ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Teil 5.1
„Ich dachte, ich wäre dich endlich los.“
Vor mir schwebt der Funke in der Schwärze, erwartend, als hätte er mich noch nie verbrannt oder verletzt. Er flackert verschmitzt.
Ich strecke die Hand aus. Er setzt sich in meine Handfläche, wo er ruhig und kontrolliert zur Kerzenflamme wächst.
„Tu jetzt nicht so, nachdem du dich vorher so aufgeführt hast“, murre ich.
Er antwortet nicht. Stattdessen windet er sich, frisst sich weiter in die Schwärze. Ich lasse ihn.
Aus der kleinen Flamme wird ein Feuer, das sich stetig verformt, erst eine Handfläche, dann ein Finger nach dem anderen. Die Hand ergreift meine. Dahinter taucht ein Arm aus der Dunkelheit auf, und hinter dem Arm ein Körper, ein Kopf.
Zwei Münder reißen auf.
Ich schreie.
Teil 5.2
Ich reiße die Augen auf und zucke hoch. Gleißendes Weiß begrüßt mich, bohrt sich durch meine Pupillen und verpasst mir Kopfschmerzen. Meine Rippen knirschen, der Schmerz zwingt einen Schrei aus mir. Ich falle wieder zurück ins Liegen.
Mit zusammengebissenen Zähnen und zugekniffenen Augen warte ich, bis der Schmerz einigermaßen vergeht. Erst dann kann ich meinen Arm anwinkeln und meinen Oberkörper langsam wieder anheben, doch es ziept immer noch in meinem Brustkorb und mich packt ein gewaltiger Schwindel, der mich schon wieder aufhält.
Ich liege in einem Krankenbett. Von der Hüfte abwärts bedeckt eine Decke meinen Körper; aufwärts tut dies ein Krankenhaushemd. Meine Arme sind besprenkelt mit Flecken von Schorf, auf der Unterseite fast komplett damit bedeckt. Meine rechte Hand steckt in einem Gips, in meiner Armbeuge und meinem Handrücken stecken Schläuche.
Wie lange habe ich geschlafen?
Neben dem Bett steht ein IV-Ständer und ein Herzmonitor, dahinter wartet ein steriler Raum, der außer einigen Vorratsschränken und einer Tür leer ist. Déjà-vu überkommt mich.
Wo zur Hölle bin ich?
Hat mich die Polizei erwischt? Bin ich einem Gefängnis? Einem Krankenhaus?
Schwerfällig ziehe ich die Beine an, wobei mein linkes seltsam schwer ist. Ich schlage die Decke zur Seite; es steckt in einer Schiene. Alles, was ich sonst von meinen Beinen sehen kann, ist mit Pflastern, Verbänden, Schorf oder gelblichen Blutergüssen bedeckt.
Als ich mich aufsetze, durchzuckt heftiger Schmerz meinen Körper. Alle meine Gliedmaßen sind steif und wund und es fühlt sich an, als hätte ich überall den miesesten Muskelkater der Welt. Eine gewaltige Schwere hat sich in mir festgesetzt und tut ihr Bestes, mich wieder auf das Bett zurückzuziehen. Noch dazu ist mein Nacken verspannt.
Ich sehe zu den Maschinen neben dem Bett, dann zur Tür, und fange damit an, alle Pflaster von meiner Armbeuge zu reißen. Es ziept, doch ich verziehe nur stumm das Gesicht. Danach ziehe ich die Nadeln aus meinen Venen und nehme die Sonden von meiner Haut. Ein Alarm beginnt zu kreischen, doch ich lasse mich davon nicht beirren. Sobald ich fertig bin, versuche ich aufzustehen, doch mein Bein schreit sofort beleidigt auf und schmerzt höllisch. Ich keuche, meine Knie knicken ein.
Bevor ich die Möglichkeit habe, aufzustehen, springt die Tür auf. Zwei Gewehre betreten zuerst den Raum, dann folgen die Soldaten dahinter und erinnern mich schnell daran, wie ich hierher gekommen bin. Sie tragen eine ähnliche Ausrüstung wie die, die mich in der Fabrik erwischt haben. Seltsamerweise sehen sie bei Lampenlicht furchteinflößender aus als bei Nacht.
Mir springt mein Herz in die Kehle. Ich zwinge mich dazu, langsam aufzustehen und meine Hände neben meinen Kopf zu heben. Mein Blick springt zwischen den Visieren derjenigen hin und her, die mich mit einem einzigen Zucken ihres Fingers töten könnten.
„Begrüßt man so einen Gast?“, fragt eine strenge Stimme.
Ich zucke zusammen. Die Soldaten reagieren kaum, senken nur langsam ihre Waffen und treten zu Seite.
Eine ältere Dame, ich schätze sie um die sechzig, tritt durch die Tür. Dunkle Haut, graue, straff zurückgebundene Haare, ein strenger Blick, kerzengerade Statur; alles an dieser Frau scheint unter Spannung zu stehen. Sogar ihre Stimme hört sich an, als könnte sie damit Glas zerschneiden. Ihr gesamtes Wesen strahlt unglaubliche Autorität aus.
Sie lächelt mich freundlich an. Ihrer Ausstrahlung tut es keineswegs Leid zu.
„Miss Carol Velda“, stellt sie sich vor und hält mir die Hand hin. Ich reiche ihr die Linke. Sie schüttelt sie etwas ungeschickt. „Freut mich, Sie wach zu sehen.“
Für einen Mörder und ein Monster und im Vergleich zu den Wachen behandelt sie mich seltsam normal.
„Nona“, stelle ich mich vor.
Sie geht zu den Maschinen neben dem Krankenbett und schaltet seelenruhig den Alarm aus, dann beginnt sie die Schränke zu durchsuchen.
„Wo bin ich?“, frage ich.
Glaubst du, dass ich dir das sage?, hallt Aarons Stimme in meinem Kopf. Ich schüttle sie ab.
„Du bist in einer Anlagestelle der ZEFHA-Organisation.“
Also haben mich diese wahnsinnigen Wissenschaftler doch erwischt. Ich bin nicht schnell genug gelaufen.
Velda findet, was sie gesucht hat, und reicht mir ein Pflaster. „Ich nehme an, du weißt, was das bedeutet.“ Ihre Stimme hat plötzlich einen scharfen Ton.
Erst jetzt bemerke ich, dass meine Armbeuge blutet, wo vorhin die Schläuche waren. Ich klebe die Wunde zu und sage nichts.
„ZEFHA steht für Zentrale für Eindämmung und Forschung von Humanoiden Anomalien“, erklärt Velda.
„Eindämmung?“, frage ich, „Also nehme ich an, das wird kein Kurzbesuch.“
„Das kommt auf Ihr Verhalten an“, antwortet sie. Bevor ich weiterreden kann, dreht sie sich zu den Soldaten um und winkt kurz mit zwei Fingern. Einer von ihnen dreht sich um und verschwindet auf den Flur, der andere baut sich breitbeinig im Türrahmen auf.
„Bevor wir dir die Grundlagen deines Aufenthaltes erklären, hätte ich noch ein paar Fragen“, sagt sie. Der Soldat kommt einen Moment später wieder zurück und reicht ihr meinen Rucksack. Er ist dreckig, mit Blut vollgesogen und teilweise angebrannt. Einige Splitter Schrapnell haben sich darin verewigt. Still danke ich ihm dafür, meinen Rücken geschützt zu haben. Er sieht inmitten eines sterilen Raums komplett fehl am Platz aus.
Velda öffnet seelenruhig den Reißverschluss und zieht die Akte heraus.
„Woher hast du das?“
Mein Blick ruht lange auf der Akte. Ich könnte ihnen alles verraten, doch was würde passieren, wenn ich ihnen von Aaron erzähle? Von seiner Verbindung zu Leidinger? Sie sind hinter ihm her, wahrscheinlich weil er diese Akte gestohlen hat, und ich will nicht, dass sie ihn finden, bevor ich es tue.
Ich hebe meinen Kopf und starre Velda in die Augen. Sie weiß wahrscheinlich mehr über Leidinger als ich.
„Raten Sie mal. Wie kommt man denn normalerweise an so eine Akte?“
Sie verzieht das Gesicht. „Gar nicht. Deshalb habe ich dich gefragt. Nur Personal kommt an unsere Daten, und nur diejenigen mit der richtigen Freigabe. Diese Akte-“, sagt sie und schüttelt den Karton etwas, „-steht unter schwerstem Verschluss.“
„Anscheinend nicht.“
Velda verzieht das Gesicht. Ich grinse frech.
„Jetzt hätte ich gerne meine Frage beantwortet“, sagt sie.
Einen langen Moment sehe ich ihr in die Augen, dann zucke ich bloß mit den Schultern.
Velda seufzt. „Meinetwegen.“ Sie reicht dem Soldaten die Akte und besieht mich mit diesem Blick, der Glas durchschneiden könnte. Ich starre zurück.
„Wo warst du? Wenn du so nett wärst, uns wenigstens das zu beantworten.“
„Wo soll ich gewesen sein?“
„Nachdem das Jugendheim abgebrannt ist“, sagt sie. „Du bist geflohen. Und danach haben wir fast einen ganzen Monat lang deinen Standort verloren.“
Ich kann nicht anders— ich grinse sie an. „Erinnern Sie sich an den Waldbrand?“
Ihre Augen weiten sich kurz. „Du warst im Wald?“
Ich nicke und beobachte sie dabei, wie sich hinter ihren Augen ein Verdacht bestätigt, den sie bereits hatte: dass ich das Feuer gelegt habe.
„Wie hast du überlebt?“
Ich schweige. Velda seufzt tief und reibt sich über den Nasenrücken. Man sieht es ihr an, dass ich ihr langsam auf die Nerven gehe.
„Wenn wir schon beim Thema sind“, sage ich, „Wie viel von allem ist auf euren Mist gewachsen?“
Sie sieht mich verwirrt und skeptisch an.
„Der Autounfall. Wart ihr das?“
Sie blinzelt mich überrascht an, doch ich lasse nicht locker.
„Ist doch logisch, oder? Ihr wollt mich nicht dort draußen haben, also habt ihr versucht, mich umzubringen und wolltet das Ganze wie einen Unfall aussehen lassen. Und als das nicht funktioniert hat—“
„Verdammt, wie kommst du auf sowas?“
Ich lasse nicht locker. „Wer hätte sonst von mir gewusst? Welchen anderen Grund gäbe es, meine Familie zu töten?“
Sie öffnet den Mund, doch es kommen keine Worte heraus. Irgendetwas weiß sie. Schließlich findet sie ihre Stimme wieder. „Ja, wir hätten dich eventuell vom Jugendheim hierher geholt, doch es wäre ein friedlicher Transfer gewesen. Wir hatten nichts mit dem Autounfall zu tun.“
Leidinger, schreit mein Kopf, Es war Leidinger. Er hat dir das alles angetan.
Ich sage nichts weiter. Velda sieht mich abwartend an, doch ich werde mich nicht verraten. Sie hat bereits alle Antworten, die sie von mir bekommen wird. Schließlich macht Velda etwas, das mich überrascht: Sie lächelt.
„Danke, dass du mir wenigstens zugehört hast. Ich kann mir vorstellen, dass du nach allem sehr erschöpft bist.“
„Sie meinen, nachdem ich Ihre Soldaten in die Luft gejagt habe?“
„Ich bin mir sicher, dass es ein Unfall war.“
Ich bestätige die Aussage weder, noch widerlege ich sie, und lasse den Rest der Interpretation über.
„Hast du sonst noch Fragen?“, fragt Velda, scheinbar nur als Formalität, doch ich werde mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einem der letzten Menschen, die etwas von mir wissen, einige Fragen zu stellen.
„Wieso hat meine Familie so getan, als würde ich nicht existieren?“
Ihre Schultern spannen sich an, ihr Gesicht verhärtet sich.
Sie weiß nicht nur irgendwas. Sie weiß einiges.
„Ihr habt bestimmt das Foto gefunden“, drücke ich weiter, „Ich war nicht durch Zufall in diesem Auto. Das war meine Familie, aber es gibt keine anderen Bilder? Keine Aufzeichnungen, keine Dokumente? Die Nachbarn kennen meine Eltern und meinen Bruder, aber nicht mich? Meine Familie hat mich versteckt. Wieso?“
Sie presst die Lippen zusammen. „Ich weiß es nicht.“
Lügner.
„Wie heiße ich?“
Sie blinzelt mich überrascht an.
„Ich kann mich immer noch nicht erinnern, und niemand anderes hat mich so sehr beobachtet wie ihr.“
Ein langer Moment Stille vergeht zwischen uns.
Ein ungläubiges Schnauben entkommt mir. „Ernsthaft?“
„Unsere Agenten haben ihn während der Beobachtung nie herausgefunden. Es gab keine Dokumente, nichts—“
„Ihr wisst über meine Kräfte bescheid, kennt aber nicht meinen Namen?“
Velda sieht halb wütend und halb verlegen aus. Ich verdrehe die Augen.
„Wissen Sie wenigstens, wie alt ich wirklich bin? Und wann ich Geburtstag habe?“
Sie zieht ihr Telefon aus der Tasche und tippt eine Weile darauf herum. Dann zucken ihre Augen, als würde sie einen Text überfliegen.
„Du bist mit… sechzehn Jahren in das Jugendheim eingewiesen worden. Du wirst im August siebzehn.“
Einundzwanzigster, denke ich sofort. Einundzwanzigster August.
Ich verdaue die Information, hoffend, dass sie mich auf irgendetwas weiterführt, mir mehr Erinnerungen zurückbringt, doch der Gedanke endet in einer Sackgasse.
„Sonst noch was?“, fragt Velda, als ich für ihren Geschmack zu lange schweige.
„Wie lange bin ich schon hier?“
Man sieht es ihr an, dass sie auf ein Nein gehofft hat. „Acht Tage.“
Bevor ich weitere unangenehme Fragen stellen kann, deutet sie zu einem der Soldaten, die im Türrahmen warten. „Moby wird dich in dein neues Zuhause führen.“
Meine neue Gefängniszelle, denke ich und frage, „Moby?“ Irgendwoher kenne ich diesen Namen.
Der Soldat nickt mir zu. „Schön, dich wiederzusehen, Kleine.“
Erst dann klickt es: Der Soldat, der mit mir auf dem Dach der Fabrik geredet hat.
„Wir dachten uns, dass ein freundliches Gesicht für dich angenehmer wäre“, sagt Velda. Sie öffnet einen weiteren Schrank und beginnt, ihn zu durchsuchen. „Die ZEFHA befasst sich mit Anomalien wie dir. Wir trennen sie von der Außenwelt, erforschen ihre Kräfte, ihre anomalen Eigenschaften.“ Sie holt eine Krücke heraus und beginnt, sie zusammenzustecken. „Wir haben zwei Schwesternstationen, die ARR und die SNA. Die ARR wird für dich zuständig sein“, sagt sie mit einem Lächeln, „Es steht für Anomale Rehabilitation und Re-Integration. Es kommt auf dich und dein Verhalten an, wie lange du hier sein wirst.“
Bullshit, denke ich sofort. Wenn sie hier drin Anomalien untersuchen, werden sie sicher kein Testobjekt einfach so wieder in die Welt hinausschicken. Viel eher sagen sie das nur, damit ich mich auf Hoffnung, freigelassen zu werden, gut benehme.
„Was ist die SNA?“, frage ich.
Velda zögert. „…es steht für Sektion für Neutralisierung von Anomalien.“
„Ihr jagt, fangt und tötet Leute wie mich, weil wir abnormal sind, oder ihr sperrt uns ein und nehmt uns auseinander“, sage ich scharf und sehe ihr trotzig in die Augen.
„Wir trennen Leute wie Sie von der Außenwelt, damit so etwas wie mit Olivia nicht noch einmal passiert.“
Ich zucke zusammen, als hätte sie mich geschlagen. Ein bitterer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus und ich mache keinen Hehl daraus, was ich von Veldas Aussage halte. Sie reagiert auf meinen versauerten Gesichtsausdruck nicht, sondern reicht mir nur die Krücke. „Kannst du damit laufen?“
Ich nicke und stehe vorsichtig auf.
„Wir hoffen auf gute Zusammenarbeit“, sagt sie lächelnd, „Ich bin mir sicher, wir bekommen deine Kräfte schnell unter Kontrolle.“
Viel eher werden sie einen Weg finden, mich hier einzusperren und meine Kräfte so weit zu erforschen, dass ich nicht einmal mit Feuer wieder hier herauskomme.
Ich erwidere nichts und humple langsam zur Tür.
