Solipsismus – Selbstbezogenheit
Das Ende der Gewissheit
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Mein Onkel war ein eigenwilliger Mensch. Ein erfolgreicher Physiker, ganz an der Spitze seines Fachs, beschloss er eines Tages plötzlich, seine Karriere zu beenden und sich in seine Villa auf dem französischen Land zurückzuziehen. Freunde und Familie konnten nicht im Geringsten nachvollziehen, was diesen radikalen Schritt ausgelöst hatte. Er hatte weder Frau noch Kinder, denen er mehr Zeit widmen könnte. Tatsächlich hatte er sein Junggesellenleben bis weit in seine Vierzigern hinein genossen – und die Mittel dazu hatte er allemal. Auf die Frage nach dem „Warum“ antwortete er nur knapp, er sei des hektischen Stadtlebens müde geworden und brauche Raum, um seine Gedanken zu ordnen.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem er mich vom alten Bahnhof abholte. Meine Mutter, seine Schwester, stand auf, um ihn zu umarmen, während ich noch auf der Bank sitzen blieb, mit Blick auf die endlosen Lavendelfelder, die sich beidseitig der Gleise wiegend erstreckten. Ich spi
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Jetzt anmelden oder registrierenMein Onkel war ein eigenwilliger Mensch. Ein erfolgreicher Physiker, ganz an der Spitze seines Fachs, beschloss er eines Tages plötzlich, seine Karriere zu beenden und sich in seine Villa auf dem französischen Land zurückzuziehen. Freunde und Familie konnten nicht im Geringsten nachvollziehen, was diesen radikalen Schritt ausgelöst hatte. Er hatte weder Frau noch Kinder, denen er mehr Zeit widmen könnte. Tatsächlich hatte er sein Junggesellenleben bis weit in seine Vierzigern hinein genossen – und die Mittel dazu hatte er allemal. Auf die Frage nach dem „Warum“ antwortete er nur knapp, er sei des hektischen Stadtlebens müde geworden und brauche Raum, um seine Gedanken zu ordnen.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem er mich vom alten Bahnhof abholte. Meine Mutter, seine Schwester, stand auf, um ihn zu umarmen, während ich noch auf der Bank sitzen blieb, mit Blick auf die endlosen Lavendelfelder, die sich beidseitig der Gleise wiegend erstreckten. Ich spielte nervös mit dem Armband, das mir mein Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Es war das erste Mal, dass ich für längere Zeit aus der Stadt hinauskam. Unter besseren Umständen hätte ich mich vielleicht darauf gefreut. Aber der Grund für meinen Aufenthalt bei meinem Onkel war weniger erfreulich: Die Scheidung meiner Eltern verlief alles andere als friedlich, und beide waren sich einig, dass ich besser Abstand halten sollte, bis der Sturm sich gelegt hatte.
„Mon caneton!“, rief mein Onkel, mit solcher Herzlichkeit, dass ich aus meinen Gedanken aufschreckte.
Als ich noch jünger war, habe ich immer Wutanfälle bekommen, wenn er mich sein „Entchen“ nannte. Jedes Mal forderte ich ihn auf, mir einen würdigeren Namen zu geben – vielleicht nach einem majestätischeren Vogel, wie einem Falken oder Adler. Auch jetzt konnte ich mir ein Augenrollen nicht verkneifen, aber irgendwie war mir dieser altbekannte Spitzname doch ein kleiner Trost. Nachdem wir uns endlich umarmt hatten und ich mich mit tränenreichen Worten von meiner Mutter verabschiedet hatte, führte er mich zu seinem Auto.
Wir waren uns schnell einig, dass ich jetzt, als „großes Mädchen“, natürlich auf dem Beifahrersitz Platz nehmen durfte – etwas, das mein Vater mir noch immer nicht erlaubte. Mein Onkel tat sein Bestes, um mich aufzuheitern, so gut er eben konnte. Auch wenn Oma und Opa sich nie offiziell scheiden ließen, wusste er nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn die eigenen Eltern ständig im Streit lagen und man selbst machtlos daneben stand.
Wir fuhren an den Lavendelfeldern vorbei und entlang eines staubigen, unbefestigten Weges. Mit einem leichten Unbehagen sah ich im Rückspiegel, wie der letzte Hauch von Zivilisation immer kleiner wurde und schließlich den sanften Hügeln und grünen Weiden wich. Bald war das Einzige, was noch an Menschenhand erinnerte, die Betonmasten der Stromleitungen, die stellenweise in der Landschaft standen – und selbst diese schienen allmählich vom unaufhaltsamen Griff der Natur zurückerobert zu werden. Auf einem der Masten entdeckte ich ein Storchennest. Sie hätten längst gen Süden ziehen müssen, dachte ich bei mir. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und sie hatten noch einen weiten Weg vor sich.
