
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Manche sagen, man schätze etwas erst, wenn man es verloren habe. Aber Gott, habe ich die Sonne geliebt. Mein ganzes Leben hatte mich die Sonne begleitet. Schon als Kind fand ich es super, an jedem für mich frei verfügbaren sonnigen Tag rauszugehen und mit dem Nachbarsjungen auf der großen Wiese fangen zu spielen. Ich kann mich erinnern, wie die Erwachsenen uns damals oft zuschauten, manche irritiert und mit der Frage auf den Lippen, ob es uns denn überhaupt erlaubt sei, auf dem gewaltigen Grundstück zu spielen, die Meisten aber lächelten uns entgegen. Nicht wenige kamen dann wieder und brachten ihre Kinder mit zum Spielen. Jeder Sommer wurde somit zu einem Erlebnis, wir spendeten uns gegenseitig Freude, denn wir wussten es nicht anders und wir fühlten uns so wohl. Selbst wenn die Sonne unterging, habe ich nie zu lange um sie getrauert, denn ich wusste, sie kam wieder, egal wie viel Tage es darauf regnete und die Sonne sich hinter tief pechschwarzen Wolken versteckte, ich wusste, eines Tages würde sie wieder aufgehen. Als ich größer wurde, bemerkte ich, dass sich meine Beziehung zur Sonne änderte. Nicht unbedingt im schlechten Sinne, ich fantasierte nur nicht mehr darüber, die Sonne sei ein mystisches Wesen, eine fantastische Kreatur oder gar eine Gottheit, sondern erkannte ihre wahre Natur. Dinge realistischer zu betrachten gehörte wohl zum Erwachsenwerden dazu. Als junger Teenager fand ich dennoch die Tatsache, dass ein riesiger Stern das Zentrum unseres Sonnensystems bildete, nicht weniger faszinierend und entwickelte eine, zugegeben vielleicht ein wenig übertriebene, Phase der Obsession für die Astronomie. Ich würde nicht sagen, dass ich zu irgendeinen Zeitpunkt mit einem Experten auf dem Gebiet messen konnte, ich war nur jemand, der sich hobbymäßig gerne mit dem Universum auseinandersetzte.
Ich denke heute gerne an die Zeit zurück. Es war damals alles so einfach und frei. Heute hatte ich das Gefühl, einen ständigen Drang, der Messbarkeit nachgeben zu müssen: Ich musste mich mit meinen Leistungen auf der Arbeit messen, ich musste mich an den Leuten messen, die ich auf der Straße traf, selbst wenn ich allein war, maß ich mich an den Dingen, die ich nicht geschafft habe, oder warum das, was ich vollbracht hatte, nicht genug war. Ich weiß, ich sollte das nicht tun. Es tut mir nicht gut und ich kann so nur schlechter schlafen. Trotzdem, wenn ich nachts schlaflos im Bett lag und bereits die Matratze durch den Stoff meiner Schlafhose spürte, konnten meine Gedanken nicht anders als in jene Richtung abzuschweifen. Nur, wenn ich mich zwang, an etwas Anderes zu denken, an etwas, das mich mit Wärme erfüllte, dann war es mir manchmal möglich, meine schlechten Gedanken lange genug abzustellen, um wenigstens für noch eine Nacht Ruhe zu finden. Früher sind Menschen an Melancholie gestorben, im ersten Weltkrieg ist der zuletzt dokumentierte Fall durch diese, jedoch habe ich für mich entdeckt, dass die Melancholie eine der wenigen Dinge ist, die mich am Laufen hält. Der Gedanke daran, dass es einmal besser war und besser sein konnte, gab mir zwar keine Genugtuung, dennoch ein Gefühl von Sicherheit.
„Mr. Startler!“, riss mich eine energische Stimme aus den Gedanken, als ich so vor mich hin träumte. Mein Kinn lehnte auf meiner linken Hand, meine rechte war nach wie vor in einem Gips verpackt. Ich war vor ein paar Tagen von der Leiter gefallen, als ich das Wespennest für meine Nachbarin, einer netten älteren Dame aus Zimmer 237, entfernt hatte. Der Frühling war da und es hätte nicht mehr lange gedauert, bis sich wieder die ersten Insekten in ihrem alten Heim eingefunden hätten. Wir wollten uns alle das Problem ersparen und so entschied ich mich, ihr zu helfen, das Nest zu entfernen. Leider hatte ich mich in der Sprosse vertreten und konnte mich nicht sicher an der Leiter festhalten. Ich bin allerdings nur auf den Balkonboden geplumpst – es hätte viel schlimmer ausgehen können, immerhin wohnt die gute Frau im zweiten Stock.