„Ich schicke jemanden, der dir etwas zum Anziehen bringt“, sagt Velda noch, „Leb dich gut ein.“
Dann schließt sich die Tür zum Krankenzimmer und Moby und ich stehen alleine am Flur.
Er geht voran, ich folge ihm schweigend. Um uns gibt es nur graue Wände, dunkle Böden und die eine oder andere Tür. Die Energiesparlampen leuchten ein bisschen zu hell und brennen in meinem Auge. Es dauert nicht lange, bis ich die Orientierung verloren habe, weil jeder Meter gleich aussieht.
Die Stille zwischen mir und Moby dehnt sich wie gekauter Kaugummi. Irgendwann räuspere ich mich. „Äh… tut mir Leid wegen deinen Kollegen.“
Er schnaubt amüsiert. „War nicht cool von dir. Dann wiederum haben sie sofort die Gewehre auf dich gerichtet, also…“
„Es war übrigens ein Unfall“, sage ich, „Ich hab Velda nur zappeln lassen wollen.“
Er lacht laut auf. „Das hab ich bemerkt. Du weißt, wie man Leute zur Weißglut bringt, oder?“
„Weißglut ist jetzt doch ein bisschen übertrieben.“
„Für Carol war das schon ziemlich gut.“
Wir kommen an ein riesiges Stahltor. Moby hält eine Karte an einen Sensor, das Tor öffnet sich in der Mitte und gleitet auf. Dahinter befindet sich nur mehr von demselben, grauen Flur.
„Du hast mir echt ne Heidenangst eingejagt, wie du vom Dach gesprungen bist“, redet Moby weiter und wirft einen Blick auf meinen geschienten Fuß.
„Hat sich sowieso nichts gebracht“, murre ich.
„Mutig war das allemal. Oder blöd.“
„Wahrscheinlich beides.“
Er bleibt abrupt stehen und dreht sich zu einer der Stahltüren, die genauso aussieht wie der Rest. Wieder hält er die Karte an einen Sensor. Eine rote Lampe über der Tür blinkt auf, dann öffnet sie sich mit einem leisen Zischen.
Der Raum, der dadurch zum Vorschein kommt, ist in jeder Hinsicht die Schwester des Flurs: Graue Wände, dunkle Böden, keine Dekoration. Ein metallenes Bettgestell mit Matratze und weißer Bettwäsche steht in der Ecke, ein Regal daneben. Ein Türrahmen ohne Tür führt in ein Badezimmer, das mit Dusche, Toilette und Waschbecken ausgestattet ist.
„Ta-da“, sagt Moby. Man hört ihm das Grinsen an.
Ich humple zum Bett, lasse die Krücke auf den Boden fallen und setze mich hin.
Moby lehnt sich an den Türrahmen und klappt sein Visier hoch. Zwei verschmitzt funkelnde, grüne Augen kommen zum Vorschein. Er breitet die Arme aus. „Und? Was hältst du von deiner neuen Suite?“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Sehr… monochrom.“
„Das ist etwa das Höflichste, was jemals jemand über diese beschissenen Zellen gesagt hat. Ich bin mir ziemlich sicher, zehn Tage hier drin zählt als Folter durch Sinnesentzug.“
Alles, was ich hinkriege, ist ein müdes Grinsen und der Versuch eines Kicherns. Moby scheint zu verstehen, dass jetzt kein guter Zeitpunkt ist, und klappt sein Visier wieder hinunter.
„Wir sehen uns bald wieder. Tschau, Kleine“, sagt er, dann schließt er die Tür mit einem weiteren Tippen der Karte an den Sensor.
Kurzerhand lasse ich mich auf die Matratze zurückfallen und starre hohl die Decke an.
Was zur Hölle ist passiert?
Ich arbeite mich rückwärts durch: Die Explosion, die Jagd, die Fabrik. Mein Plan, die Stadt zu verlassen und meine Vorbereitungen dafür. Meine Zeit auf der Straße. Die Flucht aus dem Wald. Aaron. Quinn und Thana. Meine Flucht in den Wald. Das Jugendheim. Red und Elias. Olivia.
Ich beiße die Zähne zusammen und winsle. Heiße Tränen laufen aus meinen Augenwinkeln und meine Schläfen hinunter. Meine Entschlossenheit bröckelt, bis ich mich nicht mehr kontrollieren kann, mein Gesicht im Kissen vergrabe und hemmungslos schluchze.
Vielleicht hatte Velda recht. Die Welt braucht mich nicht dort draußen.
Teil 5.3
Als ich nach der Flucht in der Fabrik zusammengebrochen bin, war es eine sehr physische Barriere, die mich davon abgehalten hat, aufzustehen. Auf gewisse Weise ist es ironisch; ich war hungrig und schwach, aber zu hungrig und schwach, um etwas zu essen. Nach mehreren Tagen purer Panik und Todesangst und ohne eine einzige Nacht mit genug Schlaf brauchte ich einfach die drei, vier Tage, um mich zu erholen— obwohl, jetzt wo ich zurückdenke, hätten es auch fünf sein können.
Was mich jetzt ans Bett fesselt hat damit nichts zu tun. Ja, ich habe Schmerzen, aber nicht zu dem Extent, dass ich nicht aufstehen und herumlaufen könnte. Das Problem ist simpel: Ich will nicht.
Zwar esse ich und trinke ich das, was mir dreimal täglich gebracht wird und nehme auch die Vitamine, die dabei sind, doch sonst liege ich nur im Bett und schwebe irgendwo zwischen dem Wachsein, dem Schlaf und der ewigen Schwärze, wo der Funke auf mich wartet.
Meine Gedanken drehen sich die Tage über im Kreis. Ich betrauere Olivia, Elias und Red, Quinn und Thana, weine jedoch nicht mehr. Noch dazu spielt mein Kopf immer wieder das ab, was ich den Soldaten angetan habe, bis ich mir nicht mehr sicher bin, was wirklich passiert ist und was ich dazugedichtet habe. Hat wirklich einer von ihnen auf mich geschossen? Wie viele Explosionen waren es? War Moby und seine Truppe schon da, oder haben sie mich noch in den Seitenstraßen nach mir gesucht?
Anders als in der Fabrik habe ich wenigstens den Verstand mitzuzählen, wie oft die Lichter aus- und angeschaltet werden, was mein einziger Anhaltspunkt dafür ist, wie viele Tage vergehen. Nach genau sieben Tagen— was an irgendeinem Protokoll liegt, nehme ich an— versucht einer der Arbeiter, der mir Essen bringt, mich zum Aufstehen zu überreden. Er versucht mich damit zu ködern, dass es hier drin bestimmt langweilig ist, dass ich doch bestimmt irgendetwas anderes außer Schlafen möchte. Ich beiße nicht an. Er gibt nach einer Weile auf.
Drei weitere Tage vergehen. Als derjenige, der mir das Mittagessen bringt, zum Bett geht, erwarte ich das Jammern von jemandem, der nicht versteht, dass seine Angebote nirgendwo hingehen. Stattdessen setzt sich eine bekannte Masse aus Körperschutz neben mich auf den Boden und stellt das Tablett neben sich ab.
Moby zieht seinen Helm ab und sein Telefon aus seiner Tasche. Ich beobachte ihn mit meinem guten Auge, Gesicht halb im Kissen vergraben, doch er spielt nur irgendein Spiel.
„Willst du mich mit Spielen locken?“, frage ich. Meine Stimme fühlt sich seltsam rau an.
Moby grunzt. „Was? Nein, das ist mein Handy. Finger weg.“
„Hast du Angst, dass ich deine supergeheimen Staatsgeheimnisse drauf finde?“
„Eher ein paar Nachrichten, die ich um zwei Uhr früh geschickt habe, auf die ich nicht sonderlich stolz bin.“
Ich kichere und setze mich auf. Moby grinst mich an und hebt das Tablett zu mir hoch. „Das Feinste für Eure Hoheit.“
„Bohnen und Toast ist das Feinste?“
„Natürlich. Du willst nicht wissen, was das arme Proletariat vorgesetzt bekommt.“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Als ich keine Anstalten mache, das Tablett zu nehmen, nimmt Moby die Gabel. „Hier kommt das Flugzeug!“
Ich lache laut und nehme ihm das Besteck weg. „Lass mir wenigstens meine Würde.“
„Geht doch“, sagt er grinsend. Er spielt weiter sein Spiel und ist grottenschlecht dabei. Ich esse in Stille.
„Sag“, fangt er an, „Wird dir nicht langsam langweilig?“
Ich verdrehe die Augen. „Nicht schon wieder.“
„Hey, ich muss versuchen, dich aus dem Bett zu kriegen. Ausdrücklicher Befehl von Carol.“
Schnaubend wende ich mich wieder meinem Toast zu.
Moby stupst mit der Schulter mein Knie an. „Aber ich mach mir auch ohne Befehl Sorgen um dich. Du liegst seit einer Woche herum und gammelst.“
Ich zucke mit den Schultern.
„Egal ob du aufstehst oder nicht, wir müssen morgen den Gips und die Schiene entfernen“, sagt er. „Wenn dir an deiner Würde etwas liegt, schlage ich vor, du gehst, anstatt dich tragen zu lassen.“ Er verstrubbelt meine Haare, steht auf, setzt den Helm wieder auf und nimmt das leere Tablett von meinem Schoß. „So oder so, wir sehen uns morgen.“
Moby winkt. Ich winke zurück. Er schließt die Tür.
Zum ersten Mal seit zehn Tagen stehe ich aus einem anderen Grund auf, als mir Essen zu holen oder auf die Toilette zu gehen. Stattdessen gehe ich duschen.
Dem Spiegel lasse ich bewusst den Rücken zugekehrt. Ich nehme die Schiene ab, sehe zu, dass kein Wasser auf den Gips kommt und steige in die Dusche. Die Seife riecht steril und brennt in den offenen oder gerade verheilten Wunden.
Der Duschkopf ist seltsam; er ist ein schräger Zylinder, der in der Wand verankert ist. Erst als ich bereits mit dem Duschen fertig bin, realisiere ich, wozu das gut ist: Ich soll mich daran nicht erhängen können. Aus demselben Grund gibt es keine frei hängenden Lichter, keine Stange im Regal. Der Spiegel sieht verwaschen aus, und ich rate, dass er aus irgendeinem bruchsicheren Material besteht, damit ich niemanden mit einer Scherbe verletzen kann.
Ich werfe einen Blick an mir herunter, bevor ich mich in ein Handtuch wickle: Die Rillen zwischen meinen Rippen füllen sich langsam, die Blutergüsse sind bloß noch leicht zu sehen, ein Großteil des Schorfs ist abgewaschen worden. Mein Knöchel ist immer noch leicht gerötet und geschwollen, schmerzt jedoch nicht mehr. Obwohl die Schiene morgen endgültig abgenommen wird, lege ich sie bis dahin noch einmal an. Ich hole mir frische Kleidung und ziehe mich um.
Schlussendlich kommt der Teil, den ich eigentlich vermeiden wollte: Haare kämmen. Nur widerwillig stelle ich mich vor den Spiegel. Meine Augen sind gerötet, auf meiner Wange ist ein Ausschlag, wo ich seit mehr als einer Woche darauf gelegen bin. Die Narbe stört mich weniger, als ich erwartet hätte. Meine Haare reichen bis zu meinem Kinn und fallen in wirren Locken, wo auch immer sie hinwollen. Seufzend mache ich mich an die unmögliche Aufgabe, sie zu bändigen.
Ich breche dem Kamm zwei Zähne ab, bevor ich geschlagen aufgebe. Danach lege ich mich ins Bett, ohne mich zu kümmern, dass meine Haare noch nass sind, und träume einige Stunden.
Gerade als ich Olivia schon wieder liegen lasse und wie ein Feigling wegrenne, geht die Tür zischend auf und Moby begrüßt mich, indem er gegen den hohlen Teil der Stahltür klopft. Es pocht laut.
„Guten Morgen, Schlafmütze. Ich hab’s dir gestern angedroht, also, laufen wir oder soll ich Eure Hoheit tragen?“
Ich stehe kommentarlos auf und hebe die Krücke auf, die immer noch auf dem Boden liegt, dann folge ich ihm durch die Flure.
„Wieso ist meine Hand eigentlich eingegipst? Ich hätte gedacht, dass sie schon verheilt ist.“
Moby nickt. „Ist sie auch. Komplett falsch. Deine Knochen sind neu gebrochen und richtig gesetzt worden.“
Ich verziehe das Gesicht. Moby lacht auf.
„Ist Moby eigentlich dein echter Name? Haben dich deine Eltern wirklich so gehasst?“
Er grunzt wieder. Erst jetzt verstehe ich, dass auch das ein Lachen sein soll. „Nein, das war im Militär mein Spitzname.“
„Wie kommt man auf sowas?“
„Moby Dick“, erklärt er und patscht auf seinen Bauch. „Ich war früher ziemlich rund, und dann ist der Name einfach steckengeblieben. Und wie kommt man auf Nona?“
„Kurz für No-Name. Und für den Anti-Namen ist die Presse verantwortlich.“
Er schnalzt mit der Zunge. „Wieso hast du dir nicht einfach einen neuen Namen ausgesucht?“
„Welchen denn?“
Er beäugt mich für einen Moment. „…Jessica?“
Ich lache auf. „Verarsch mich nicht.“
„Lena? Anna-Marie? Charlotte?“
Ich verziehe das Gesicht. „Als würde ich so einen weißen Namen haben“, winke ich ab, „Eher so was wie… Fatima. Samira. Devika. Priya…“
Beim letzten Namen stocke ich. Priya. Priya. Priya. Woher kenne ich den Namen Priya…
Meine Mutter. Sie hat so geheißen.
„Erde an Nona!“ Moby schnippt vor meiner Nase herum.
„Hä?“
„Wir sind da“, sagt er und deutet auf eine große Stahltür neben uns, die offen steht.
Drinnen erwartet mich ein ähnlicher Raum wie der, in dem ich aufgewacht bin, nur ist dieser weitaus größer und mit Möbeln und Menschen gefüllt. Krankenbetten getrennt von Vorhängen stehen in ordentlichen Reihen, neben ihnen Maschinen aller Art. Alle von ihnen sind belegt. Zwischen ihnen gehen Ärzte und Krankenpfleger ihren Pflichten nach.
Eine der Krankenschwestern sieht mich, winkt mich zu sich. Ich bekomme nicht einmal ein „Hallo“ heraus, bevor sie anfängt zu sprechen: „No-Name, richtig? Mittelhandfraktur und verstauchter Knöchel.“ Sie deutet auf eine Tür am Ende des Raums, „Röntgen. Bitte alles Metallische im Umkleideraum ablegen.“
Ich schlängle mich durch die Menge der beschäftigten Ärzte und Pfleger und gehe in den Umkleideraum, wo ich meine Krücke anlehne. Da ich sonst nichts an mir habe außer Kleidung warte ich, bis die Schwester von der anderen Seite den Raum betritt und auf das Gerät deutet. Sie erklärt mir, was ich machen soll, und einige Minuten später warte ich draußen auf meine Bilder. Dabei versuche ich nicht die Lache Blut anzustarren, die langsam unter dem Vorhang eines der Betten ausläuft.
Ein anderer Pfleger winkt mich zu einem anderen Krankenbett, dessen vorheriger Gast in dem Moment aufsteht. Er lächelt mich kurz an „Alles gut verheilt.“
Er nimmt die Schiene von meinem Knöchel. Ich drehe meinen Fuß und dehne ihn. Danach nimmt er zwei Zangen, eine zum Halten, die andere zum Schneiden, und entfernt den Gips.
Sobald ich frei bin, stehe ich auf und gehe herum. Mein Knöchel fühlt sich immer noch seltsam an, wenn ich ihn belaste, und jetzt wo ich meine Hand frei bewegen kann ist sie seltsam leicht. Ich lasse mein Handgelenk kreisen. Es knackt, aber Schmerzen habe ich nicht.
„Fühlt sich alles richtig an?“
Ich nicke. Der Pfleger macht sich schnell Notizen auf dem Klemmbrett, sagt, „Freut mich zu hören. Schönen Tag“ und scheucht mich vom Bett weg. Keine Sekunde später kümmert er sich schon um den nächsten Patienten.
Moby lehnt draußen an der Wand. Er hat einen der Handschuhe abgenommen und das Visier hochgeklappt, und scrollt auf seinem Telefon.
„Ich hab nicht mal Hallo sagen können“, sage ich verdutzt.
Moby sieht zu mir hoch, ein Lächeln verzieht seine Augen. „Die sind immer überfüllt. Kannst du’s ihnen verübeln?“ Er steckt sein Handy ein und richtet seine Ausrüstung. „Und, wie fühlt es sich an? Alle Finger noch dran?“, fragt er.