„Jusqu’où est l’Afrique? (Wie weit ist es nach Afrika?)“, fragte ich meinen Onkel. Er schien mehr überrascht, dass ich auf Französisch mit ihm sprach, als von der Frage selbst.
Obwohl die Familie meiner Mutter aus Straßburg stammt, bin ich in Berlin aufgewachsen, woher mein Vater kommt. Mein Onkel, der nie viel für meinen Vater übrig hatte, hatte sich auch nie die Mühe gemacht, Deutsch zu lernen. Wenn also niemand zum Übersetzen da war, sprachen wir meist Englisch, weil das die einzige Sprache war, die wir beide einigermaßen gut beherrschten – ich, weil ich es seit dem Kindergarten lernte, und er, dank seiner vielen Jahre als Dozent im Ausland.
„Très loin (Sehr weit)“, antwortete er. „Weiter, als du dir vorstellen kannst.“
Aus irgendeinem Grund fasste ich seine Antwort als Herausforderung auf. Mein Blick suchte den Horizont, und in meinem Kopf tauchten Bilder auf – Giraffen, Leoparden, Palmen, endlose Savannen und undurchdringliche Dschungel. Alles, was mein junges Denken mit diesem exotischen Kontinent verband, malte ich mir aus. Ob ich dabei in die richtige Richtung blickte, spielte keine Rolle – mein Onkel hätte mich ohnehin nicht korrigiert.
„Et … hier sind wir.“
Seine unerwartete Ansage riss mich aus meinen Träumereien. Vor uns, am Rand eines beschaulichen Birkenwäldchens, stand die Villa meines Onkels. Sie war schlichter, als ich erwartet hatte, nur zwei Stockwerke und ein Satteldach. Die umlaufende Veranda mit ihrer romanischen Architektur war wohl das kunstvollste Element des Hauses, abgesehen vom Balkon, der ebenfalls ein wenig verziert war. Malerisch, ja – aber keineswegs das imposante Anwesen, das ich mir als Kind in meiner Vorstellung ausgemalt hatte.
Die Tage wurden zu Wochen. Die anfängliche Begeisterung über das Landleben verflog schnell. Es war nicht so, dass ich die graue Trostlosigkeit der Stadt vermisste, aber ich vermisste meine Freunde. Gelegentlich konnte ich meinen Onkel überreden, mit mir Trictrac zu spielen, eine französische Backgammon-Variante. Er versuchte, so gut er konnte, Begeisterung zu zeigen, aber es war offensichtlich, dass auch für ihn diese ganze Situation nicht ideal war. Die meiste Zeit verbrachte er in seinem Arbeitszimmer, einem der Orte, die für mich strengstens verboten waren – obwohl ich offen gestanden auch kein Interesse hatte, hineinzugehen. Ein Blick durch die Tür genügte: nur Bücher und Papierstapel auf einem überfüllten Schreibtisch. Kaum etwas, das ein Mädchen meines Alters interessiert hätte.
Es gab jedoch Regeln, die weniger nachvollziehbar waren. Etwa, dass ich niemals eine bestimmte Treppe hinaufgehen oder nur auf einer Seite des Grundstücks spielen durfte. Ganze Bereiche des Hauses waren willkürlich abgesperrt, und zeitweise durfte ich nicht einmal das Badezimmer benutzen und musste stattdessen die Latrine draußen aufsuchen. Ich hielt mich natürlich an die sonderbaren Vorschriften meines Onkels, aber ich fragte ihn oft nach dem Grund. Seine Antwort war immer dieselbe: Es gäbe bestimmte Bräuche, die jeder, der hier verweilt, befolgen müsse – andernfalls würde Unheil geschehen.
Und dann, an einem späten Septembernachmittag, geschah etwas, das meinen Aufenthalt für immer verändern sollte. Der Tag war warm und schwül. Der Duft von Ozon lag in der Luft, ein sicheres Zeichen eines herannahenden Sturms, was auch die dunklen Wolken am Horizont bestätigten. Mein Onkel lehnte sich über die Veranda und sah mir zu, wie ich einen Ball über das ausgedörrte Gras vor dem Haus kickte. Jedes Mal, wenn ich zurückschaute, nickte und lächelte er, was mir Lob genug war. Es tat gut, zur Abwechslung mal ein Publikum zu haben.
