
Deine Welt ist fünf Quadratmeter groß
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Die Welt besteht aus exakt fünf Quadratmetern.
Nicht, dass du sie je ausgemessen hättest. Dazu fehlt dir sowohl das entsprechende Equipment als auch das nötige Wissen, sowohl an Maßeinheiten im Speziellen als auch an mathematischen Kenntnissen im Allgemeinen.
Der Boden der Welt besteht aus einem festen, unbequemen, grauen Untergrund, genauso wie die Wände und die Decke. Letztere wird von einem Loch durchbrochen, welches in drei Metern Höhe liegt und einen Durchmesser von eineinhalb Metern besitzt. Gitterstäbe liegen quer darüber, welche es nicht gebraucht hätte, da es ohnehin in unerreichbarer Ferne liegt.
Durch dieses Loch fällt je nach Tageszeit strahlendes Sonnen- oder fahles Mondlicht, außerdem regnet und schneit es bei entsprechendem Wetter rein, wobei es bei Starkregen geschlossen wird, damit deine Welt nicht überläuft.
Auch der Untergrund hat ein Loch, wenn auch deutlich kleiner. In einer der vier Ecken gähnt es scheinbar unendlich tief und schwarz. Du verrichtest darin deine Notdurft. Außerdem dient es als Abfluss für leichten Niederschlag, der hin und wieder deine Welt flutet.
Weiterhin besitzt eine der glatten Wände einen zwei Meter hohen und achtzig Zentimeter breiten Durchbruch, welcher außer in sehr seltenen Fällen unentwegt mit einem zentimeterdicken, metallenen Hindernis geschlossen gehalten wird. Besagtes Hindernis besitzt im unteren Bereich eine Klappe, durch die in regelmäßigen Abständen Wasser und abwechslungsreiche Nahrung hereingereicht wird.
Am gegenüberliegenden Ende steht ein Gerüst aus Stahl. Es ist fest verbunden mit dem Boden und besteht aus einem einzigen Stück, kein Bestandteil davon lässt sich auch nur im Geringsten bewegen oder verschieben. Darauf liegt eine halbwegs weiche Matratze und ein rauer, kratziger, dafür aber warm haltender Fetzen Stoff, der gerade lang genug ist, deine ausgestreckte Statur komplett zu verhüllen.
Zuletzt gibt es ein allsehendes Auge in deiner Welt, dessen Sinn sich dir nicht erschließt. Dunkel ist es und halb kugelförmig. Es hängt direkt über der Tür, die du so nie benennen würdest, beobachtet dich Tag ein Tag aus, zeichnet jeden deiner Momente, seit Beginn deines Lebens in dieser kleinen Sphäre auf.
All diese Begrifflichkeiten sind dir fremd. Die Gegenstände und Materialien sind dir vertraut, mehr als das, sie sind alles was du kennst, sie sind deine gesamte Welt, machen sie aus, sind allgegenwärtig, immerdar, werden ewig bestehen. Bezeichnen jedoch könntest du sie nicht, nicht nach allgemeingültigen Standards jedenfalls.
Weder deine Lippen noch der Denkapparat zwischen deinen Schläfen, bringen sinnvolle, für andere verständliche Wörter hervor. Alles was deiner Kehle entspringt sind seltene, scheinbar ungerichtete, gestöhnte Laute. Sie folgen keinem festen, erkennbaren Schema und wenn doch, dann bist du die Einzige, die es kennt und versteht.
In deinem Kopf sieht es nicht anders aus. Die meiste Zeit herrscht darin eine stumpfe Leere, die lediglich auf Impulse reagiert. Impulse, die sich täglich wiederholen, wie die auf- und untergehende Sonne oder das Öffnen der Türklappe, durch die deine nächste Mahlzeit geschoben wird. Du handelst und denkst instinktgesteuert, nur sehr selten dringt eine Blase in dem endlos ruhig daliegenden Sumpf nach oben, platzt und verstreut damit ein flüchtiges Gas, welches sich Bewusstsein nennt.
Das Bewusstsein darum, dass da noch mehr ist. Mehr als die fünf Quadratmeter Raum um dich herum, die von kahlen Wänden definiert werden. Als Grundlage für diese Annahme dienen zwei Dinge.
Zum einen wäre da der Himmel, der ewig weit über dir dahinzieht. Manchmal verbringst du Stunden damit direkt unter dem Loch in deiner Decke zu sitzen und nach oben zu starren, den Verlauf der Wolken zu beobachten oder die Sterne kommen und gehen zu sehen. In diesem Zustand ist es dir meist auch egal, ob du nass wirst oder Schnee auf dich niedergeht. In letzterem Fall legst du die Decke um deine schlanken Schultern, ignorierst das Schlottern deiner Knie und träumst unbestimmte, wirre Träume.
Zum anderen sind da Erinnerungen oder vielmehr verschwommene, silhouettenartige Bilder der Vergangenheit eines Lebens, dass deines aber auch das eines völlig Fremden sein könnte. Da du dich nicht direkt als lebendes Wesen wahrnimmst, dir deiner selbst nur bedingt bewusst bist, bist du dir umso unsicherer in Bezug auf diese Facetten des Ehemaligen.
Bei diesen handelt es sich vordergründig um ein Gesicht. Es besitzt keine klaren Konturen, nicht einmal richtige Farben, aber es ist ohne jeden Zweifel da. Du spürst eine gewisse Verbundenheit zu dieser Person, kannst sie aber nicht näher definieren. Strenggenommen kannst du ja nicht einmal im Ansatz erklären, was eine „Person“ überhaupt ist. Du kennst im Grunde schließlich nur dich und selbst hierbei ist „kennen“ ein sehr dehnbarer Begriff.
Da es in deiner Welt keine spiegelnden Oberflächen gibt, weißt du nicht wie dein eigenes Gesicht aussieht und selbst wenn, wärst du dir vermutlich nicht sicher, ob diese Fremde, die deine Bewegungen nachahmt, wirklich dein eigenes Selbst ist.
Könntest du dich hingegen sehen – und erkennen – würde dir eine bleiche, hagere, leicht kränklich wirkende Visage entgegenstieren. Mit manchmal gehetztem, unstetem und dann wieder mit ruhigem, stumpfsinnigem Blick. Dein langes Haar ist strohig, fettig und hoffnungslos verknotet, deine Mimik ausdruckslos, weil du nie gelernt hast zu lächeln oder Trauer zu zeigen.
