugendheim passiert, und…“

Tränen brennen in meinen Augen. Ich kneife sie zusammen und beiße die Zähne zusammen.

Quinn schweigt. Ich weiß nicht einmal, welche Antwort ich erwarte.

„Sie ist am Flur gelegen“, murmle ich, „Verbrannt. Aber sie hat geatmet.“ Der bittere Geschmack von Asche breitet sich auf meiner Zunge aus. „Ich hab sie liegen lassen.“

Ich spüre eine vorsichtige Hand auf meiner Schulter. En hat keine tröstenden Worte für mich. Stattdessen zieht en mich zu sich, und ich falle en in die Arme. Ich spüre es kaum. Habe ich Trost überhaupt verdient?

En löst die Umarmung, legt mir die Hände ans Gesicht und wischt mir mit dem Daumen die Tränen von den Wangen, was en offensichtlich von Thana gelernt hat.

„Ich wollte das nicht“, flüstere ich.

„Ich weiß“, sagt en sanft. „Das reicht für heute. Gehen wir zurück.“

Ich nicke langsam.

En steht auf, bläst alle Laternen aus und taucht die Lichtung damit zurück ins Dunkel, durch nichts als das Mondlicht beleuchtet. Dann hält en mir die Hand hin.

Ich sehe auf und nehme sie, um mir hochhelfen zu lassen, und bemerke, dass Quinn von einem kleinen Schnitt am Hals blutet. Erst jetzt spüre ich das Messer in meiner Hand, das ich immer noch halte.

Quinn hilft mir hoch. Ich wische das Blut weg, stecke das Messer ein und gehe mit en Hand in Hand durch das Unterholz.

Meine Gedanken sind woanders, sodass ich nicht wirklich auf den Weg achte. Erst als Quinn plötzlich pfeift, sehe ich auf.

„Was?“

Quinn schüttelt den Kopf. Wieder ertönt das Pfeifen. Es war nicht Quinn. Es kommt irgendwo tief aus dem Wald, hallt gespenstisch durch die Bäume.

Ich gehe darauf zu, doch Quinn packt mich am Kragen und zerrt mich zurück.

„Das ist nur der Wind. Gehen wir nach Hause.“

„Das hat sich angehört wie ein—“

„Der Wind.“

Quinn packt meine Hand und zerrt mich mit. Ich stolpere en hinterher.

„Hey, geht das auch langsamer?“

„Nein“, sagt Quinn, „Du brauchst Schlaf. Beeil dich.“

Hinter uns pfeift der Wald.

Teil 3.11

Am nächsten Morgen fühle ich mich seltsam ausgeruht. Ich bin mir nicht sicher, ob es das Versprechen ist, dass ich bald von hier verschwinden kann, oder einfach nur die paar extra Stunden Schlaf, die ich bekommen habe, also nehme ich an, es ist beides.

Das Frühstück verläuft ereignislos, ich werde mit Thana auf Jagd geschickt. Fast erwarte ich, dafür eine Waffe zu bekommen, doch schlussendlich gehe ich mit leeren Händen. Thana selbst hat eine Flinte und einen kleinen Rucksack dabei.

Wir gehen durch den Wald, auf einem Pfad, der mir seltsam bekannt vorkommt. Erst spät erkenne ich, dass Thana in Richtung der Lichtung geht, auf der Quinn und ich Messerkämpfen üben. Bei Tags sieht der Weg dorthin anders aus: Es ist belebter, lauter, voll Vogelgezwitscher und dem Brummen von Insekten.

Thana setzt sich ohne Umschweife auf den Baumstamm und klopft neben sich darauf. Sobald ich mich neben sie gesetzt habe, zieht sie eine kleine Schachtel aus ihrem Rucksack und hält sie mir hin. Verwirrt öffne ich sie— es sind Erdbeeren.

Ich grinse sie dankbar an. Sie lächelt zurück und holt ihre eigene Portion aus der Tasche. Die Flinte liegt vergessen im Gras. Dafür ist die Lichtung also da: um Arbeit zu schwänzen.

Eigentlich hätte ich erwartet, dass der Tag im Schweigen vergehen würde, doch es dauert nicht lange, bis Thana zu sprechen beginnt.

„Ich weiß von euren Vorbereitungen.“

Beinahe zucke ich zusammen. Vorsichtig frage ich, „Und was hältst du davon?“

„Ich habe geholfen, deine Sachen zu packen“, sagt sie, dann deutet sie zum Himmel. „Die Sonne und der Mond gehen im Osten auf und im Westen unter.“

Ich blinzle sie an. „…okay?“

„Du läufst nach Westen“, sagt sie. „Du wirst etwa drei Tage brauchen. Schlaf auf dem Boden, auch wenn es kalt ist. Wenn du auf einen Baum kletterst, fällst du nur runter.“

Sie wartet, bis ich verstehend nicke, dann konzentriert sie sich wieder auf ihre Erdbeeren.