Ein kräftiger Tritt ließ meinen Ball von einem Baumstumpf abprallen und den Hang hinunterrollen. Ich lief ihm hinterher, angetrieben von der Hoffnung, ihn bald einzuholen. Doch plötzlich stoppte der Ball auf unerklärliche Weise, als hätte er eine unsichtbare Barriere getroffen. Mein Schritt verlangsamte sich, und selbst aus meiner kindlichen Perspektive war klar: Etwas stimmte nicht. Je weiter ich ging, desto schwerer und dichter wurde die Luft um mich herum, bis ich das Gewicht förmlich in meinen Lungen spürte.
Die Trägheit des Balls hielt nicht lange an. Kaum war ich wenige Schritte von ihm entfernt, schoss er plötzlich mit noch größerer Wucht auf mich zurück. Ich duckte mich gerade rechtzeitig, als er über meinen Kopf hinwegflog und ein Fenster hinter mir zerschmetterte.
„Sofort ins Haus!“, schrie mein Onkel.
Er musste es nicht zweimal sagen. Vor Schreck den Tränen nahe, rannte ich zurück in den sicheren Bereich des Anwesens. Mein Onkel blieb noch eine Weile draußen, kam dann aber ebenfalls herein. Sein Gesicht trug einen Ausdruck, den ich noch nie zuvor an ihm gesehen hatte.
Ich zupfte an seinem Ärmel, suchte Trost und eine Erklärung, doch er starrte nur ins Leere. Erst als mein Schniefen in heftiges Schluchzen übergingen, würdigte er mich eines Blickes. Ich sah es in seinen Augen: Ein innerer Kampf tobte in ihm. Auch wenn ich zu jung war, um die Wahrheit zu begreifen, welche andere Erklärung hätte er mir geben können? Geister? Das hätte mich wohl kaum beruhigt, eher im Gegenteil.
Er sagte mir, ich solle mich fürs Abendessen fertig machen, während er nach oben gehe, um das zerbrochene Fenster zu untersuchen. Er versprach, mir alles zu erklären, sobald wir gegessen hätten…
Es fühlte sich seltsam an, zum ersten Mal seit meiner Ankunft Zutritt zu seinem Arbeitszimmer zu bekommen. Eine Unsicherheit breitete sich in mir aus, als ob dies vielleicht eine Art Prüfung sei. Mein Zögern entlockte meinem Onkel ein Lachen, und er tätschelte mir den Kopf, bevor er mich anwies, auf dem antiquierten, aber gemütlichen Sessel Platz zu nehmen, der sich zwischen zwei hohen Bücherregalen schmiegte. Er griff nach einem Glasbehälter mit der Aufschrift „Anomalie 005“, schraubte den Deckel ab und drehte ihn in meine Richtung.
Zunächst war ich mir nicht sicher, was er mir zeigen wollte. Das Glas schien leer zu sein – bis mein Onkel ein Stück Kupferdraht hineinhielt und den Deckel schnell wieder schloss. Fasziniert beobachtete ich, wie das Metall begann, sich rasend schnell zu oxidieren, von rötlich-braun zu bläulich-grün wechselnd. Innerhalb von Sekunden war es fast vollständig zerfallen, und nur wenig später war das Drahtstück völlig verschwunden – nicht einmal ein Rest blieb zurück.
Mein Onkel erklärte mir, dass dies nur ein bescheidenes Beispiel sei, was da draußen auf uns warte. Etwas an diesem Stück Land widerstrebte den bekannten Gesetzen der Wissenschaft. Lokale Phänomene, in denen die Prinzipien der Natur und Physik nicht wie gewohnt funktionierten, manifestierten sich hier. Manche waren harmlos und erforderten spezielle Bedingungen, um sie beobachten zu können; andere – wie die Gravitationsanomalie, der ich nur knapp entkommen war – waren weit weniger wählerisch. Er benutzte große, komplizierte Worte wie „transmutational“ und „metaphysisch“, die meinem jungen Verstand gänzlich fremd waren. Aber im Grunde sagte er: Diese außergewöhnlichen Ereignisse waren der Grund, warum er seine Karriere und den Luxus der Stadt aufgegeben hatte – um der Erste zu sein, der ihre Geheimnisse entschlüsselt.
Von diesem Moment an änderte sich unsere Beziehung.