Mit deinem restlichen Körper verhält es sich ähnlich. Abgemagert, blass, ungepflegt. Deine Muskulatur ist schwächlich, da du sie kaum beanspruchst Aufgrund des harten Untergrundes, auf dem du den Großteil deiner Zeit verbringst und den Witterungsverhältnissen deiner Welt, trägst du allerlei Blutergüsse, Abschürfungen und Narben bereits verheilter Wunden auf der Haut. Deine Finger- und Zehennägel sind ungleichmäßig lang und splittrig, dir fehlen einige Zähne und die, die dir noch erhalten geblieben sind, befinden sich in keinem sonderlich guten Zustand.
Trotz deiner physischen Erscheinung lebst und vor allem überlebst du. Nicht, dass du dir darüber Gedanken machen würdest. Tief in dir drin, regt sich selten ein Gefühl. Die Angst davor, dass eines Tages alles enden könnte. Einfach so. Bumm und Dunkel. Nichts als Schwärze. Ähnlich endlos wie der Himmel über dir.
In der Regel jedoch, sorgst du dich nicht um dergleichen. Du kannst dich zuverlässig darauf verlassen, versorgt zu werden. Jeden Tag um die gleiche Zeit werden die entsprechenden Mahlzeiten unter der Tür durchgereicht. Auf einem simplen Tablett werden sie serviert, welches nicht durch die Luke gezogen werden kann, weil es am anderen Ende zu breit ist. Das Essen liegt blank darauf, ohne Werkzeuge um es zu sich zu nehmen, weswegen du mit bloßen Händen isst. Da du es nicht anders kennst, macht dir das nichts aus.
Dein Wasser wird dir auf die gleiche Art gereicht. Ein Napf, der mit dem Tablett verschweißt wurde, sich also ebenso wenig lösen lässt. Du trinkst daraus, wie ein räudiger Hund – wenn du doch nur gewusst hättest, was ein Hund überhaupt ist… Häufig läuft das kühle Nass im Nachgang noch mit Speichel vermengt dein Kinn hinab. Es stört dich nicht, schließlich gibt es niemanden vor dem du deine Tischmanieren rechtfertigen müsstest. Niemandem, von dem du weißt zumindest.
Wenn du fähig wärst, logische Zusammenhänge zu erschließen, wüsstest du schon längst, dass du nicht allein in deiner Welt bist. Es ist keine außerweltliche Macht, die dich am Leben hält, dir das Nötige zum Überleben Tag ein Tag aus reicht, von der du abhängig bist, da du ohne sie elendig verhungern würdest. Nein, es ist eine Person, ein Mensch, wie du, der sich an den Grenzen deiner Welt entlangbewegt, jeden deiner Schritte verfolgt und ein hehres Interesse daran hegt, es auch weiterhin tun zu können.
Diese Person ist bei dir, seit du das Licht der Welt erblickt hast. Sie hat dich versorgt, als du es noch nicht selbst konntest, hat dich gefüttert und schlafen gelegt. Und auch später noch, hat sie dir hin und wieder Besuche abgestattet, ist in deine Welt eingedrungen. Allerdings nur im Notfall, wenn du ernsthaft krank wurdest, zum Beispiel. Krank genug, dass du daran hättest sterben können und ein simples Heilmittel im Essen vermengt, nicht mehr reichte, da du womöglich nicht einmal mehr fähig warst es selbstständig zu dir zu nehmen.
An diese Episoden erinnerst du dich jedoch in diesem Fall nicht, da dein ohnehin schwacher Verstand dann so weit ins Delirium abgedriftet ist, dass sie höchstens als flackernde Bilder vor deinem inneren Auge hängen; so schnell kommen und gehen, dass du kaum die Chance bekommst, sie näher zu betrachten.
Das ist sie also, die Welt, in der du geboren wurdest, die Welt, in der du sterben wirst.
Ein fünf Quadratmeter großes Loch, mitten im Nirgendwo, welches von einem gnadenlosen, aber auch fürsorglichen Gott regiert wird. Du weißt es natürlich nicht, doch dein Leben ist eng mit dem seinen verknüpft. Stellt das Schicksal eines Tages sein grausames Naturell unter Beweis und rafft Gott vor dir dahin, besiegelt dies auch deinen Verlauf.
Was wirst du tun, wenn die Sonne mehrfach über dir hinfort zieht, ohne dass die Klappe sich öffnet? Wenn der Hunger sich langsam in deine Eingeweide schleicht? Wenn du dich vor Schmerzen zu krümmen beginnst, am ganzen Leibe zitternd, dein Hirn rasend, sowohl vor Pein als auch vor Wahnsinn, weil selbst deine stumpfen Gedanken plötzlich auf ein weiteres Minimum degradiert werden? Wenn alles in dir nur noch nach Einem verlangt: Essen, Essen, Essen!
Nur, dass du dein Verlangen nicht einmal in ein solch einfaches Wort kleiden könntest, weil es dir gänzlich fremd ist. Es wäre nur ein Instinkt, der dich hinter deinen Augen pochend unablässig anschreit, bis er dich zwingt ganz und gar Schreckliches mit dir selbst anzustellen.
Wie würde es beginnen? Wirst du deine brüchigen Fingernägel in deiner nicht enden wollenden Qual an dem steinernen Boden schaben, bis sie restlos zersplittern und deine blanken Fingerkuppen über dem rauen Untergrund schleifen, wobei sie irgendwann aufreißen und blutige Schlieren hinterlassen? Wird der Eisengeruch auf unnatürliche Art deinen nagenden Appetit anregen?
Wie verlockend wird es plötzlich scheinen, dir die Finger zwischen die Lippen zu schieben, die zähe Flüssigkeit auf der Zunge zu schmecken? Doch das wird dir nicht genügen. Unweigerlich wird sich dir irgendwann die eine Frage auftun, gegen die du dich mit aller Gewalt wehrst: Wie dramatisch ist schon der Verlust einiger Gliedmaßen im Vergleich zur heilversprechenden Erlösung von deinem nicht enden wollenden Leid? Und vor allem, wie brauchbar sind deine Zähne, um sie zu zerreißen?
Aber nicht so schnell. Bevor es so weit kommt, würde sich beim erstmaligen Ausbleiben eines gewohnten Ablaufs, zuvor eine dir bis dahin unbekannte Empfindung in deine Seele schleichen: Nervosität.
Du weißt nicht, was Zeit ist – nur eine weitere Maßeinheit, um die Welt greifbarer zu machen, in diesem Fall die Vergänglichkeit von allem – und dennoch hast du ein Gespür für das Verstreichen dieser entwickelt. Selbst wenn die Jahreszeiten, die Dauer der täglichen Sonnenration deiner Welt verkürzen und verlängern, bleiben dir die in absoluter Regelmäßigkeit erfolgenden Mahlzeiten, nach denen du dich mittlerweile so sehr richtest, dass ein Ausbleiben dieser sofort auffallen würde.