„Komisch“, sage ich und strecke meine Hände vor mir aus, „Vorher hatte ich zwölf.“
„Geh zurück und frag, ob sie welche verloren haben“, sagt er amüsiert.
Wieder führt er mich den Flur entlang. Nach einer Weile bemerke sogar ich, dass wir nicht zu meiner Zelle zurückgehen.
„Hast du dich verirrt?“, frage ich ihn.
„Du sollst dich für ein vorläufiges Interview melden. Das dauert nicht lang, versprochen.“
Wir gehen einen Treppensatz hoch. Hier oben ist es etwas netter eingerichtet, die Lampen leuchten nicht so hell und ein Teppich bedeckt den Boden. Die Türen bestehen trotzdem noch aus Stahl.
Moby führt mich zu einem Zimmer. Ein Tisch und zwei Stühle stehen in der Mitte, gegenüberliegend ist eine weitere Tür, neben welcher der Großteil der Wand von einem verspiegelten Fenster eingenommen wird, hinter dem mich ohne Zweifel Leute beobachten. Ich sehe in die oberen Ecken und finde eine Kamera. Ohne Anweisung setze ich mich, die Tür geht hinter mir zu.
Einige lange Sekunden vergehen. In diesem Komplex scheint es so, als scheint jeder ständig seinen Atem anzuhalten, zu warten, ob irgendetwas schiefgeht. Dann geht die Tür vor mir auf und eine Dame betritt den Raum: braune, kurze Haare, in denen sich graue Strähnen verstecken, weiße Haut, freundliche Augen. Sie setzt sich mir gegenüber und hält ihre Hand aus.
„Zoya Fisher“, sagt sie.
Ich nehme ihre Hand und schüttle sie. „Nona“, sage ich, obwohl ich mir sicher bin, dass sie es schon weiß.
„Ich würde dir— ich kann du sagen, oder?— gerne einige Fragen stellen. Ist das in Ordnung?“
Ich nicke.
„Vorher lese ich dir deine Rechte vor.“ Sie legt einige Papiere auf den Tisch und nimmt eines davon. „Du hast das Recht zu schweigen. Du hast das Recht, jederzeit aufzuhören, mit mir zu reden und aufzuhören, meine Fragen zu beantworten. Solltest du im Zuge dieses Verhörs vorsätzlich lügen, wird das als Missachtung der Autorität beurteilt und kann zur Strafe führen. Alles, was du sagst, wird aufgezeichnet. Aufgrund des Umstandes deiner Festnahme hast du kein Recht auf einen Verteidiger.“
Sie reicht mir einen Stift und schiebt den Zettel zu mir, auf dem etwa derselbe Text steht. „Falls du das verstanden hast, unterschreib unten.“
Ich krakle Nona unten auf die Linie und reiche ihr den Zettel zurück. Mal sehen, was sie so von mir wissen will.
Zoya unterschreibt ebenfalls und schiebt das Papier in den Stapel. Dann lächelt sie mich breit an. „Wie geht es dir?“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Den Umständen entsprechend“, sage ich ausweichend.
„Dein Gips wurde heute entfernt, richtig?“
„Gerade eben.“
„Und? Wie geht’s deiner Hand?“
Ich drehe sie wieder. Es knackt immer noch. „Fühlt sich komisch an, tut aber nicht weh.“
Sie nickt. „Ich weiß, wie das mit deinem Fuß passiert ist, aber von deiner Hand weiß ich nichts.“
Ich sehe auf meine Knöchel hinunter. „Ich hab was geschlagen.“
„Was denn?“
„Was Blödes.“
Fisher grinst. „Okay, okay. Schon verstanden. Reden wir über etwas anderes. Miss Velda hat dir schon einige Fragen gestellt, richtig?“
Ich nicke.
„Du hast ihr aber nicht viele Antworten gegeben.“
„Nein.“
„Kann ich mir vorstellen. Gerade aus dem Koma und schon mit Fragen bombardiert, das kann nicht angenehm sein.“ Sie kichert. „Willst du uns jetzt verraten, wie du im Wald überlebt hast?“
Ich verschränke die Arme und ziehe die Augenbrauen hoch. „Ich habe schon alles gesagt, was zu sagen ist.“
„Ich sollte mich konkreter ausdrücken“, sagt sie, „Wie bist du nicht gefressen worden?“
Bilder des Nicht-Rehs, jaulend und knurrend, schieben sich vor mein inneres Auge. Sie wissen davon?
Natürlich wissen sie davon. Sie fangen Kreaturen, wie mich, wie Nicht-Rehe, wie jedes andere Ding, das dort draußen in den Schatten kriecht und hier drin feststeckt.
Einen Moment lang fühle ich eine seltsame Verbundenheit zu den Nicht-Rehen, und eine gewisse Reue, dass ich Thana nicht davon abgehalten habe, eines von ihnen zu erschießen. Dann zucke ich bloß mit den Schultern.
Fisher seufzt und sieht auf ihre Dokumente hinunter. Soweit ich es kopfüber lesen kann, sind es bloß Stichworte wie Heim, Feuer, und Trauma, bevor Fisher meinen Blick bemerkt und den Zettel umdreht.
„Ich weiß, es ist nicht einfach darüber zu reden, aber es würde uns wirklich helfen, wenn du kooperierst“, fangt Fisher vorsichtig von vorne an, „Was ist im Jugendheim passiert?“
Ich beiße mir auf die Zunge. Fisher geht auf die Stille nicht ein und lässt mich darin sitzen, und so gibt es nichts, das Olivias pfeifendes Atmen übertönt, das in meinem Schädel widerhallt.
Es war ein Unfall, liegt auf meiner Zunge, doch ich schlucke den Satz. Ich würde bloß zugeben, dass ich für den Brand verantwortlich bin.
„Was ist bei deinem Zuhause passiert?“, fragt Fisher, scheinbar darauf abzielend, mein Schweigen zu brechen.
„Ich weiß es nicht“, lüge ich.
Fisher pausiert wieder. Das Zimmer hält seinen Atem an. Nach einer gefühlten Minute seufzt sie schließlich. „Ich sehe, dass es dir schwer fällt, über deine Vergangenheit zu sprechen.“
Ich zucke wieder mit den Schultern. Langsam kommt es mir so vor, als wäre ich wieder vierzehn, rebellisch und mürrisch.
„Gut. Anderes Thema“, sagt Fisher, „Deine Kräfte.“
„Was ist damit?“, frage ich.
„Erzähl mir davon!“, sagt sie mit einem freundlichen Lächeln.
Ich ziehe die Nase auf. „Nö.“
Fishers Lippen zucken kurz. Ich mache mir eine geistige Notiz, dass ich anscheinend sehr gut darin bin, Leuten auf die Nerven zu gehen.
„Als dich unsere mobile Einsatzgruppe gefunden hat, hattest du keinen Skrupel, sie zu demonstrieren“, sagt sie. Anscheinend soll das genauso stechen wie Veldas Aussage über Olivia, doch es geht nach hinten los, denn anders als bei ihr tut es mir nicht Leid.
Während Fisher mich wieder in meiner Stille sitzen lässt, überlege ich, ob zu Schweigen wirklich das Beste ist, was ich tun kann.
„Meinetwegen—“, fährt Fisher fort, doch ich unterbreche sie.
„Es war ein Unfall.“
Sie sieht auf, Interesse in ihren Augen widergespiegelt.
„Einer von ihnen hat in meine Richtung geschossen und ich bin von allen Seiten angeschrien worden. Ich hatte Panik, hab einfach reagiert.“
„Also ist es eine Art Selbstverteidigungsmechanismus?
Ich nicke. „Ein Reflex. Ich kann es nicht kontrollieren.“
„Das heißt, dass der Waldbrand…?“
Abermals nicke ich und lasse sie selbst zu einem Entschluss kommen. Wenn ich raten müsste, glaubt sie wahrscheinlich, dass ich mich gegen ein Nicht-Reh oder etwas Ähnliches verteidigt habe.
„Könntest du diesen Reflex trainieren?“
Ich weiß nicht genau, was sie damit meint, nicke aber trotzdem. Sie sieht kurz zum Einwegfenster herüber, bevor sie sich wieder mir zuwendet.
„Da du uns nichts über deine Kräfte sagen kannst, werden wir Experimente durchführen müssen“, sagt sie. Die unterschwellige Drohung geht dabei nicht an mir vorbei, doch ich nicke bloß.
Fisher nimmt ihre Papiere. „Dann weißt du ja, was dich in den nächsten Tagen erwartet.“
Sie steht auf und hält ihre Hand aus. Ich schüttle sie. Fisher verlässt das Zimmer durch dieselbe Tür, aus der sie gekommen ist.
Ein Lautsprecher knackt, dann ertönt eine kühle Stimme. „Interview beendet.“
Teil 5.4
Am folgenden Tag werde ich von Moby für mein erstes Experiment abgeholt. Trotz des bürokratischen Äußeren der Organisation geht mir das Bild der verrückten Wissenschaftler nicht aus dem Kopf, die es kaum erwarten können, mich aufzuschneiden.
„Ich werde aber nicht bei lebendigem Leib autopsiert, oder?“, frage ich nervös.
Moby lacht auf, „Was? Nein. Eine Autopsie ist eine Zerlegung von etwas Totem. Bei etwas Lebendem wäre es eine Vivisektion.“
Überraschenderweise sind seine Worte nicht wirklich beruhigend.
Im Testraum erwarte ich einen Sektionstisch und gierig dreinblickende Ärzte, doch stattdessen liegt eine Ansammlung von scheinbar zufälligen Objekten auf drei Tischen.
Die Tür auf der anderen Seite steht noch offen, als ich den Raum betrete. Ich erhasche einen kurzen Blick auf Miss Velda, die mir zuwinkt, bevor sich die Stahltür schließt und ich inmitten des Zimmers alleine bin.
Wieder entsteht eine zu lange Pause, in der ich nur das summen der Lichter höre, dann springt der Lautsprecher an und eine kühle Stimme erschallt.
„Die Objekte, die Ihnen zur Verfügung gestellt wurden, sollten Ihnen es vereinfachen, Feuer zu produzieren.“
Ich sehe auf die Objekte hinunter. Stofffetzen, verschiedenste Flaschen von Alkohol, Benzin und Ähnlichem, verschiedenste Holzscheite, Kerzen, Fetzen von Stoff und Papier und sogar ein Haufen staubiger Kohle. Ich sehe zur Decke und sehe mehrere Lochgitter in der Decke. Wenn ich raten müsste, ist es eine Löschanlage.
„Äh… wie?“, frage ich verloren in den Raum hinein, und belobige mich selbst für die Performance.
Wieder knackt der Lautsprecher. „Versuchen Sie es einfach.“
Ich hebe ein Stück Kohle auf. Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, ihnen mehr Information über meine Kräfte zu geben, dann muss ich mich dumm stellen.
Ich seufze. Geduld war noch nie etwas, das mich ausgezeichnet hat.
Lustlos nehme ich ein brennbares Ding nach dem anderen, tränke einen Lumpen in Alkohol und lasse ihn auf den Tisch fallen, schütte eine Flasche mit der Aufschrift PETROL quer über den Tisch und starre darauf hinunter. Dann nehme ich ein Stück Kohle und werfe es von der einen Hand in die andere. Ich komme mir vor wie ein Kind, das mit Buchstabenblöcken spielt. Motivierter als das werde ich nicht.
Minuten streichen vorbei, in denen ich an jedem Tisch eine komplette Sauerei hinterlasse. Bei keinem mache ich irgendwie die Anstalt, etwas anzuzünden. Meine Hände sind von der Kohle bereits schwarz und verstaubt und klebrig von den Flüssigkeiten, und ich bin mir ziemlich sicher dass jegliche Nasenhaare, die ich gehabt haben sollte, von den scharfen Gerüchen mittlerweile zur Wurzel abgebrannt sind.
Irgendwann setze ich mich einfach auf den Boden, lehne den Kopf an die Wand und schließe die Augen. Ich verliere mich in Tagträumen von frischen Erdbeeren und bekomme Heißhunger auf das Eis, das es im Jugendheim gegeben hat.
Etwas zieht am Rand meines Bewusstseins.
Für den Moment lasse ich den Gedanken an Süßigkeiten hinter mir. Ich kann irgendetwas spüren, auch wenn es sehr verwaschen ist. Es ist mitten im Raum, eine Einladung. Etwas glüht vor Wärme inmitten der kalten, abweisenden Betonwände. Dann erst verstehe ich, was ich da fühle: Die ganzen Brandherde, die vor mir liegen.
Je länger ich mich darauf konzentriere, desto klarer wird es. Langsam erkenne ich, wie viel Mühe es mich kosten würde, was in dem Zimmer anzuzünden. Ich kann den Unterschied zwischen der Kohle und dem Benzin, dem Alkohol und dem Docht der Kerze erkennen. Es kristallisieren sich mehr Informationen heraus: Das Plastik der Tischoberflächen, und beinahe zeitgleich der Unterschied zwischen der Kamera und der Betonwand.
Der Lautsprecher knackt abermals. „Gut, das bringt nichts. Test beendet.“
Ich werde aus den Gedanken gerissen und öffne die Augen. Das Gefühl verschwindet.
Moby erwartet mich vor dem Testraum, wieder mit den Augen auf seinen Telefonbildschirm fixiert.
„Solltest du eigentlich ständig dein Handy draußen haben?“, frage ich ihn und lege meine Hand über den Bildschirm.
„Absolut nicht. Aber du bist nicht wirklich eine Bedrohung, also ist mir das ziemlich egal.“
Ich schnaube. Er geht wieder voran. Der Gedanke an die leere, blanke Zelle lässt mich erschaudern. Werde ich so den Rest meines Lebens verbringen? Entweder gelangweilt oder bei Tests?
„Krieg ich eigentlich irgendwann Unterhaltung?“
Moby legt den Kopf schief. „Was meinst du?“
„Bücher. Filme. Irgendeine Dekoration. Du hast selbst gesagt, wie langweilig die Zellen sind.“
„Ich frag nach, was sie dir bringen können. Es kann nur sein, dass es ein bisschen dauert. Muss vorher alles vom Komitee bestätigt werden.“
„Was? Wieso?“
„Sagen wir mal, du fragst nach einem Granatwerfer, und ich bin dumm genug, das durchzustellen. Wäre nicht so ideal, wenn du den ohne Überprüfung einfach bekommst.“
Ich verdrehe grinsend die Augen. „Das ist schon klar.“
„Und jetzt nimm mal an, du… keine Ahnung, du kannst nur Granatwerfer essen. Wir können dich ja nicht verhungern lassen! Also würde das eher durchgehen.“
„Das macht Sinn… Moment, habt ihr jemanden da, der nur Granatwerfer frisst?“
Moby lacht. „Meines Wissens nach nicht, aber ich weiß nicht viel.“
Meine Fantasie spielt wild. Welche Monster sind außer mir noch hier drin?
Moby öffnet die Tür zu meiner Zelle. Das hohe Zischen reißt mich aus den Gedanken.
„Wir sehen uns morgen. Du kriegst deinen ersten Selbstverteidigungsunterricht.“
Ich verziehe das Gesicht. Moby lacht.
Teil 5.5
Wie angedroht gehe ich früh am nächsten Tag trainieren.
Es riecht nach Schweiß. Die Trainingsanlage ist riesig, ausgestattet mit allerhand Geräten und Gewichten, bei denen mir nur vom Ansehen die Muskeln schmerzen. Es gibt auch Turnmatten, die meisten davon durch den Raum verteilt für spezifische Übungen, doch eine große liegt in einem kleineren Zimmer, das direkt an die Turnhalle angrenzt. Dort sollen meine Trainingsstunden abgehalten werden, und dort treffe ich auch Bianca.
Bianca hat sich genau so vorgestellt, kein Nachname, kein Titel. Ich weiß nicht, ob sie ein Doktor, ein Trainer, oder einfach ein Soldat ist, und für etwas Geld gewillt ist, mich zu trainieren. Sie besteht darauf, dass wir uns duzen. Ihre Haare sind schwarz, ihre Augen grau, und ihre Oberarme etwa vier Mal so dick wie meine.
Sie wirft einige Papiere auf den Boden und stemmt die Hände in die Hüften.
„Du bist also mein neues Opfer.“
Ich blinzle sie an und halte die Hand aus. „Nona“, stelle ich mich leise vor.