„Und wo komme ich raus?“, frage ich sie.

Thana sieht unsicher aus. „…ich weiß es selbst nicht wirklich. Eine Stadt. Eine große.“

„Und was mache ich, wenn ich dort bin?“, frage ich. „Ich kann nicht zur-“

Plötzlich legt sie sich einen Finger an die Lippen. Sie legt die Schachtel ins Gras und greift zur Flinte, dann kniet sie sich hinter den Baumstumpf und bedeutet mir, dasselbe zu tun.

Ich starre verwirrt in den Wald, dort, wo auch Thana etwas gesehen zu haben scheint, und knie mich hin. Erst nach mehreren Sekunden sehe ich, wie sich etwas zwischen den Bäumen bewegt. Es ist ein Reh.

Thana hebt die Flinte und zielt.

Ich halte den Atem an und überlege, laut zu schreien, damit das arme Tier wegläuft, doch dann dreht es seinen Kopf und die Luft verklemmt sich in meiner Kehle. Aus seinem Rumpf wächst ein zweiter Hals, darauf ein zweiter Kopf.

Sollten Rehe ihre Augen nicht auf der Seite haben?

Die Ohren des Nicht-Rehs stellen sich auf, dann zucken seine Köpfe zu uns. Es springt auf uns zu, doch bevor es den Rand der Lichtung erreichen kann, drückt Thana ab. Ein ohrenbetäubender Knall bringt meinen Tinnitus zum Leben zurück. Ich zucke zusammen, kneife die Augen zu und presse die Hände auf die Ohren, bis das Klingeln vergeht.

Zögernd sehe ich zu dem Nicht-Reh, das halb vom Gebüsch verdeckt ist. Thana springt über den Baumstamm und krempelt ihr Hosenbein hoch. In einer Vertiefung in ihrer Prothese ist ein Jagdmesser befestigt, das sie zückt. Als ich Anstalten mache, ihr zu folgen, deutet sie mir, Abstand zu halten.

„Nicht, solange es noch zuckt“, sagt sie ruhig.

Ich gehe nur einen einzigen Schritt näher, um einen besseren Ausblick zu haben. Das Tier ist am Brustkorb getroffen und befleckt das saftige Grün mit Sprenkeln und Schmierern von Rot. Es zuckt und gibt tiefe, kehlige Geräusche von sich, von denen ich mir ziemlich sicher bin, dass ein Reh sie nicht machen sollte. Dabei zieht es die Lefzen hoch. Darunter kommt ein Gebiss zum Vorschein, das weniger zum Erscheinungsbild eines Rehs passt, und mehr zu dem eines Wolfes.

Thana beugt sich zu dem Wild hinunter und durchtrennt mit zwei schnellen Bewegungen beide Kehlen. Dann geht sie auf Abstand und wartet, bis es sich nicht mehr bewegt.

„Was ist das?“, frage ich leise.

Hat mir Quinn deshalb so schnell geglaubt? Hat en schon seltsamere Sachen gesehen als ein Mädchen, das Feuer kontrollieren kann?

„Kein Reh“, sagt Thana stumpf. Sie lässt den Kadaver liegen.

„Willst du das nicht mitnehmen?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nicht essbar.“

„Und du willst, dass es die Lichtung verstinkt?“

Sie schüttelt den Kopf. „Leichte Beute für Aasfresser. Bis morgen ist davon nichts mehr übrig.“

Wir setzen uns hin und essen weiter unsere Erdbeeren, auch wenn es etwas schwer ist, sie zu genießen, wenn die ganze Luft nach Eisen riecht.

Wir schwänzen den ganzen Tag hinweg, essen, trinken. Als wir schließlich fertig sind, legt sich Thana in den Schatten und döst. Ich lege mich in die Mitte der Lichtung ins Gras und beobachte die Sonne dabei, wie sie über den Himmel wandert, von Osten nach Westen.

Als Thana entscheidet, dass genug Zeit vergangen ist, steht sie auf, streckt sich durch und tritt wieder den Rückweg an. Im Gegensatz zu Aaron wartet sie, bis ich sie eingeholt habe, und lässt sich Zeit. So fühlt sich es eher wie ein Spaziergang an als Arbeit. Zufrieden bemerke ich, dass ich durch das Gebüsch laufen kann, ohne mich zu verheddern oder zu stolpern.

Die Stimmung innerhalb der Hütte ist weitaus ruhiger, da Aaron und Samael noch nicht wieder zurück sind. Dafür erwischen wir Quinn dabei, wie en ebenfalls schamlos Arbeit schwänzt. En liegt mit beiden Beinen über der Sofalehne da und liest ein Magazin.