„Hören sie mir überhaupt zu?“, unterbrach die Stimme, die mit jedem Wort zunehmend genervter klang, auch diesen Gedankengang.
Ich seufzte und wandte meinen Blick vom frischen Licht des Frühlings, das durch die Fenster schien, ab, hin zu einer Akte, die vor mir lag. Mr. Hoeffner schmückte das Cover des Umschlags. Ich zog eine Augenbraue hoch, während ich begann die Akte durchzublättern.
„Natürlich höre ich Ihnen zu“, mit einer dramatischen Gäste schloss ich die Akte wieder, „Jedoch muss ich mich leider wiederholen: Ich kann nichts für sie tun.“
Der kleine, kräftige Mann, der sich zuvor in seiner Rage noch über seine 1,60 versucht hatte aufzubauen, sackte wieder in sich zusammen. Ihm war die Enttäuschung anzusehen, er wies die typischen Merkmale eines gebrochenen Mannes auf. Sein Haar war schüttern, die Lippen wirkten wund, er musste Tag und Nacht Stress haben, was man ebenfalls seinem minimalen Maß an Körperhygiene entnehmen konnte.
„Ich brauche nur 10.000 Euro. Mit 10.000 Euro könnte ich mein Geschäft wieder zum Laufen bringen. Ich könnte Ihnen alles zurückzahlen, in null Komma nichts. Bitte geben sie mir eine Chance!“, zu Anfang hatte seine Stimme noch kleinlaut, aber stabil geklungen, doch in seinem letzten Satz konnte ich nur noch Trauer spüren. Ich war mir sicher, wenn ich ihn noch weiter an den Rand stoßen würde, würde er noch eine Szene machen, und darauf konnte ich, so wie meine Kollegen, sehr gut verzichten.
Ich stand also auf, verließ meine Seite des Tisches und setzte mich auf den leeren Stuhl neben Herr Hoeffner. Für einen Moment starrten wir uns nur an. Ich mochte ihn eigentlich, er war ein guter Kunde. Er hatte in der Vergangenheit seine Schulden immer rechtzeitig bezahlt und man konnte
gut mit ihm reden. Als vor ein paar Jahren jedoch seine Frau verstorben war und er sich alleine um die Kinder kümmern musste, litt seine Tischlerei unglaublich darunter. Seine Frau hatte früher die Abrechnungen gemacht und, mit dem Papierkram, sowie der Kindererziehung belastet, kam es, wie es kommen muss.
„Sie sind so gut wie pleite.“ Ich fasste ihn an die Schulter, um eine gewisse Menschlichkeit in die Nachricht zu empathisieren, „Ich kann Ihnen nur den Rat geben, ihr Geschäft zu verkaufen und sich einen neuen Job zu suchen, solange es der derzeitige Arbeitsmarkt noch für Leute ihres Alters hergibt.“ Er schluchzte. Gleich würde er anfangen zu heulen. „Bitte überlegen Sie sich es. Für Ihre Kinder.“ Ich machte eine kurze Pause, „Ich würde Ihnen auch helfen“, fügte ich schließlich hinzu.
Da spürte ich einen Ruck, der Mann mag klein sein, doch er hatte doch eine beachtliche Stärke. Seine muskulösen Arme drückten sich fest an mich, als er mich umarmte.
