ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Selig ist, wer kindlich lebt. Sorgenfrei die Welt zu erkunden, neugierig nach den Sternen zu greifen und vor Phantasie nur überzusprudeln. Ungebunden an Pflicht, Verantwortung und dem Wissen um die Schwärze der Welt ist das Leben nichts als Freude und Forscherdrang. Der eigene Körper wird erkundet, auch die der anderen, alles wird probehalber in den Mund gesteckt … süßliche Freiheit von den Bürden des Erwachsenseins. Wehmütig träumt das Alter an ihre frühesten Jahre zurück, und mit freudvollen Tränen blüht die Nostalgie in den Herzen vieler auf, wenn sie ihre Gedanken weit in unsere Vergangenheit entführen.
Ich selbst blicke auch mit solcherlei Gefühlen auf meine Kindheit zurück. Hin und wieder kloppte man sich, nur um sich binnen Minuten wieder zu vertragen, oder ersann gemeinsam aus einer plumpen Kiste ein ganzes Flaggschiff mit Kanonen, Segeln und schwarz-weißer Piratenflagge … doch einige Erinnerungen hinterlassen bis heute ein merkwürdiges Gefühl in meinem Magen, wenn sie aus den Untiefen meines Verstandes emportauchen. Insbesondere das Bild eines größeren Jungen, den ich mit etwa sechs Jahren kennenlernte, ist mir mit gemischten Gefühlen im Gedächtnis geblieben. Er sprach mich und vier weitere Freunde auf offener Straße an, und bot uns an, ein tolles Spiel zu zeigen, das uns allen unheimlich viel Spaß bereiten würde. Gewarnt hatten uns unsere Eltern nur vor fremden Erwachsenen. Kahlen Männern mit runden Brillen und fettiger Kleidung, die nur unter Schanufen und Stöhnen aus dem Tiefsten ihres Bauches sprechen können … eben klassische Pädophile. Doch dieser Junge war vielleicht ein zwei Jahre älter als wir, und wirkte sehr sympathisch auf uns. Er hatte sprödes blondes Haar, und eine glockenhelle Stimme.
Also gaben wir fünf dem Ganzen eine Chance, und fragten ihn nach diesem phänomenalen Spielchen. Seine Augen leuchteten auf, und er bleckte grinsend seine Zähne. “ Das Spiel ist ganz einfach. Es heißt Singfangen … dabei müssen wir uns zuerst in zwei Gruppen aufteilen … wie passend, dass wir eine gerade Anzahl von Mitspielern haben; wir machen also zwei Dreiergruppen!”, sagte er fröhlich und wir teilten uns durch Abzählen geschwind in zwei gleich große Gruppen auf. “Eure Aufgabe ist es … ”, sprach er zur anderen Gruppe und zeigte mit einer knöchrigen Hand auf sie “ … euch ein Passwort auszudenken, und euch daraufhin vor der anderen Gruppe zu verstecken. Diese wird euch daraufhin zu suchen beginnen und nach diesem Passwort fragen. Ihr dürft es ihnen nicht verraten … und die Schwierigkeit besteht darin, dass die andere Gruppe vehement versuchen wird, diese Information aus euch herauszukitzeln. Versteht ihr? Sie müssen euch zum Singen bringen … deswegen heißt das Spielchen so! Wie sie das anstellen, ist ihre Sache; dabei müssen sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Verstanden?”, erklärte er und erntete ein stummes Nicken von uns allen.
“Gut. Dann zählen alle Fänger, also du, du und ich, jetzt bis dreißig. In dieser Zeit überlegt sich die andere Gruppe ihr Passwort und beginnt damit, sich zu verstecken. Wenn wir dann bis dreißig gezählt haben, könne wir mit dem Fangen beginnen, und am Ende hat die Gruppe gewonnen, die entweder das Passwort errät oder es für eine Stunde lang erfolgreich für sich behält”, endete er und drehte sich mit verschlossenen Augen zu einer Hauswand und begann lautstark zu zählen. Ich und ein anderer taten es ihm gleich. Nach dieser halben Minute drehten wir uns schnell um, und bemerkten schnell, dass sich die anderen drei schon aus unserem ganzen Blickfeld entfernt hatten. Ich schlug vor, uns doch aufzuteilen; beide meiner Mitspieler bejahten es, und getrennten Weges machte ich mich auf die Suche nach den anderen. In den ersten zehn Minuten fand ich gar niemanden, und weitere fünf brachte ich damit zu, dem Schatten eines gewöhnlichen Passanten hinterherzujagen. Est nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich einen meiner Freunde, der sich in einer Einfahrt hinter einem Blumenkübel verborgen hatte, zog ihn ruppig aus seinem Versteck und begann mit meinem kleinen Verhör. Ich kniff ihn ein bisschen, kitzelte ihn ohne Unterlass und machte wilde Versprechungen, doch er hielt dicht wie ein Ölfass. Erst nachdem ich ihm angeboten hatte, für die nächsten zwei Wochen seine Hausarbeiten zu erledigen, willigte er ein und nannte mir das geheime Passwort: Karottenkeule. Etwas dämlich vielleicht, aber ich musste trotzdem herzlich darüber lachen.
