
Ein tödliches Missverständnis
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Draußen türmten sich bedrohlich dunkle Wolken, und ein rauer Wind wehte. In der warmen Stube saßen zwei Personen: Der ein wenig in die Jahre gekommene Dr. Thomas, der noch sehr scharfsinnig und zuversichtlich für sein Alter wirkte, ihm gegenüber, sein neuster Patient – Steve. Dr. Thomas machte sich seine Notizen, der neue Patient hingegen musste sich noch nervlich sammeln. Nicht nur, da seine Gedanken überall wie Spielkarten verstreut waren, sondern auch, da dies das erste Mal war, dass er einen Fuß in eine derartige Praxis setzte. Insofern gab er sich noch recht reserviert.
Seine Mimik ein einzig kümmerlicher Ausdruck. Blässe und Tränensäcke garnierten es gänzlich, was dessen Wehmut nur noch mehr betonte. Zwei Bücherregale zu den Wänden, zwischen ihnen der kleine Tisch mit Papierkram, das Uhrticken im Hintergrund. Der Patient war nicht hässlich, nicht besonders schön, doch stand ihm eine gewisse Naivität zugeschrieben. Im Gegensatz dazu erstrahlte Dr. Thomas wie der heilige Erzengel. Ob dieser die Erlösung bringe, stand noch in den Sternen.
»Lassen Sie es mich verstehen, Steve…«, sprach der Therapeut.
»Sie sagen, Sie hätten einerseits die Präferenz zu Horror-Medien… speziell urbane Internetgeschichten. Andererseits sorgt der Konsum davon – sei es beispielsweise auch nur einen gruseligen Text zu lesen – für einen langfristigen Belastungszustand?« Steve nickte übertrieben. Seine Augen, die den birnenförmigen Kopf spickten, waren auf Dr. Thomas fixiert. Sein Mund stand leicht offen.
»Sie sind nun 33 Jahre alt… Ist es Ihnen möglich, zu beschreiben, wo ihre Angst herrühren könnte?«, fragte die ernste Mimik des Therapeuten.
Innerlich begann er zu beben: »Na ja, eigentlich ist es nur das eine Gruselritual, was mir so zu schaffen macht… was mich so zum Schwitzen bringt und mir angst und bange werden lässt, was mich nachts jeden Schatten, jeden Winkel im Haus überprüfen und mich unter jedes Bett schauen lässt.«
»Worum geht es bei dem Ritual?« Steves Atem beschleunigte sich. Dr. Thomas klickte mit dem Kugelschreiber.
»Es ist so: Wenn man vor einem Spiegel steht, dabei dreimal den einen Vers aufsagt, soll er hinterrücks erscheinen und demjenigen einen altertümlichen Dolch in den Rücken stoßen, wer auch immer ihn herbeigerufen hat.« Dr. Thomas senkte den Notizblock. Steve zuckte nervös mit dem Oberschenkel.
»Wer wird erscheinen?«, fragte Dr. Thomas interessiert.
»Der finstere Butzemann…!« Weiterhin erklärte Steve: »Ein kleines, böses Zwergenwesen aus der Unterwelt! Nachdem er sein Opfer erstochen hat, raubt er ihm die Seele!«
Der Vers um ihn zu rufen, geht so:
»Komm raus Butze Butzemann…
Komm raus Butze Butzemann…
Komm raus Butze Butzemann…
Sicher, ein normaler Mensch würde mir raten, diesem ganzen Quatsch schlicht den Rücken zu kehren. Doch ich persönlich denke, dass es das Problem im Kern nicht lösen würde, es würde vermutlich nur an anderer Stelle meines Lebens auftreten.«
»Da haben Sie völlig recht, Steve. Seinen Problemen sollte man offen begegnen.«
»Was mich so erschaudern lässt, ist nicht jener Gruselmythos selbst…« Steve blickte zu Boden, als liefe dort eine Kakerlake. Das erdrückende Wetter schlug in Regen über, der ans Fenster prasselte, gefolgt von unheimlichen Donnergrollen.