Sie schlägt ein und lacht. „Schau nicht gleich so verschreckt drein, ich mach dich schon nicht kaputt.“
Ich bringe ein wackeliges Lächeln zustande. Meine Augen wandern über ihre Tattoos, die den Großteil ihrer Arme bedecken.
„Ich bring dir über die nächsten paar Wochen Selbstverteidigung bei“, sagt sie, „Es kommt darauf an, wie viel du übst, aber mehr als zwei Monate dauert es normalerweise nicht. Wir haben viermal wöchentlich Training, also solltest du schnell vorankommen.“
Ich beobachte sie immer noch vorsichtig. Als sie meinen Blick bemerkt, verdreht sie grinsend die Augen. „Wir fangen langsam an. Was, hast du geglaubt, wir kämpfen sofort?“
Ich denke zurück an Quinn und ens… rapiden Fortschritt. „Vielleicht ein bisschen.“
Sie lacht laut auf und klopft mir auf den Rücken. „Wenigstens hast du dich trotzdem blicken lassen. Das zeigt schon mal Mut.“
„Oder Dummheit“, sage ich.
„Oder beides.“
Der Unterricht ist im Vergleich zu dem, was ich erwartet habe, schrecklich langsam und zäh. Bianca demonstriert langsam Verteidigungen, die ich nachmachen soll. Dann testen wir es in Zeitlupe aus und gehen zur nächsten Übung. So lerne ich langsam zu blocken und zuzuschlagen.
Den Großteil der Lektionen kenne ich bereits. Ich soll auf meine Umgebung achten, meine Vorteile ausnutzen und auf die Nachteile meines Gegners abzielen, soll auf Augen, Kehle und zwischen die Beine zielen, soll mein Gesicht und meinen Kopf beschützen; noch dazu sind einige der Schläge gleich mit dem, was mir Quinn beigebracht hat.
Ich vermisse en. Insgeheim frage ich mich, wo sie das Taschenmesser hingetan haben, das en mir geschenkt hat.
„Hattest du vorher schon Training?“, fragt Bianca skeptisch, als ich wieder mit gelangweiltem Gesicht eine ihrer Übungen durchmache.
„Nein“, lüge ich simpel und lenke ihren Zeitlupenschlag ab. Sie sieht nicht so aus, als würde sie mir glauben, aber es ist mir relativ gleich.
„Dann bist du auf gutem Weg“, sagt sie, „Fast schon schade. Solang ich hier bin, muss ich nicht auf irgendwelche Mördermonster aufpassen.“
„Ich bin ein Mördermonster“, murmle ich.
Bianca lacht auf. „Du? Ein Monster? Kind, du schaust aus, als könnte ich dich mit einem sonders gemeinen Blick in der Hälfte durchbrechen.“
Mein Gesicht wird warm, ich senke den Blick.
„Kannst du nicht ein bisschen langsamer lernen?“, fragt Bianca und korrigiert meine Form etwas, „Ich spiel lieber Babysitter als Wächter.“
Ich kichere. „Tu einfach so, als wäre ich blöd.“
„Blödheit hat nichts damit zu tun, wie gut du kämpfen kannst. Wenn du mal meine anderen Schüler kennenlernen würdest…“
„Also trainierst du Soldaten?“
„Darf ich nicht verraten“, sagt sie mit einem Zwinkern.
„…kennst du jemanden namens Moby?“
Bianca lacht laut auf. „Ich läster mit dir sicher nicht über deinen Aufseher. Erst, wenn ich weiß, dass du keine Petze bist.“
Unsere erste Unterrichtsstunde geht vorbei, ohne dass ich irgendetwas neues gelernt habe. Nach der langen Zeit, in der ich kaum gegangen bin, fühlt es sich trotzdem gut an, mich wieder zu bewegen.
Nachdem wir fertig sind, besteht Bianca darauf, dass ich mich dehne. Es ziept schrecklich an meinen Fersen, als ich mit durchgedrückten Knien meine Zehen berühren soll.
„Du bekommst von mir keine Hausaufgaben, aber es wäre ideal, wenn du ein bisschen Ausdauertraining machst und genug isst“, sagt Bianca, die die Hände flach auf den Boden gelegt hat. Ihre Stimme ist ruhig und fest.
„Das zweite mache ich gerne“, sage ich. Meine Stimme zittert.
Sie lacht und richtet sich auf. Erleichtert lasse ich auch ich von meiner Folter ab.
„War nur ein Vorschlag. So oder so, du musst es machen. Ob bei mir oder in deiner eigenen Zeit kommt auf dich an.“
Wir verabschieden uns, sie klopft mir wieder auf den Rücken und zerzaust meine Haare. Ich frage mich, wieso Leute das so gerne machen.
Moby wartet wieder auf mich und zeigt mir einige der Anlagen, die sie hier drin haben. Im Endeffekt sind es nur zwei: Eine Bibliothek, die auch Filme ausleiht, und ein Fitnesscenter. Insgeheim schwöre ich mir selbst, dass egal wie langweilig mir wird, ich nie freiwillig trainieren werde.
Teil 5.6
Es dauert etwa eine Woche, bevor ich zum ersten Mal freiwillig in das Fitnesscenter gehe.
Von Moby habe ich, zusätzlich zu einigen Büchern, einem Projektor, ein paar Filmen und Sportkleidung, einen Pager bekommen, den ich verwenden kann, um nach einer Begleitperson zu fragen. Wenn ich etwas will, drücke ich einfach auf einen kleinen Knopf und Moby öffnet eine kurze Zeit später die Tür.
Heute dauert es ungewohnt lange. Moby öffnet die Tür, ohne irgendetwas zu sagen.
„Hast du dich am Weg hier her verlaufen?“, frage ich grinsend.
Moby sagt nichts. Ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und sehe dann erst sein Namensschild.
Scott.
Mein Gesicht wird warm. „Ah. Du bist gar nicht Moby.“
Der Soldat schüttelt den Kopf. Ich räuspere mich verlegen, der Rest unseres Weges vergeht im Schweigen.
Der Soldat wartet vor der Trainingsanlage auf mich, so gehe ich alleine hinein. Ich fühle mich sofort unglaublich verloren, inmitten von Leuten, die bereits wissen, was sie hier tun. Ich weiß nicht einmal, was ich mit der Hälfte der Maschinen anstellen sollte, und lande nach einer kurzen Weile des ziellosen Herumgehens an den Laufbändern.
Wenn ich schneller gewesen wäre, hätten mich die Soldaten nie erwischt.
Der Gedanke kommt aus dem Nichts heraus, doch er bleibt hängen. Ich denke zurück an die Situation mit dem Arbeiter im Obdachlosenheim, meine Flucht vor Samael, mein Fliehen von dem Autofahrer, der mich nach dem Brand im Jugendheim angeredet hat.
Wäre ich nur schnell genug.
Ich steige auf eines der Laufbänder und drücke wahllos Knöpfe. Das Programm, dass ich eingestellt habe, ist mir eigentlich zu schnell, aber mir kommt es so peinlich vor, herunterzusteigen und von vorne anzufangen, dass ich mich einfach dazu verdamme, es fertigzumachen.
Eigentlich habe ich am Nachmittag noch Selbstverteidigung. So, wie meine Beine mittlerweile brennen, ist es fragwürdig, ob ich überhaupt bis zum Trainingsraum komme, selbst wenn er bloß einige Schritte entfernt ist.
Das Programm hört so schnell auf, wie es angefangen hat. Ich setze mich am Fuß des Laufbands auf den Boden und schnappe nach Luft, und ignoriere dabei mit brennenden Wangen die besorgten Blicke der anderen Leute.
Am Nachmittag sitze ich bereits auf der Matte, als Bianca das Zimmer betritt.
„So eifrig?“, fragt sie mich grinsend.
„Ich war vorher schon aufwärmen“, sage ich.
Sie kneift die Augen zusammen und sieht mich verdächtigend an. „Freiwillig?“
„Ich weiß, unglaublich.“
Sie grinst und kichert. „Du siehst miserabel aus.“
„Ich hab mich unabsichtlich auf dem Laufband gefoltert“, seufze ich.
„Wenn du möchtest, kann ich dir zeigen, wie du die richtig einstellst. Ich zeig dir ein Programm, was du aushältst.“
Ich lächle dankbar. „Bitte.“
Sie winkt mich zu sich. Ich folge ihr.
„Ich geb dir ein paar Tipps. Wenn du wirklich anfängst, alleine zu trainieren, will ich nicht, dass dich ein Gewicht erdrückt oder so.“
Ich lache auf. „Weil ich dann nicht mehr zum Unterricht kommen würde?“
Bianca grinst. „Und dann müsste ich auf Monster aufpassen.“
„Du würdest mich vermissen, gib‘s zu“, sage ich grinsend.
„Natürlich. Du bist mein liebstes Mördermonster.“
Teil 5.7
Ich packe die Türklinke der Hintertür und rüttle. Zu spät bemerke ich, dass die Klinke heiß ist, und meine Hände brennen, geschwollen mit roten Brandblasen.
Schreiend stolpere ich zurück und laufe in die Korridore des Jugendheims zurück. Die Flammen um mich fressen, wachsen, spucken Rauch und Asche, die mich zum husten bringt. Es ist aber nicht das Feuer, das mich aus dem Heim treibt, sondern die Angst davor, wieder über Olivia zu stolpern, denn sie liegt auf einem dieser Flure, wartet auf das Ende, wissend, dass ich sie zurückgelassen habe.
Ihr pfeifendes Atmen durchschneidet die Stille; ich höre es, bevor ich sie sehe. Mir steigt die Galle in der Kehle hoch, ich kneife die Augen zu und laufe in die andere Richtung, doch als ich um die Ecke biege, liegt sie dort auch. Sie liegt auf jedem Flur dieses Heims. Ich kann mich nicht davon verstecken, was ich ihr angetan habe.
Ich presse beide Hände auf meinen Mund und übergebe mich in meine Handflächen. Ein lautes Pochen hallt durch das Heim, als die Wände einknicken und die Decke über mir zusammenfällt.
„Aus den Federn, Schlafmütze!“
Eine Welle kalter Luft trifft meine Haut, als jemand die Decke von mir herunterreißt. Ich zucke zusammen und trete aus, ohne darüber nachzudenken. Mein Fuß macht mit irgendetwas Kontakt und ein schmerzerfülltes Keuchen ertönt. Erst dann wird mir bewusst, dass ich geträumt habe.
Moby kniet vor meinem Bett und hat beide Hände zwischen die Oberschenkel gedrückt. Etwas zwischen einem schockierten Luftholen und einem Lachen entfährt mir.
„Wie oft hab ich ihnen gesagt, dass unsere Ausrüstung mehr Schutz um die Eier braucht“, winselt Moby.
Ich komme aus dem Kichern nicht mehr heraus. „Wer hätte gewusst, dass die abgehärteten Soldaten der ZEFHA so einfach zu besiegen sind?“
Er wirft mir einen Todesblick zu, stützt sich am Bettrahmen ab und kommt langsam wieder auf die Beine.
„Ich wollte dir eigentlich alles Gute zum Geburtstag wünschen“, zischt er, „Aber ich glaube, das hast du dir nicht mehr verdient.“
Ich blinzle und sehe auf den Kalender. Laut meinen Zählungen ist er erst in zwei Tagen.
Den Kalender habe ich erst seit zwei Wochen, also vergesse ich immer wieder, die Tage anzukreuzen. Als ich Moby danach gefragt habe, habe ich auch noch nach einem Wecker, einer Gitarre, und irgendeiner anderen Art der Unterhaltung gefragt— wenn man nichts tun kann außer zu lesen und dieselben paar Filme zu schauen, wird auch das Trainieren irgendwann langweilig.
Den Wecker und die Gitarre habe ich fast sofort bekommen. Zwei Tage später wurden mir einige Dinge vorgeschlagen, die ich tun kann, anstatt in meiner Zelle zu vergammeln: Einige Kunstkurse wie Töpfern, Holzarbeiten oder Malen, mehrere Musikkurse, die ich abgelehnt habe, weil ich in meiner eigenen Zeit Gitarre spielen lernen möchte, Gesangsunterricht…
Schlussendlich habe ich mich für Tanzunterricht entschieden. Und trotzdem war der Kalender noch nicht da; im Endeffekt musste ich zwei weitere Male fragen, bevor ich ihn bekommen habe. In Moby’s Worten, Sie sehen nicht den Sinn dahinter, dass du weißt, welchen Tag wir haben.
Ich stehe auf und kreuze zwei Tage ab, sehe dann auf die Uhr.
„Wieso weckst du mich jetzt schon? Ich muss erst in einer Stunde trainieren gehen, und mein Kurs mit Bianca ist erst in zweieinhalb.“
„Sie will dich heute vor dem Training sehen. Mach dich fertig“, sagt er und verlässt meine Zelle wieder.
Ich seufze und starre eine ganze Weile lang nur die Decke an, bevor ich mich dazu zwingen kann, aufzustehen. Der Traum steckt mir immer noch in den Knochen.
Seitdem ich hier drin bin, träume ich fast jede Nacht. Entweder ich bin im Jugendheim, oder in Aarons Hütte, oder inmitten von komplettem Nonsens; so oder so, jedes Mal ist es ein Alptraum.
Während das Wasser warm läuft, kämme ich mir widerwillig die Haare. Den Anblick der Narbe bin ich mittlerweile gewohnt. Ich stelle zufrieden fest, dass meine Wangen voller sind.
Danach steige ich in die Dusche. Ich werfe einen kurzen Blick an mir herunter; die Rillen zwischen meinen Rippen haben sich endgültig gefüllt, alle Verletzungen sind geheilt, der ganze Schorf abgefallen. Wären die Brandnarben an meinen Händen, Armen und Beinen nicht gewesen, würde ich schon beinahe gesund aussehen. Fasziniert bemerke ich, dass ich bereits etwas Muskelmassen zugelegt habe. Es ist nicht viel, doch es fühlt sich sehr belohnend an.
Ich beeile mich, weil ich Moby nicht lange warten lassen möchte. Als ich frisch angezogen an die Tür klopfe, damit er mich herauslässt, hat er schon wieder sein Telefon draußen und sein Visier hochgeklappt. Kein Wunder, dass er mir zugeteilt worden ist; er nimmt seinen Job nicht im Geringsten ernst.
Nach mehr als einem Monat hier drin kenne ich nun endlich alle Wege, die ich brauche: zur Trainingsanlage und zur Bibliothek. Deshalb wundert es mich, dass Moby heute einen anderen Weg nimmt.
„Wo genau gehen wir hin?“, frage ich. Moby winkt ab.
Wir gehen durch ein Stahltor, ähnlich wie das, durch das wir an meinem ersten Tag hier gegangen sind. Wieder hält Moby seine Schlüsselkarte an den Sensor, und unser Weg ins eintönige Grau geht weiter.
Um uns tauchen nun immer mehr Leute auf: Soldaten, Doktoren, Leute in Anzügen, die wichtig aussehen. Mit all den Leuten um mich wird mir bewusst, wie leer und leise die Korridore um meine Zelle herum eigentlich sind.
Moby nickt einigen der Soldaten zu, sie nicken zurück. Schlussendlich kommen wir an ein weiteres Tor, das jedoch bereits offen steht. Dahinter wartet eine Cafeteria, die etwa die Größe einer Sporthalle hat. Allerhand Leute gehen und sitzen herum; manche von ihnen tragen wie Moby eine Schutzausrüstung, manche bloß Kittel, manche wiederum sehen aus, als wären sie Zivilisten. Ein stetiges Murmeln, gemacht aus einer unabsehbaren Menge Gesprächen, erfüllt die Luft, sowie der Geruch von Essen. Mein Magen knurrt.
„Setz dich da drüben“, sagt Moby und deutet zu einem der Tische.
„Sagst du mir endlich, was wir hier sollen?“
„Kaffee?“, fragt er zurück.
„Nein danke. Krieg ich eine Antwort?“
Er sagt nichts, sondern geht nur zur Theke der Kantine. Ich seufze und setze mich, lasse meinen Blick passiv über die Menge schweifen.
Ich muss mir über einige Dinge keine Sorgen mehr machen, seitdem ich hier bin. Dreimal täglich bekomme ich Essen— normalerweise— ich habe ein Dach über dem Kopf und habe es warm und bequem. Es gibt keine Temperaturschwankungen mehr, also muss ich keine Schmerzschübe von den Narben mehr aushalten. Jedes Mal, wenn sie trotzdem spannen und schmerzen, denke ich an Elias und hoffe, dass es ihm gut geht.
Trotz alldem fühle ich mich schuldig, bereits so lange hier zu sein. In den Wochen, die ich hier drin verschwende, könnte ich nach Leidinger suchen. Keiner, der hier etwas weiß, will mir davon etwas verraten, also sollte ich eigentlich darüber nachdenken, wie ich hier rauskomme.