„Faulenzt du, du Stinktier?“, frage ich mit einem Grinsen und schnipse en leicht gegen die Stirn.

En grinst mich an, setzt sich auf und wirft das Magazin nach mir. „Die Brandgefahr ist wieder zurück! Ich hab gute Neuigkeiten.“

Ich lasse mich neben en auf das Sofa fallen. „Lass mal hören.“

„Du verschwindest heute.“

Ich sehe en überrascht an. „Heute noch?“

„Der Rucksack ist gepackt— danke, Thana“, unterbricht en sich selbst. Sie nickt. „Alles ist bereit und wir haben keine Zeit mehr zu verschwenden.“

„Ich…“

Mir fehlen die Worte. Quinn grinst breit und wirft die Arme über die Sofalehne.

„Hast du etwa Angst? Ist der Wald Nachts zu gruselig für das Stadtkind?“, spottet en.

„Ich dachte, ich hätte mehr Zeit, um mich zu verabschieden.“

Quinns Grinsen verschwindet. En lächelt mich an und breitet die Arme aus. Ich nehme die Umarmung gerne an.

„Wir sehen uns bestimmt wieder. Irgendwie finden wir uns schon.“

Ich grinse. „Ich komm euch im Wald besuchen.“

Quinn lacht. „Wir bleiben doch nicht hier!“

Befremdet löse ich die Umarmung. „Aber hier ist euer Zuhause!“

„Ja. Und es ist Scheiße“, sagt Thana stumpf. Sie zerzaust mir die Haare und schenkt mir ebenfalls ein geduldiges Lächeln.

„Mach dir um uns keine Sorgen. Du bist nicht die Einzige, die einen Fluchtplan hat“, sagt Quinn und zwinkert mir zu.

Thana, Quinn und ich verbringen den Rest des Tages damit, den Fluchtplan noch einmal gründlich durchzusprechen. Sobald Aaron und Samael schlafen, bringt mir Quinn den Rucksack und weckt mich auf. Bis dahin soll ich so viel Schlaf bekommen wie möglich, damit ich die Nacht durchlaufen kann. Quinn bringt mich so weit en kann, um noch vor Sonnenaufgang wieder zurück zu sein. So kann ich mich im stockdunklen Wald nicht verirren, bis ich den Mond über den Baumkronen sehen kann, und Quinn kann die Tür wieder abschließen, wenn en zurückkommt, damit Aaron am nächsten Morgen nicht sofort Verdacht schöpft.

Ich halte mich dann an den Mond und die Sonne und gehe nach Westen. Die ersten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend. Wenn ich die überlebe, ohne dass Aaron mich einholt, bin ich frei.

Quinn und Thana warten darauf, dass Aaron loszieht, um mich zu finden, packen währenddessen ihre Sachen und verschwinden.

„Willst du Samael mitnehmen?“, fragt Quinn Thana. Zwischen den beiden wird es still.

„…ich werde ihn fragen. Aber er wird nicht gehen wollen“, sagt sie.

„Das ist dann seine Entscheidung“, winkt Quinn ab.

Alles Gerede unseres Plans verstummt, als Aaron und Samael zurückkommen. Danach läuft alles in der Hütte in demselben Rhythmus, bis zum Rand mit Schweigen und unangenehmer Spannung gefüllt. Augenkontakt wird gemieden. Niemand versucht, Gespräche zu starten.

Nachdem sich alle bettfertig gemacht haben, kreuzen sich Thana’s und mein Weg am Flur. Sie lächelt mich an, klopft mir auf den Rücken und flüstert, „Viel Glück.“

Ich lächle zurück und gehe in die kleine Abstellkammer.

Die Nervosität verwehrt mir für einige Stunden den Schlaf. Ich höre den Rohren zu, wie sie laut ächzen, verfolge Aarons und Samaels Schritte draußen, während sie weiß Gott was machen, und finde erst etwas Ruhe, als Samaels Zimmertür zuknallt und wenigstens auf einer Seite der Hütte Stille eintritt.

Ich schlafe nicht lang genug, um zu träumen. Als Quinn mich wachrüttelt, fühlt es sich an, als wären es nur zehn Minuten gewesen, doch die Aufregung verdrängt die Müdigkeit.

In den ersten Momenten des Wachseins bemerke ich bereits, dass etwas nicht stimmt. Quinn drückt sich den Finger an die Lippen und nickt mit dem Kopf zur Tür, die weit offen steht. Ich schleiche mich an und spähe hinaus.