„Danke“, brach es aus ihm heraus. Er war den Tränen ganz offensichtlich nahe, hielt sie aber noch zurück. Als er sich nach einigen Sekunden aus der Umarmung löste, drückte er den Ärmel seiner Jacke ans Gesicht. Ich reichte ihm ein Taschentuch, welches er dankbar entgegennahm. „Vielen Dank“, wiederholte er noch einmal nachdrücklich. Ich nickte nur. Nachdem er sich gesammelt hatte, lächelte er verschmitzt, ja fast peinlich berührt, stand auf und bewegte sich Richtung Ausgang. Bevor er die Tür öffnete, drehte er sich noch einmal um. „Ich werde drüber nachdenken“, versicherte er mir in einem Ton, der Zuversicht aussprach und gerade laut genug war, dass ich ihn hören konnte. Er verließ die Bank. Ich schaute ihm nach, wie sich die Tür hinter ihm schloss und er die Straße, mit außergewöhnlich viel Verkehr um diese Uhrzeit, überquerte. War etwas geschehen? Gab es irgendwo etwas gratis? Dann plötzlich sah ich aus den Augenwinkel einen Bus auf der falschen Straßenseite rasen. Bevor ich mich selber fragen konnte, was vor meinen eigenen Augen passierte, sah ich, wie ein kleiner, moppeliger Mann von der Stoßstange dieses Buses ergriffen und davongeschleudert wurde. Wie eine leblose Puppe prallte der Körper auf dem Bordstein auf. Dann wurde alles dunkel. Dieser Moment sollte lange das Letzte gewesen sein, was meine Augen erblickt hatten.
Ich musste meine Augen geschlossen haben, doch um ganz ehrlich zu sein, fiel es mir schwer, diesen Umstand an etwas festzumachen, denn alles um mich herum war in tiefes Schwarz getaucht. Ich hielt mir den Kopf und bemerkte dann erst, wie benommen ich eigentlich war. Als ich mich aufrichtete und um mich herum tastete, spürte ich etwas Nasses, Klebriges meine Finger berühren. Erschrocken zog ich meine Hand zurück. Dann führte ich meine Hände vorsichtig den Boden entlang, der mit Scherben nahezu vollkommen bedeckt war. So kroch ich auf allen Vieren meinen blinden Weg entlang. Es fühlte sich nach einer Ewigkeit an, als meine Hände etwas Blechernes anfassten. Einen Moment hielt ich inne, dann wurde mir klar, dass es sich um den Bus handeln musste, den ich noch vor wenigen Sekunden gesehen hatte. Der Gedanke an Mr. Hoeffner durchzuckte meinen Körper. Mein Magen verkrampfte sich für einen Moment, dann übergab ich mich. Es tat überraschend gut. Für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als würde ich mich des Giftes entledigen, die diese Erinnerung in mir einflößte. Dann war es vorbei und ich fühlte mich schmutzig. Ich hatte das dringende Bedürfnis nach einer Dusche und vielleicht einer Folge Dr. Phil. Ich lächelte bei den Gedanken, doch meine Gesichtsmuskeln entspannten sich schnell wieder, als mir bewusst wurde, in welcher Situation ich mich befand. Ich zwang mich, konzentriert zu bleiben und ruhig zu atmen, anschließend begann ich mich vorsichtig aufzurichten. Meinen einen Arm hielt ich weit von meinem Körper gestreckt, um mich voranzutasten. Der andere Arm, der, der im Gips verpackt war, hing schlaff an meinem Körper herunter. Ich tapste verloren durch die Dunkelheit, nachdem ich den Bus, der mir ellenlang vorkam, umkreist und überwunden hatte, spürte ich, wie eine eisige Kälte meinen Körper durchflutete. Ich konnte nur wenige Stunden ohnmächtig gewesen sein und doch fand ich eine Erde vor, auf der der Winter ausgebrochen war. Die Kälte ließ alles um mich herum erstarren, und was übrig war, wurde träge, bis auf-
ein donnerndes Heulen durchbrach die stille Welt. Verwirrt drehte ich mich um, um die Geräuschquelle auszumachen. Zuerst dachte ich, es wäre ein Mensch, vielleicht ein Überlebender von dem, was hier vor sich ging. Doch als sich die grollenden Schreie immer und immer wieder wiederholten, verloren sie auch jedes letzte Anzeichen an Menschlichkeit. Es klang einfach nur nach verlorenen Seelen, die von der Hölle verschluckt wurden und nun ewige Schmerzen erleiden mussten. Ich hielt mir die Ohren zu und fiel auf die Knie, wie gerne ich doch die Stille wiedergehabt hätte. Einige Zeit, die sich wie Stunden anfühlte, aber möglicherweise nur wenige Minuten waren, verging, bis das Geräusch leiser wurde. Plötzlich spürte ich, wie eine Person über mich stolperte. Ich hatte ihre Schritte nicht gehört und sie kam in so einem unglaublichen Tempo auf mich zugerast, dass sie meinen Körper umwarf und selber, wie ich aufgrund des Tons schloss, einige Zentimeter weiter zu Boden fiel.