Dein Leben mag in begrenzten Bahnen verlaufen, um nicht zu sagen, es ist monoton. Dafür wartet es mit angenehm wenigen Überraschungen auf. Abgesehen vom Wetter ist jeder Tag der gleiche. Anderen wäre es langweilig, dir hingegen, die du seit Beginn deines Lebens jede Stunde so verbracht hast, kommt es äußerst gelegen, da du mit etwaigen Veränderungen nicht umgehen könntest. Wie eben solchen, die einen gravierenden Mangel an Ernährung nach sich ziehen…
Bevor du Gefahr liefst dich auch nur dem Verhungern zu nähern, würdest du vermutlich schon durchdrehen. Die Mauern deiner Welt sind dir altvertraut, aber in diesem Moment wären sie dein größter Feind, auch wenn du das nie so sehen könntest. Und dennoch, womöglich würde ein Teil von dir dich dazu verleiten eben diese Gefahr einreißen zu wollen.
Wütend würdest du gegen sie hämmern oder an der Tür kratzen, den Schmerz dabei ignorieren, ebenso das hervortretende Blut. Was sind schon ein paar geschwollene Hände, im Tausch gegen die noch so geringste Chance seinen gewohnten Alltag zurückzubekommen?
Nur dass es keine Chance gibt, nicht den Hauch davon. Du könntest noch so viel hämmern, deinen Kopf gegen stählerne Hindernisse schlagen, dabei unverständlich stöhnen und ächzen, sogar deine Stimmbänder wiederentdecken und zögerlich zu schreien beginnen, doch es würde nichts bringen.
Deine Welt ist ein Gefängnis, aus der es kein Entkommen gibt. Nicht für dich, nicht aus eigener Kraft heraus.
Gut, dass du dir um dergleichen keine Gedanken machen brauchst. Noch läuft jeder Tag so ab, wie er es soll, wie du es gewohnt bist. Noch wacht Gott über dich und sorgt dafür, dass es auch so bleibt.
Aktuell herrscht Winter. Du hast keine Bezeichnung dafür, weißt nur, dass die kalte Zeit wieder da ist und das auf sie die folgt, bei der dir immerzu die das Organ juckt, mit dem du die Ankunft deiner Versorgung in der Regel bemerkst, bevor du sie siehst.
Aufgrund der Temperatur verbringst du die meisten Stunden unter deiner lauschig warmen Decke. Wenn du morgens aufwachst, während es noch dunkel ist, bleibst du etwas länger als zu jeder anderen Jahreszeit im Schlafgemach. Zusammengekauert liegst du auf deinem Bett, schaust in deine Welt hinein und wartest. Eine Tätigkeit, der du fast ununterbrochen deine Aufmerksamkeit widmest, wenn du nicht gerade isst, schläfst oder… Nein, viel mehr gibt es nicht in deinem Leben.
Also liegst du da, starrst in das Nichts, während selbige in deinem Kopf herrscht.
Ohne Anregung jedweder Art, mangelt es dir nicht nur an Fantasie, du besitzt schlichtweg keine. Alles was dein Hirn an Bildern gespeichert hat, sind vier graue Wände, ein grauer Boden, eine graue Decke, so wie die spärliche Einrichtung deiner kleinen Welt. Oh, und natürlich der endlose Himmel weit über dir. Gelegentlich regt zumindest dieser tatsächlich etwas in dir an. Eine Form von Sehnsucht, die du der Ahnung zu verdanken hast, dass es da draußen noch mehr gibt als graues Einerlei.
Da du jedoch nie mehr als das siehst, sind sämtliche selten aufkommenden Träumereien, die deinen Geist ereilen, flüchtig und vor allem außerordentlich abstrakt. Da ist nichts, womit du sie vergleichen könntest, kein Bezugspunkt, der eine Interpretation oder nähere Analyse zulassen würde.
Eine weitere Reizung deiner Sinne stellt immerhin deine abwechslungsreiche Nahrung dar, jedoch ist sie nur in der Hinsicht reich, dass sie sämtliche notwendigen Nährstoffe enthält. Insofern verfolgt sie allen voran ein sehr pragmatisches Ziel und hat nicht den Anspruch möglichst viele Geschmacksrichtungen auszuloten.
Schrecklich verkümmert hingegen, ist dein Gehör. Alles was es gewohnt ist, ist das Öffnen und Schließen einer Klappe, so wie das Schaben eines Tabletts über den Boden. Weiterhin kennst du die kläglichen Laute deiner Kehle, deine Schritte und das Prasseln des Regens. Darüber hinaus nicht viel mehr.
Obwohl sie ein alter Vertrauter ist, erscheint dir die Stille manchmal regelrecht dröhnend, wie ein schweigendes Donnern, ein tosendes Unwetter, das du allein wahrnimmst, dass dich jedes Mal, wenn es über dich hereinbricht, deinen ohnehin schon labilen Verstand ein winziges Stückchen näher an den Wahnsinn führt.
Heute jedoch hörst du lediglich nichts. Eine Wohltat für jemanden wie dich, der du in deiner eigenen, kleinen, abgekapselten Sphäre lebst.
Nach einer Weile des Wachliegens richtest du dich auf. Dein Rücken und deine Glieder schmerzen, du brauchst Bewegung, also richtest du dich auf. Augenblicklich kriecht die Kälte unter deine Decke, auch wenn du es gewohnt bist, sie bis in die Knochen zu spüren, ist es dir unangenehm, weswegen du den Stofffetzen enger um deine Schultern ziehst. So sitzt du die nächste Stunde still und leicht zitternd da.
Während die Sonne sich langsam über den Horizont schiebt und das Loch in deiner Decke in ein morgendliches Rot taucht, geht ratternd die Klappe in der Tür auf und ein Tablett wird hereingeschoben. Du nimmst dir noch ein paar Sekunden, lässt die Wärme noch ein wenig ihre wohltuende Wirkung vollbringen, doch dann siegt die Gewohnheit und du schiebst deinen knochigen Körper über die Bettkante hinaus, zum einzigen Fluchtweg aus dieser Zelle, die du deine Welt nennst, hin.
Als deine Füße den Boden berühren, ist er bei weitem nicht so kalt wie du erwartest. Dass passiert hin und wieder, vor allem an äußert brutalen Tagen, an denen die Thermometeranzeige in besonders tiefe Regionen abrutscht. Du hast es nie hinterfrage, diesen Umstand einfach als Segen des Gottes, der über dich wacht, hingenommen.