Im Wohnzimmer brennt immer noch Licht. Aaron sitzt hellwach auf dem Sofa und ist über etwas gebeugt. Ich lehne mich aus dem Türrahmen, um zu erkennen, was es ist, doch ich bestätige schließlich nur meinen Verdacht: Es ist der Rest der Akte, dessen Überreste noch immer unter der Matratze stecken.

Quinn packt mich am Kragen und zieht mich zurück. En senkt die Stimme zu einem kaum vernehmbaren Flüstern. „Eigentlich sollten wir schon seit einer Ewigkeit draußen sein, aber er will einfach nicht schlafen gehen.“

Ich zucke mit den Schultern. Quinn stellt den Rucksack hinter der Tür ab und setzt sich mir gegenüber hin, um einen Blick auf das Wohnzimmer zu haben.

Wir warten. Es vergehen Stunden.

Immer wieder nickt Quinn ein— anscheinend bin ich nicht die Einzige, der die ständigen durchgemachten Nächte zusetzen. Ich nutze die Zeit, um die Akte in den Rucksack zu packen. Als Aaron schließlich das Licht ausschaltet, muss ich Quinn wachrütteln und ins Zimmer zerren, aus Angst, Aaron könnte auf den Flur gehen und uns erwischen. Doch das tut er nicht, stattdessen legt er sich auf das Sofa und schläft dort.

„Sollen wir los?“, flüstere ich und hebe den Rucksack auf.

„Versuchen wir’s“, wispert Quinn zurück, doch die Nervosität ist aus ens Stimme deutlich herauszuhören.

Wir warten, bis wir Aaron schnarchen hören können, und schleichen uns dann an ihm vorbei. Sobald die Tür hinter uns geschlossen ist, rennen Quinn und ich los.

Der Rucksack schlägt immer wieder auf meinem Rücken auf. Jetzt, wo er voll ist, ist er weitaus schwerer, als ich gedacht habe, doch ich lasse mich nicht davon beirren und kann mit Quinn einigermaßen Schritt halten. So hasten wir durch das Gebüsch, nur darauf besinnt, so schnell so weit wie möglich zu kommen.

Etwas pfeift im Wald.

Ich zucke zusammen und werde für einen Moment langsamer, dann packt mich der Stress und die Eile. Kopfschüttelnd lege ich einen Zahn zu und hole Quinn ein.

Gerade als wir an der Lichtung ankommen, packt Quinn mich an der Schulter und hält mich auf.

„Lass es. Das wird nichts, wir sind zu spät.“

Ich schüttle den Kopf. „Es geht schon. Ich kenne mich aus. Geh zurück zur Hütte.“

„Aaron ist mindestens doppelt so schnell wie du“, sagt en, „Schau doch.“

Ich sehe zum Himmel. Der Mond geht gerade unter, die Sonne wird in wenigen Minuten aufgehen.

„Scheiße“, flüstere ich.

„Wir müssen zurück. Wir versuchen es morgen noch mal.“

„Ich will nicht zurück“, sage ich.

„Wenn du jetzt wegrennst, findet dich Aaron innerhalb von ein paar Stunden und alles war umsonst.“

Ich schlucke schwer und versuche, mich dazu zu zwingen, ruhig zu bleiben und klar zu denken. Panik hilft mir hier nicht weiter.

„Wir lassen den Rucksack hier“, sage ich und hänge ihn auf einen der Äste, auf dem ausnahmsweise keine Laterne hängt, „Wir gehen zurück. Morgen laufe ich alleine los.“

„Du bist wahnsinnig. Ich komme mit“, wirft en ein, doch ich schüttle den Kopf.

„Quinn, du bist erledigt. Du bist heute schon eingenickt.“

„Und wie kommst du dann raus? Willst du einen Ersatzschlüssel? Oder lassen wir die Tür einfach offen stehen, und du verlierst mehrere Stunden Zeit, wenn Aaron das bemerkt?“

„Der Dachboden“, sage ich. „Wenn Aaron wieder wach ist, gehe ich dort hoch, durch das Fenster und vom Dach hinunter. Dann laufe ich hier her, hole den Rucksack und halte mich westlich.“

Quinn sieht mich halb verzweifelt und halb beeindruckt an.

„Ich hoffe, du stirbst dort draußen nicht“, sagt en und drückt mich an sich.

Ich drücke en zurück, so fest ich kann. Es dauert eine ganze Weile, bis wir wieder loslassen können.

„Du bist dir sicher?“, fragt en.

Ich nicke. En nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst meine Stirn.

„Gut. Ich glaub an dich, Brandgefahr.“

„Danke, Stinktier.“

Teil 3.12

Da Quinn am Vortag geschwänzt hat, soll ich den Rest des Essens einkochen. Die Arbeit ist eintönig und langweilt mich zu Tode. Das Einzige, das mich vom Wahnsinn abhält, ist der Plan, den ich wieder und wieder im Kopf wiederhole.