Mit meinem Kumpel im Schlepptau kehrte ich siegesbewusst und mit triumphaler Miene zum Startpunkt zurück, und wartete dort mit ihm auf die anderen. Nach einiger Zeit kehrte der zweite Fänger zurück, und brachte ebenfalls ein Mitglied der anderen Gruppe mit. Stolz wie ein Kaiser baute er sich vor mir auf, und teilte mir mit der Stimme eines Helden das stumpfe wie putzige Passwort mit. Erfreut über unseren Sieg machten wir uns etwas über die Verlierergruppe lustig, und legten fest, in der nächsten Runde die Gruppen einmal zu tauschen. Ich wollte unbedingt Häschenköttel als Passwort vorschlagen, und die Lacher meiner Freunde ernten. Und so warteten wir an der schmalen Straße, unterhielten uns über dieses und jenes, bis wir uns nach einiger Zeit über den Verbleib der zwei Letzten Gedanken machen. Mein fünfter Freund war immer noch nicht gefunden worden, und der Junge, der uns das Spiel vorgeschlagen hatte, war auch nirgends zu sehen. Das machte uns etwas Angst, und wir beschlossen, gemeinsam auf die Suche nach den beiden zu gehen. Nicht, das sich noch jemand verirrt hatte und gerade alleine vor sich hin weinte …
Stundenlang suchten wir nach den beiden, riefen den Namen meines Freundes, und nahmen jeden Kieselstein unter die Lupe. Wir fanden ganze Armeen von Insekten, benutzte Spritzen und wortkarge Obdachlose, doch keinen der beiden anderen. Erst nach ungezählten Minuten fanden wir endlich das letzte verbliebene Mitglied aus der Verstecker-Gruppe, doch anstelle von hämischem Siegesgeheul und dem obligatorischen Ätschi-Bätschi entfuhr nichts als schockierte Stille aus unseren Mündern. Denn der uns gebotene Anblick war grausam, und viel zu viel für unsere kindliche Psyche. Jahrelang hatte ich es verdrängt, und erst nach einigen intensiven Therapien mehr oder minder damit meinen Frieden geschlossen. Genau das Gesehene zu beschreiben vermag ich nicht zu tun; das Bild davon werde ich zwar nie mehr aus meinem Kopf verbannen können, doch bin nach wie vor unfähig dazu, es detailgetreu nachzuerzählen. Dabei verkrampfen meine Finger beim Schreiben sowie mein Mund beim Sprechen, und meine Finger zittern wie in eiseskaltem Winter beim Schreiben dieser Zeilen.
Wir fanden ihn aufs Übelste geschunden vor, geschunden nach einer Art, die mein ausgereifterer Wortschatz als Folter bezeichnen würde. Aus zahllosen Wunden rann zähes Blut, angespitzte Stöcker wie rostige Nägel durchbohrten seinen Körper, und in seinen Augen stand nichts als ein unfassbarer Schrecken. Er war zwar tot, doch wirkte es, als wäre seine Seele noch immer am Leben, und wandelte in ünbändiger Furcht vor ihren Fenstern umher.
Ich weiß nicht, wie lange wir starr und ohne ein Wort vor ihm standen, unfähig dazu, auch nur einen Muskel zu bewegen. Minuten? Stunden? Tage? Die Zeit stand still in unseren Herzen, und erst die lauten Rufe einer neugierigen Passantin erweckten uns aus dieser Starre. Auch sie schockierte der Anblick bis aufs Blut, und ohne zu zögern rief sie schnell die Polizei, und dazu noch einen Notarzt; ich glaube, sie wollte uns damit noch etwas letzte Hoffnung machen.
Den Beamten erzählten wir alles was wir gesehen hatten. Vom Auftritt des fremden Jungen, dem Angebot zum Spielen sowie dessen Verlauf bis zu unserer grausigen Entdeckung. Wir beschrieben das Äußere des Jungen, seine Stimme, seine Art; und erst dann fiel uns auf, dass wir nicht einmal seinen Namen kannten. Unsere Stimmen waren getränkt in Emotionslosigkeit, und erst zuhause, nach einem langen Gespräch mit meinen Eltern, brachen in der Einsamkeit meines Zimmers Flüsse von Tränen aus.
Die Polizei fand rein gar nichts über diesen Jungen heraus, und selbst eine landesweite Fahndung brachte keine Ergebnisse; irgendwann ließen sie die Ermittlungen einfach fallen. Doch so einfach wie man einen Aktenordner zur Seite schiebt, konnte ich nicht mit dieser Situation abschließen. Ich recherchierte viel auf eigene Faust, und fand zu meinem Schrecken heraus, dass ähnliche Taten bereits vor über zwanzig Jahren begangen und in Serie wiederholt wurden, von einem Jungen, der ebenso beschrieben wurde wie wir ihn erlebt hatten. Zwischen jeder Tat lagen meist drei bis vier Jahre und mehrere Ländergrenzen, doch in einem regelmäßigen Rhythmus wiederholte sich bisher diese Gräueltat … die letzte davon ereignete sich 2017 in Kiew.
Je länger ich mich damit beschäftige, umso mehr Furcht macht es mir. Der Junge damals wirkte wie neun, doch hatte wohl schon zwanzig Jahre davor ähnliche Taten verübt … ebenso wie über dreißig Jahre in der Zukunft. Und so allmählich habe ich das Gefühl, das mehr dahintersteckt als ein einfacher Psychopath … mittlerweile glaube ich an das Übernatürliche. Denn anders kann ich mir diesen ganzen Schrecken nicht erklären; vielleicht sollte ich damit aufhören, dieses Trauma zum Zentrum meines Lebens und loderndem Feuer meiner Angst zu machen. Ansonsten frisst er mich noch nachträglich auf.
—
Dimitri Nikolajewitsch Sokolow, 16. April 2020, Oblast Kaliningrad