Ich war nicht länger nur die Nichte meines Onkels. Jetzt war ich auch seine Assistentin. Zumindest hatte er es anfangs so formuliert, als unsere Zusammenarbeit noch unschuldig war. Er gab mir eine umfassende Führung durch all die Anomalien, die er dokumentiert und in manchen Fällen sogar eingedämmt hatte. In einer Ecke des Dachbodens herrschte beispielsweise eine konstante Temperatur von genau 1 °C, knapp über dem Gefrierpunkt. In einem anderen Bereich, gleich hinter dem Wald, entflammte jegliches anorganisches Material bei Kontakt – egal, wie unbrennbar es eigentlich war. Es gab auch Anomalien, die nur auf bestimmte Metalle reagierten und gleichzeitig von Nichtleitern wie Gummi oder Glas abgestoßen wurden, wodurch sie transportierbar waren.
Ein erwachsener Geist wäre von all diesen revolutionären Erkenntnissen vermutlich überwältigt gewesen. Aber als Kind war meine Weltanschauung noch formbar. Fantasiegeschichten wichen allmählich den Themen Physik und Chemie. Innerhalb von Wochen erlangte ich ein Verständnis, das sogar Kinder, die fünf Jahre älter als ich waren, nicht einmal ansatzweise besaßen. Mein Onkel mag kein großartiger Vormund gewesen sein, doch als Lehrer war er – so sehr es mich schmerzt, das zuzugeben – beispiellos.
Zwischen den Lektionen bekam ich vereinzelt Aufgaben, die mit der routinemäßigen Untersuchung einiger der harmloseren Anomalien zu tun hatten. Meine liebste Anomalie war eine, die wie ein winziger Lufttrichter funktionierte und Wasser, das durch sie gefiltert wurde, in ein zartes Rosa verwandelte – was ich heute weiß, war auf die Anwesenheit von Kaliumpermanganat zurückzuführen.
Bei den Telefonaten mit meiner Mutter erwähnte ich all das nie. Sie hätte es ohnehin nicht verstanden. Entweder hätte sie es als Kinderspiel abgetan, oder – schlimmer noch – geglaubt, ihr Bruder sei endgültig dem Wahnsinn verfallen.
So verliefen die Dinge mehr oder weniger wie beschrieben, bis der Winter eintraf. Dann geschah etwas, das diese Erzählung von einem seltsamen Bericht in meine ganz persönliche Horrorgeschichte verwandelte…
Es hatte stark geschneit. Ich war tief in der Aufgabe vertieft, den Flur im Obergeschoss für die nahenden Feiertage zu schmücken, als mich ein seltsamer Anblick in den Bann zog. Durch das frostige Fenster erspähte ich etwas Unbekanntes: eine Anomalie, die über dem offenen Gelände vor unserem Haus schwebte. Anders als die meisten anderen war diese nicht zu übersehen, selbst aus der Ferne. Ein Kaleidoskop aus Farben und Formen, das über dem Schnee tanzte.
Ich wollte gerade meinen Onkel holen, doch er war bereits auf dem Weg in den Flur. Als er sah, dass ich nach meinem Mantel griff, hielt er mich sofort zurück und bestand darauf, dass ich im Haus blieb, während er die Lage begutachten würde.
Zu seiner Überraschung blieb ich jedoch diesmal standhaft. Ich war zu weit gekommen, um mich noch wie ein kleines Kind behandeln zu lassen. Wenn mein Alter kein Hindernis war, ihn wie eine Hausfrau zu bedienen oder ihm Gesellschaft zu leisten, wenn er sich nachts „einsam“ fühlte, dann war ich auch alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen.
In dem Moment, als er mich nach einer durchzechten Nacht in sein Zimmer geführt hatte, hatte er sein Recht verwirkt, mich wie einen Ersatzvater zu behandeln.
Das Knirschen des Schnees unter unseren Stiefeln vermischte sich mit dem beharrlichen Summen der Verandalampe. Der Himmel war eine graue, schwunglose Masse und seine Undurchdringlichkeit machte die Tageszeit bedeutungslos. Die zeitliche Anomalie war das leuchtendste Element in unserer Nähe, doch sie war nicht leicht anzusehen. Es war nicht die Helligkeit, die den Blick schmerzte, sondern eine tiefere, urtümlichere Übelkeit, die sich in mir ausbreitete.
Ich fokussierte mich auf eine der Farben, die sich im Wirbel der Anomalie vereinten, und beobachtete, wie sie sich auflöste und in einem sich stetig drehenden Strudel verschwand. Ich könnte es als „psychedelisch“ beschreiben, aber ich bin mir nicht sicher, ob der menschliche Verstand überhaupt etwas so Surreales halluzinieren kann. Es war, als hätte sich ein Stück unserer illusionären Welt gelöst und uns einen Blick auf die uralte Ursuppe dahinter gewährt.