„Alles Gute zum Siebzehnten, Kleine“, sagt Moby und stellt ein Teller mit einem Stück Erdbeerkuchen vor mir ab.
Ich grinse, springe auf und umarme ihn. „Danke!“
Er kichert und zaust durch meine Haare. „Irgendwer muss dir ja einen Geburtstagskuchen spendieren.“
Wir setzen uns hin. Moby hat einen Kaffee und Waffeln dabei. „Ich glaube, es ist selbsterklärend, aber über das ganze hier verlierst du kein Wort, ja? Ich wäre meinen Job los, und du würdest nie wieder deine Zelle verlassen.“
Ich lege meine Hand aufs Herz und nicke. Ich hätte es ihm geschworen, aber mein Mund ist bereits voll.
„Das mit Bianca war übrigens eine Lüge“, sagt er.
„Wirklich“, nuschle ich sarkastisch um ein Stück Kuchen.
„Ich weiß, mein Plan war genial.“
„Sei froh, dass mein Gehirn am Morgen noch nicht funktioniert.“
„Nur am Morgen?“
Ich trete ihn unter dem Tisch.
Wir essen und trinken in bequemer Stille. Als mein Teller leer ist, Moby aber immer noch seinen Kaffee trinkt, legt sich eine Frage auf meine Zunge.
„Hey Moby, du kennst dich hier besser aus als ich“, fange ich vorsichtig an. Er brummt. „Wegen dieser Akten.“, gehe ich näher darauf ein.
Er zögert, stellt seinen Kaffee hin und zieht die Augenbrauen hoch. „Ja?“
„Wie kommt man an so eine ran?“
Moby verengt die Augen. „Wieso willst du das wissen?“
Ich zucke mit den Schultern. Einige unangenehme, leise Sekunden vergehen zwischen uns.
„Du? Gar nicht“, sagt er schließlich. „Ich? Auch nicht. Niemand kommt an die ran.“
„Aber was ist, wenn man sie stehlen will?“
„Hab ich gestottert?“ Moby deutet mit seiner Gabel auf mich. „Hör mal, ich arbeite seit Jahren hier, und wie du wach geworden bist und Carol mich geschickt hat, um die Akte zu holen, war es das erste Mal, dass ich so eine zu Gesicht bekommen hab.“
„Aber—“
„Nichts aber. Was glaubst du, wieso Carol so verschreckt war, dass du sie hattest? Ja, sie ist veraltet, und unvollständig, und beschädigt, aber nur der Umstand, dass da eine dort draußen war, ist schlimm genug.“
Aber wie ist Leidinger dann daran gekommen?, will ich fragen, fange mich im letzten Moment jedoch. Keine Sekunde später komme ich selbst auf die Antwort: Er hat hier gearbeitet. So ist er an die Akte gekommen, und danach ist er geflohen.
Was hätte ihn dazu gebracht, das zu tun? Wenn er hier gearbeitet hat, hätte er gewusst, dass er für den Rest seines Lebens für seinen Diebstahl gejagt wird. Was es ihm das wert?
„Erde an Nona!“
Moby schnippt gegen meine Stirn und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
„Hä?“
„Bist du fertig mit dem in die Leere starren?“
Ich blinzle und schüttle den Kopf. „Ja, ja.“ Ich sehe auf meinen leeren Teller hinunter. „Moby?“
„Hm?“
„Was passiert, wenn man hier kündigt?“
Er zieht beide Augenbrauen hoch, bis seine Stirn in Falten liegt.
„Irgendwie müssen sie doch sicherstellen, dass man nichts verrät, oder?“, frage ich weiter.
„Ja, machen sie“, sagt er, „Mit einer Kugel zwischen den Augen.“
Meine Augen weiten sich etwas.
„Wenn du einmal hier drin bist, bleibst du hier. Außer du bist unglaublich wichtig, dann hast du vielleicht Glück und sie frittieren deine Leber mit einem Amnestikum.“
„Amnestikum…?“, frage ich nach.
„Sie löschen deine Erinnerungen.“ Er sieht mich skeptisch an. „Bist du jetzt fertig mit deinen komischen Fragen?“
Ich nicke.
„Gut.“ Er steht auf und geht wieder voran, aus der Cafeteria und in die Flure hinein.
„Moby?“, frage ich noch mal.
Er sieht auf. „Also doch nicht fertig?“
„Nein, ich wollte nur… kannst du mir noch etwas besorgen?“
Er sieht mich interessiert an. „Was denn?“
Bis jetzt habe ich nicht danach gefragt, weil ich mir ziemlich sicher war, dass ich es sowieso nicht bekomme. „Erinnerst du dich an das Foto, das ich dabeihatte? Das meiner Familie?“
Moby bleibt leise.
„Ich nehme an, das bedeutet, ich krieg das nie in meinem Leben.“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Kannst du trotzdem nachfragen?“
Er macht ein unzufriedenes Geräusch.
„Weil heute mein Geburtstag ist?“
Moby seufzt. „Ausnahmsweise.“
Ich stupse ihn mit dem Ellbogen in die Seite. „Danke.“
Wir machen nur kurz an meiner Zelle halt, damit ich mich umzuziehen kann, dann bringt mich Moby sofort weiter zur Trainingsanlage.
Mittlerweile habe ich eine Routine. Ich nehme mir Zeit, um alleine zu trainieren, und habe nachher mit Bianca Unterricht. Wir sind so weit im Training gekommen, dass sie mir nichts mehr über Selbstverteidigung beibringen konnte, und mit Rückangriffen angefangen hat.
Als erstes hat sie mit dem Wichtigsten angefangen; mit dem Verlieren. Wie ich nachgebe, ohne zu zerbrechen. Wie ich hinfalle. Wie ich Schläge einstecke. Selbstverteidigung und wirkliches Kämpfen sind weit voneinander entfernt, und ich spüre es in den blauen Flecken, die ich von unseren Stunden bekomme. Dadurch, dass ich durch mein blindes Auge keine Tiefenwahrnehmung habe, kann ich nicht immer richtig abschätzen, wann einer ihrer oder meiner Schläge trifft.
Heute bin ich dank Moby sehr früh dran und beende meine Routine eine halbe Stunde zu früh. Ich sitze am Fuß des Laufbands und atme kurz durch, was jetzt bloß noch eine Minute dauert, im Vergleich zu den zehn, die ich anfangs gebraucht habe. Mein Blick schweift über all die Geräte, die mir Bianca endlich großteils erklärt hat. Eigentlich trainiere ich nur für Ausdauer und Schnelligkeit.
Der Arbeiter im Obdachlosenheim. Samael. Der Autofahrer, nachdem ich aus dem Jugendheim geflohen bin.Wenn ich schnell genug gewesen wäre, wäre ich ihnen allen entkommen.
Ich stehe auf, nehme eines der leichteren Gewichte und hebe es testend. Nach einigem Überlegen erinnere ich mich auch an eine der Übungen, die Bianca mir gezeigt hat. Die halbe Stunde kann ich auch für etwas Sinnvolles verwenden.
Ich will mich nie fragen müssen, was passiert wäre, wenn ich nur stark genug gewesen wäre.
Teil 5.8
Ich drücke meine Finger an die Pulsader an meinem Hals, zähle, und berechne einen Ruhepuls von 130. Zwar glaube ich nicht, dass das stimmt, aber dass ich keine einfache Multiplikationen mehr rechnen kann, macht mir trotzdem Sorgen.
Meine Hände sind eiskalt und zittern unkontrolliert, egal wie sehr ich versuche, sie stillzuhalten. Mir steht kalter Schweiß auf der Haut, Blut rauscht in meinen Ohren, mein Atem geht trotz aller meiner Bemühungen, mich zu beruhigen, bloß noch in Stößen. Meine Lippen, meine Zunge und meine Fingerspitzen sind taub.
Ich springe auf, unruhig und aufgekratzt, und gehe hin und her. Die Zelle scheint plötzlich winzig. Mein Brustkorb fühlt sich an, als würden sich meine Rippen um meine Lungen schlingen und quetschen.
Was zur Hölle ist mit mir los?
Vergeblich versuche ich, mich zu erinnern, wie das Ganze angefangen hat, doch ich war schon seit dem Aufstehen so unruhig. In den letzten Minuten ist das Gefühl unerträglich geworden. Ich will weglaufen, stecke aber in dieser verdammten Zelle fest, und irgendetwas atmet mir die ganze Luft weg.
Das hohle Zischen der Tür lässt mich zusammenzucken. Instinktiv balle ich die Hände zu Fäusten und denke an Feuer, will schon Flammen unter meinen Fingern sprießen lassen, bis ich mich gerade noch fange und erinnere, dass ich das nicht darf.
Moby steht im Türrahmen und hat wieder das Visier hochgeklappt, ein Lächeln zieht an seinen Augen.
„Hey Kleine— was ist mit dir los?“ Er unterbricht sich selbst, Sorge mischt sich in seinen Gesichtsausdruck.
„Nichts“, sage ich durch zusammengebissene Zähne. Erst jetzt bemerke ich, dass ich mit dem Kiefer geknirscht habe.
„Du siehst so aus, als würdest du gleich explodieren“, sagt Moby.
„Es ist nichts“, sage ich mit Nachdruck. Meine Hände wandern von meinen Haaren zu sich selbst, zupfen an meinen Nagelbetten, meiner Kleidung. Wieso kann ich sie nicht stillhalten? Wieso ist der Kragen von diesem verdammten Shirt so eng?
„Hey, Nona. Kann ich dich anfassen?“
Ich sehe Moby verwirrt an. „Was?“
„Kann ich? Oder macht es das nur schlimmer?“
„Mach was du willst“, sage ich und fange wieder damit an, auf und ab zu laufen. Moby hält mich wörtlich in der Mitte meines Wegs auf, packt meine Schultern.
„Durchatmen, Kleine“, sagt er und atmet langsam ein. Ich zwinge mich dazu, ihm es nachzumachen, auch wenn mein Atem immer noch etwas knapp ist.
„Gut. Noch mal“, sagt er.
Ich atme durch. „Wieso bist du hier? Ich hab Sonntag Pause.“
Mir ist es in Wahrheit verdammt peinlich, dass mich Moby in so einem Zustand erwischt, selbst wenn— oder eher, weil ich nicht weiß, was mit mir los ist.
„Sie wollen einige Tests machen und überprüfen, ob ihre Methoden irgendwas bringen“, erklärt er.
Ich nicke. „Gehen wir.“
„Pause. Geht’s dir gut?“
Mein Herz rast immer noch und pocht gegen meinen Brustkorb, als würde es versuchen, meine Rippen zu brechen, aber mein Atem ist wieder halbwegs normal. Als ich zu meinen Händen hinuntersehe, zittern sie immer noch wie Espenlaub. Ich stecke sie in die Taschen.
„Ja. Geht schon wieder.“
Moby wirft mir einen skeptischen Blick zu, zieht seinen Helm ab und setzt sich auf mein Bett. „Wieso glaube ich dir nicht?“
Ich seufze und setze mich neben ihn.
Moby kramt in den Taschen seiner Weste herum. „Ich hab was für dich.“
Ich werfe ihn einen fragenden Blick zu. Er findet endlich, was er sucht, und legt mir einen kleinen Bilderrahmen in die Hand. Hinter dem Glas ist eine Version des Fotos von mir und meiner Familie, nur ist das Bild in höherer Qualität, an den Ecken nicht abgeknickt und in der Mitte nicht gefalten.
Moby grinst. „Das ist das Original. Als ich Carol gesagt hab, was du willst und wieso, hat sie gesagt, sie legt ein gutes Wort—“
Ich falle Moby um den Hals und drücke ihn so fest ich kann.
„Danke“, flüstere ich.
Moby klopft mir auf den Rücken. „Ist doch das Mindeste.“
Ich stecke den Bilderrahmen ein und stehe auf. Ich kann meine Zunge und meine Lippen wieder einigermaßen spüren, auch wenn meine Hände noch zittern.
Moby sagt dazu nichts, lässt jedoch seine Hand auf meiner Schulter, während er mich durch die Korridore begleitet. Es ist beruhigend.
Der erste Test ist wieder derselbe, den sie bereits versucht haben; ich bekomme eine Ansammlung von Brennstoffen und soll versuchen, Feuer zu legen. Wie beim letzten Mal tue ich so, als könnte ich nichts damit anfangen. Nachher wird mir sogar erlaubt, mir die Hände zu waschen, bevor mich Moby zur nächsten Testzelle bringt.
Die Zelle besteht komplett aus Beton, in der Decke sind dieselben Löschgitter wie im letzten Raum. Gegenüber ist ein Einwegfenster und eine Stahltür. Wieder dauert es ein klein wenig zu lange, bis die Stahltür aufgeht, als würden alle, die hinter der Tür sitzen und warten, gleichzeitig die Luft anhalten.
Eine gesichtslose Masse in silber betritt die Zelle. Der Brandschutzanzug stellt sich in die Mitte des Raumes. Ich schaue neugierig auf das kleine Fenster im Helm, doch ich kann dahinter keine Augen erkennen.
„Dieser Test soll überprüfen, ob Ihr Kampftraining sich auf Ihre Kräfte auswirkt. Sie werden mit unserem Mitarbeiter einige der Übungen ausführen. Hierbei sollten Sie sich auf den Kampf konzentrieren und versuchen, Flammen zu produzieren.“
Der Brandschutzanzug geht in Position. Einige Sekunden vergehen, dann knackt der Lautsprecher abermals.
„—gegen den Zweck des Tests?“, fragt eine ferne, tiefe Stimme im Hintergrund. Die Ansagestimme ignoriert sie. „Bitte seien Sie sich bewusst, dass Sie an keinem Zeitpunkt dieses Tests in Gefahr sind.“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe in die Kamera, dann schüttle ich bloß den Kopf und konzentriere mich auf die Masse Silber vor mir. Ein paar Schläge auszuprobieren hört sich laut meinem immer noch klopfenden Herz und meinen verschwitzten Händen ganz gut an.
Der Brandschutzanzug fängt meine Schläge gehorsam ab. Ich versuche, nicht zu hart zu treten oder zu schlagen, und tue so, als würde ich mich darauf konzentrieren, Flammen zu produzieren.
Würden die Tests aufhören, wenn ich keine Fortschritte mache? Eventuell würden sie vielleicht weniger werden. Wahrscheinlicher ist, dass meine Trainingsstunden beendet werden, sobald sie realisieren, dass das alles hier nichts bringt.
Der Gedanke legt einen sauren Geschmack auf meine Zunge. Ich will nicht, dass Bianca zurück zu ihren Monstern geschickt wird, und ich will nicht aufhören, zu lernen, wie man kämpft. Falls— Wenn ich hier wieder rauskomme, muss ich mich wehren können.
Ich schlage zu, lasse den Brandschutzanzug meine Hand ablenken und möchte eine kleine Flamme beschwören, die ihnen nur falsche Hoffnung machen soll. Stattdessen züngelt eine gewaltige Stichflamme zwischen meinen Knöcheln heraus und flackert gegen das Silber des Anzugs.
Meine Reaktion ist nur halb gefälscht. Ich springe auf der Stelle herum und grinse freudig in die Kamera, „Habt ihr das gesehen?“
Der Lautsprecher springt an. „Sehr gut. Einen Test noch heute, dann lassen wir dich in Ruhe.“
Ich nehme es als gutes Zeichen, plötzlich geduzt zu werden.
Der letzte Test, wie sich herausstellt, ist der unangenehmste. Ich sitze an einem Tisch, auf dem eine Kerze steht. Elektroden werden an meinem Arm angebracht, durch die im Sekundentakt kleine Schocks fließen. Sie bringen meine Finger, Hand und meinen Arm zum Zucken.
„Und was ist genau der Sinn von dem Mist?“, frage ich Moby, der mich überraschenderweise begleiten durfte.
„Sie wollen sehen, ob sie dich so dazu bringen können, Feuer zu produzieren“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Ihm muss echt langweilig sein; aufgrund der Kameras und der Forscher, die ihn beobachten, darf er weder sein Visier hochklappen, noch seinen Helm abnehmen, noch sein Handy herausnehmen.
„Und die glauben, das kommt aus meinen Armen?“, frage ich.
„Wo kommt es denn sonst her? Beim Übungskampf ist es aus deiner Hand gekommen.“
Eigentlich spüre ich es in meinem Brustkorb und meiner Kehle. Ich nehme an, das ist, weil dort meine Lunge und Luftröhre sind, und Feuer nun eben Sauerstoff braucht.