Er ist gnadenlos, aber auch fürsorglich… Er will nicht mit ansehen, wie du jämmerlich erfrierst, deswegen besitzt deine Welt einen wärmenden Erdkern, der sich Fußbodenheizung nennt. Jedoch ist er nicht für sein verschwenderisches Wesen bekannt, weswegen sie nur eingeschaltet wird, wenn er es für nötig hält und vor allem gerade so warm, dass sie ein frühzeitiges Dahinscheiden deinerseits verhindert.
Jetzt sitzt du vor deinem Frühstück. Eine Zusammensetzung aus unterschiedlichen Salaten und eine Scheibe Brot. Dazu Wasser, wie immer. Lustlos, unmotiviert und ein wenig widerstrebend schiebst du alles in dich hinein. Die Kälte ist so beißend, dass jedes Hervorstrecken deiner Hand aus dem bereits abgekühlten Versteck unter der Decke eine kleine Plage ist. Außerdem ziept es schon wieder in deinem Mundraum. Eine Entzündung, aufgrund mangelnder Pflege, die sich immer mal wieder bemerkbar macht.
Nach dem Mahl begibst du dich in die Mitte des Raums. Es ist unbequem, aber dem Bett gebührt die Nacht. Du weißt selbst nicht warum du dich so strickt daran hältst. Es ist eine Konstante, eine Art deinem Leben den Anschein von Ordnung zu geben. Wenn alles durcheinander geriete, wenn du die Kontrolle über einige wenige gewohnte Abläufe verlieren würdest, wer weiß, ob dieses Chaos nicht auch auf andere Bereiche deines Lebens übergreifen könnte…
Was, wenn die täglichen Rationen eng damit verknüpft sind, dass du jeden Morgen in etwa um die gleiche Zeit aufstehst? Nie würdest du diesen Zusammenhang tatsächlich erdenken, doch deine Instinkte mahnen dir zur Vorsicht. Außerdem, warum sollten Gewohnheiten geändert werden, solange sie keine – weiteren – negativen Folgen nach sich ziehen?
Also sitzt du hier, wie immer, wie jeden Tag. Ein weiteres Jahr. Frierend. Schaust stundenlang in die Ecke, an die Wand oder in den Himmel. Manchmal sinkt dein Kopf ein wenig herab und du döst ein paar Minuten. Manchmal wiegst du dich langsam hin und her, während deinem Hals unrhythmische Töne entfleuchen. Manchmal berührst du dich sanft an einer bestimmten Stelle, von der du vor einiger Zeit entdeckt hast, dass es dir wohlige Schauer durch den gesamten Körper jagt.
Heute jedoch ist es dir zu kalt für alles davon. Du sitzt nur stumm da, in deine Lumpen gehüllt, hältst die Augen geschlossen, atmest ruhig und beständig, wartest darauf, dass… es weitergeht. Der Tag seine Bahnen und vorüberzieht, bevor das Spiel von vorn beginnt.
Da ist nicht mehr, nein. Der Himmel über dir, der dich verhöhnt, der dich auslacht, dich mit falschen Versprechungen lockt, ist nur eine Illusion, eine Lüge. Deine Welt ist fünf Quadratmeter groß. Darüber hinaus existiert nichts.
Irgendwann wird das Mittag serviert. Erneut begibst du dich zur Tür, nimmst das Essen in Empfang, verspürst dabei keine Dankbarkeit, weil es zu deiner täglichen Routine gehört. Wie solltest du für etwas dankbar sein, von dem du nicht einmal wirklich weißt, dass es lebensnotwendig ist? Von dem du nicht weißt, wie es sich anfühlt, ohne es zu leben?
Du betrachtest das Tablett nicht genauer. Greifst einfach blindlings hin, schnappst dir das nächstbeste was du zu fassen bekommst und schiebst es dir zwischen die Lippen. Wie ein Automat kaust und schluckst du mechanisch, ehe du erneut die Hand ausstreckst. Diesen Vorgang wiederholst du, bis deine Fingerspitzen nur noch blankes Material ertasten. Dann beugst du dich herab, trinkst ein paar Schlucken und richtest dich wieder auf.
Normalerweise würdest du nun aufstehen, um zu deinem Platz unter dem Loch zurückzukehren oder in die Ecke zu gehen, in der du dich erleichterst, doch dieses Mal bleibst du stattdessen einfach sitzen.
Eine Weile lang betrachtest du die Tür vor dir. Die Augen stumpf, von einem Nebel verklärt, leer. Du wirst schläfrig. Dein Kopf sackt nach vorne. Klonk. Ein Blitz, der durch deine Stirn fährt und sich über den gesamten Schädel zieht. Ruckartig fährst du zurück. Das tat weh.
Jedoch, da ist noch etwas anderes. Ein unbekanntes Gefühl, dass sich irgendwo auf Brusthöhe ausbreitet. Es fühlt sich gut an, seltsam, aber gut.
Aus einer verrückten Idee heraus, versuchst du es noch einmal. Du lässt dich, dieses Mal bewusst, nach vorne fallen. Klonk. Schmerz. Wie erwartet. Aber auch wieder diese Regung, die mit Verzögerung eintritt und noch einen Moment lang in deinem Inneren nachhallt, zusammen mit dem Geräusch, dass nicht sofort verklingt.
Gleich noch einmal. Klonk. Jetzt passiert etwas Seltsames. Ein Laut kommt aus deiner Kehle, den du bis dahin noch nie gehört hast. Dein Gott hätte ihn wohl als Glucksen bezeichnet.
Da das Gefühl so kurzweilig ist, nimmst du den Stich auf Kopfhöhe in Kauf, um dein Experiment fortzuführen.
Klonk. Das Glucksen wiederholt sich, es reiht sich aneinander.
Klonk. Jetzt könnte man schon fast von einem Kichern reden.
Klonk. Du prustest kurz und erschreckst darüber vor dir selbst. Dergleichen hast du noch nie von dir gegeben. Es fühlt sich immer besser an.
Klonk. Langsam wird der Schmerz intensiver, aber gleichsam auch das Gelächter. Ganz recht, es schwillt mehr und mehr an.