Ich werde nicht in abstrakte Worte umschweifen, um poetisch zu klingen; es gibt schlichtweg nicht genug Worte in unserer Sprache – oder in irgendeiner Sprache –, um die paradoxe, existenziell lähmende Essenz dessen, was wir an jenem Tag sahen, zu beschreiben. Stell dir vor, du müsstest einen Aufsatz über ein Buch schreiben, von dem du nur einen einzigen Satz gelesen hast. Mein jugendlicher Geist war einfach nicht in der Lage, die tiefen Fragen zu begreifen, die die bloße Existenz dieser Anomalie aufwarf. Stattdessen nahm ich sie einfach hin, wie sie sich mir darstellte: ein „lebender“ Rorschach aus polychromen Mustern, der mir Übelkeit bereitete, sobald ich zu lange hinsah.
Mein Onkel hatte nicht das gleiche Glück. Das Leuchten des Wesens spiegelte sich auf seinem erstarrten Gesicht wider. Trotz des Unbehagens, das er ebenfalls gespürt haben musste, war es offenbar nicht genug, um ihn davon abzuhalten, weiter auf die leuchtende Masse zuzugehen. Auch ich versuchte zu folgen, doch der Schwindel wurde bald unerträglich.
Jede neue Welle meines Würgereizes fühlte sich an, als würde ich Stücke meiner eigenen Seele erbrechen. Der Boden unter meinen Füßen fühlte sich flüssig an. Meine Ohren knackten, meine Schläfen pochten, als hätte direkt neben meinem Kopf eine Sirene geheult. Etwa zwanzig Schritte vor mir stand mein Onkel vor der schimmernden Masse, sein Körper umrahmt von dem nebligen Farbspiel. Er streckte die Hand aus. Doch als er nach den flüchtigen Formen griff, verschwand die Anomalie einfach. Sie löste sich nicht in Sternenstaub auf und kollabierte auch nicht in sich selbst. Sie blinkte einfach aus der Realität, um nie wieder zurückzukehren.
Hätte nur ich das gesehen, hätte ich es vielleicht für einen Traum gehalten. Doch mein Onkel ließ mir diese Illusion nicht. Er verfiel einer Besessenheit, überzeugt davon, dass die Ereignisse, die wir erlebt hatten, ein Versuch einer höheren Macht waren, mit uns Kontakt aufzunehmen – eine tiefgreifende Botschaft des Universums, die ihm bestätigte, dass er auf dem richtigen Weg war. Vielleicht hatte er sogar recht, aber es entsprach nicht seinem Charakter, solche unbestätigten und fantastischen Schlüsse zu ziehen.
Ich beobachtete den allmählichen Zerfall seines Geistes mit eigenen Augen. Vernunft und Logik wichen einem fanatischen Eifer. An den meisten Tagen ging er einfach an mir vorbei, als wäre ich ein Teil der Möbel. Schließlich zog er sich völlig in sein Arbeitszimmer zurück, verließ es nicht einmal mehr für die grundlegendsten Bedürfnisse. Ich war auf mich allein gestellt: allein in einem großen, kalten Haus auf einem abgelegenen Fleck Land.
Ich versuchte, meine Eltern anzurufen, doch das Telefon funktionierte nicht. Damals schob ich es auf das Wetter, aber im Nachhinein vermute ich, dass mein Onkel uns absichtlich von der Außenwelt isoliert hatte. Die Vorräte wurden gefährlich knapp, und es war nicht so, als könnte ich zur nächsten Stadt laufen, um mehr zu besorgen.
Die Tür zu seinem Arbeitszimmer wirkte im flackernden Schein meiner Kerze noch bedrohlicher. Als ich sie aufstieß, schlug mir ein übler Geruch entgegen, der mich sofort dazu brachte, meine Nase zu bedecken. Der Gestank von Ammoniak war so stark, dass mir die Augen tränten. Zitternd, aber ohne andere Optionen, übertrat ich die Schwelle und wirbelte dabei eine Staubwolke auf.
Ein großer Teil des Raumes lag in Dunkelheit. Die einzige Lichtquelle war eine schummrige Lampe, die neben dem Schreibtisch lag, offenbar umgestürzt. Ob dies ein Unfall war oder das Ergebnis eines wahnhaften Anfalls, konnte ich nicht sagen. Ich stellte meine Kerze ab und nahm stattdessen die Lampe in die Hand, um meine Umgebung besser zu beleuchten.