„Aus meinem Arsch.“
Moby lacht laut auf und braucht einige Zeit, bevor er sich wieder fängt. Ich grinse.
So lustig es mit ihm auch ist, ich kann nicht bleiben. Vielleicht hat ihnen mein kleiner Fortschritt Hoffnung gegeben, aber das wird sie nicht ewig überzeugen. Wie viel kann ich herzeigen, bevor sie mir nicht mehr glauben, dass ich freiwillig kein Feuer legen kann?
Ja, es ist bequem, und ich werde Moby vermissen, aber ich muss trotzdem hier raus.
Teil 5.9
Monate vergehen und schmelzen ineinander. Nachdem ich mich endlich in meine neue Routine eingefunden habe— Training, mit und ohne Bianca, Gitarre üben, Tests, Tanzunterricht, medizinische Untersuchungen, Verhöre, bei denen ich lüge— vergehen die Tage schneller, als es mir lieb ist.
Gleichzeitig habe ich immer öfter Alpträume, was seltsam ist, denn ich fühle mich so sicher, wie ich es seit dem Jugendheim nicht getan habe. Hin und wieder beginnen auch meine Hände wieder zu zittern, und wenn mein Mund dann taub wird, verbringe ich die folgende halbe Stunde damit, entweder am Boden zu sitzen oder ziellos hin- und herzulaufen. Ich erzähle niemandem davon und rede auch mit Moby nicht darüber.
Das Training wird intensiver. Am Laufband bin ich höchstens zum Aufwärmen, die Gewichte werden schwerer, mein Trainingsplan detaillierter und länger.
Über all die Zeit finde ich keinen Weg, von hier zu entkommen.
Teil 5.10
Ein lautes Pochen reißt mich aus dem Schlaf und unterbricht gerade Red und Elias, die mir abwechselnd erklären, wieso sie mich hassen und was ich ihnen angetan habe. Dass wir dabei in dem kleinen Zimmer in Aarons Hütte stehen kommt mir erst nach dem Aufwachen seltsam vor.
Ich murre und ziehe die Decke über meinen Kopf.
„Guten Morgen, Schlafmütze!“
„Fünf Minuten…“
Moby reißt die Decke von mir herunter und springt sofort zwei Schritte zurück.
„Du wirst mir nie vergeben, dass ich dir in die Eier getreten hab, oder?“
„Ich werd’s nie vergessen“, sagt er, „Und jetzt auf mit dir!“
Ich stöhne genervt, setze mich auf und stiere Moby schlaftrunken an.
Er lacht. „Dein Kopf sieht aus wie ein Vogelnest.“
„Danke, frisch gestylt“, sage ich, drehe mich um und vergrabe mein Gesicht im Kissen. Moby greift daraufhin meine beiden Knöchel und zerrt mich aus dem Bett.
„Wichser!“
„Hab dich auch lieb. Jetzt steh auf.“
„Über meine Leiche.“
„Okay.“ Moby lässt mich fallen.
Ich knalle auf den Boden und sehe mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hoch. „Bitch.“
Er schnaubt. „Ich wollte dich eigentlich wieder in die Cafeteria mitnehmen, aber wenn du nicht willst…“
Sofort bin ich hellwach und auf den Beinen. Moby kichert und geht nach draußen, um mir Zeit zu lassen, mich umzuziehen; ich brauche keine fünf Minuten, bis ich fertig bin und gegen die Stahltür klopfe. Kaum ist sie offen, laufe ich voraus, ohne auf Moby zu warten.
„Ungeduldig?“, fragt er.
Ich gehe kurz rückwärts, damit ich ich ihn angrinsen kann. „Nein, du bist nur langsam.“
Wir gehen gemeinsam durch die Flure. Sobald wir durch die Stahlpforte treten, die die Korridore mit den Zellen von denen mit den Arbeitsräumen trennt, tauchen mehr und mehr Menschen auf. Die Luft vibriert mit ihren Gesprächen.
Wir kommen nach einigen Minuten an der Cafeteria an. Moby geht zur Kantine, ich besetze uns einen Platz. Kurz darauf kommt er mit Pfannkuchen, zwei Becher Kaffee und einem Stück Erdbeerkuchen zurück.
„Alles Gute zum Geburtstag, Nona“, sagt er.
Ich grinse. Heute ist wieder der einundzwanzigste August.
Ich werde zweiundzwanzig Jahre alt.
Moby’s verurteilenden Blick ignorierend werfe ich sieben Stück Zucker in meinen Kaffee und ordentlich Milch.
„Das ist kein Kaffee mehr. Trink doch gleich Schokoladenmilch.“
„Gibt es welche?“
Moby verdreht die Augen. „Ich frag sicher nicht für dich nach.“
„Aber es ist mein Geburtstag!“
„Iss deinen Kuchen und sei leise.“
Ich kichere und nehme einen Bissen. Es schmeckt so herrlich wie jedes Jahr nach Monaten von Gefängnisessen. Die Erdbeeren sind das Frischste, das man hier drin bekommt, der Biskuit fluffig, und die Creme hat so viel Zucker, dass mir davon die Zunge brennt.
Moby und ich essen im gemütlichen Schweigen, dann trinken wir in Ruhe unsere Kaffees.
„Und? Wie fühlt sich’s an, eine alte Frau zu sein?“, fragt Moby grinsend.
„Ich bin alt? Was bist du dann, tot?“
Moby lacht auf.
„Ich glaub, ich feiere das gebührend“, sage ich, „Vielleicht mach ich Urlaub. Verreis irgendwohin.“
Er verzieht das Gesicht. „Komm schon, Nona.“
„Ich bin hier für den Rest meines Lebens drin, ich darf Witze darüber machen!“, protestiere ich und strecke die Zunge heraus.
„Ja, ja. Bist du dann fertig? Ich will nicht riskieren, dass mich jemand hier fragt, ob ich überhaupt Erlaubnis habe, mit dir hier zu sein.“
Ich trinke meinen Kaffee aus und gebe Moby den leeren Becher. Beim Rausgehen wirft er beide unsere Becher in die Mülltonne und zerzaust mir dann die Haare. Dafür muss er nach oben greifen.
„Du bist noch ordentlich in die Höhe geschossen“, murrt er.
„Soll ich mich hinhocken, damit du mir das ins Gesicht sagen kannst?“
„Schrumpf wieder.“
„Dafür musst du mir die Beine brechen.“
„Versprochen?“
Wir kichern. Er rempelt mich leicht mit der Schulter an. „Aber im Ernst. Hör auf, zu wachsen.“
Moby bringt mich wieder in mein Zimmer zurück. Wir schlagen zum Abschied ein; wir sehen uns erst wieder morgen.
Ich sehe mich um und versuche, mich zu entscheiden, womit ich meine Zeit vertreiben soll. Die kleine Bibliothek an Büchern, die ich in meinem Zimmer horde, kommt mir nicht vielversprechend vor. Eigentlich sollte ich einige Shirts und Hosen in das Regal einschlichten, die ich herausgezogen und auf den Boden fallen lassen habe…
Ich seufze. Ich schiebe das schon seit einer Woche vor mir her, nicht einmal Gefangenschaft kann mich dazu zwingen, regelmäßig freiwillig Hausarbeit zu machen. Aber irgendwann muss es erledigt werden.
Auf dem Boden sitzend fange ich an, die Kleidung wieder zu falten und zu stapeln. Sie ist das einzige, das in diesem Zimmer noch weiß oder grau ist. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, jeden Zentimeter der Wände mit Postern, Bildern, Fotos und Ähnlichem zu tapezieren. Nach neuen Möbeln habe ich auch gefragt— der graue Stahl ist nicht sonderlich ansprechend— und als meine Nachfrage zurückgewiesen worden ist, habe ich mein Bettgestell und meinen Tisch stattdessen mit Stickern beklebt.
Eine Tischlampe und einige Kerzen, die ich nicht anzünden darf, teilen sich den Platz auf der Tischfläche. Bei den letzteren habe ich den Verdacht, dass es eine Falle sein soll, und dass sie hoffen, dass ich unabsichtlich Feuer lege.
Meine Gitarre lehnt am Regal; auch sie ist das Opfer von einigen Stickern geworden. Mittlerweile bin ich ziemlich gut damit.
Auch das Training mit Bianca ist gut vorangeschritten. Mittlerweile hebe ich mehr als das Doppelte, als was ich gewogen habe, als ich mit dem Training angefangen habe. Passend dazu habe ich ordentlich Muskeln zugelegt. Bianca und ich haben regelmäßig Übungskämpfe, und zwar richtige. Nichts fühlt sich besser an als die blauen Flecken nach einem Sieg.
Ich lege gerade die Kleidung in das Fach zurück als die Tür zischend aufgeht.
„Hast du mich vermisst?“, frage ich großspurig grinsend.
Moby hat zwar sein Visier unten, doch ich weiß, dass er seine Augen verdreht. „Würde ich niemals. Du hast heute einen Test.“
„Schon? Aber sie haben doch erst meinen Fortschritt getestet?“
Über die letzten Jahre habe ich immer wieder kleine Ausbrüche von Feuer demonstriert, gerade genug, um ihnen Hoffnung zu machen, aber nicht genug, damit sie mich dazu zwingen können, es für Tests herzuzeigen.
Moby lehnt sich verschwörerisch vor. „Da ist irgendwas los. Velda streitet seit Wochen mit jemandem, und es sieht echt hässlich aus.“
Ich senke die Stimme. „So hässlich wie du?“
Er schnippt mir gegen die Stirn. Ich kichere und folge ihm auf die Flure.
Als wir an dem Testraum ankommen, stehen vor der Tür zwei Forscher. Eine ist eine junge, brünette Dame, der andere ein alter Mann mit grauen Haaren und Halbglatze. Er ist in einige Dokumente vertieft und scheint die Worte der Frau vollständig zu ignorieren. Bevor ich nah genug komme, um zu verstehen, was sie sagen, winkt er ab und geht in den Testraum. Ich folge ihm kurz danach, sehe ihn jedoch nur für einen kurzen Moment, bevor die Tür am anderen Ende des Raumes zugeht und er hinter dem Einwegfenster verschwindet. Danach schließt sich die Tür hinter mir.
Bei den Fortschrittsüberprüfungen habe ich bis jetzt immer nur drei Leute gesehen: Velda, einen jungen blonden Forscher und eine weitere ältere Dame. Was dieser alte Kauz hier macht ist mir unklar. Hat Moby das mit Irgendwas ist los gemeint?
Auf dem Boden der Zelle liegt eine ähnliche Ansammlung von Gegenständen wie jedes Mal: Kerzen, Kohle, Holz, Ethanol, Benzin, alles brennbar. Seltsam ist nur, dass es keine Tische gibt.
„Wieder dasselbe wie immer?“, frage ich und grinse in die Kamera. Ich hebe ein Stück Kohle hoch und werfe es in hohem Bogen, bevor ich es wieder fange und auf den Boden fallen lasse.
Der Raum hält zu lange den Atem an. Dann erst springen die Lautsprecher an, doch es kommt keine Stimme heraus, sondern das Geräusch von knisterndem Feuer. Ich sehe verwirrt zum Fenster, sage jedoch nichts. Kurz darauf ertönt das Knirschen und Knallen von einbrechenden Wänden. Ich sehe hoch zur Kamera. „Was soll das?“
Keine Antwort. Etwa eine Minute lang höre ich nur dem Krach eines brennenden Gebäudes zu, bevor sich ein weiteres Geräusch darunter mischt und mich zusammenzucken lässt: das Schreien und Kreischen eines jungen Mädchens.
Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Ein Bild von dem Hasen, den ich im Wald das Genick gebrochen habe, drängt sich vor mein inneres Auge. Das Kreischen dringt durch meine Haut und meine Knochen und zieht an meinen Zahnwurzeln.
„Das reicht!“, schreie ich in das Fenster. Nichts passiert.
Das Kreischen wird verzweifelter. Schluchzen und Wimmern mischt sich darunter. Ich kneife die Augen zu, aber auf der Innenseite meiner Augenlider wartet nur Olivia, verbrannt, getötet, ermordet. Sie sieht zu mir hoch, fleht mich mit den Augen an, und ich habe sie liegen gelassen.
Ich presse die Hände auf die Ohren, doch die Geräusche werden bloß lauter, bis sie trotz meinen Händen mein Trommelfell zerreißen. Olivia kreischt nicht mehr, weint bloß noch verzweifelt.
„Hilfe“, wimmert sie.
Das Fenster zerberstet unter einer gewaltigen Explosion. Gierige Flammen zerfetzen das Glas in Einzelteile, schmelzen die Ränder der Scherben und reißen Teile des Stahlrahmens aus dem Fundament. Als nächstes folgt der verdammte Lautsprecher, der ohrenbetäubend aufkreischt bevor er sich aus der Decke löst und tot zu Boden fällt. Er zerschmettert am Beton.
Das Zimmer hält den Atem an. Einige lange, ruhige Sekunden vergehen, in denen sich langsam der Rauch löst. In dem Raum hinter dem Fenster erhebt sich der junge, blonde Forscher langsam von hinter dem Pult. Ein Schnitt an seiner Stirn spuckt Blut. Er starrt mich verschreckt an.
Ich lasse mich gegen die Wand fallen, sinke auf den Boden und vergrabe die Hände in meinen Haaren. Sie zittern unkontrolliert und sind eiskalt. Meine Fingerspitzen sind taub, genauso meine Zunge und meine Lippen.
Die Tür geht zischend auf. Jemand hockt sich vor mir hin und sagt etwas, doch die Worte kommen in meinem Kopf nicht an.
Ich sehe an der Person vorbei und zu den ganzen Gegenständen, die auf dem Boden gelegen sind. Von ihnen ist nur noch Asche und geschmolzenes Plastik übrig.
Jemand legt die Hände auf meine Schultern und holt mich wieder ins Hier und Jetzt zurück.
„Hey“, sagt Moby, „Meine Augen sind hier oben.“
Er hat den Helm abgesetzt. Ich konzentriere mich auf das Grün seiner Augen, auf den Knick in seiner Nase, seinen Dreitagebart, und die brennenden Wände des Jugendheims weichen langsam an den Rand meines Bewusstseins zurück.
„Sicherheitsbeauftragter Torben Sauter?“
Moby sieht auf. Der alte Mann mit der Halbglatze sieht auf ihn hinunter.
„Ja?“
„Hat Sie jemand berechtigt, Ihre Sicherheitsausrüstung abzunehmen?“
„Nein, aber—“
„Das gibt einen Verweis“, sagt er, „Und einen weiteren für unbefugtes Betreten einer Testzelle, und einen dritten für unbefugte Interaktion mit einer Kreatur.“ Er deutet auf mich, ohne mich eines Blickes zu würdigen. „Melden Sie sich in meinem Büro. Sie sind für heute des Dienstes erlassen.“
Moby sieht ihn mit weiten Augen an, seine Lippen bewegen sich, doch es kommen keine Worte heraus.
„Habe ich gestottert?“, fragt der Alte.
Moby schnaubt, drückt meine Schultern. „Atmen, Kleine“, flüstert er, dann steht er auf, nimmt seinen Helm und verlässt den Raum.
Der alte Mann ignoriert mich und folgt ihm nach draußen.
Ich nehme mir etwas Zeit, um durchzuatmen und mich zu sammeln. Viel zu schnell taucht eine andere Wache im Raum auf und befiehlt mir, aufzustehen. Widerwillig komme ich auf die Beine und folge ihm. Meine Hände stecke ich dabei in die Taschen, damit das Zittern nicht so auffällig ist.
Er führt mich zu einer anderen Zelle, dieses Mal für ein Interview. Wieder ist nur ein Tisch mit zwei Stühlen im Raum. Ohne zu fragen oder zu zögern setze ich mich auf den Sessel und starre in das Einwegfenster.
Wieder hält das Zimmer den Atem an. Es atmet aus, die Tür auf der gegenüberliegenden Seite öffnet sich. Der alte Mann tritt heraus und setzt sich ohne Begrüßung gegenüber hin.