Ich taste meine Taschen ab. In der Rechten ist das Jagdmesser, das mir Quinn geschenkt hat, in der Linken das Foto meiner Familie. Der Rucksack hängt auf der Lichtung— hoch genug, hoffe ich, dass sich kein Tier daran bedient.

Welche Arbeiten die anderen machen sollen, bekomme ich nicht mit; ich weiß bloß, dass Quinn und Aaron nicht da, aber Thana und Samael im Haus sind. So vergeht der Tag in einem schwammigen Band, bis endlich Abend kommt.

Auch das Abendessen ist ruhig und ereignislos. Danach machen sich alle bettfertig. Von Quinn und Thana bekomme ich noch ein letztes Lächeln, dann schließt sich die Tür der Abstellkammer und der schrecklichste Teil der Nacht beginnt: Das Warten.

Rohre Ächzen. Türen fallen zu. Ich überprüfe abermals meine Hosentaschen und sehe ins Wohnzimmer.

Aaron ist wieder auf dem Sofa eingeschlafen und schnarcht lauthals. Ich stehe bereits mit den Füßen auf der Leiter zum Dachboden, als ich innehalte.

In Wahrheit habe ich die Entscheidung bereits getroffen, als ich darüber nachgedacht habe, und trotzdem kämpfe ich einige Sekunden lang mit mir selbst. Dann lasse ich von der Leiter ab und schleiche den Flur entlang zu Aarons Zimmer. Ich will gleichzeitig schleichen und rennen, und so bin ich zu laut und zu langsam. Dafür öffne ich die Tür geräuschlos, gehe hinein, schließe sie hinter mir und taste nach dem Lichtschalter.

Als Licht das Zimmer flutet, starren mir aus jeder Richtung Augen entgegen. Hirsch- und Rehköpfe bedecken die Wände, ausgestopfte Kleintiere füllen die Regale. Beim näheren Hinsehen sind alle etwas seltsam: eines der Nagetiere hat Reißzähne, ein Hirsch hat zwei Paar Geweihe. Man kann nirgendwo stehen, ohne das Gefühl zu haben, von etwas Totem beobachtet zu werden.

Zwischen ihnen liegen Schädel, Zähne und Knochen, gut angeschossene Zielscheiben, sowie einige Jagdwaffen, die scheinbar nur noch als Dekor dienen. Meine Schritte werden von dicken Fellteppichen gedämpft, die mit jedem Auftritt Staub atmen. Es riecht, als wäre nichts davon richtig gereinigt worden. Die Luft in dem Zimmer bringt meine Haut zum jucken.

Mein Blick wandert von einem eingerahmten Foto, das eine jüngere Thana mit tränenverschmiertem Gesicht zeigt, die mit gezwungenem Lächeln neben einem toten Hirsch kniet, zu Aarons Schreibtisch. Ein Bündel verschiedenster Vogelfedern, ein neues Schnitzprojekt, ein Notizbuch, aber keine Papiere.

Ich suche die Schränke genauer ab, öffne Türen und durchforste Regale, doch meine Suche bleibt erfolglos. Meine Brust wird mit jedem Moment hier drin immer enger; ich bin schon viel zu lange hier drin. Mir läuft die Zeit davon.

In einem Moment der Panik gebe ich die Suche auf und haste zur Tür. Der Boden gibt unter mir nach, ich stolpere und falle der Länge nach hin.

Ich halte die Luft an und höre auf Schritte. Als nach mehreren Sekunden nichts passiert, rapple ich mich auf und schaue nach, worüber ich gerade gestolpert bin, doch außer dem Teppich liegt nichts auf den Boden.

Neugierig steige ich noch einmal auf dieselbe Stelle. Der Boden unter dem Teppich gibt knarzend nach. Unentschieden sehe ich von der Tür zum Boden und wieder zurück, raffe mich dann endlich zusammen und fange an, den Teppich aufzurollen, bis das Holz freiliegt. Ich drücke mit der Hand auf die Dielen, bis ich diejenige finde, die sich bewegen lässt, dann zücke ich das Jagdmesser und zwänge die Klinge in die Ritze neben der losen Diele. Mit einem Ruck heble ich sie aus dem Boden.

Ein leicht staubiges Compartment kommt zum Vorschein, nicht viel größer als eine Schuhschachtel. Darin liegen bloß drei Dinge: Eine Kette mit zwei goldenen Ringen, ein weiteres Notizbuch, und ein einziger, gefalteter Zettel.