Abgesehen von dem generellen Chaos fiel mein Blick als Erstes auf die Gläser mit Urin, die an der rechten Wand gestapelt waren. Daneben stand ein schmutziger Eimer, dessen Inhalt ich mir nur zu gut vorstellen konnte, den ich jedoch nicht näher untersuchen wollte. Bücherseiten und Forschungsnotizen lagen verstreut auf dem Boden, einige zerrissen, andere zerknüllt und als provisorisches Toilettenpapier zweckentfremdet.
Ich ging tiefer in den Raum hinein. Die abgestandene, faulige Luft war kaum noch zu atmen, ohne den Drang zu verspüren, mich zu übergeben. Noch beunruhigender waren die subtilen Schwingungen, die durch den Raum gingen – ein untrügliches Zeichen einer Anomalie. Und ich war offensichtlich direkt ins Zentrum dieser Anomalie geraten.
Und dann sah ich ihn. Am anderen Ende dieses Saustalls kauerte er, der Wahnsinnige selbst, in seinem eigenen Dreck. Sein zerzaustes Haar wirkte noch grauer, als ich es in Erinnerung hatte, und der einst akribische Schnurrbart war nun über seine Oberlippe gewachsen. Hinter ihm stand eine alte Kreidetafel, auf der einst zahllose Lektionen und Vorträge festgehalten worden waren. Jetzt trug sie nur noch einen einzigen Satz:
Cogito, ergo sum („Ich denke, also bin ich“)
Ich rief nach ihm, doch erhielt zunächst weder eine Reaktion noch eine Antwort. Wäre da nicht das Heben und Senken seiner Brust gewesen, hätte ich ihn für tot gehalten. Doch dann begannen seine Augenlider zu flattern, und als sie sich schließlich ruckartig öffneten und seine blutunterlaufenen Augen freigaben, spürte ich, wie sich mein Magen zusammenzog.
„Mon caneton!“
Sein übertriebenes, euphorisches Lächeln erfüllte mich mit einem Gefühl der Beklommenheit und der Durchdringung, nur schon durch das bloße Zusehen. Aus seiner Halbwahrnehmung erwacht, sprang er auf die Füße. Seine Kleider hingen locker an seinem ausgezehrten Körper wie schmutzige Lumpen. Mit fahrigen Fingern zog er ein Stück Kreide aus der Brusttasche und begann hastig, den Satz auf der Tafel hinter ihm einzukreisen und zu unterstreichen, als wäre er die Lösung zu einer Gleichung, die nur er verstand.
„Oui, ça a du sens maintenant… (Ja, jetzt ergibt alles Sinn…)“
Mit einem heftigen Schlag auf die Tafel hinterließ er einen Abdruck seiner Hand. Sein angespanntes Lachen hallte durch den engen Raum.
„Es war ein überzeugendes Schauspiel, oui… Aber jetzt kenne ich die Wahrheit! Du bist nicht real. Das hier, all das – nichts davon ist real!“
Sein Gesicht erinnerte an einen Lehrling, der versuchte, sich vor seinem Meister zu beweisen.
„Das war doch die Prüfung, nicht wahr!?“, rief er triumphierend. „Ich hab’s geschafft. Ich habe den Test bestanden! Nun zeig es mir! Zeig mir die Wahrheit!“
Seine schrecklichen Augen fixierten mich, erwarteten von mir, dass ich einen imaginären Vorhang zurückzog, der in einem Schlag all seine Wahnvorstellungen bestätigte. Doch als er nur mein erschrockenes Gesicht sah, veränderte sich seine Haltung. Seine hektischen Bewegungen wichen einer neuen, gedämpften Art des Wahnsinns.
„Warum … warum tust du immer noch so, als wäre alles normal? Es ist vorbei. Der Betrug ist aufgedeckt. Die Schlussfolgerung ist gezogen. Du bist nur ein Gedanke in meinem Kopf, und ich befehle dir, mich auf die andere Seite zu bringen!“
Er lief rastlos hin und her, kratzte nervös an seinem schwitzenden Hals. Mein Herz raste so schnell, dass ich befürchtete, es würde entweder explodieren oder aus meinem Brustkorb springen. Als Kind hatte ich geglaubt, Erwachsene besäßen grenzenlose Weisheit und könnten jedes Problem mit Leichtigkeit lösen. Doch dieser vollständige Bruch mit dieser Vorstellung, die völlige Auflösung dieses Ideals, fühlte sich fast surreal an.