Klonk. Dir wird kurz schwarz vor Augen, so oft hast du dir den Kopf nun schon angestoßen, doch dafür lachst du nun aus vollem Halse. Die Geräuschkulisse schallt von den Wänden wieder, erfüllt deine Welt mit einer noch nie dagewesenen Melodie, was es dir immer leichter macht mehr und immer mehr solcher Klänge aneinanderzureihen, während du dich selbst immer leichter zu fühlen beginnst. Du bist wie im Rausch, förmlich ekstatisch.
Doch auch der Schmerz schwillt an und nicht nur das. Dein Lachen wird von Aussetzern begleitet. Aus deiner Stirn trofft bereits der rote Lebenssaft, die freudige Erregung wandelt sich langsam zu einem Flackern, wird zur Verzweiflung, weil sie sich ihrem Ende neigt. Das Fröhliche klingt nach und nach gezwungen, weil eine tiefe Finsternis sich darüber hermacht, die du mit Gewalt zu vertreiben versuchst. Und sei der Preis dafür auch der letzte Funken deines noch halbwegs intakten Verstandes.
Dazu soll es allerdings nicht kommen. Nicht heute, nicht an diesem schicksalhaften Tag, der nicht nur dich, sondern auch deinen gnadenlosen und fürsorglichen Gott, ganz plötzlich und unerwartet ereilt.
„Hier muss es sein.“
Vier Worte, die klar und deutlich an dein Ohr gelangen. Statt dass sie für dich jedoch irgendeine Sinnhaftigkeit in sich tragen, lassen sie dich lediglich erstarren.
Mit weit aufgerissenen Augen starrst du sie an, die Tür, die für dich immerzu ein unüberwindbares Hindernis dargestellt hat und von deren anderer Seite auf einmal unbekannte Laute zu dir dringen. Die andere Seite… Doch nein, das kann nicht sein. Es gibt keine andere Seite, es gibt nur diese vier Wände, diese fünf Quadratmeter, nur deine kleine, heile, funktionierende Welt!
Du beginnst dich zu fragen, was du nur getan hast. Ist sie das, die Strafe dafür, dass du von dem Plan abgewichen bist? Du hättest einfach zurück auf deinen gewohnten Platz gehen sollen. Einfach starren und schlafen und warten sollen. Doch nein, du musstest dich hingeben. Wärst du religiös, du würdest es als Frevel, als Sünde ansehen.
So jedoch verspürst du nur dies: Angst. Angst vor dem großen Unbekannten, dass sich dir nähert.
Plötzlich erschallen gutturale Laute. Ein Brüllen und Toben. Jemand ruft und schreit und plärrt und wütet. „Lasst sie in Ruhe!“, kreischt er. Und: „Sie ist mein!“
„Schafft ihn hier weg!“, verlangt jemand anderes in knurrendem, angewiderten Ton.
Du verstehst rein gar nichts davon. Der Lärm lässt nur dein Herz schneller schlagen und dir den Schweiß auf der Stirn stehen, welcher sich mit deinem Blut vermischt.
Da kommt dir plötzlich die rettende Idee. Vielleicht hast du noch eine Chance! Eilig springst du auf, wobei du deine Decke verlierst und sprintest los. Dann geht dir jedoch auf, dass du niemals ohne sie durch den Raum flitzen würdest, nicht zu dieser Jahreszeit zumindest, weswegen du zurückspurtest, dich bückst, den Fetzen aufnimmst und wieder los rennst. Dabei bist du so ungeschickt, dass du über das notwendige Element deines Plans stolperst und der Länge nach zu Boden gehst. Der harte Untergrund schürft dir Knie, Arme und Teile deines Gesichts auf. Du spürst es kaum, nimmst es als gerechte Strafe hin.
Einmal zu Boden gegangen, kriechst du auf allen Vieren weiter. Du musst nur die Mitte erreichen, dich unter den falschen Himmel setzen. Und warten. Einfach nur warten.
Du hast gerade einmal die Hälfte des Weges hinter dich gebracht, da ertönen vertraute und zugleich fremde Geräusche. Das Rattern der Klappe. Nur, dass es nicht die Klappe ist, die sich öffnet, sondern die dazugehörige Tür. Du hast es schon mehrfach gehört, warst jedoch entweder zu jung oder zu krank, um es wirklich zu realisieren.
Dieses Mal bist du alt und gesund genug. Es jagt dir einen Mordsschrecken ein. Fühlt sich an als würde deine Welt, wie eine grimmige Gottheit einen tiefen Atemzug nehmen, ehe sie sich aufmacht, die Ländereien der Ungläubigen mit Blitz und Donner zu strafen.
„Oh mein Gott“, haucht jemand. Du ziehst die Decke über deinen mageren Leib. Hoffst, dass was auch immer jetzt geschehen mag, schnell vorüber geht.
„Das ist sie“, sagt jemand anderes. „Geht zurück Leute, ich mache das.“ Schritte die sich nähern.
Du kauerst dich immer weiter zusammen, versuchst dich möglichst klein zu machen, nicht aufzufallen. Ein sinnloses Unterfangen, da du am ganzen Körper bebst.
Jemand, etwas, ein außerweltliches Ding, dass nicht hierhergehört, kniet sich direkt neben dich. Seine Präsenz zu spüren, macht dir mehr Angst als alles andere zuvor. Es treibt dir die Tränen in die Augen, was dich zusätzlich irritiert, weil du nicht verstehst, was in dir vorgeht.
Als eine Hand sich auf deine Schulter legt, zuckst du heftig zusammen, weswegen sie sofort zurückgenommen wird. „Ruhig“, erklärt die überirdische Stimme. „Ich will dir nichts tun, ok?“
Du verstehst kein Wort, begreifst die sanfte Tonlage aber als wesentlich beruhigender als das Brüllen und Toben von zuvor.
„Ich werde jetzt die Decke ein wenig runterziehen, in Ordnung?“
So viele Wörter, so wenig Inhalt. Was will dieses Wesen? Du bekommst es schneller mit, als dir lieb ist, krallst dich in das einzige, was dich noch von diesem Fremden trennt, wehrst dich mit aller Gewalt dagegen, in eine Realität gezogen zu werden, die nicht die deine ist.
Aber dein verkümmerter Körper ist zu schwach. Obwohl der Eindringling keine großartige Kraft aufwendet, ist es ihm ein Leichtes, den schützenden Mantel zumindest so weit von dir zu heben, dass dein den Kopf nicht länger darunter liegt. Als letzten Fluchtversuch, schiebst du die Hände vor dein Gesicht. Was du nicht sehen kannst, ist auch nicht da.
„Oh gottverdammte…“ Ein Stöhnen aus dem Hintergrund.
