
Stahlstadt
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
„Es ist ein guter Tag! Es ist ein schöner Tag! Es ist ein weiterer Tag in unserer glänzenden Metropole, der letzten großen Nation auf Erden!“ verkündet die Stimme der ersten Ministerin für allgemeinen Frieden, gerade in dem Moment, als der Barista mir meinen ärztlich verschriebenen Mittagskaffee serviert. Blechern und schwer kratzt sie über die unzähligen Lautsprecher durch die endlosen Straßen von Stahlstadt und hallt in den spiegelnden Metallfassaden wider und wider.
Das irritiert mich etwas. Die alltägliche Durchsage zum Wohlbefinden der Gesellschaft sollte doch erst in knapp 9000 Sekunden ertönen. Verdutzt blicke ich den Barista an; er ist wie alle Baristas, die etwas auf sich halten, wie ein Clown gekleidet. Um die Stimmung zu heben, versteht sich. Doch auch er scheint verwirrt und rümpft seine grau angemalte Knollnase.
Die Durchsage geht weiter: „Erfreuen sie sich, Bürger, dass sie Teil von uns sein können! Erfreuen sie sich, dass ihre Zellen in diesem Augenblick noch nicht ihre Funktion eingestellt haben! Denn heute ist nicht nur ein guter und ein schöner Tag, heute ist auch ein besonderer Tag! Heute haben die mutigen Männer, die sich außerhalb unserer ewigen Mauern gewagt haben, eine lebende Bestie aus der garstigen Wildnis gefangen genommen und werden sie in genau 7000 Sekunden auf dem Ratsplatz schlachten! Bis dahin wird allen Arbeitern selbstverständlich frei gegeben, um sich mit gebührendem Respekt auf den heutigen Nachmittag vorzubereiten. Das Ministerium dankt ihnen für ihre Aufmerksamkeit!“
Mit einem Mal bricht Euphorie im gesamten Café aus. Neben mir wirft eine Frau ihren Kaffee schreiend in die Luft und geht jauchzend auf die Knie, um den temperaturlosen Boden der Stahlstadt zu küssen. Ein anderer Mann zieht ein Messer aus seinem Gürtel und führt es mit Tränen in den Augen über seinen Arm, um zu sehen, ob er nicht träumt. Der Barista wirft grau-graues Konfetti wild um sich und bläst einen tiefgezogenen Ton auf einer ebenfalls grauen Tröte. Aber ich bin viel zu sprachlos, um auch nur irgendetwas zu tun. Ich kann mich nicht mehr an meinen letzten freien Werktag erinnern, erst recht nicht an einen, an welchem eine Bestie geschlachtet wurde! Mit dem größten Lächeln, welches mein Gesicht zustande kriegt, drücke ich ein großzügiges Trinkgeld von zwei Cent in die behandschuhten Hände des Clownbaristas und verlasse das Café.
Die Stimme des Lautsprechers hallt immer noch in meinem Kopf umher, als ich ziellos durch die Straßen von Stahlstadt spaziere, vorbei an den Denkmälern verlorener Formulare und den Augen der Litfaßsäulen. Mein Erziehungsautomat hatte mir schon in der Grundschule erklärt, wie selten es vorkommt, dass man eine Bestie lebend durch die ewigen Mauern bekommt. Natürlich, tote oder verweste Exemplare bilden bis heute einen Großteil unserer Ernährung, das wurde vor Jahrhunderten vom Ministerium festgelegt. Höchstwahrscheinlich war in meinem Kaffee gerade der ein oder andere Tropfen Blut, Fett oder sogar ganze Gewebestücke. Fleisch ist wichtig, um den Tag zu starten.
Ein Blick auf eine der digitalen Turmuhren verrät mir, dass ich noch 6621 Sekunden bis zu dem Treffen auf dem Ratsplatz habe. Man erwartet wahrscheinlich, dass ich mich fein anziehe, aber ich weiß auch, wie… dreckig solche Schlachtungen werden können. Ich könnte meinen freien Tag also noch ein bisschen nutzen. Immerhin, es ist mein erster freier Tag, seit einer langen, langen Zeit.
