Der Abend war über das Land gefallen, und die Wärme des Tages schwand mit jedem Augenblick. Sanfte Herbstwinde flüsterten durch die Felder, ließen die bernsteinfarbenen Maiskolben in einem melancholischen Tanz wiegen … doch mit jedem Schwingen offenbarte sich ein ungleiches Duo, starr und trotzig gegen die Bewegung der Umgebung. Wer ihre unbewegten Gestalten sah, konnte fast glauben, sie atmeten nicht einmal, blinzelten nicht. Dies war gewiss die allgemeine Meinung – vielleicht sogar die der beiden selbst –, was es umso überraschender machte, als einer von ihnen sprach.
„Meine Arme tun weh, Frank.“
Die zweite Gestalt rührte sich nicht, doch ein Hauch von Ausdruck schien kurz über ihr Gesicht zu huschen.
„Frank, meine Arme tun weh.“
„Verdammt noch mal, Jed!“ Mit einem Rascheln von Stoff und Stroh drehte sich Frank zu seinem Partner um. „Als sie dich hierher geschickt haben, hieß es, du wärst die beste Wahl! Du hast gesagt, du kennst die Regeln! Also halt die Klappe, bevor uns noch jemand hört.“
Die Stille kehrte auf das Feld zurück, nur unterbrochen vom sanften Rascheln des Windes, der durch den Mais fuhr. Selbst der nahegelegene Bach, der am Tage noch heiter geplätschert hatte, schien sich für die Dämmerung in Stille zu legen. Diese Nacht war eine bedeutungsvolle und ihre Aufgabe fast heilig.
„Ach, wer soll uns denn schon hören, Frank?“
„Darum geht’s nicht! Was zählt, ist, ob uns jemand hört. Wir dürfen nicht reden.“
Jed dachte kurz darüber nach, auch wenn sein Kopf für tiefere Überlegungen kaum geschaffen war. „Na und? Is’ doch sowieso ’n blöder Job. Bisher hat noch jeder gelacht, der an uns vorbeigegangen ist.“
Frank seufzte, zog seinen Hut ab und kratzte an seiner ledernen Haut. „Hör zu, Jed, das mag schon sein. Fakt ist, es spielt keine Rolle. Es muss getan werden, verstehst du?“
„Nein.“
„Gut, du … Was zum Teufel meinst du mit ‚nein‘? Hat dir denn nie jemand die Geschichte erzählt?“
Das Stroh um Jeds Hals raschelte, als er den Kopf schüttelte. „Die Leute sagen immer, ich werd’s schon lernen, wenn’s soweit ist. Langsam glaub ich, die kennen’s selbst nicht.“
„Oh, die kennen es, das kannst du glauben.“ Frank räusperte sich und tat so, als würde er auf den Boden spucken, obwohl seine Lippen trocken blieben. „Sie kennen es, so sicher, wie sie ihre eigenen Mütter kennen. Nur, na ja, es ist nicht gerade das angenehmste Thema.“ Er seufzte erneut, sowohl aus Frustration, sprechen zu müssen, als auch angesichts der Worte, die ihm bevorstanden. „Weißt du, es gab eine Zeit, vor vielen Jahren, da wurde dieses Land von einer Plage heimgesucht. Keine Krankheit, versteh mich nicht falsch … nein, diese Plage kam in Gestalt geflügelter Bestien vom Himmel herab. Schwarz wie die Nacht waren sie, und ihre Stimmen klangen wie aus einem Albtraum.“
„Krähen“, flüsterte Jed. Seine Augen suchten den fernen Horizont jenseits des Maisfeldes ab. „Hab von ihnen gehört. Dachte, das wär nur ein Kindermärchen.“
Frank verlagerte sein Gewicht und richtete den steifen Stock, auf dem seine Arme ruhten. „Mag schon sein, dass man sie heute kaum noch hört, außer in Legenden. Aber damals waren sie real genug. Sie stürzten sich auf die Felder, fraßen sich satt und ließen den Bauern kaum etwas übrig. Es brachte große Not über das Land, jeder war verzweifelt.“
„Meine Arme tun immer noch weh, Frank.“
Frank verdrehte die Augen. „Wir reden doch, oder? Ruh dich aus. Setz dich hin, wenn’s jetzt schon egal ist.“
„Danke, Frank.“ Jed ließ sich von seinem Pfosten herabfallen und sackte auf den Boden, plötzlich wie ein lebloser Haufen Lumpen aussehend. „Und was geschah dann?“
Frank öffnete den Mund, zögerte jedoch. An jeder anderen Nacht war es nur eine Geschichte … aber in dieser Nacht, da könnte sie mehr sein. „Halt die Ohren offen, falls etwas nicht stimmt, ja?“ Jed nickte, und Frank fuhr mit seiner Erzählung fort. „Es war eine dunkle Zeit, das ist sicher. So dunkel, dass manche meinten, man müsse die Dunkelheit mit Dunkelheit bekämpfen.“ Er schloss die Augen und begann, den geheimen Vers zu murmeln, den nur jene kannten, die in den Feldern Wache standen:
Sie sammelten die grünen Mauern ein,
Getrocknet von des Tages Schein,
Geformt zu einem Wächter dann,
Das Heu trug nun des Kleiders Bann.