„Tun Sie mir einen Gefallen?“, fragt die Stimme, die dir am nächsten ist. „Gehen Sie.“
„Aber…“
Es braucht keinen weiteren Wortwechsel. Blicke werden ausgetauscht, es folgt ein Nicken als Zeichen des Verstehens. Das hier wird eine Weile dauern, lautet die stumme Botschaft.
Mehrere Schritte die sich entfernen. Stille. Dann: „Ich werde hier bei dir sitzen und warten, wenn das ok ist? Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.“
Du verstehst nicht. Rein gar nichts. Und dennoch… Zumindest ein weit entferntes und doch vertrautes Gefühl erreicht dich. Fürsorge. Nicht die, eines Gottes, der sein Lämmchen füttert, um es unentwegt beobachten zu können, sondern die einer Mutter, die gerade das Kind geboren hat, dass sie zuvor neun Monate mit sich herumtrug. Du kannst dich nicht daran erinnern, doch die Empfindung klingt wie ein Echo aus der Vergangenheit nach.
Nichtsdestotrotz bist du misstrauisch. Zu Tode geängstigt gar. So bald wird sich nichts aus deiner Lähmung lösen.
Immerhin, dir wird gestattet das zu tun, was du am besten kannst: Warten. Einfach still sein, nichts tun, nichts denken, nur bedingt fühlen und warten.
Die Sonne zieht über dich hinweg, wandert ihre Bahn über den falschen Himmel entlang. Nach ein paar Stunden macht sich das Gefühl der Gewohnheit in dir breit. Es wird Zeit für das Abendessen. Du gibst nicht nach. Der Tagesrhythmus ist ruiniert. Du hast ihn mit deiner gedankenlosen Handlung zerstört.
Dem folgenden Drang kannst du jedoch nicht mehr widerstehen. Die Stunde, die dich für gewöhnlich in dein Bett zieht, rückt langsam aber stetig immer näher. Auch beginnt dein geschundener Körper, von der steifen Lage und der Kälte erneut zu schmerzen. Außerdem macht sich schon seit Längerem deine Blase bemerkbar. Deine Defensive kann nicht ewig anhalten, dessen bist du dir bewusst.
Und doch versuchst du den Moment so lange wie möglich hinauszuzögern. Die Angst ist einfach zu groß. Du bist im Begriff alles zu verlieren, alles was du kennst und von dem du geglaubt hast, dass es absolut wäre. Nicht nur der Himmel über dir ist eine Lüge, sondern auch deine Welt, vor allem aber deine gesamte Existenz.
Schließlich ist es so weit. Der Augenblick der Wahrheit ist gekommen. Der Stunden des erfolglosen Verleugnens und sich gegen die Veränderung Sträubens sind genug vergangen. Es wird Zeit dem unbekannten Grauen ein Gesicht zu verleihen.
Widerstrebend, zögerlich und zitternd nimmst du die Hand herunter. Noch sind deine Augen fest zusammengepresst. Noch kämpfst du mit schwächer werdendem Widerstand dagegen an. Schließlich jedoch reißt du sie auf. Was du erblickst ist schrecklich fremd und bekannt zugleich.
Ein menschliches Gesicht, mit weichen Zügen. Blaue, sanfte und doch eisenharte Augen die auf dich herabsehen. Schmale Lippen, zu einem zaghaften Lächeln verzogen. Wo das Antlitz beinahe so etwas wie Vertrauen weckt, schreckt dich die Montur, in der der schlanke, durchtrainierte Körper steckt jedoch ab. Du weißt nicht was Krieg ist, dein Gegenüber vermittelt allerdings den Eindruck dazu bereit zu sein, jederzeit in einen solchen zu ziehen. Nun ja, zumindest ist sie auf alle möglichen Situationen und deren Eskalationen vorbereitet.
Auch wenn deine Angst ein winziges Bisschen abgenommen hat, wünschst du dir nichts sehnlicher, als dass die unerwünschte Person einfach geht, die Tür hinter sich schließt und alles wieder wie zuvor werden lässt. Doch so einfältig zu glauben, dass das jemals geschehen könnte, bist nicht einmal du. Du spürst, dass die Zeit der Gewohnheit nunmehr vorbei ist und ein neuer Abschnitt deines Lebens beginnt. Ob du nun willst, oder nicht.
Das Betrachten deines Gegenübers, löst scheinbar keine Reaktion in ihr aus. Sie schaut nur weiterhin ruhig auf dich herab. Wartend, so wie sie es angekündigt hat. Also ist es an dir, den ersten Schritt zu tun. Nur wie?
Ein leises, kaum wahrnehmbares Stöhnen, fungiert als erster zögerlicher Versuch der Kontaktaufnahme.
Als ob du einen Schalter umgelegt hättest, kommt Bewegung in die Fremde. Automatisch willst du dich wieder zurückziehen, vor ihr fliehen. Auf dein Bett vielleicht, obgleich die Zeit zum Schlafen noch nicht gekommen ist. Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielen würde…
„Ist schon in Ordnung“, sagt die andere. „Ich will dir nichts tun.“
Das mag schön und gut sein, für dich klingt sie jedoch, wie ein Außerirdischer, der in fremden Zungen spricht, wodurch jedes Wort eine Morddrohung sein könnte, ganz gleich wie einladend es auch artikuliert wird.
Ein seltsamer Gesichtsausdruck tritt in die Miene der anderen. Traurig, hättest du ihn interpretiert, wenn du gewusst hättest, wie Trauer aussieht. „Du verstehst kein Wort, nicht wahr?“ Gut erkannt. „Lass uns etwas anders versuchen, ja? Deine Wunde ich… ich muss sie mir ansehen.“
Plötzlich kommt sie näher, langsam zwar, vorsichtig gar, als fürchte sie, du könntest ihr etwas tun und dennoch zuckst du zusammen, kriechst ein wenig zurück. Augenblicklich hält sie inne, hebt die Handflächen nach oben, wartet, schaut dich ruhig an und startet einen erneuten Versuch. Dieses Mal bleibst du liegen, bebend zwar, aber um den krampfhaften Versuch bemüht, deine Panik niederzuringen. Du kannst dich eh nicht verstecken, wozu sich also wehren?
Ihre Hand kommt näher und immer näher, du lässt sie nicht aus den Augen. Als sie sacht deine Stirn berührt, zuckst du wieder zusammen, bleibst jedoch standhaft. Sanft streicht sie dein wirres Haar zur Seite, wobei sie ihre Aufmerksamkeit ganz der Wunde widmet. Kaum merklich schüttelt sie den Kopf. „Sieht böser aus, als es ist, muss aber definitiv versorgt werden“, murmelt sie sich selbst zu.