Das Lächeln, welches ich im Café aufgelegt habe, taucht wieder auf, während ich an einer Kameralaterne vorbeigehe, deren rot leuchtendes Auge mir hinterher starrt. Mir stehen sämtliche Möglichkeiten offen, die Stahlstadt zu bieten hat. Ich könnte dem Streichelzoo im nordsüdlichen Distrikt einen Besuch abstatten und mir die mechanischen Tierautomaten anschauen. Oder in den Trockenwasserrutschenpark auf der Quecksilberinsel gehen, wo wir damals den Firmenausflug gemacht haben. Zugegeben, es war kein besonders toller Firmenausflug, da er bereits nach 897 Sekunden wegen sexueller Ausschweifung abgebrochen wurde, aber dafür konnten wir ja nichts. Billy hat sicherlich nicht mit Absicht nach Patricks Ellenbogen gegriffen. Vielleicht würde die Zeit aber auch ausreichen, um noch einmal in das Kino zu gehen, wo das Ministerium früher die Staatsverräter hinrichten ließ.
Ein Blick zur nächsten Turmuhr genügt aber, um meine Pläne platzen zu lassen. Nur noch 6500 Sekunden! Der Platz muss mittlerweile überfüllt sein. Wahrscheinlich wird die ganze Bevölkerung von Stahlstadt anwesend sein, um einen Blick auf die gefangene Bestie zu werfen. Nur wenigen wird es vermutlich gelingen, tatsächlich an der Schlachtung teilzunehmen.
Ich eile zur nächstgelegenen U-Bahn, die natürlich komplett überfüllt ist, und zahle einen Wochenlohn, um zum Ratsplatz zu reisen. Ich habe ihn bisher nur ein paarmal gesehen, bei Visiten, Jahrmärkten, Auspeitschungen, solche Sachen halt. Stahlstadt ist groß und man müsste schon mehrere Monate einplanen, um es von der einen Seite der Mauer bis zur anderen zu schaffen. Dafür ist die U-Bahn umso schneller. Nach weniger als 100 Sekunden erreichen wir den gewünschten Bahnhof, das pulsierende Herz der Stahlstadt.
Wie zu erwarten hat sich bereits eine gigantische Menschenmenge gebildet, als ich am Ratplatz ankomme. Was hab ich mir nur dabei gedacht, so lange ‚rumzutrödeln‘? Von den Bonzen im Platindistrikt bis zu den Bewohnern der Rostslums, scheint jeder gekommen zu sein, der Beine hat, um zu laufen. Dem Staat sei dank ist der Platz groß genug, und so kann ich mich mit Ach und Krach in die vordersten Reihe drängeln, (natürlich stets bemüht, niemanden an den Ellbogen zu fassen). Es muss mehrere Generationen von Steuerzahlern gegeben haben, um dieses Monument zu erbauen. Vielleicht stammt es noch aus der Zeit, bevor sich die Regierung dazu entschied, die Sonne abzudunkeln, da sie die Metallhochhäuser zu sehr erhitzte. Vor dem Platz steht das Rathaus; ein gewaltiges Manifest der Regierung mit Kilometer hohen Türmen aus Weißgold und Titan, hart und prächtig wie die ewigen Mauern. In einem zwanzig Meter Radius ist der Platz frei, denn dort steht das Pult und niemand außer einem Diener des Ministeriums darf sich ihm nähern. Ob es heute wohl genau so sein wird?
Während ich warte, denke ich darüber nach, wie hoch meine Chancen sind, Teil der Schlachtung zu werden. Ich war immer ein guter Läufer, hab für meine Firma immer die Botengänge gemacht, welche die Strecke eines Marathons übersteigen. Außerdem bin ich stark. Das hat jedenfalls mein Erziehungsautomat gesagt. Vielleicht habe ich ja eine gute Chance, denke ich, und muss wieder lächeln.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, öffnen sich die eisernen Türen des Rathauses und eine kleine, dürre Frau tritt ans Pult. Die Ministerin erscheint in der siebentausendsten Sekunde, ganz wie sie es angekündigt hat, das Geräusch ihrer Aluminiumschuhe hallt auf dem Stahlboden wider. Sie hat sich schick gemacht, das erkennt man gleich: Sie trägt das weiße Friedensgewand einer Politikerin und hat die grauen Haare zu einem klobigen Dutt zusammengebunden, sperrig wie die Bürokratie. Neben ihr erscheinen einige Logikpriester, die traditionellerweise der Schlachtung beiwohnen. Sie sind nackt wie die Wahrheit und am ganzen Körper mit Zahlen und Formeln tätowiert. In ihren Gesichtern tragen sie platte Masken aus Silber, um ihre Weisheit und Allwissenheit zu signalisieren. Natürlich sind sie keine wirklichen Priester: Technisch gesehen sind sie Wissenschaftler, die das Wissen dadurch schaffen, dass sie das gefährliche Nicht- oder Halbwissen sammeln, Wahrheit von Unwahrheit trennen und letztere den Feuern der Vernunft übergeben. Außerhalb von Stahlstadt soll es Stämme geben, wo die Menschen angeblich an Sachen wie ein allumfassendes Schicksal oder sogar an einen Gott glauben, obwohl sie dafür keinerlei Beweise haben. Verächtlich rümpfe ich bei dem Gedanken die Nase. So etwas wäre bei uns sofort im Kino gelandet.