„Fuck“, stieß die Person aus. Ihre Stimme war weiblich.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich beinahe automatisch in meiner Benommenheit.
Die Frau packte mich fest am Hemdkragen und zog mich mühevoll hoch. Sie musste sich schneller gefangen haben als ich, was mich unter normalen Umständen ein wenig in meinem männlichen Stolz verletzt hätte. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt dazu.
„Was machen Sie hier noch, Mann? Rennen Sie, so schnell Sie können, bevor sie erwischt werden.“
„Erwischt?“, fragte ich, dümmlich und verdutzt dreinguckend. Zum Glück konnte sie mein Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, „Von wem?“
Auf einmal schepperte es neben uns, als würde eine große Masse Metall verbogen und zerdrückt werden. Das vorherige Brüllen gesellte sich kurz danach zur Geräuschkulisse. Es war nun sehr nah.
„Lauf!“, hörte ich die Frau noch schreien und spürte, wie sie meinen Kragen losließ, dann hallten schnelle Schritte durch den Platz. Ich sprintete ihr nach. Ich wusste immer noch nicht, was dieses Ungeheuer war, das sich in bemerkbaren Tempo an unsere Fersen heftete, ich besaß jedoch auch nicht die Absicht, es herauszufinden. Ich folgte den Schritten, bis ich mit ihnen gleichauf war, wäre einige Male über umherliegende Hindernisse gestolpert und auch höchstwahrscheinlich gegen mehr als eine Wand gelaufen, hätte mich die kräftige Hand der Frau nicht zur Seite gezogen. Schließlich merkten wir, wie unsere Ausdauer ein Ende fand und versteckten uns hinter etwas, das wir als abgebrochenen Teil einer Mauer identifizieren konnten.
„Was ist das für ein Ding? Warum verfolgt es uns?“, hechelte ich, noch ganz außer Atem.
„Es ist das, was sich einst vor dem Licht versteckte. Es ist der Schatten, den du aus dem Augenwinkel bewegen siehst. Es ist das, was nur in der Dunkelheit überleben konnte. Dort konnte es warten, lauern, und nun, da die Sonne weg ist, schnappt es sich seine Beute.“
Überrascht lehnte ich mich aufrecht an die kalte Steinwand. „Sind Sie… auf Drogen?“, fragte ich vorsichtig. Ich hörte ein Seufzen als Antwort.
„Hören Sie jetzt mal zu! Sie können mir glauben oder nicht, aber ganz offensichtlich befinden wir uns draußen und haben weder Sonne noch Sterne um uns herum.“
Ich schaute mich um und bemerkte erst jetzt, dass der Himmel durchaus vollkommen leer war, was auch die tiefschwarze Dunkelheit erklärte. „Stimmt, jetzt wo sie es sagen.“
Ich konnte ein Gemurmel vernehmen, das sich anhörte, als wollte die Frau mich nachäffen. Ich ließ sie lieber in Ruhe machen. Ich wollte sie nicht noch mehr reizen.
„Jedenfalls ist es auch völlig klar, das mit dem Fehlen des Lichtes Kreaturen herauskommen würden, die sich zuvor in dieser Welt nicht so frei bewegen konnten.“
„Sie meinen… Maulwürfe?“, stammelte ich fragend.
„Im Grundprinzip ja. Nur sehen sie nicht aus wie Maulwürfe. Also, vielleicht doch, denn keiner weiß, wie sie aussehen. Aber sie sind auch viel gefährlicher. Sie haben seit dem Anfang der Zeit um ihre Nahrung kämpfen müssen, deshalb sind sie Allesfresser und nun-“, die Frau fasste meinen Arm, um folgenden Teil zu unterstreichen, „nutzen sie die Gelegenheit, Menschenfleisch zu probieren. Zu diesem Zeitpunkt gibt es kaum noch Überlebende.“
Ich schluckte. Wenn das ein Witz war, war es ein sehr schlechter, also entschied ich mich, die Sache lieber ernst zu nehmen. Ich ließ die Erkenntnis einsinken, als mich ein unheilvoller Gedanke erreichte.