Gesandt auf Felder voller Leid,
Gegen Dämonen war ihr Streit.
Vom Dunkel ward das Leben gegeben,
Den Strohmännern, die sonst nicht leben.
Ein heil’ger Auftrag war ihr Ziel,
Am finstren Tag, so war’s ihr Spiel.
Sie zahlten für die Wachsamkeit,
Als fehlte jegliches Licht und Zeit.
Sie nahmen sich ein junges Kind,
Gegen Dämonen, schwarz wie Wind.
Verschlungen von des Dunkels Drang,
Die Strohmänner dem Schatten bang.
„Strohmänner“, flüsterte Jed. ‚Strohmänner, wie … wie wir, Frank?‘
Franks Gesichtsausdruck wurde kälter, als er den Kopf schüttelte. “Denk nicht so. Die Strohmänner waren etwas … etwas anderes als lebendig, Jed. Sie haben die Krähen verscheucht, aber zu einem schrecklichen Preis. Sie waren innerlich tot, verstehst du? Sie blieben, wo sie hingehörten, wie Statuen … bis auf eine Nacht im Jahr, in der sie lebendig wurden und die Ernte einholten. Nur dass sie nicht den Mais mitnahmen, sondern ein Kind. Ein Kind, das nach Sonnenuntergang draußen gelassen wurde.„
“Kinder sind ständig nach Sonnenuntergang draußen, Frank!“
„Nicht in dieser Nacht!“, zischte Frank und senkte seine Stimme noch weiter. „In dieser Nacht tragen die Kinder Masken! Die Strohmänner können jene nicht sehen, die ihre Augen verbergen – es sei denn, sie schauen zuerst auf die Strohmänner!“
Jed verstummte, sichtlich zurechtgewiesen. Der Himmel hatte sich merklich verdunkelt, nur die letzten, hartnäckigen Strahlen des sterbenden Lichts durchdrangen noch die Wände aus Mais. Irgendwo in der Ferne rief eine Frau nach ihrem Sohn.
„Hey, Frank?“
„Was?“
„Ich kapier’s immer noch nicht, Frank.“
Frank seufzte einmal mehr. „Was kapierst du nicht?“
„Warum wir hier draußen stehen. Warum wir so dastehen müssen. Warum die Leute über uns lachen. Ich meine … wir sind doch Strohmänner, oder, Frank?“ In Antwort trat Frank seinem Gefährten gegen das Bein. „Auuu! Warum hast du das gemacht?!“
„Wenn du ein Strohmann wärst“, sagte Frank, „meinst du, das hätte wehgetan? Du bist Fleisch und Blut, Jed, wie kannst du dann ein Strohmann sein?“
„Na ja, ich meine… Es ist doch nur gespielt, oder? Ich stopfe meine Kleidung mit Stroh aus und tue so, als wär’s echt, oder?“
Frank klopfte mit einer behandschuhten Hand an seinen Hut. „Hier oben“, er deutete auf seinen Kopf, „mag es nur gespielt sein … Aber hier“, er schlug mit der Faust auf seine Brust, das Stroh in seinem Hemd knisterte, „hier ist es echt. Und das ist es, was zählt, Jed.“ Er schwang seinen Arm weit aus und deutete auf die Felder um sie herum. „Willst du wissen, warum du hier draußen stehst? Damit die Angst nicht zurückkehrt. Schon ein einziges entführtes Kind lässt die Schrecken wieder aufkeimen, hält die Menschen in Trauer gefangen. Da könnten wir genauso gut die Krähen wieder haben … Aber wenn jemand Wache hält, dann kommen die Strohmänner nicht ins Dorf. Dann können sie in Ruhe schlafen. Sie können über ihre Angst lachen und weitermachen mit ihrem Leben. Verstehst du’s jetzt?“
„Ich versteh’s, Frank“, antwortete Jed hastig. „Ich bin hier, um Wache zu stehen. Ich versteh’s.“
„Gut. Jetzt wieder rauf auf deinen Posten. Wir haben noch eine lange Nacht vor uns.“
Jed nahm wieder seinen Platz ein, und Frank rückte seine eigene Position zurecht. Mit dem Verschwinden des Sonnenlichts war auch der Wind verstummt, und die Maisfelder lagen in völliger Stille.
„Hey, Frank?“
„Halt den Mund.“
„Sorry.“ Jed schloss den Mund. „Nur … Was passiert mit ihnen, Frank? Mit den Kindern?“
„Welche Kinder?“
„Na, du weißt schon“, drängte Jed. „Die Kinder, die sie mitnehmen.“
Frank wandte sich seinem Gefährten zu. Der arme Junge war kaum dem Jugendalter entwachsen, mit nur einem Hauch von Bartstoppeln auf dem Kinn. Selbst in der Dunkelheit funkelte eine aufrichtige Unschuld in seinen Augen. „Bist du sicher, dass du das wissen willst, Jed?“
Jed erwiderte Franks Blick. „Ja, Frank. Ich bin sicher.“
Wie zuvor griff Frank nach seinem Hut… Doch dieses Mal nahm er seinen ganzen Kopf ab, und ein starres Bündel gelber Halme ragte aus seinem Hemd.
„Sie werden zu Strohmännern, Jed. Sie werden zu Strohmännern.“
Original: RamsesThePigeon