„Bürger“ beginnt die Ministerin schließlich und ihre Stimme wird tausendfach von den Lautsprechern wider geworfen, „Es freut mich, dass sie alle den Weg hierher gefunden haben, heute an diesem guten, glorreichen und wundervollen Tag. Viele gute Männer haben für diesen Tag ihr Leben gelassen, um unserer Nation dieses Geschenk zu überreichen.“ Ihre Worte werden ein wenig leiser und sie senkt den Kopf, „Merken sie sich, Bürger: Niemand darf jemals die ewigen Mauern ohne die Erlaubnis des Ministerium verlassen. Hier sind sie sicher vor dem Chaos und den Bestien der ungezähmten Natur. Nur hier und hier allein befindet sich die letzte große Nation auf Erden, denn die Welt von Außen ist grell und erfüllt mit Wahnsinn.“
„Denn die Welt ist grell und erfüllt mit Wahnsinn“ murmeln wir zurück. Der Ansatz eines Lächelns geht über ihren farblosen Mund.
„Ich bin stolz auf sie, meine Bürger,“ sagt sie und Tränen bilden sich in ihren Augen. „Ich bin stolz, ihre zum vierundfünfzigsten Mal in Folge gewählte erste Ministerin des allgemeinen Friedens zu sein. Jeder von ihnen ist ein treuer Diener unserer Stadt. Jeder von ihnen ist frei, denn keiner von ihnen hat etwas zu verbergen.“
„Denn keiner von uns hat etwas zu verbergen“ antwortet die Masse.
„Und deshalb“ sie klatscht in die Hände „will ich ihnen nicht länger ihr Recht auf das vorenthalten, was ihnen zusteht!“
Die Türen des Rathauses öffnen sich und zwei Logikpriester treten ins Freie, die die Bestie an ihren Armen festhalten. Auf dem Platz hält die Welt den Atem an, während sie sie vor die Ministerin schleifen. Ich weiß, was… was man sich erzählt hat. Aber das hier übersteigt alles, was ich mir jemals hätte vorstellen können. Ich habe noch nie etwas so wunderschönes gesehen…
„Lasst mich los! Bitte…“ winselt die Bestie, während sie Rotz und Wasser heult. Blaue Augen blicken panisch in die Masse, nass und glänzend und voller Schönheit. Ich kann nicht glauben, dass ich so etwas sehen darf. Die Bestie ist in bunten, herrlichen Stoffen gekleidet, gelbe und grüne Farben mit verwischten Schattierungen und Mustern, wo die Messer der Priester sie geschnitten haben. Ihr rötliches Haar steht in alle Richtungen ab, wie Fasern von reinstem Kupfer, und sogar die Blutergüsse auf ihrer rosa Haut leuchten in unbeschreiblicher Pracht. Wenn sie nicht so bunt wäre, würde die Bestie fast wie ein Mensch aussehen, ein junger Mann vielleicht, der gerade einen lebenslangen Vertrag mit seiner Firma abgeschlossen hat.
„Bitte!“ schreit sie noch einmal „Ich habe nichts getan. Ich weiß nicht, wer ihr seid, ich schwöre, ich werde nichts sagen, aber bitte, lasst mich…“ Die Ministerin tritt an sie heran, in ihren behandschuhten Händen hält sie ein glänzendes Messer aus Cobalt, bedeckt mit einer teerschwarzen Flüssigkeit.
„Wir ehren den Staat mit dieser Tat!“ ruft sie in Ekstase. „Wir ehren das Volk mit diesem Opfer! Wir ehren das Ministerium mit diesem Fleisch!“
Mit diesen Worten schneidet sie der Bestie die Kehle durch. Das Geräusch ihrer Klinge bleibt noch lange in der Luft hängen.