„Je sais ce que vous complotez! (Ich weiß, was ihr plant!)“, schrie er plötzlich, und ich zuckte so heftig zusammen, dass mir ein angsterfüllter Laut entfuhr.
Kein Hauch von Mitgefühl lag mehr in seiner Stimme. Mein Zittern reizte ihn nur noch mehr. Eine Weile starrte er mich nur mit zusammengebissenen Zähnen an, dann packte er beide Seiten der Tafel und presste seine Stirn dagegen. Seine ersten Worte waren so leise, dass ich sie nicht verstand, doch die folgenden umso deutlicher:
„…nicht real. Du bist nicht real. Ein Trugbild. Eine Illusion. Vapeur …“
Und dann war da noch der Satz – ein Satz, der sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat, dass er mich für immer daran hindert, irgendeinen Menschen jemals als etwas anderes zu sehen als ein instinktives Wesen, das seine Raubtiernatur hinter einer Fassade aus Anstand und Zivilisation verbirgt. Eine Fassade, die, egal wie kunstvoll, immer unter den richtigen Umständen zerfällt. Manchmal, mitten in meinen schlaflosen Nächten, frage ich mich, ob ich diese Worte noch immer hören kann, wie sie aus irgendeiner vernachlässigten Ecke meines Zimmers zu mir flüstern:
„…Du bist nicht real, was bedeutet…“
„Ich kann mit dir tun, was ich will.“
Ich wartete nicht, bis er mich angriff. Ich drehte mich auf dem Absatz um, bereit, zur Tür zu stürmen – doch da spürte ich, wie mich eine fremde Kraft am Handgelenk packte. Das Armband, das mein Vater mir geschenkt hatte – die Anomalie reagierte auf die Metalle, aus denen es bestand. Ich zerrte und zerrte, aber ich konnte mich nicht aus dem magnetischen Feld der Störung befreien, solange das Objekt ihres Interesses noch an mir hing. Als es mir schließlich gelang, meine Hand zu befreien, war mein Onkel bereits bei mir.
Er stürzte sich auf mich, seine scharfen Nägel rissen wahllos durch Haut und Kleidung. Je mehr ich mich wehrte, desto mehr schien es seinen perversen Eifer zu befeuern. Trotz seines geschwächten Zustands war er viel stärker als ich. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, wie weit er gekommen ist, bevor ich endlich den Mut fand, ihm meinen Daumen ins linke Auge zu bohren. Das verschaffte mir genug Zeit, um unter ihm hervorzukriechen. Aber selbst das war nicht von langer Dauer. Als ich wieder auf den Beinen war, hatte er sich bereits erholt. Mir war schmerzlich bewusst, dass ich weder die Kraft hatte, ihn zu überwältigen, noch die Geschwindigkeit, ihm zu entkommen.
Also tat ich etwas, das mich bis heute verwundert, wie ich es überhaupt zustande brachte. Ich hatte einmal einen Artikel gelesen, der erklärte, dass Kinder in Extremsituationen bemerkenswerte kognitive Fähigkeiten zeigen können. Ob das stimmt oder nicht, vermag ich nicht zu sagen; doch wenn ich heute in dieselbe Lage käme, glaube ich nicht, dass ich die Geistesgegenwart hätte, so zu reagieren wie damals.
Ich hob meine Arme, aber statt sie als Schutzschild gegen meinen Onkel zu nutzen, begann ich langsam zu klatschen. Er hielt inne. Seine Verwirrung gab mir Zuversicht, und mein Applaus wurde stärker. Irgendwie schaffte ich es, all den Schmerz und die Demütigung zu unterdrücken, die ich in diesem Moment fühlte, und sie in ein freudiges Lächeln zu verwandeln.
„Du hast recht,“ sagte ich. „Nichts davon ist real. Glückwunsch! Du hast die Wahrheit gefunden!“
Ich breitete die Arme aus, als wollte ich die ganze Szenerie in meinem Gestus erfassen, um den Punkt zu verdeutlichen. Seine fiebernden Augen, von denen eines angeschwollen und tiefrot war, huschten rastlos durch den Raum.
„Tu mens! (Du lügst!)“
Speichel spritzte aus seinem Mund und traf mein Gesicht. Ich schüttelte nur den Kopf. Trotz seiner Wut konnte ich sehen, dass er verzweifelt daran glauben wollte. Er musste es, denn die Alternative hätte bedeutet, sich den Konsequenzen seiner abscheulichen Taten zu stellen.
„Ich habe nie gelogen“, erwiderte ich vage und hielt ihm sanft meine Hand entgegen.