Ich warte auf ein Hallo, das nicht kommt. „Wo ist Fisher?“
Er sieht kurz von seinen Dokumenten hoch und besieht mich ähnlich wie ich eine Kakerlake ansehen würde. „Sie hat sich entschlossen, dieses Interview nicht zu führen.“
„Wieso?“
Er übergeht meine Frage. „Wieso hast du bis jetzt deine Kräfte verborgen gehalten?“
„Wer hat gesagt, dass Sie mich duzen dürfen?“
Er seufzt genervt. „Beantworte die Frage.“
Ich starre ihm stumm in die Augen. Er knirscht mit den Zähnen. „Meinetwegen! Beantworten Sie die Frage.“
„Sag Bitte.“
„Strapazieren Sie mich nicht.“
Ich schweige wieder. Er stöhnt auf. „Bitte beantworten Sie die verdammte Frage!“
„Ich habe nichts verborgen gehalten“, sage ich beiläufig, „Freiwillig habe ich es noch nie richtig hinbekommen.“
„Das da drin hat sehr nach freiwillig ausgesehen,“ sagt er kühl, „Sie wissen, was das für Ihre Freilassung bedeutet.“
„Sie spielen Geräusche von einem der schlimmsten Momente meines Lebens ab und erwarten, dass ich mich nicht dagegen wehre?“
Wir starren einander mehrere angespannte Sekunden an. Es scheint wieder so, als würde das Zimmer nicht atmen, doch es hat mehr Spannung, als würde es nach Luft ringen.
„Was damals passiert ist, war Ihre eigene Schuld, nicht unsere.“
Auf meiner Zunge brennt eine geladene Antwort, doch wenn ich auf das Thema eingehe, denke ich, muss ich ihm den Kopf abreißen. „Was ist mit Hallo passiert? Sind wir uns zu fein, um uns der ekelhaften Kreatur vorzustellen?“, frage ich in Babystimme. Er verzieht das Gesicht.
„Doktor Doktor Senger“, sagt er kühl.
„Zwei Doktors? Wow, Sie haben ewig Ihr Leben verschwendet.“
Er schnaubt, wechselt das Thema. „Wie ich verstehe, wurden Ihre Kräfte zum ersten Mal aufgrund von einer Aktivierung Ihres Fight-or-Flight an die Oberfläche geholt.“
Ich sehe ihn skeptisch an. Er starrt zurück. Als er versteht, dass er von mir keine Antwort bekommen wird, wechselt er wieder das Thema. „Sie leiden unter Panikattacken, richtig? Wissen Sie, was Ihre Trigger sind?“
„Was soll der Mist?“, unterbreche ich ihn laut.
„Wir versuchen nun seit fünf Jahren, Sie dazu zu bringen, Ihre Kräfte zu benutzen.“
„Veldas Ansatz hat funktioniert“, sage ich, „Das Training hilft mir, meine Kräfte zu kontrollieren.“
„Was Velda über fünf Jahre kaum geschafft hat, habe ich innerhalb einiger Stunden erwirken können“, sagt er scharf, „Weshalb Ms. Carol Velda für Sie nicht mehr zuständig ist und Ihre Trainingseinheiten mit Miss. Bianca Zimmerman abgesagt sind.“
In meiner Kehle glüht ein kleines Feuer. Ich atme tief durch, versuche mich zu beherrschen. „Was gibt Ihnen das Recht?“, frage ich durch zusammengebissene Zähne.
„Ich habe jedes Recht“, sagt er simpel und steht auf. „Ich erwarte Sie morgen für einen weiteren Test. Übermorgen, wenn die Ethik-Kommission sich weiter aufführt.“
Die Tür hinter ihm öffnet sich, er verlässt den Raum. Während sie sich wieder schließt, knurre ich „Fotze“, laut genug, damit er es hört.
Teil 5.11
Es dauert insgesamt drei Tage, bis ich zu einem weiteren Test geholt werde. In diesen drei Tagen darf ich nicht meine Zelle verlassen. Egal wie oft ich auf den Pager drücke, niemand kommt.
Der Soldat, der mich abholt, ist leider nicht Moby. Er oder Sie— mit all der Körperrüstung ist es schwer zu erkennen— schweigt mich an, bis wir die Testzelle erreicht haben.
„Arme abstrecken und Beine breit hinstellen“, sagt sie, laut der Stimme eine Frau. Verwirrt tue ich wie befohlen. Sie tastet mich ab, dreht meine Taschen von innen nach außen und lässt mich meine Haare lösen, die ich hochgebunden hatte. Als sie fertig ist, schickt sie mich rein, die Tür geht hinter mir zu.
„Und was genau hätte ich mitnehmen sollen?“, murre ich und binde meine Haare wieder hoch. Der Raum vor mir ist komplett leer. Verwirrt drehe ich mich im Kreis.
„Was genau soll ich machen?“, frage ich ins Einwegfenster starrend. Kein Knacken vom Lautsprecher, keine Stimme.
Das Zimmer hält den Atem an.
Hinter mir öffnet sich zischend die Tür. Ich erwarte Senger, oder Moby, oder den Soldaten, der mich hergebracht hat, doch stattdessen steht ein Mann im orangen Einteiler im Türrahmen. Er ist fast einen Kopf größer als ich und breit wie ein Schrank.
„…Hallo?“, sage ich verwirrt.
Er macht einen Schritt vorwärts und knallt mir die Faust ins Gesicht.
Meine Wange wird taub und kribbelt, als würden Ameisen unter meiner Haut laufen. Ich stolpere zurück und schaffe es gerade noch, meine Balance zu halten, um dem zweiten Schlag zu entgehen. Ich ducke mich weg und schlage ihm so fest ich kann in den Magen. Er krümmt sich. Ich hechte zum Fenster und hämmere meine Faust dagegen.
„Lasst mich sofort hier raus!“
Bis ich ihn höre, ist es zu spät. Etwas donnert gegen meinen Hinterkopf und knallt meine Nase gegen das Glas. Das taube Gefühl von eben breitet sich über mein ganzes Gesicht aus, mir wird schwarz vor Augen. Der Geschmack von Eisen erfüllt meinen Mund, Wärme fließt aus meiner Nase und in meinem Mund zusammen.
Welche Lektion war es, meinen Gegner nicht aus den Augen zu lassen? Die erste? Zweite?
Ich habe gerade noch Zeit, um mit meiner Zunge über meinen Vorderzahn zu lecken, der nun wackelt, bevor ich mich zur Seite fallen lassen muss, um einem weiteren Schlag zu entgehen. Die Faust des Mannes donnert gegen das Glas, das sofort Risse bekommt.
Wie oft muss ich ihr Glas noch kaputt machen, bevor sie mit den Tests aufhören?, denke ich in einem irrwitzigen Moment der Klarheit. Der Gedanke holt mich wieder auf den Boden zurück, Biancas Lektionen kommen zu mir zurück.
Ich zwinge mich dazu, mich aufzurichten und breitbeinig hinzustellen. Als sein nächster Schlag kommt, bin ich vorbereitet und weiche aus. Das ewige Üben mit Bianca hat mir beigebracht, um das Fehlen meiner Tiefenwahrnehmung herumzuarbeiten, auch wenn ich immer noch nicht sehr präzise bin.
Wieder versuche ich ihm in den Magen zu schlagen, doch er greift mein Handgelenk. Ich drehe es in seinem Griff und zerre den Ellbogen nach oben, knalle ihn gleichzeitig in sein Gesicht und befreie meine Hand. In dem Moment, in dem er benommen ist, treffe ich zwei Mal sein Gesicht, seine Lippe beginnt zu bluten.
Ein flaues Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Das hier ist kein Übungskampf mit Bianca. Er hat nicht dieselben Anzeichen, die mir verraten, wann er zuschlägt. Ich habe nicht die Möglichkeit, ihm zu sagen, dass ich aufgebe. Meine Schläge kann ich auch nicht mehr zurückhalten, und das ist ein riesiges Problem: Jedes Mal, wenn ich zuschlagen kann, drängt sich das Gefühl von meinen gebrochenen und gesplitterten Handknochen zurück in mein Bewusstsein. Meine Schläge sind viel zu sanft, und egal wie sehr ich mich geistig anschreie, mich zusammenzureißen, ich kann nicht über meinen eigenen Schatten springen.
Er weicht zurück, wischt sich über den Mund und geht wieder auf mich los. Wieder zielt er auf meinen Kopf, wieder weiche ich aus. Er ist stark, aber langsam.
Ich hechte zu seiner Seite und trete ihm in die Rippen. Nicht ideal, er taumelt nur kurz. Trotzdem ist er abgelenkt, was ich dafür nutze, ihm gegen das Kiefer zu schlagen. Er keucht auf. Wieder und wieder schlage ich auf sein Gesicht ein, zwinge mich dazu, härter zu schlagen, bis meine Knöchel schreien und knirschen, breche ihm die Nase und einen Zahn ab und verpasse ihm ein blaues Auge.
Er will einfach nicht nachgeben. Anstatt endlich umzufallen packt er beide meiner Handgelenke. Mein Knie in seiner Magengrube stört ihn nur kurz, dann lehnt er den Kopf nach hinten und knallt seine Stirn in mein Gesicht.
Er wollte wahrscheinlich meine Nase treffen, erwischt jedoch meine Stirn. Es schmerzt trotzdem höllisch.
Ich schaffe es, eine Hand zu befreien und schlage gegen seine Kehle. Er würgt. Endlich schaffe ich es, auch meine zweite Hand aus seinem Griff zu ziehen. Ich weiche zurück, hole aus, will an seinen Kopf treten— wenn er danach nicht ohnmächtig ist, ist er kein Mensch.
Einen Wimpernschlag lang liege ich wieder am Boden vor der Fabrik, keuchend vor Schmerz, und die Angst davor, wieder meinen Knöchel zu brechen, lässt mich zögern.
Der Moment ist genug. Er packt meinen Knöchel und reißt ihn in die Höhe.
Ich knalle auf den Boden, mir wird die Luft aus der Lunge gepresst. Mein Hinterkopf knallt gegen den Beton und ein hohes Klingeln erfüllt meine Ohren. In einem Moment der Panik zerre ich an seinem Griff, der sich bloß verengt und tiefer in mein Fleisch gräbt.
Stopp, sagt Aaron in meinem Kopf, Was bringt dir das, wenn du herumzappelst?
Ich trete nach seinen Knien. Leider sehe ich kaum noch etwas und verfehle.
Ein schreckliches Gewicht legt sich auf meine Hüften, dann Hände um meine Kehle. Das hassverzerrte Gesicht des Mannes taucht vor meinem Auge auf, seine Augen aufgerissen, die Venen an seinem Hals hervortretend, seine Nase und sein Mund blutverschmiert.
Der Druck an meiner Kehle bringt mich zum Husten, zum Würgen, doch ich kann nicht. Verzweifelt kratze ich an seinen Handgelenken, schnappe nach Luft. Die Schwärze vor meinen Augen wird größer, die Welt um mich unscharf.
Bist du Vieh?, fragt Aarons Stimme, Bist du Beute?
Meine Hand ballt sich zur Faust, ich spüre den Funken in meiner Handfläche. Ich hole aus, knalle ihm die Faust unter das Kiefer und schicke damit eine Stichflamme, die seinen Kopf innerhalb von Momenten umschlungen hat.
Er schreit auf, fällt rücklings von mir herunter und schlägt mit bloßen Händen auf sein Gesicht ein, um es zu löschen. Ich lasse ihn nicht. Heiser schreiend packe ich das Feuer, das sich an seine Haare und Haut klammert und breite es über seinen Körper aus. Es frisst seine Kleidung, Haut, sein Fleisch.
Der Geruch ist unerträglich.
Verzweifelt schnappe ich nach Luft und greife mir an die Kehle, doch ich kann immer noch nicht atmen, wieso kann ich nicht atmen.
Ich rolle mich auf den Rücken, kratze ich an meinem Hals, ein verzweifelter Instinkt, an Luft zu kommen. Meine Arme werden schwer, taub, kalt. Sie fallen zu meinen Seiten.
Passiv starre ich in das zu helle Licht der Lampen über mir, höre nur mein eigenes pfeifendes Atmen, das dem Geräusch von Olivia, das mich seit Jahren in meinen Träumen verfolgt, sehr stark ähnelt.
Die Tür geht auf. Schritte kommen näher und meine Sicht verschwindet vollständig in der Schwärze. Das letzte, was ich mitbekomme, ist dass ich mich irgendwann eingenässt habe.
Ich würde lachen, wenn ich könnte.
Teil 5.12
Ich vermisse das Feuer.
Seit fünf Jahren muss ich die Flammen unterdrücken, darf kaum den Griff um sie lockern. Das Glühen in meiner Kehle hat sich bis in meinen Brustkorb ausgeweitet und hat begonnen, mich von innen aufzufressen.
Ich vermisse es, wie ein Liebhaber seinen Lover vermisst. Meine Haut kribbelt, etwas kriecht darunter, drückt sich dagegen und bettelt mich an, freigelassen zu werden, und ich muss ihm grausam diesen Gefallen verwehren.
Ich sehne mich danach.
Zwei Pieptöne des Herzmonitors reichen, bevor ich genervt aufstöhne und die Augen öffne. Das Licht der Neonlampen blendet mich. Trotzig setze ich mich auf, entgegen dem Stechen in meinem Magen, trete die Decke vom Bett und beginne, alle Sonden von meinem Körper herunterzureißen. Der Klebstoff, den sie dabei verwenden, ist immer nervig schwer abzuwaschen.
Wieder kreischt ein Alarm, als ich den Clip von meinem Finger nehme. Ich greife zum Gerät herüber und schalte es ab, dann ziehe ich den Venflon aus meinem Arm und stehe auf.
Wenigstens hatten sie den Anstand, mir Kleidung zurechtzulegen. Ich ziehe mich um und bin gerade halb fertig, als die Tür aufgeht und eine Wache den Raum betritt.
„Spanner“, sage ich stumpf und mache den Knopf meiner Hose zu. Meine Stimme kratzt unangenehme in meiner Kehle.
„Wieso haben Sie nicht auf eine Krankenschwester gewartet?“
„Sieh ich so aus, als bräuchte ich eine?“, murre ich und ziehe mir mein Shirt über den Kopf. Der Satz bringt mich zum Husten. Meine Kehle ist schrecklich trocken, fühlt sich heiß und eng an. Ich gehe zu dem Waschbecken neben der Tür und schöpfe mit der Hand Wasser.
„Ihre Kehle hat leichten Schaden genommen. Sie sollten vermeiden, zu sprechen.“
Ich tue wie angeschafft und trinke schweigend.
„Bring mich zu meiner Zelle zurück. Ich will schlafen“, sage ich mürrisch und knacke mit dem Genick.
Er schüttelt den Kopf. „Doktor Doktor Senger hat ein Interview angefordert, sobald Sie aufgewacht sind.“
„Ich dachte, ich soll nicht reden?“
„Er hält es für eine Priorität.“
Ich schnaube. „Bringen wir‘s hinter uns.“
Die Neonlampen am Flur sind heller und nerviger als normalerweise. Unsere Schritte hallen von den Wänden wieder.
„Wo ist Moby?“, frage ich.
Keine Antwort. Er öffnet eine der Türen und deutet hinein. Ich setze mich hin und warte.
Senger kommt nach wenigen Sekunden dazu und setzt sich ebenfalls.
„Ich will nichts aus Ihrem Mund hören, wenn es keine Entschuldigung ist“, sage ich stumpf und verschränke die Arme.
Senger lacht auf. „Eine Entschuldigung?“
„Sie wollten mich umbringen lassen!“
Er schnaubt bloß. „Eine kleine Gefahrensituation, um Sie zu motivieren.“ Die Drohung liegt schwer in seiner Aussage. Er faltet die Hände und spricht weiter, bevor ich es kann. „Sie sind nicht so schlau, wie Sie denken.“
Ich hebe bloß eine Augenbraue. „Sind wir wieder zurück im Kindergarten? Sie nennen mich dumm, ich sage Ihnen, dass mich Ihre Glatze blendet.“
Er schnaubt. „Ihre Mutter hat genauso gelogen, wie Sie es getan haben.“
Ich stocke. Meine Mutter? Priya war hier?
„Ihr habt sie auch eingesperrt?“
„Kurzweilig, ja.“
Mein Herz hämmert in meinem Brustkorb. Eine seltsame Art Stolz erfüllt mich, dass ich diese Idioten auf dieselbe Weise ausgetrickst habe wie sie.
„Wir wissen, dass Sie Ihre Kräfte kontrollieren können.“
„Und woher haben Sie diese geniale Idee?“
„Versuchen Sie es nicht mal“, sagt er. „Sie haben uns seit dem Beginn angelogen. Wir haben Sie bereits informiert, dass dies als Missachtung der Autorität gewertet wird. Jetzt, wo Sie sich so feindselig verhalten haben, auch als hostil.“
Ich grinse großspurig. „Wenn Ihr so dringend Informationen wollt, bin ich bereit zu verhandeln. Ich sag Ihnen, woher ich diese Akte habe, und Sie geben mir meine Freiheit zurück.“
„Ich verhandle nicht mit Kreaturen“, sagt er stumpf. „Außerdem haben Sie kein Druckmittel. Sie haben uns schon vor fünf Jahren alles gesagt, was wir wissen wollten.“
„Also wisst ihr, wie die Akte dort rausgekommen ist?“, frage ich.