Verdutzt blickt das Ding, welches wie ein Mann aussieht, uns an. Vielleicht hatte es wirklich damit gerechnet, dass jemand es retten würde, schwer zu sagen, wie solche Wesen denken. Seine Hände greifen nach seinem Hals, im verzweifelten Versuch, das Blut zurückzuhalten, aber es sickert ungebremst zwischen seinen Fingern wie ein roter Sturzbach. Rot, denke ich, rot, rot, rot! Die Menschen neben mir werden unruhig. Wir alle wissen, was gleich passieren wird, wir alle haben uns so viele Jahre darauf vorbereitet und nachts davon geträumt. Während das Leben aus dem Wesen heraus läuft, verlassen die Ministerin und die Priester den Platz; Ihre Arbeit ist getan, und sie wissen was jetzt passieren wird. Mein ganzer Körper zittert vor Erregung als ich sehe, wie sich das Gift des Ministeriums langsam im Kreislauf des Dings ausbreitet.
Der Leib der Bestie beginnt sich aufzublähen. Ihre Gliedmaßen schwellen auf das dreifache ihrer Größe an. Ihre bunte bunte Kleidung zerreißt, während Brust und Bauch sich immer mehr ausdehnen. „Die Metamorphose, sie beginnt!“ schreit ein Mann neben mir und geht lachend und weinend auf die Knie. Graue, klobige Fleischwarzen bilden sich auf der Haut der Bestie, Tumore und Beulen, durchzogen von geschwollenen Arterien in allen Farben, während zusätzliche Arme und Auswüchse aus der Haut hervorbrechen. Aber immer noch lebt dieses Ding, welches fast ein Mensch sein könnte, obwohl seine Schönheit immer mehr in den Bergen von grauer Materie versinkt, immer noch kommen die Tränen aus seinen Augen.
Ich kann mich nicht mehr beherrschen. Mit bloßer Faust schlage ich eine Frau die neben mir steht zu Boden und renne auf die Bestie zu. Andere tun es mir gleich, haben die 20-Meter-Regel vergessen. Alle wollen dieses Fleisch. Alle wollen so viel wie möglich für sich!
Als ich ankomme, haben sich die ersten Bürger von Stahlstadt bereits in das Gewebe gepresst und krallen sich in die Haut der Bestie fest wie graue Zecken. Das dünne Gewebe reißt auf, als ich mich auf den Fleischberg stürze und Muskeln, Eiter und Fett aus den Wunden quellen. Durch die Lautsprecher höre ich die Ministerin sprechen, aber ich verstehe ihre Worte nicht.
Alles ist bunt, alles leuchtet. So viele Farben! Andere Menschen krallen sich neben mir in die Kreatur, über mir, auf mir, erdrücken mich förmlich unter ihrem Gewicht. Auf dem Platz prügeln sich die, die zu spät losgelaufen sind, schlagen sich die Köpfe ein und kratzen sich nach vorne. Das schmerzerfüllte Schluchzen der Bestie lässt ihre deformierten Zellen erbeben. Mir ist alles davon egal. Ich grabe mich immer tiefer in das Fleisch, in die Farben, wühle durch Eingeweide und Körperflüssigkeiten. Es gehört mir, alles mir. Seine Farben, seine Träume, seine Schönheit. Meins, meins! Immer hastiger stopfe ich mir grobe Klumpen Fleisch in den Mund, reibe mich damit ein, bade darin. Die ganze Welt schmeckt nach Bestienblut und Clownskaffee, nach Muttermilch und Motoröl, nach Schönheit, nach Farben, nach Farben! Violetter Flaum wächst auf meinen Händen, grüne Schuppen auf meinen Armen und blauer Zahnstein unter meinen Fingernägeln, während ich immer mehr von der Bestie konsumiere. Trunken vor Glück und weinend vor Erleichterung danke ich der Ministerin, dem Staat, der Stahlstadt, dass ich diesen Tag erleben durfte.
Und während die Menge anfängt, in ihrem blinden Hunger auch mich zu zerreißen, blicke ich noch einmal in den Himmel, der das letzte Mal so hell und scheinend war, als wir noch eine Sonne hatten.
Ich habe mich nie so lebendig gefühlt.