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Der traurige Hund

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

»Wie wäre es mit einer letzten Geschichte Käpt’n Ahab?«

Die Frage entlockte mir ein Lächeln, als ich wenige Schlücke aus dem Biergebräu trank, das ich in den Händen hielt, während wir das seichte Gewässer beobachteten.

Es war eine rhetorische und überflüssige Frage, deren Antwort ich bereits kannte, da der alte Mann mit seinem Holzbein immer etwas Spannendes zu erzählen hatte, nichts Schnulziges oder Romantisierendes, sondern direkt aus dem Leben.

»Ahab« war sein Spitzname, den ich ihm aufgrund seines Holzbeines und in Anlehnung an den Roman »Moby Dick« verliehen habe, und da wir beide manchmal zum Angeln hinausgefahren waren, passt dieser Name wie die Faust aufs Auge. Mich nennt er im Gegenzug »Queequeg« – der Indianer mit der Harpune aus hiesigem Roman.

Ich traf mich mit Opa schon mein ganzes Leben am See, um ein Bier zu heben und hörte ihm zu, wenn er seine wilden Geschichten erzählte. Immer dann, wenn wir einfach nur dasaßen oder das Wasser totenstill wurde, hatte er was zu erzählen, und das Angeln war, was uns zusätzlich immer verband.

Die Geschichten reichten von üblen Streichen, die sie als Kinder den Erwachsenen spielten (dafür oftmals viel Prügel einstecken mussten) bis hin zu merkwürdigen Abenteuern oder filmreifen Erlebnissen, denen keiner Glauben schenken würde.

Was ich eigentlich in wenigen Worten auszudrücken versuche, Opas Geschichten waren fester Bestand meiner Kindheit.

Wie gesagt, Opas Geschichten entspringen meist aus dem Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, das macht sie so besonders. Das war es, was mich über all die Jahre, in denen ich sie hörte, fesselte.

Opas Geschichten zu lauschen war schon immer lohnenswert, da seine Geschichten auch immer eine Lektion fürs Leben erteilten. Diese Erinnerungen würde ich für nichts in der Welt hergeben.

Doch Ahab wurde alt. Opa war für mich schon immer alt gewesen über unzählige Jahre, doch nun ist er wirklich alt. So alt und verwittert wie sein marodes Holzbein, dessen Austausch er sich gegen eine moderne medizinische Prothese stets verweigerte und dessen klopfendes Auftreten bereits vor einer geschlossenen Tür gehört wurde, was bei mir als Kind ein wenig Unbehagen bereitet hatte. Aber in den letzten Jahren ging seine Gesundheit steil bergab.

Ich hingegen war jetzt ein junger Erwachsener und stand gerade erst am Beginn, mit dem Strudel des Lebens fortgerissen zu werden, worauf es mich vor wenigen Jahren ein paar Städte weiter verschlug. Ich lernte ein nettes Mädchen kennen und genoss einfach die Freiheit meiner jungen Zwanziger. Wie es eben sein sollte. So viele Wege standen mir offen.

Ich sagte zwar, sehr mit dem Alten verbunden zu sein, aber in Wahrheit kam ich nicht annähernd so oft nach Hause, wie es angebracht wäre. Nicht annähernd so oft, wie ich es eigentlich gedachte.

Ich hatte Opa das letzte Mal vor einem Jahr gesehen. Kurz darauf erhielt ich einen Anruf von Mama, indem sie sehr traurig Opas Namen erwähnte, dass es ihm »schlechter ginge« – ich sollte ihn so bald wie möglich besuchen, da die Chancen ab jetzt weniger werden, ihn womöglich noch zu sehen.

Ich wollte mir selbst keine Schuldgefühle oder Vorwürfe aufladen, doch der Schmerz in meinem Herzen war enorm, als ich dies hörte. Ich dachte sofort an den idyllischen See und an Opas Geschichten; an die wundervolle vergangene Zeit.