»Es ist der Umstand, jeden Abend ruhelos vor dem Spiegel zu stehen und dabei in eine Art geistiges Tauziehen des Tuns oder nicht Tuns zu geraten, das dazu imstande ist, mich an Ort und Stelle festzunageln – während ich in der Versuchung befangen bin, jenes Ritual doch endlich auszuprobieren -, was mir zwar einen gewissen Nervenkitzel beschert, doch mir letztlich der nötige Mut dafür fehlt, und wenn ich es dann wieder nicht tun konnte – wie so oft -, verbringe ich nicht nur den Rest des Abends mit Kopf zerbrechenden Grübeleien, sondern Tage, ganze Wochen! Inzwischen bin ich für meine Arbeitskollegen zur Last geworden. Mein Chef ist kurz davor, mich rauszuschmeißen. Es ist ein einziger Albtraum!« Steve schüttelte den Kopf.
»Dieses im Dunkeln tappen… nicht zu wissen, ob das Ritual real sein könnte… Es treibt mich noch endgültig in die Klapse! Deshalb bin ich nun hier. Nur Sie können mir noch helfen!« Steve erinnerte jetzt nur noch an ein Sack Kartoffeln.
»Steve, dass Sie sich überhaupt dazu entschlossen, hier herzukommen und gleich so frei über ihre Probleme sprechen, war bereits ein großer Schritt. Und ich hab Ihnen zu danken, dass Sie sich für diese Praxis entschieden haben.«
Dr. Thomas erhob sich mit freundlichem Gesicht: »Doch nun ist unsere Sitzung vorüber, und ich würde mich freuen, Sie nächste Woche wiederzusehen!«
Sie hatten sich verabschiedet. Steve watschelte in Richtung Ausgang. So verging die Zeit. Steve erschien zur nächsten Sitzung. Auch zur darauffolgenden Sitzung war er pünktlich zur Stelle. Und bei seinem vierten Besuch, da hatte Dr. Thomas etwas Neues in petto.
»Sie haben bis jetzt großartige Fortschritte gemacht, Steve. Ich denke, Sie sind nun bereit dafür. Begleiten Sie mich bitte nach oben…«
Ein zaghaftes Lächeln stand Steve zu Gesicht. Die Badezimmertür der Thomas Praxis öffnete sich, die sich nebenbei bemerkt, innerhalb der Privatwohnung befand. Wie zwei Schürzenträger vor dem Hängefleisch im Schlachtbetrieb standen beide vor dem Spiegel, der eine unsicher wie ein Lehrling, der andere Schulter klopfend zuversichtlich.
»Sie können das Steve. Sie werden sehen, dass es Ihnen danach besser geht. Falls Sie etwas brauchen, Sie finden mich vor der Tür. Viel Glück!« Die Tür schloss sich, Steve trat an den Spiegel heran…
Er betrachtete sich darin. Dümmlich, unsicher, ehrfürchtig. Er atmete einmal tief durch und begann zu sprechen:
»K-komm raus Butze Butzemann…!«
»Komm raus Butze Butzemann…!«
»Komm raus Bu…« Kurz vor Vervollständigung entrann Steve ein lauter Schrei, denn er glaubte, etwas hinter dem Duschvorhang erkannt zu haben.
Dr. Thomas eilte herbei: »Steve?! Geht’s Ihnen gut?!«
Steve deutete auf den Duschvorhang. Wobei er zitternd an seinen Nägeln nagte. Dr. Thomas zog den Vorhang auf, schaute anschließend wieder zurück zum Patienten, lächelte dabei.
»Sehen Sie Steve. Hier ist absolut nichts außer der Dusche.«
Steve sah nun auch hinein, prüfte alles und hatte sich wieder gefangen. Dr. Thomas fügte an: »Sie machen das sehr gut. Beinah hätten Sie es geschafft! Das soll uns für heute genügen…«
Sie verließen das Badezimmer, steuerten dem Hausflur mit dem edlen Giebelfenster entgegen.