Nachdem diese grobe Untersuchung beendet ist, lässt sie wieder von dir ab. Seltsamerweise kommt in dir der Impuls auf, sie daran zu hindern. Die Nähe zu einem anderen Wesen irritiert dich immer noch, gleichwohl verspürst du zaghafte Sehnsucht danach in dir aufsteigen.
Die Fremde atmet tief durch. „Wir müssen dich hier rausschaffen.“ Dabei schaut sie zur immer noch offenstehenden Tür herüber. Du folgst ihrem Blick und auch, wenn du nur bedingt begreifst, verkrampft sich dein Herz. Was auch immer dort draußen liegen mag, es wird dein gesamtes Weltbild in ihren Grundfesten erschüttern. Du weißt nicht, ob du eine solche Erfahrung zu überstehen fähig bist.
Die Wahl dazu, dich dieser zu verweigern, lässt man dir allerdings auch nicht mehr. Der Riegel ist zur Seite geschoben, die Wahrheit in deinen winzigen Kosmos eingedrungen. Selbst wenn die Tür wieder geschlossen werden würde, du könntest nicht mehr zurück. Das Bewusstsein, dass deine Welt nur der Bestandteil von etwas Größerem ist, wird dich nie mehr verlassen. Schlimmstenfalls wird die Neugier, die dich jetzt noch ängstigt, dich irgendwann überwältigen und wenn die Entscheidung dann hinauszugehen, nicht mehr besteht, wäre der Preis, den du zu zahlen hast, ungleich höher.
Ein weiteres Mal kommt dir eine Hand näher, aber nicht um dich zu berühren, sondern um vor dir zu verharren. Eine einladende Geste, die du wie so vieles, nicht verstehst. Deswegen starrst du sie nur ratlos an. Sekunden vergehen, dehnen sich zu Minuten. Deine Augen rucken zur Tür herüber und zurück. Der Drang hinauszugehen wächst, ebenso wie das Grauen vor dem, was dich da draußen erwarten könnte. Welche verzerrte Schrecken und grässliche Kreaturen.
Du bist nicht länger die Gefangene einer kleinen Zelle mit einem alles überwachenden Gott als Kerkermeister. Du bist frei und doch eingesperrt in deiner Seele und deinem Verstand.
Einem Instinkt folgend, dem du dich einfach hingibst, statt ihn länger zu hinterfragen, streckst du deine eigene Hand aus und legst sich vorsichtig in die der Unbekannten. Die Berührung wirkt elektrisierend und ist dir ein wenig unangenehm. Dass die andere ein wenig breiter lächelt und dir zunickt, wertest du als gutes Zeichen, obgleich du dir nicht sicher bist.
Sie steht langsam auf, fordert dich auf es ihr gleichzutun. Du leistest mit schwachen Beinen Folge.
Sie macht einen Schritt, wartet. Du zögerst, ziehst deine Decke enger um den Körper, veranlasst deinen Körper dazu, der nur widerstrebend gehorcht, sich ebenfalls zu bewegen.
Sie macht einen weiteren Schritt, energischer dieses Mal. Du tust es ihr gleich, schneller, ein wenig zumindest.
So geht es weiter, bis ihr kurz vor der Tür zum Stehen kommt. Jetzt ist es so weit. Sobald du die Schwelle überschreitest, gibt es kein Zurück mehr. Dein Herz pocht rasend und laut, du hörst es förmlich, spürst wie es Leben durch deine Adern pumpt. Leben, dass zuvor keinem Ziel gefolgt ist, dass nur des Erhaltens wegen pulsiert hat.
Wenn auch offen, das Hindernis besteht weiterhin. Dein Herz kann noch so wild schlagen, drängen, vielleicht sogar hoffen, die Angst lähmt dich. Dein Hals ist trocken, dein Kopf so leer wie noch nie. Du bist schwach, stehst kurz vor dem Zusammenbrechen, kurz vor der Kapitulation.
Nur, wenn du dich jetzt ergibst, wirst du nie entkommen. Selbst wenn man dich hier herausschleift, dein Geist wird auf ewig ein Gefangener bleiben. Und auch, wenn du es nicht greifen, nicht erklären, nicht definieren kannst, so herrscht doch der Wunsch in dir, dagegen anzukämpfen. Selbst wenn es deinen eigenen Untergang nach sich zieht, du musst einfach wissen, was außerhalb deiner Welt noch alles existiert.
Also machst du ihn, den finalen Schritt, der dich in die Freiheit entlässt. Nach viel zu vielen Jahren, bist du das erste Mal nicht von den immergleichen Wänden umgeben und es fühlt sich… kaum anders an als zuvor. Und dennoch stellt es dein gesamtes Leben auf den Kopf. Du weißt es nur noch nicht und vor allem nicht, in welchem Umfang.
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Die Minuten, Stunden, Tage, Wochen und Monate danach sind eine Tortur.
Du siehst unzählige neuartige Gesichter. Besorgte, wütende, nicht begreifende. Von Tag zu Tag lernst du mehr von ihnen kennen, die meisten, weil sie dich versorgen oder untersuchen wollen. Du bist jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie viele Götter in der Sphäre um deine Welt herum existieren.
Du hörst Stimmen, so viele und so laute, dass sie in deinem Kopf dröhnen, dir Schmerzen bereiten. Ein Umstand, der noch viele Tage lang anhält, vor allem weil außerhalb deiner bekannten Welt ein ununterbrochenes Grollen zu herrschen scheint. Wahrhafte Stille, so stellst du fest, ist ein äußerst seltenes Gut.
Du fühlst Dinge, die du nie erwartet hast zu fühlen. Das warme, ungebrochene Licht der Sonne. Deinen Körper umspielender Wind. Heißes Wasser, tief genug, um darin einzutauchen und in Träumen zu versinken. Textilien mit unterschiedlicher Beschaffenheit, die auf deine Statur angepasst sind. Und noch so vieles mehr.
Du riechst verschiedenste Gerüche, so vielfältig in ihren Aromen, dass sie dich förmlich benebeln.
Und auch dein Gaumen wird mit Geschmäckern verwöhnt, die so intensiv sind, dass es dich beinahe überwältigt.
Oftmals war dir das Alles zu viel, zu dröhnend, zu grell, zu bunt, zu dicht und dann wieder zu offen.