Also bat ich meinen Chef um Urlaub, und ich machte mich so schnell ich konnte auf den Weg.

Und da saßen wir nach so langer Zeit auf klappbaren Campingstühlen am See, wo zu mancher Zeit die Graureiher schreien, nicht weit von Opas Farmhaus entfernt, und jeder hatte ein Bier bei sich. Eine alte Tradition zwischen uns.

Mama hatte am Telefon recht. Von dem einst kräftigen Mann war nichts mehr übrig geblieben. Es wunderte mich, dass er überhaupt noch mit mir hier am ruhigen Wasser sitzen konnte; die Augen weit eingesunken und Falten wie der Grand Canyon auf der Stirn. Er hatte vereinzelte Haarfetzen auf dem Kopf, Leberflecke und knochig-sehnige Arme ragten aus dem Unterhemd heraus. Auf der Schulter hatte er ein Seemanns-Tattoo, er trug immer noch die alte Basecap, und seine dunkle Jogginghose hatte er wie immer fast bis zum Brustbein hochgezogen.

Seine einstige Spritzigkeit und sein Tatendrang (trotz der lebenslangen Einschränkung mit dem Holzbein) waren komplett weg, obgleich es den Anschein hatte, als verfalle er bei der kleinsten überflüssigen Bewegung zu Staub.

Wir sprachen über die alten Zeiten, aber auch über die jetzige Zeit, wie es in meinem Job läuft und wie er damals in meinem Alter vergleichsweise hart auf dem Feld arbeiten musste. Leicht neckisch rempelte er mir den Ellenbogen zu, wann denn die Hochzeit mit meiner Freundin im Raum stünde; ob er eingeladen sei, was mir ein Lächeln entlockte. Es fühlte sich wie früher an, seine Stimme zu hören.

Ich konnte mir nicht helfen, aber irgendwann erbot sich mir die Gelegenheit, nach einer letzten Geschichte zu fragen, was mich so an meine Jugend erinnerte – auch wenn ich unentschlossen war, danach zu fragen, da mir das Auf und Zufallen von Opas Augenlidern ins Auge fiel, was ihn so erschöpft aussehen ließ wie ein Pflanzer auf Mauritius im 19. Jahrhundert.

Seine Augen schlossen sich zwar immer wieder, doch da die Sonne dahinzog und ich schon bald wieder abreisen musste – mich dabei ein ungutes Gefühl überkam, sobald ich mich ins Auto setzen würde -, nahm ich meinen Mut zu der einen Frage zusammen, die ich von mir gab.

Eine letzte Geschichte.

Zuerst kicherte er. Nein. Er gab sogar ein lautstarkes Lachen von sich, was in einen Hustenanfall überging. Ich klopfte ihm auf den Rücken, er kehrte zur Fassung zurück, und nachdem das Husten ganz nachgelassen hatte, verkündete er zuversichtlich: »Mein unverbesserlicher Enkel, du sollst deine Geschichte bekommen!«

Ich meinte noch, dass er sich auf keinen Fall übernehmen solle, doch blieb Ahab bei seiner Entscheidung. Somit begann er zu erzählen …

Das Lagerfeuer knisterte gemütlich vor sich hin, als wir; Jake, Gib, Francin und ich, unter einem freien Sternenhimmel auf einer Lichtung saßen und uns Lagerfeuergeschichten erzählten. Gib erzählte gerade von einem weißen Hund, der vor langer Zeit Tod und Krankheit in das naheliegende Dorf gebracht haben soll.

»Niemand wusste, woher er so plötzlich auftauchte«, sagte Gib. »Augenzeugen berichteten von einem weißen Streuner. Abgemagert soll er ausgesehen haben, und völlig unscheinbar kam er daher. Dort, vor welcher Haustür er beschloss zu verharren, konnte man an den darauffolgenden Tagen eine schreckliche Nachricht erwarten, ‚der Hausbewohner erkrankte und sei unerwartet verstorben‘.«

»Das sind doch alberne Geistergeschichten …«, kommentierte Francin mit rollenden Augen.