Ich durchblättere das Notizbuch mit dem Daumen. Ein kleines Stück Papier fällt heraus, doch gerade als ich mir Hoffnungen mache, sehe ich, dass es bloß ein Foto ist. Darauf sind zwei Menschen abgebildet: Ein junger Mann mit schwarzen Haaren und blauen Augen, und eine junge Frau mit dreckig blonden Haaren und grauen Augen.

Zwar fehlen dem Mann die grauen Strähnen und seine Haut ist weitaus bleicher, doch es ist ohne Zweifel Aaron. Ich sehe auf die Kette mit den Ringen herunter und plötzlich fühle ich mich schuldig, das Foto gesehen zu haben.

Ich stecke es zurück in das Notizbuch und nehme stattdessen den Zettel, entfalte ihn, und überfliege die Zeilen.

Links oben steht ein kleiner Absatz mit bloß drei Zeilen:

Name: Unbekannt

Geburtsdatum: Unbekannt

Klassifizierung: Vermutlich harmlos; Hostilität ist nicht auszuschließen

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und lese weiter.

Zellenaufbau: Ausstehend

(Vorläufig Standard-Sicherheitsmaßnahmen)

Die Anomalie wird in einer standartisierten Humanoid-Eindämmungszelle gehalten, Dimensionen 7 x 5 x 5m. Dreimal täglich werden standardisierte Mahlzeiten geliefert.

Folgend steht ein kleiner, handschriftlicher Absatz.

Ich schlage vor, sie nicht nur im standard-Würfel einzusperren. Das Ding muss aus dem richtigen Material bestehen. Wenn sie die Tür einfach schmelzen und aus ihrer Zelle spazieren kann, macht es keinen Sinn, sie überhaupt zu fangen. Die Zelle muss mindestens aus verstärktem Stahl bestehen.

Der Rest ist wieder gedruckt.

Die Anomalie (Name unbekannt) ist ein Mädchen von gemischter Abstammung. Ihre Mutter ist von indischer, ihr Vater von schottischer Abstammung. Sie hat dunkelbraune Haare und graue Augen. Sie besitzt pyrokinetische Fähigkeiten; dies beinhaltet das Erschaffen, Manipulieren oder Löschen von Flammen. Spekuliert wird, dass sich die Kontrolle ebenso auf Rauch, Funken, und andere feuerbasierte Erschaffenheiten ausweitet.

Die Anomalie weist mehrere Brandnarben auf ihrem Körper auf, die weiters benutzt werden, um sie zu identifizieren. Diese befinden sich insbesondere auf ihren Händen und Armen. Genauere Beschreibung ist noch ausstehend. Besagte Narben stammen von mehreren Bränden, sowohl von fremden, und auch selbst gelegtem Feuer,

…woraus geschlossen werden kann, dass sie nicht immun gegen Feuer ist, selbst, wenn es von ihr selbst erschaffen wurde, vollende ich den Satz gedanklich.

Das ist die erste Seite. Wo ist der Rest?

Ich durchblättere das Notizbuch auf dem Schreibtisch, durchsuche die Regale ein weiteres Mal: Nichts. Erst als ich den Mülleimer neben dem Bett bemerke, finde ich, wonach ich suche. Aaron hat sie alle zerrissen.

Genervt lasse ich mich auf die Knie fallen, schiebe Taschentücher zur Seite, die aus einem Grund, den ich mir nicht vorstellen will, feucht sind, und sammle zwei Handvoll der Fetzen zusammen. Zwei davon sind mit großer, schwarzer Schrift beschrieben und zeigen die Worte „Transkript: Statement von“. Zwei weitere darunter geben die Worte „Erstes Interview nach Aufnahme in“ preis.

Hastig räume ich weitere Fetzen aus, auf der Suche nach dem Rest. Gerade als ich die Fetzen auf dem Boden ausgebreitet habe und das Rascheln des Papiers verstummt, ist es leise genug, damit ich die Geräusche von draußen hören kann.

Eiskalte Panik packt mich. Ich greife die ganzen Papierschnipsel und stopfe sie zurück in den Mülleimer. Dumpfe Schritte ertönen. Ich hechte zur Diele, greife sie, lasse sie zurück in den Boden gleiten und zerre an dem Fellteppich, um ihn auszurollen. Aaron ist bereits direkt vor der Tür, als ich hastig zum Bett krabble und darunterkrieche. Die Tür schwingt auf. Ich zerre meine Beine unter das Bett, halte mir den Mund zu und hoffe. Mein Herz donnert gegen meine Rippen.

„Es ist mir egal, ob die Polizei, die Z-E-irgendwas, oder der Teufel persönlich hinter dir her ist, Leidinger!“, bellt Aaron, „Ich will die aus meinem Haus!“

Leidinger. Derjenige, der mein Leben ruiniert hat, heißt Leidinger.