Als du den Himmel zum ersten Mal ohne jede Behinderung deiner Sicht erblickt hast, weit und endlos, da hattest du das Gefühl hineinzufallen. Ein offenes Feld hat dir eine Vorstellung davon gegeben, wie winzig und unbedeutend du bist. Tausende von Götter um dich herum, haben dich wiederum vergessen lassen, dass sie etwas Besonderes sind. Dass du etwas Besonderes oder Einzigartiges bist.
Anfänglich hast du kaum glauben können, dass sie überall und zu jeder Zeit Nahrung parat zu haben schienen. Dann wiederum waren sie immerhin Götter, also erschien es dir nur logisch. Genauso wenig hast du ihre scheinbare planlosigkeit hinterfragt. Wie sie ziellos umherirren, Träumen und Zielen hinterher, die allein sie verstehen mochten.
Irgendwann jedoch hast du begriffen, dass sie wie du sind, nur anders. Anders aufgewachsen, mit anderen Erfahrungen und Werten. Dennoch identifizierst du dich nicht als einer der ihren. Strenggenommen erkennst du dich selbst nicht einmal als lebendes Wesen an. Du bist dir deiner selbst, selbst nach Monaten noch nicht bewusst und wirst es wohl auch nie sein.
Dennoch hast du gelernt dich anzupassen, halbwegs zumindest.
Du hast dir rudimentäre Sprachkenntnisse angeeignet, vor allem aber Gesten, mit denen du dich verständigst. Wörter sind… komplex und fühlen sich für dich immerzu falsch an. Wozu Dinge benennen, die die Sinne auch ohne jeden bezeichnenden Bezug zu erkennen in der Lage sind? Es erscheint dir sinnlos.
Generell überfordert dich das Leben außerhalb deiner Welt. Alles ist stets so hektisch und schrecklich kompliziert. Menschen – so nennen sich die Götter – pflegen unnötig vertrackte Beziehungen zueinander.
Sie achten auf ihr Erscheinungsbild, darauf was sie wann essen, wie sie miteinander umgehen, suchen verzweifelt nach Antworten auf Fragen, die sie selbst formulieren, streben nach Höherem, zwingen sich Einschränkungen auf, obwohl sie gleichwohl versuchen alles zu ergründen und zu kontrollieren.
Eines jedoch scheinen sie alle gemeinsam zu haben: Sie verlieren das Essenzielle aus den Augen. Sie vergessen beim Laufen auf ihren steinigen Pfaden, wobei sie sich die Steine selbst und gegenseitig vor die Füße werfen, das eine zu tun, was ihnen allen nur bis zu einem gewissen endgültigen Punkt vergönnt ist: zu leben.
Es ist seltsam, wie sie dich für das, was du durchmachen musstest, bemitleiden und dabei doch selbst nicht erkennen, dass auch sie nur Gefangene sind. Gefangene ihrer Konventionen. Ja selbst Gefangene physischer Grenzen. Ihre Mauern liegen zwar viel weiter auseinander als die deinen damals, doch im kosmischen Rahmen macht dies kaum einen Unterschied.
Du, die du diesen Aspekt der Menschheit schon nach kürzester Zeit erkannt hast, bist nicht in der Lage ihn in Worte zu kleiden und zeigst auch keinerlei Interesse daran dies in irgendeiner anderen Form zu tun. Du versuchst lediglich in dieser weiten Ebene zurechtzukommen, egoistisch, auf dich selbst bezogen, was dein gutes Recht ist, weil dir dein Leben bis hierhin verwehrt wurde.
Nur verliert dieses Leben langsam seine Magie. Du hast in kürzester Zeit so vieles erfahren und entdeckt – phantastische Kreaturen, die allgemeinhin Tiere genannt werden Beispielsweise –, was gleichsam nur ein Bruchteil dessen ist, was das Leben dir noch zu bieten hat und doch, genügt es dir bereits.
Menschen sind… anstrengend. Du verspürst eine gewisse Dankbarkeit für deine Rettung – mittlerweile hast du zumindest in Zügen die Bedeutung dieses Gefühls gelernt –, aber sie kam zu spät.
Wenn der Planet Erde ein Sandkorn im Meer des Universums ist, dann war deine Welt ein Molekül dieses Korns und du darin ein winziges Atom. Als solches gehörst du einem größerem Ganzen an, unzertrennlich bist du damit verbunden. Vor Monaten bist du deinem Gefängnis entkommen, vollumfänglich, doch nun wird es Zeit dahin zurückzukehren, wo du hingehörst.
Natürlich würde keiner der überfürsorglichen Menschen in deiner Nähe zulassen, dass du in deine kalte, graue Welt zurückkehrst. Sie ist zwar nicht länger ein „Tatort“ – was auch immer das bedeuten mag –, doch aber ein Mahnmal der menschlichen Grausamkeit – was auch immer das bedeuten mag… Du verstehst den Kern der Botschaft: Man lässt dich nicht nach Hause.
Allerdings sind die Verantwortlichen für dich durchaus in der Lage zu erkennen, dass ihre Welt niemals die deine sein wird. Sie bezeichnen es als Aufgeben, du als Segen.
Deine neue Welt, unterscheidet sich nur bedingt von der alten. Sie hat vier Wände, die sie eingrenzen. Der Untergrund ist weicher, die Decke besitzt kein Loch, spendet aber trotzdem auf eine unnatürlichere Art Licht. Dein Bett ist nicht mit dem Boden verankert, es ist kuschlig und warm. Du besitzt Kleidung, nicht nur eine Decke. Du hast die Möglichkeit eine richtige Toilette aufzusuchen.
Der größte Unterschied liegt in der Tür: Es obliegt dir, ob sie verschlossen oder offen sein soll und deine täglichen Mahlzeiten werden nicht durch eine Luke hereingereicht, sondern mit persönlichem Kontakt zu einem anderen Menschen. Doch selbst wenn du dich entscheidest sie zu öffnen und deine Welt zu verlassen, ist dein Bewegungsradius eingeschränkt.
Die Sphäre außerhalb deiner Welt teilst du dir mit anderen Menschen, die ebenfalls entschieden haben, kein Teil des allumfassenden Wahnsinns „da draußen“ zu sein. Die meiste Zeit meidest du sie, hin und wieder jedoch, wenn dir das endlose Warten leid wird, kann es nett sein ein wenig Gesellschaft zu haben.
Würde man dich fragen, du würdest antworten, dass du glücklich bist. Du verstehst nicht wirklich, was es heißt glücklich zu sein, sehr wohl aber, dass du weitaus zufriedener bist als noch in deiner alten Welt oder außerhalb von ihr.
Deine Welt ist fünf Quadratmeter groß. Sie bietet dir alles, was du zum Leben benötigst. Was solltest du mehr wollen?