Der Mann nickt. „Aber diese Information geht Sie nichts—“
„Leidinger“, sage ich kurz angebunden.
Sengers Augen weiten sich.
„Ja, ich weiß von ihm“, sage ich ruhig.
Er verzieht das Gesicht. „Ich nehme an, Sie haben die Akte nicht direkt von ihm bekommen. Wäre er damals in der Nähe gewesen, hätten wir ihn gefasst.“
Ich sage nichts.
„Sagen Sie mir alles, was Sie wissen. Diese Information ist für uns unbedingt erforderlich.“
„Sagen Sie mir alles, was Sie wissen“, antworte ich.
Er lacht spottend auf. „Vergessen Sie’s.“
Ich seufze. „Dachte ich mir bereits.“
Senger verzieht das Gesicht. „Wieso wollen Sie über Leidinger Bescheid wissen?“
„Das sollte Ihnen bereits klar sein“, sage ich.
„Also wissen Sie von seinem Mordversuch.“
Ich nicke. Er schnaubt.
„Und deswegen werfen Sie Ihr Leben weg?“
Ein bitterer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. „Was genau soll das heißen?“
Senger zieht die Augenbrauen hoch. „Sie zünden das Jugendheim an, damit Sie fliehen können, ohne verfolgt zu werden—“
„Das war ein Unfall“, sage ich laut, „Ich konnte meine Kräfte noch nicht—“
„So wie das mit unseren Soldaten ein Unfall war?“
„Ja—“
„Dabei stirbt ein Mädchen“, unterbricht er mich laut, „Dann laufen Sie weg und zünden den Wald an, weil Sie attackiert wurden—“
„Was hätte ich sonst—“
„Und dann landen Sie auf der Straße, weil Sie zu dumm sind, um vorauszuplanen.“
Meine Handflächen werden heiß.
„Und natürlich wenden Sie sich zum Verbrechen, weil es der einfachste Weg ist—“
„Ich wäre sonst gestorben!“
„—und töten unschuldige Männer, als Sie endlich gefasst werden.“
Meine Finger zucken.
„Wieso willst du überhaupt wieder hier raus?“, fragt er mit einem hochnäsigen Grinsen, „Du gehörst hier hin, mit dem Rest der Monster.“
Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Sein Blick zuckt nach unten. Eine Stichflamme greift nach seinem Kopf, doch er ist schnell genug, um sich zu ducken. Sie streift nur seine Stirn, brennt ihm die Hälfte seiner übergebliebenen Haare ab.
Die Tür hinter mir geht auf und zwei Soldaten packen meine Arme, einer von ihnen drückt den Lauf seines Gewehrs an meinen Hinterkopf. Sie zerren mich vom Sessel und zwingen mich auf die Knie.
Senger zischt durch die Zähne und starrt mich hasserfüllt an. Nicht nur habe ich seine Haare abgebrannt, sondern auch sein Auge erwischt. Ich grinse schadenfroh. Mal sehen, wie er mit nur einem Auge klarkommt.
„Sedieren“, sagt er laut, „Und dann schmeißt es in eine Zelle, die es nicht aufschmelzen kann.“
Die beiden Wachen zerren mich auf den Flur hinaus. Die Tür geht zu und ich verliere den Blick auf Senger.
Eine der Wachen zerrt an meinem Arm, bis meine Schulter knirscht. Ich schreie auf und trete nach ihm, doch durch seine Körperrüstung ist es nutzlos.
„Beruhigen Sie sich oder wir zwingen Sie dazu“, sagt die zweite Wache. Er greift an seinen Gürtel, zieht eine Spritze heraus, die ähnlich wie ein Epipen aussieht, und schnippt die Kappe hinunter. Beruhigungsmittel.
Wenn ich ihm das spritzen lasse, komme ich hier nie wieder raus.
Ich balle die Hände zu Fäusten, schwinge das Bein nach oben und dann nach hinten. Meine Ferse landet direkt zwischen den Beinen des Soldaten, der mir gerade die Schultern ausrenkt. Er schreit auf. Das Glühen in meiner Kehle wird unerträglich heiß, bettelt mich an, ausbrechen zu dürfen.
Der zweite Soldat lässt die Spritze fallen und greift wieder zum Gewehr. Ich reiße meinen Kopf zur Seite und spucke Feuer.
Die Flammen brechen vor meinen Lippen aus, sind aufregend nahe an meinem Gesicht. Sie wickeln den Soldaten ein und dringen unter seine Rüstung, klammern sich an seine Kleidung, alles, was brennt. Der Rückstoß hebt meine Beine vom Boden. Ohne zu Zögern reiße ich den Kopf in die andere Richtung. Das Feuer springt auf den Soldaten hinter mir über. Er schreit, sein Griff lockert sich.
Ich lande wieder, hechte zwei Schritte von ihnen weg und schicke eine Flammenwand auf sie los, die sie von den Füßen reißt und auf den Boden schleudert. Mein Blick flackert zur Tür.
Senger.
Kurz überlege ich, die Tür aufzuschmelzen und ihn mir zu schnappen, doch ich bräuchte dafür zu lange. Bis ich durch beide Türen bin, ist er verschwunden. Stattdessen laufe ich den Flur entlang, umrunde die Testzelle und finde eine offene Tür und ein leeres Zimmer dahinter.
Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Rache. Ich muss hier raus, bevor—
Ein Alarm beginnt zu dröhnen, die Warnlichter im Flur springen an. Sie malen rote Schlieren entlang der Wände und Böden und werfen die Schatten in den Ecken tiefer, als sie sein sollten.
Genervt stöhne ich auf, suche mir irgendeine Richtung aus und laufe los. Die Flure vor mir sind immer noch verlassen, die Türen geschlossen. Der Alarm bringt mein Trommelfell zum vibrieren.
Ich erreiche ein Treppenhaus und hechte die Stufen hoch. Vier Treppenabsätze muss ich erklimmen, bevor ich das nächste Stockwerk erreiche. Vor mir liegt absolutes Chaos: Papiere sind auf dem Boden verstreut, Akten verworfen, sogar einige Kittel wurden in der Panik zurückgelassen.
Als ich auf den Flur herauslaufe, höre ich Schritte näherkommen. Sie sind methodisch, regelmäßig und viele. Ich zögere nicht, zünde die Papiere und Akten an, lasse das Feuer sie verschlingen. Innerhalb von Sekunden wächst es zum Inferno. Bis ich um die Ecke komme und die Gruppe der Soldaten mich sieht, knistern und brüllen hinter mir die Flammen.
Die Schläge, die Bianca mir gezeigt hat, funktionieren fantastisch, um das Feuer zu lenken.
Sie bekommen kaum die Chance, um auf mich zu schießen. In ihrer Panik, während sie verbrennen, setzen sie einige Schüsse in den Boden und die Decke.
Ich laufe nahe an der Wand an ihnen vorbei, teile den Brand vor mir und lasse ihn hinter mir zusammenschlagen. Die Sohlen meiner Schuhe schmelzen am Boden fest, doch ich mache nicht Halt.
Mein Sprint verlangsamt sich nicht, bis ich an ein Stahltor komme, das meinen Weg versperrt. Ich wette nicht darauf, dass es einen Weg daran vorbei gibt, sondern beschwöre eine Flammensäule, die ich auf den Stahl richte. Ich jage sie von einem harmlosen Gelb zu zischendem Rot, dann hoch zu blendendem Weiß. Es frisst sich langsam aber sicher durch das Metall, bis ein Loch in der Mitte prangt.
Ich nehme Anlauf und springe durch, bedacht, den glühenden Rand nicht zu berühren. Wie Bianca es mir beigebracht hat rolle ich mich auf der anderen Seite ab, bemerke dabei, dass der Boden heiß ist, und renne weiter.
Wieder hechte ich vier Treppensätze hoch, hinter mir folgt mir immer noch das Feuer. Mittlerweile hat es angefangen, sich durch die Flure zu verbreiten, sich an alles Brennbare zu klammern und zu fressen.
Hier oben ist es noch chaotischer, das Durcheinander bedeckt den gesamten Boden. Türen stehen weit offen und werfen lange Schatten im blinkenden, roten Licht der Warnlampen, und so sehe ich ihn erst, als er sein Gewehr auf mich richtet. Ich bleibe abrupt stehen.
„Nona“, sagt er kühl.
„Moby“, sage ich.
Ich sehe ihn zum ersten Mal ohne seine Schutzausrüstung— in der Eile wird er keine Zeit gehabt haben, sie anzuziehen— und mir wird schmerzhaft bewusst, wie verdammt zerbrechlich er so aussieht.
„Ich will das nicht“, sage ich ruhig.
„Ich auch nicht.“
Ich habe gehofft, seine Stimme würde zittern. Wenn er Angst vor mir hätte, dann hätte ich ihn verscheuchen können. Aber Moby, mutiger, dummer Moby, steht breitbeinig und mit dem Gewehr im Anschlag vor mir und sieht mich mit stählernen Augen an, die nichts mehr von der freundlichen Wärme übrig haben, die ich sonst darin gefunden hätte.
Ich sehe an ihm vorbei den Flur hinunter. Hinter ihm, versteckt hinter einer Tür, kauert Senger.
Moby’s Finger verengt sich am Abzug. Wir stehen eine Ewigkeit, keiner von uns gewillt zu töten oder seine Waffe niederzulegen.
Wir halten den Atem an.
„Auf dich hab ich es nicht abgesehen.“ Ich lasse das Feuer direkt hinter mir ausgehen, entspanne meine Hände. Erst jetzt bemerke ich, dass ich meine Fingernägel in meine Handfläche gegraben habe.
Er sieht mir mit einem eiskalten Blick in die Augen. Sein Gewehr bewegt sich keinen Millimeter, doch er zögert noch immer.
„Was tust du? Töte es!“, schriet Senger von seinem Versteck.
Ich sehe wieder an Moby vorbei zu dem alten, feigen Mann.
„Der Rauch ist zu dicht. Die Kameras sind verdeckt“, sage ich und wende meinen Blick wieder zurück.
Moby’s Kiefer mahlt. Langsam lockert sich der Finger auf dem Abzug, dann senkt er die Waffe.
Senger erbleicht. „Was…“
„Verschwinde. Schnell“, sage ich zu Moby.
Er nickt. „Viel Glück, Kleine.“
Damit wendet er mir den Rücken zu und geht.
Senger starrt mich entgeistert an, dann mit Furcht in den Augen.
„Wie war das mit dem Deal? Information gegen Freiheit?“, sagt er hastig.
Dadurch, dass er sich nicht bewegt, kann ich sein Innerstes durchsuchen, seine Luftröhre bis in seine Lunge, seine Speiseröhre bis in den Magen. Ich greife die Luft vor mir und balle die Hand so stark zur Faust, dass meine Fingernägel sich in meiner Handfläche vergraben, bis sie blutet. Irgendwo in seiner Lunge zündet durch meine Bewegung Feuer, das sich ausbreitet, wächst, sich seinen Weg durch seine Hohlräume bahnt. Innerhalb eines Atemzugs quellen ihm Flammen aus der Kehle, sein Hals glüht von innen heraus. Er schreit.
Meine Hände zittern vor Ekstase. Noch nie in meinem Leben hat sich etwas so gut angefühlt.
Ich zwinge die Flammen, sich weiter auszubreiten, sich durch sein Fleisch zu fressen, bis seine Haut von innen Blasen wirft. Ich lache auf, weil ich diese unglaubliche Freude nicht mehr leise aushalte.
Seine Augen drehen sich in seinen Hinterkopf. Er bricht zusammen.
Ich zittere am ganzen Leib, ein schreckliches Grinsen hat sich an mein Gesicht festgefressen. Ohne Senger eines weiteren Blickes zu würdigen, laufe ich an ihm vorbei und weiter den Flur entlang.
Zwei weitere Stahltore versperren meinen Weg, die ich durchschmelzen muss. Insgesamt laufe ich drei Stockwerke nach oben, bis ich an einer Tür vorbeigehe, auf der Eigentumslagerhalle steht. Ohne zu zögern jage ich sie aus den Angeln. Sie knallt auf den Boden und wirbelt Staub auf. Dahinter wartet eine riesige Lagerhalle mit einer chaotischen Ansammlung von Kisten und Kartons. Ein Blick auf die Etiketten sagt mir, dass es ein numerisches und ein alphabetisches Register gibt. Im Alphabetischen suche ich, bis ich einen einzigen Karton mit dem Namen Nona finde. Darin befindet sich bloß mein alter Rucksack mit etwas Kleidung und einigem Kleinkram, der so angebrannt und durchlöchert ist, dass ich ihn liegen lasse. Daneben ist das, wonach ich gesucht habe: Quinns Taschenmesser.
Ich stecke den Glücksbringer in dieselbe Tasche wie das Familienfoto und hechte wieder auf den Flur.
Die Böden werden immer wärmer. Das Feuer wütet in den niedrigeren Stockwerken, wächst nach oben auf der Suche nach mehr Fressen, mehr Sauerstoff. Ich hechte einen weiteren Treppenabsatz hoch und sehe zum ersten Mal seit fünf Jahren Sonnenlicht.
Es fällt durch die Fenster, beleuchtet den Flur, übertrifft sogar die nervigen roten Warnlichter. Es sieht so wundervoll warm aus.
Das Stockwerk ist weitaus gemütlicher als die Kellergeschosse, dunkle Teppiche und holzverkleidete Wände. Andächtig gehe ich den Flur entlang, strecke meine Hand aus und lasse die Sonnenstrahlen über meine Finger prasseln.
Den Ausgang finde ich hinten im Gebäude. Ich breite die Arme aus, spreize die Finger, rufe die Flammen zu mir nach oben. Sie verschlingen das Stockwerk innerhalb von Sekunden, fressen die Holzverkleidung von der Wand und den Teppich vom Boden. Mit einer ruckartigen Bewegung lasse ich sie auf den Eingang zuschießen.
Die Wand um die Tür herum verschwindet in der Explosion. Eine gewaltige Druckwelle reißt sie nach außen, zerschmettert die Fenster und verbrennt alles, was ihr im Weg steht.
Ich sehe dem Feuer dabei zu, wie es sich löst, dann dem Rauch, wie er sich legt. Hinter dem Loch in der Wand wartet die Freiheit und einige Soldaten, nun am Boden, die anscheinend vor dem Eingang auf mich gewartet haben.
Langsam schreite ich hinaus und starre auf die Wachen hinunter. Sie sind nicht verbrannt, nur bewusstlos, ich nehme an, ihre Körperrüstung ist spezialisiert auf Feuer.
Vor mir liegt ein dürres Feld, großteils Erde und Kieselsteine, hin und wieder Unkraut. In der Ferne erkenne ich eine Stadt, daneben ein winziges Waldstück. Jeder Schritt ist ein Gebet. Das Geräusch des knirschenden Kiesels dringt wie Musik an meine Ohren, die lockere Erde wie Seide unter meinen Schuhen.
Ich drehe mich um und sehe zu dem Gebäude zurück. Flammen lecken aus den Fenstern des untersten Geschosses, beginnen gerade, einen weiteren Stock von den vier übergebliebenen zu fressen. Genießerisch hebe ich die Hände und säusle es an, ergreife es und bringe es zum Blühen. Aufgeregt reißt es die Wände unter sich ein, frisst in einem Bissen das gesamte Gebäude und schlagt in einer Explosion von Schutt, Asche und Rauch aus. Die massive Menge an Feuer, die aus dem Gebäude sprießt, schießt direkt durch meine Venen. Mein Kopf schwirrt von der unglaublichen Macht, die davon ausgeht. Ich reiße die Arme hoch und juble lachend, springe auf der Stelle herum und genieße die Welle Hitze, die mein Gesicht bemalt.
Meine Hände fallen wieder zu meinen Seiten. Ich beobachte die Flammen, atme tief durch, rieche den Rauch und spüre, wie langsam Asche auf mich rieselt. Das goldglühende Gefühl, das der Brand in mir hinterlassen hat, durchströmt mich von Kopf bis Fuß und lässt mich genießerisch summen.
Ich wende dem Gebäude den Rücken zu und strecke die Hand aus. Sonne fällt auf sie herab, ungefiltert und warm. Ein weiterer Schritt; ich bin nun vollständig aus dem Dunkel, schließe die Augen und neige meinen Kopf hoch.
Zum ersten Mal seit fünf Jahren spüre ich die Sonne.