Z-E-irgendwas beschreibt offensichtlich die ZEFHA. Aber wenn sie nach mir suchen und Aaron angeheuert haben, wieso sollten sie dann hinter Leidinger her sein? Ist er nicht ihr Angestellter?

„Das hättest du dir vorher überlegen müssen“, sagt Aaron. Wieder Stille. Erst jetzt verstehe ich, dass er telefoniert.

„Nein. Nein. Vergiss es. Du hast mir gesagt, es würde höchstens eine Woche dauern.“

Ein weiterer Moment Stille.

„Hör auf mit dem Mist! Ich will nicht mehr als das, worauf wir uns geeinigt haben, ich will die aus meinem Haus haben.“

Es ist eine ganze Weile Still. Aaron geht aufgehetzt im Kreis herum, seine Schritte von den Teppichen gedämpft.

„Du hast drei Tage“, brummt er schließlich. Ein leises Piepen ertönt, dann ein entnervtes Seufzen. Schließlich geht Aaron auf das Bett zu, dann biegt sich der Lattenrost durch und drückt mich auf den Boden. Ich nehme die Hand vom Mund und zwinge mich, tief, langsam und leise zu atmen.

Einige Minuten vergehen, bis Aaron lauthals zu schnarchen beginnt. Ich zerre mich am Bettrahmen über den Boden, spucke Staub und gehe auf die Knie. Meine Bewegungen sind langsam, vorsichtig, stets bedacht, kein Geräusch zu machen.

Dann sehe ich das Telefon auf Aarons Nachttisch.

Ohne Nachzudenken greife ich es und stecke es ein. Mein Blick bleibt an Aaron gefesselt, der immer noch langsam und regelmäßig atmet. Ich gehe langsam rückwärts zur Tür, öffne sie geräuschlos und schlüpfe hinaus auf den Flur.

Samael und ich sehen uns überrascht in die Augen.

Eine unendlich lange Sekunde lang sehe ich bloß die Überraschung auf seinem Gesicht. Er holt tief Luft.

„Papa!“

Bevor noch ein einziges weiteres Wort über seine Lippen kommen kann, hole ich aus und knalle ihm die Faust ins Gesicht. Sein Kopf zuckt zur Seite, der Rest seines Körpers folgt. Er kracht gegen die Wand. Ich nutze den Moment aus, in dem er noch betäubt ist, und haste über ihn hinweg zur Leiter. Ich bin bereits am Dachboden, als unter mir Chaos ausbricht. Stimmen und Schritte und verwirrtes Geschrei überschlagen sich.

Ich stemme mich mit der Schulter gegen das Fenster und werfe es auf, springe auf das Dach und lasse mich einfach hinunterrutschen. Bevor ich aufgrund des Falls nervös werden kann, verliere ich bereits Kontakt mit den Ziegeln und komme auf dem Boden auf. Ohne zu warten, bis ich den Schock in meinen Knöcheln und Zähnen verkraftet habe, renne ich los.

Gerade als ich ins Gebüsch verschwunden bin, knallt hinter mir die Tür gegen die Hüttenwand. Das Unterholz bricht hinter mir und verrät mir, dass jemand mich verfolgt und viel zu nah an mir dran ist.

Ich senke den Kopf, um den Ästen auszuweichen, die nach meinem Gesicht schlagen, lege einen Zahn zu, laufe so schnell mich meine Beine tragen wollen. Trotz allem bleibt das wütende Knurren und Keuchen hinter mir. Die ganze Zeit spüre ich seinen Atem in meinem Nacken.

Meine Lunge brennt höllisch, mein Herz rast. Plötzlich verschwindet der Widerstand gegen meine Beine und ich stolpere in die Lichtung hinaus. Das Brechen des Geästs ist verstummt, das Keuchen hinter mir ebenfalls.

Ich haste zum Rucksack und zerre daran. Kurz bevor ich ihn schultern kann, höre ich hinter mir Stapfen im Gras.

Ich wirble herum und zücke mein Messer. Im selben Moment schlägt Samael mit dem Rumpf der Flinte nach mir. Ich ducke mich weg, Rucksack vergessen, haste auf ihn zu. Seine Nase steht im falschen Winkel von seinem Gesicht. Mein Schnitt, der auf seinen Magen zielt, wird von der Flinte blockiert. Bevor ich wieder ausholen kann, richtet er den Lauf auf mich.

Peng.

Der Knall schmerzt höllisch in meinen Ohren und vernichtet jedes andere Geräusch, mein Tinnitus kreischt lauthals. Wäre ich einen Wimpernschlag langsamer gewesen, hätte ich mein Bein verloren.

Die Kerzen in den Laternen flüstern, Feuer.

Ich springe auf Samael zu, stelle mir vor, wie er brennt, in Flammen aufgeht, und steche zu.