„Wer sind Sie?“, fragte ich nervös. Zuerst keine Antwort. Dann ein Wimmern, das langsam immer lauter wurde. Ich versuchte meinen Arm loszureißen, doch der Griff der Frau hatte sich gefestigt und sie krallte sich mit unmenschlicher Kraft an mir fest. Das Wimmern wurde zu einem Schreien, dann zu einem Heulen. Es war nun nicht mehr die Stimme einer Frau, die ich vernehmen konnte, sondern die von vielen Menschen, Frauen, Männern, Kindern, dann spürte ich, wie sich der Griff leicht lockerte, „Es tut mir leid“, sprach die Frau und ich riss mich mit aller Gewalt los und rannte in die entgegengesetzte Richtung, aus der ich gekommen war.
Von diesem Zeitpunkt an war ich ständig in Bewegung. Ich traute keinen menschlichen Stimmen mehr, versteckte mich oder rannte vor diesen weg. Den Schlaf beschränkte ich auf ein Minimum, was nicht schwer war, denn ich konnte mich ohnehin kaum ausruhen. Desorientiert taumelte ich die Wege entlang. Ich wusste schon längst nicht mehr, wo ich mich befand oder wie lange ich unterwegs war. Ich war auf jeden Fall aus der Stadt rausgekommen und nun wanderte ich auf den mit Autos vollgestellten Straßen, aus keinem anderen Grund als Hoffnung. Hoffnung? Worauf? Auf Besserung? Dies war die neue Welt, nichts würde sich bessern. Ich und wer auch immer noch überlebte waren nur die Überreste von denen, die sich der Veränderung lange genug entziehen konnten. Doch nicht mehr lange und auch ich würde ausselektiert werden. Ich lehnte mich an eine Autotür, atmete schwer und rutschte dann an ihr herunter, um mich auf den Boden zu setzen. Ich musste mich ausruhen. Nur für einen Moment. Ich schloss meine Augen.
„Hallo Mister? Können Sie mir helfen?“, ich riss meine Augen auf. Es war die Stimme eines kleinen Jungens. Natürlich.
„Was willst du von mir?“, rief ich, meine Frustration merklich runterschluckend. Meine Stimme klang fremd und kratzig, was einiges über die soziale Isolierung und Nahrungsknappheit aussagte, mit der ich die letzte Zeit zu kämpfen hatte.
„Ich bin unter dem Auto eingeklemmt. Bitte helfen Sie mir!“, hörte ich es erstickt aus einigen Metern rufen.
„Ganz bestimmt bist du das“, antwortete ich erschöpft und rührte mich keinen Millimeter. Einige Momente vergingen. Ich schluckte, „Hör zu, Kind, selbst wenn du keins dieser Monster bist, ich kann dir nicht helfen. Ich bin müde und erschöpft und mein einer Arm ist gebrochen oder war gebrochen und ist seitdem nicht richtig verheilt, schwer zu sagen, wenn man nicht weiß, wie viel Zeit seit dem Tag vergangen ist.“
„Seit dem Tag, an dem die Sonne aufgehört hat zu scheinen?“, fragte das Kind.
„Mhmm“, antwortete ich bestätigend. Dann wieder Stille. Seit diesem Tag hatte sich alles verändert. Das Stromnetz war völlig kaputt, es gab kein Licht mehr. Nirgends. Selbst das Licht in den Menschen war erloschen.
„Wie haben Sie sich den Arm gebrochen?“, fragte das Kind schließlich.