Wir grinsten alle bis auf Gib, der mit einer Ernsthaftigkeit weiter in seiner Rolle als Gruselerzähler im Schatten des Feuers verblieb: »Als die Angst der Dorfbewohner ins Unermessliche stieg – sie ebenso am Vertreiben des Hundes scheiterten -, beschloss der Dorfpfarrer, sich seiner anzunehmen. Mit einem Rosenkranz, einer Bibel und mit Weihwasser bewaffnet machte er sich also auf, um das Böse zu vertreiben. Am nächsten Morgen erblickten die Dorfbewohner jedoch nur noch ein menschliches Wrack. Die Haare des Pfarrers waren weiß wie Glut, er hatte an Gewicht verloren und schwieg für immer. Alles nach dieser einen Begegnung. Der weiße Hund war verschwunden und tauchte nicht wieder auf.«

Seine abschließenden Worte waren: »In Nächten wie diesen, wenn der Wind heult, soll man sein Winseln vernehmen …« Für einen Moment sagte keiner etwas. Das Feuer knisterte weiter, und in der Ferne schrie ein Fuchs.

Jake setzte die Lippen an der Bierflasche an, worauf er die Flasche auf einem flachen Stein platzierte, um etwas in der Runde zu verkünden.

»Eine ganz nette Geschichte. Doch wenn ihr etwas wirklich Gruseliges erleben wollt, dann trefft mich alle morgen zur Walpurgisnacht in der verlassenen Wohnung am Ende der Brownstreet.«

»Was hast du nun schon wieder vor?«, fragte Francin.

Er würde gern ein kleines Ritual ausprobieren, das ebenfalls etwas mit einem verfluchten Hund zu tun hätte, was die alberne Gruselgeschichte von eben weit in den Schatten stelle, und ein »geheimes« Buch wollte er uns zeigen, dass sich normalerweise in fester Verwahrung seines schweigsamen Großvaters befände, mehr verrate er nicht.

»Natürlich nur, wenn ihr Hosenscheißer euch traut«, sagte er mit einem Augenzwinkern. Bis auf Francin, die als einzige verdutzt in die Runde blickte, als wären wir allesamt unreife Lausbuben (was wir auch waren), stimmten alle dem Treffen zu.

Gesagt, getan. Am nächsten Abend standen wir bei hellem Mondlicht und einer leichten Herbstbrise vor der verlassenen Bruchbude. Im Garten mit seinen vertrockneten Brauntönen lag ein umgestürzter Strommast sowie vereinzelter metallisch-funkelnder Konservenmüll. Die Eingangstür war verriegelt. Wir mussten nach einem alternativen Eingang Ausschau halten, was sich als schwierig erwies, da die meisten Fenster des Gebäudes mithilfe von Brettern zu einer Festung vernagelt wurden. Weiter war alles, woran man sich hochziehen konnte, recht wackelig, wenn nicht einsturzgefährdet.

Schließlich stießen wir auf ein geeignetes Fenster, das uns den Zugang ermöglichte.

Wir hatten Taschenlampen und Kerzen dabei, mit denen wir ehrfürchtig und bedächtig den Weg bis zur zentralen Stube ausleuchteten. Alles war voller Staub, Spinnweben und Sägespäne. Über uns schwebte ein alter Kronleuchter, an der Wand stand eine antike Kuckucksuhr, die genau bei einer Minute vor Mitternacht stehen geblieben war, und ein schimmlig-morscher Holzgeruch durchdrang die Luft.

Irgendwo am Dachgiebel musste eine Regenrinne abstehen oder eingerissen sein, da dort der Wind wie ein Wolf aufheulte, was uns Gänsehaut bescherte. Gib wollte sogar einen Rückzieher machen, doch konnten wir ihn zum Bleiben überreden.

Queequeg … hätte ich das Ende von alldem gewusst, hätte ich ihnen jene Teufelei, die wir hervorbringen würden, auf der Stelle ausgeredet.