Die Laternen um uns werden gleißend hell. Die Kerzen brennen in Stichflammen auf, einige der Flaschen bersten und die Flammen erreichen die Äste, an denen sie hängen. Die plötzliche Helligkeit blendet Samael für bloß für die eine Sekunde, die ich brauche, um einzustechen.

Die Klinge hätte zwischen seinen Rippen landen sollen. Samael zuckt, lenkt meinen Angriff ab, und so landet sie stattdessen in seinem Arm. Sein Schrei ist laut und wütend genug, um das Kreischen in meinen Ohren zu übertönen.

Er schlägt nach meiner Hand. Seltsamerweise spüre ich es kaum, meine Hand ist taub, ich verliere das Messer. Das Nächste, was ich spüre, ist seine Hand in meinen Haaren. Er krallt sich an die wenigen Zentimeter, zerrt mich hoch und packt meinen Arm, den er so lange verdreht, bis meine Schulter knirscht. Der Schmerz zwingt einen Schrei aus mir.

Samael schleudert mich zum Rand der Lichtung. Ich lande mit dem Gesicht voraus in einer der Laternen. Das Glas zerschellt, die Kerze erlischt.

„Du beschissener kleiner Feigling!“, brüllt Samael. Ein harter Tritt an meiner Seite jagt mir alle Luft aus den Lungen. Ich versuche mich trotz der Schmerzen aufzurichten, doch Samael packt mich abermals an den Haaren und knallt mein Gesicht in die Glasscherben. Mein Gesicht sticht und brennt wie glühende Nadeln. Blut läuft in meinem Mund zusammen.

Samael hebt mich mühelos beim Kragen hoch. „Ich bind dich auf wie Beute und schmeiß dich in die Gartenhütte“, faucht er, „Und dort lass ich dich verrotten.“

Mein Hinterkopf knallt gegen einen der Bäume. Das Kreischen in meinen Ohren explodiert zu einem neuen Hoch. Warmes Blut läuft über mein Gesicht, in meine Augen, aus meiner Nase. Schwarze Punkte verteilen sich in meinem Sichtfeld und beginnen, Samaels vor Wut verzerrte Fratze zu verdecken.

Ein schrecklicher Druck legt sich auf meine Kehle. Ich kralle mich an Samaels Hände, strample, kratze.

„Vielleicht schlachtet Aaron dich endlich“, höre ich Samael gedämpft. „Dann wären wir dich endlich los. Wie klingt das, hm?“

Ich lehne den Kopf zurück, zerfetze mein Gesicht mit einem Lächeln. Das warme Blut in meinem Mund läuft mein Kinn herunter. Ich spucke eine Glasscherbe in meine Hand und schlitze ihm damit das Gesicht auf.

Samael kreischt. Der Druck an meiner Kehle verschwindet, meine Füße treffen den Boden, doch meine Knöchel und Knie knicken ein und ich falle zu Boden. Die Schwärze schließt sich vollständig vor meinen Augen zusammen.

Mit meinem ersten Atemzug blitzt in der Dunkelheit ein Funke auf. Etwas Lebendes windet unter meiner Haut, etwas Lebendiges, das verzweifelt versucht, aus mir herauszukriechen.

Ich kann das nicht.

Doch, denke ich, kann ich. Habe ich schon. Dutzende Male.

Ich hechte vor, Zähne gefletscht, packe den Funken und zerquetsche ihn in meiner Hand.

Zwischen meinen Fingern explodiert ein Inferno.

Ich packe die Flammen, die sich von den zerbrochenen Laternen gebildet haben, von den Bäumen und Blättern, die hinter mir von dem gierigen Feuer zerfressen werden, reiße sie herum und lasse sie auf Samael einstürzen.

Er bekommt nicht die Gelegenheit, zu schreien. Das Feuer frisst sich durch Haut und Haare, durch sein Fleisch hindurch bis an seine Knochen. Es ist ein schneller Tod, doch gnädig ist er nicht.

Das Feuer löst sich. Samael ist von dem veraschten Dickicht nicht mehr zu unterscheiden. Der Boden um ihn qualmt und brennt, auch hier verbreitet sich das Feuer langsam in den Wald hinein.

Ich hebe den Rucksack und das Messer auf und wende mich zum Gehen. Die Flammen tanzen spielerisch auf mich zu, doch als ich auf sie zugehe, teilen sie sich vor mir. Hinter mir schlagen sie zusammen, fressen sich langsam in den Wald hinein. Sie seufzen, jubeln, lachen.

Endlich, schreien sie, endlich.

Ich lege den Kopf in den Nacken, atme tief kühle Waldluft. In meinem Rücken hebt sich die Sonne auf den Horizont.

„Endlich“, säusle ich, „Endlich.“

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