Ich räusperte mich. „Ich bin eine Leiter runtergefallen.“
„Konnten sie sich denn nicht mehr rechtzeitig festhalten?“
Ich hielt einen Moment inne, bevor ich antwortete. „Ich konnte schon, aber ich wollte nicht.“
Eine Pause. Niemand sagte etwas. Dann fuhr ich fort. „Du wirst dieses Gefühl nicht kennen, aber eines Tages wirst du einen Punkt in deinem Leben erreichen, an dem du aufwachst und dich fragst: Wozu das alles noch? Ich meine nicht, dass du absichtlich sterben willst oder sowas, vielmehr, dass es dir aber einfach egal wird, wenn du sterben würdest. Irgendwann bemerkst du, dass du so festgefahren in deinem Alltag bist, dass du gar nicht anders kannst, als unglücklich zu sein, und das Schlimmste ist, dass du diese Blase auch nur sehr schwer bis gar nicht verlassen kannst und dich diese Tatsache noch zusätzlich unglücklich macht. Das Leben verliert an Dynamik, alles wird träge und eines Tages bemerkst du, dass du innerlich sowieso schon gestorben bist. Das ist der Tag, an dem du aufhörst, nach der Leiter zu greifen.“
Keine Antwort.
„Hallo?“, fragte ich zögerlich, aber nichts kam zurück. Dann von irgendwo ein Heulen und Kreischen einer Kreatur, die noch von weit weg war. Ich richtete mich wieder auf. Drehte nervös meinem Kopf und machte einige Schritte in die Richtung, aus der die Stimme des Jungen kam. „Ist alles in Ordnung, Kind?“
„Es tut mir leid, dass du dich aufgegeben hast“, kam es schwach unter dem Auto hervor, vor dem ich stehen musste. Ich seufzte.
„Dir muss das nicht leid tun. Du kannst ja nichts dafür. Du bist nur ein Kind. Alles, was du getan hast, ist dein Leben zu genießen. Nichts hiervon ist deine Schuld.“
Ich hörte ein Wimmern und augenblicklich lief es mir kalt den Rücken hinunter. Ich widerstand dem Drang wegzurennen, so lange ich noch konnte, und kniete mich stattdessen runter, tastete nach einer kleinen Hand und fand diese schließlich.
„Ich glaube, ich werde bald zu Mama und Papa gehen“, schluchzte das Kind.
Ich spürte, wie der Kloß in meinem Hals immer größer wurde und versuchte ihn vergebens runterzuschlucken.
„Wie heisst du?“, fragte ich. Das Heulen des Monsters wurde lauter und regelmäßiger. Ich ignorierte es.
„Tom. Aber meine Freunde nennen mich Tommy“, brachte das Kind heraus.
„Darf ich dich Tommy nennen?“, fragte ich vorsichtig. Als Antwort bekam ich ein bestätigendes Schluchzen.
„Tommy, du musst mir jetzt helfen. Ich versuche das Auto hochzuheben und du musst, sobald du kannst, hervorkriechen. Hast du mich verstanden?“
„Mhhm“, hörte ich nur. Ich merkte, wie er seine Tränen zurückhielt.
Vorsichtig legte ich beide Hände an der Karosserie an. Schon dabei durchzuckte mich ein Schmerz an meinem gebrochenen Arm, er war zweifellos noch nicht ganz verheilt. Ich ignorierte ihn und versuchte mit aller Kraft das Gerüst anzuheben. Meine Schmerzen stiegen dadurch ins Unermessliche. Es fühlte sich an, als würden tausende von Feuerameisen meinen Arm hochkrabbeln. Das Gebrüll des Monsters war nun ganz nah. Es schrie. Ich schrie, es machte keinen Unterschied mehr. Als ich nicht mehr konnte, ließ ich das Gerüst fallen.
„Tommy?“, fragte ich panisch und wirbelte um mich herum, „Tommy? Wo bist du? Wir müssen weg.“ Mein Herz pochte mir bis in die Ohren. Der Schweiß tropfte meine Stirn herunter und dann spürte ich es. Eine kleine Hand, die nach meiner griff.
„Hier bin ich“ , er drückte mir etwas in die Hand, bevor er mich wieder losließ. Ich umfasste den neuen Gegenstand.
„Ich habe es im Auto gefunden, als wir aus der Stadt gefahren sind. Mama hat ganz böse geschimpft und dann war da der Unfall und dann…“, ich konnte hören, wie Tommy seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
Ich kniete mich hin, strich ihm über die Schulter und machte eins der Streichhölzer an, die sich in der Verpackung befanden. „Vielen Dank!“, krächzte ich lächelnd und starrte in die hoffnungsvollen Augen
eines kleinen Jungens.