„Komm, ich zeige es dir …“
Hand in Hand traten wir hinaus in die winterliche Landschaft. Der peitschende Wind ließ mein Haar flattern, seine eisige Berührung biss in die wunden Stellen meiner Haut. Doch ich schenkte dem keine Beachtung. Im Angesicht all dessen, was ich durchgemacht hatte, fühlte sich etwas so Banales wie Kälte fast wie eine willkommene Ablenkung an.
„Siehst du es?“, fragte ich und deutete auf den Horizont, wo die aufgehende Sonne auf die endlosen, bleichen Dünen traf.
Er nickte hastig, während er von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Einst ein angesehener Professor, war er nun auf das erbärmliche Wrack eines Menschen reduziert, gefangen in einer Welt, die er sich selbst geschaffen hatte. Die Zerbrechlichkeit des menschlichen Geistes ist wirklich erstaunlich.
„Dort musst du hin. Geh weiter und schau nicht zurück, verstehst du?“
Er senkte den Blick und unsere Augen trafen sich – sein leerer Blick prallte auf meinen. Da war nichts mehr. Nichts außer einer Leere, ein völliger Verlust des Selbst. Ich wollte Mitleid für diesen Bastard empfinden, aber ich konnte es nicht. Die Wunden waren viel zu frisch, viel zu tief.
„Schnell, geh! Geh, sonst verpasst du deine Chance!“
Und so rannte er los, stapfte durch den Schnee, der ins endlose Weiß überging. Was genau er dort suchte, ob er überhaupt noch ein klares Ziel vor Augen hatte, blieb unklar. Vielleicht glaubte er tatsächlich, die Welt um ihn herum sei eine Art Simulation, in der nur er als denkendes Wesen existierte.
Wie auch immer – er kam nicht weit.
Es ist fast poetisch, dass genau jene Anomalie, die mein Abgleiten in den Wahnsinn eingeleitet hatte, letztlich auch zu seinem Ende führte. Kaum hatte er die Grenze dieses Ereignishorizonts überschritten, war es bereits zu spät. Wie mein Ball einst abrupt zum Stillstand gekommen war, stoppte auch sein Körper plötzlich, nur um mit solcher Wucht zurückgeschleudert zu werden, dass er gegen die Brüstung des Balkons prallte. Er faltete sich über das Marmor-Geländer und stürzte kopfüber auf das harte Holzdeck darunter.
Er überlebte nicht. Ich empfinde es als schwer, um ihn zu trauern. Er war ein brillanter Intellektueller, doch leider auch ein verabscheuungswürdiger Mensch, schon lange, bevor der Wahnsinn ihn ergriff. Er nahm sich Dinge, die ihm nicht gehörten, und durch ihn würde meine Kindheit nie mehr dieselbe sein.
Manchmal stelle ich mir vor, dass es viele mögliche Versionen meiner Geschichte gibt. Vielleicht gibt es irgendwo ein Paralleluniversum, in dem ich ein gesundes, erfülltes Leben führe, von glücklicher Mittelmäßigkeit geprägt. Aber nach all dem, was ich hier niedergeschrieben habe – wie könnte das jemals möglich sein? Wie könnte das für irgendjemanden möglich sein?
Taub und zerschunden erinnere ich mich, wie ich über die zerbrochenen Überreste meines Onkels hinwegtrat und in das Haus zurückkehrte. Eine tiefe Stille erfüllte die Luft, ähnlich den ruhigen Momenten vor einem Sturm – obwohl der Sturm längst vorüber war. Ich betrat die kleine, düstere Bibliothek über dem Speisesaal, stellte meine Kerze auf das Fensterbrett neben mir und begann zu suchen. Ich durchforstete Wörterbücher und philosophische Werke, bis ich die Definition fand, nach der ich suchte.
Solipsismus: Die Theorie, dass nur das eigene Selbst existiert oder erkennbar ist. Diese introspektive Sichtweise behauptet, dass der eigene Geist die einzige wahre Quelle von Wissen und Bestätigung ist, und betont damit die Subjektivität über die Objektivität. In diesem Rahmen stellt der Solipsismus die allgemein akzeptierte Vorstellung einer äußeren Realität infrage, die über das eigene Bewusstsein hinaus existiert. Befürworter dieser Theorie lehnen die Existenz anderer Bewusstseine oder die materielle Existenz als Ganzes ab.
Ich starrte in die flackernde Flamme, ihre Helligkeit, die mit jeder Stunde schwächer wurde.
Es ist ein ziemlich einsamer Gedanke, nicht wahr?
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