Da saßen wir also allesamt im Kreis im Schneidersitz wie ein gottloser Hexenzirkel. Um uns herum stellte Jake überall Kerzen nach der Vorlage des Musters aus dem merkwürdigen Buch von seinem Großvater auf. Anschließend verstreute er ein weißes Pulver auf den Boden, von dem er behauptete, dass es sich um 1000 getrocknete Tränen handelte.

Dann schlug er das Buch auf, das er uns nicht genauer untersuchen lassen wollte. Doch die wenigen Seiten, die ich erkannte, bestanden aus mittelalterlichen Holzschnitten voller finsterer Wesen, über die ich nicht lange nachdenken möchte, unbekannte gezackte Schriften und seltsame Zeichen.

»Rede endlich, Jake! Was soll der ganze Aufwand?«, fragte Francin. »Das möchte ich allerdings auch allmählich wissen«, ich schloss mich der Frage im verschwörerischen Kerzenlicht an.

Er brach sein Schweigen: »Also schön. Dies ist ein uraltes Ritual, um mit einem Wesen in Kontakt zu treten, das hier einst traurig zum Sterben zurückgelassen wurde. Ich möchte es euch unbedingt einmal vorführen. Die gestrige Lagerfeuergeschichte brachte mich auf die Idee dafür«, er begann zu grinsen, »es wird ein Riesenspaß, glaubt mir.« Sein Grinsen legte sich wieder. »Heißt, … sofern nichts schiefgeht.«

Als wir dies hörten, wurden wir skeptisch wie unsere Lehrerin Ms. Bright, wenn sie einen von uns an die Tafel beorderte.

»Etwas kann schiefgehen? Verstehe ich das richtig?«, fragte Gib dessen Bein Hin und Her wippte, während unser aller Gleichmut allmählich dahinschwand. Wir hatten ja keine Ahnung von dem Bösen, das wir herbeirufen würden. Wir waren nur ein paar naive Jugendliche, auf der Suche nach dem Nervenkitzel.

»Wenn ihr tut, was ich euch sage und mir euer volles Vertrauen schenkt, wird auch nichts schiefgehen. Versprochen.«

Jake zeigte uns einen Holzschnitt aus irgendeiner Seite des Buches. Die grotesken Illustrationen darin ließen unsere Gesichter der Reihe nach verziehen. Dann legte er das aufgeschlagene Buch vor sich nieder. »Es wird nichts passieren. Ich habe es schon einmal ausprobiert.«

Er wurde daraufhin so still wie ein von Rauchschwaden umhüllter Schamane, der in den Trancezustand herüberglitt. Dann überreichte er jedem von uns einen Talisman. Wir schmückten unsere Hälse damit, danach sollten wir uns alle an den Händen fassen. Er begann, die Worte aus dem Buch zu zitieren. Dies tat er mit einer Konzentriertheit, die seinesgleichen suchte. Und das ausgerechnet von Jake, dem größten Schulschwänzer.

Kurz darauf meinte er, dass wir uns jetzt unter keinen Umständen – egal was auch passieren würde – von der Stelle bewegen durften. Nicht mal ein Zucken. Ganz normal Atmen. Was sich als leichter gesagt als getan herausstellte.

Es war die stetig außerhalb des Raumes vorbeistreifende Brise wie ein winselnder Hund klingend, die uns allesamt zum Erschaudern brachte und meinen Brustkorb verengte. Blasse Gesichter blickten in die Runde. Was dann meinen Menschenverstand in seinen Grundfesten erschütterte, war zum einen das auftretende Scharren vor einer der ins Unbekannte führenden verschlossenen Holztür und zum anderen vereinzelte Kerzenlichter, die plötzlich wie von Geisterhand erloschen.