»Ruhen Sie sich Zuhause gründlich aus. Machen Sie es gut.«
Steve begab sich auf den Heimweg. Wieder mal herrschte Sauwetter. Dass dies eben Steves letzter Besuch war, wusste Dr. Thomas zu diesem Zeitpunkt nicht. Ab hier nahm die Tragödie ihren Lauf.
Steve raunte auf dem Moped den Nachhauseweg entlang, als die üblichen „Was-Wäre-Wenn-Fragen“ gerade wieder aufkeimten. Da er heute besonders knapp am Ritual scheiterte, setzte es ihm noch mehr zu als ohnehin schon. Er drückte von nagendem Missmut getrieben aufs Gas. Er hatte endgültig genug von der Schmach. Ein plötzlicher Sinneswandel setzte ein. Weshalb genau, wusste er selbst nicht ganz. Er fühlte sich auf einmal so, als könne er auf riesigen und gesattelten Fledermäusen bis zum Mond fliegen und darauf landen.
Er hatte eine Entscheidung getroffen.
Steve kam gerade auf seiner Ausfahrt an, ein tiefes Lodern hatte sich in dessen Augen abgesetzt. Das Moped parkte er nur notdürftig. Er betrat kurzerhand die Mietwohnung und schmiss Jacke und Tasche ins Eck, worauf er mit einer Agilität ins Badezimmer hastete, die man ihm ebenso wenig zugetraut hätte. In alldem Eifer ließ er keinerlei Zeit verstreichen. Er wollte es ein für alle Mal wissen -, ob das Ritual echt war oder nicht. Er stützte sich mutwillig am Waschbecken ab und starrte in den Spiegel.
Zwar zitterte er, doch dann tat er es:
»Komm raus Butze Butzemann…!«
»Komm raus Butze Butzemann…!«
»Komm raus Butze Butzemann…!« Auf einmal schlug die Hand im verlotterten Wollhandschuh, und aus dem scheußlich gelbe Fingernägel herausragten den Duschvorhang zur Seite, und derjenige, der sich dort versteckt hielt, offenbarte sich… In der anderen Hand blitzte ein silberner Revolver hervor. Er war bereits entsichert. Steve drehte sich um, schaute nur blöd aus der Wäsche, während die abgefeuerte Kugel seinen Schädel bereits mit einem Knall durchlöcherte. Blut spritzte auf den Spiegel und floss in langen Fäden auf dessen Oberfläche herunter. Der rauchende Colt senkte sich wie in Zeitlupe.
Der Attentäter war recht klein, hatte einen Bart wie wildes Gestrüpp, eine löchrige und etwas spitz zulaufende Zipfelmütze, er trug lumpige Kleidung und roch, wie wenn der Kontakt mit Wasser und Seife über Jahrzehnte ausblieb. Sein sicherlich auch verlaustes Barthaar wuchs aus asymmetrischen Gesichtszügen. Sein rechtes Auge schielte, wackelte auf eine Weise hin und her, als ob sich sein gesamter Jähzorn ausnahmslos dort konzentrierte. Der mit Pusteln übersäte Zinken war ebenfalls schwer zu übersehen.
Der kleine, runzlige stieg aufgebracht aus der Wanne. Am Türrahmen erschien noch ein weiterer Eindringling. Wohl dessen Begleiter…
»Was zur Hölle machst du da Rick?! Wir wollten ihn doch nur ausrauben, und du drückst einfach ab?! Bist du völlig bescheuert!«, schnauzte er ihn an.
»Ja, John, ich habe ihn abgeknallt! Er hat es heraufbeschworen! Ich habe genug Komplexe deswegen. Aufgerundet sind es 1,60!«, antwortete er kauzig und nach wie vor erbost.
»Ach, Scheiße Rick! Komm, lass uns schnell von hier verschwinden!«, rief Einbrecher John.
Das Einbrecher-Duo stürmte aus der Wohnung, während Steve mit Einschussloch zurückblieb, wobei er letzten Endes auf die kalten Fließen starrte, ohne jegliches Gefühl, doch nun irgendwo auch befreit.