Als vor der verschlossenen Tür plötzlich das Winseln eines Hundes vernehmbar wurde (immer noch unsicher ob es sich nicht doch um den pfeifenden Wind draußen am löchrigen Giebel handelte der uns allmählich dem Wahnsinn näherbrachte), bemerkte ich ein Zittern in den Händen links und rechts neben mir. Auch mein Herz begann gegen die Brust zu hämmern; Schweiß sammelte sich in meinem Nacken – erst recht, als sich das Winseln vor der verschlossenen Tür in ein gelegentlich tiefes Knurren verwandelte. Ein bedrohlicher Gefühlsmoment, der sich in der kurzen Zeit bis in unsere Glieder fraß.

Die surreale Lage, in die wir uns hineinmanövriert hatten, blieb für drei Minuten unverändert. Und ein weiteres Mal ist uns die Wichtigkeit davon, keinesfalls die Fassung zu verlieren, erklärt worden; einfach lauschen und nicht bewegen. Dann würde das Knurren wieder aufhören. Aber das Knurren wurde lauter. Und Gib verlor sehr wohl die Fassung. Indem er aufsprang und panisch in Richtung Ausgang stolperte. Zeitgleich erloschen noch mehr Kerzenlichter.

»UM GOTTES WILLEN, jetzt nicht aufzustehen!« waren die letzten Worte von Jake, als nun auf einmal etwas gegen die Holztür zu schlagen begann, dessen Ursprung bloß in den unheiligen Fundamenten des Hauses zugrunde liegen konnte.

Die Schläge waren hämmernd und ließen beinah das ganze Haus zum Erbeben; die Wände wackelten.

Immer wieder warf sich irgendetwas gegen die Holztür.

»Bamm

»Bamm

»Bamm …«

Als es langsam nachließ und jetzt auch die letzte Kerze erlosch, was uns vollends in nächtlicher Schwärze umhüllte hatte uns Gib mit seinem Irrationalismus wie bei einer Hühnerschar angesteckt, sodass wir alle die Fassung verlierend aufsprangen, um der surrealen Gegebenheit zu entfliehen gleich einer Massenhysterie.

Als die Tür schließlich aufsprang und ein knurrender Schatten im Dunklen den Raum betrat, hielt uns überhaupt nichts mehr: Wir rannten, stolperten; stolperten und rannten; übereinander; untereinander; sodass ein absolutes Durcheinander auf der Suche nach einem gnädigen Ausgang unter uns herrschte.

Hinter mir hörte ich bloß noch Schreie, zerfleischende Geräusche und die Gerüche nach Angstschweiß sowie warmen Blutes schienen mir hinterherzujagen. Es brannte sich auf immer in mein Gedächtnis ein.

Ich erreichte als einziges das Fenster, von dem wir in das Haus gekommen waren. Als ich inzwischen quer über dem Fenstersims lehnte, schoss ein Schmerz wie nicht von dieser Welt durch mein Bein. Etwas, das enorm lange Reißzähne besaß, musste sich darin verbissen haben und ließ nicht mehr davon ab. Es war nicht auszuhalten. Dabei weiß ich bis heute nicht, ob ich mir den weißen, vor mir in der Wiese sitzenden Hund aufgrund der Schmerzen nur eingebildet hatte oder ob dieser dann wirklich zähnefletschend über meinen Rücken hinweg einen Satz in die Behausung machte, um sich wie ein Engel seinem dunklen Widersacher im Haus entgegenzustellen.

Hinter mir vernahm ich ein starkes Polter und animalisches Gebrüll. Das Wesen ließ zwar dank des weißen Hundes von meinem Bein ab, doch als ich das Fenstersims überwunden hatte und endlich draußen im Gras lag, bemerkte ich, dass, wo sich immer mein Unterschenkel befand, plötzlich nur noch ein jämmerlicher Stumpf im Mondlicht schimmerte, aus dem willkürlich kleine Blutfontänen durch durchtrennte Äderchen sprießten.

Ich konnte mich einige Meter voranschleppen, ehe ich einschlief und Stunden später im Krankenhaus wieder zu mir kam, wo meine Schilderung von den Krankenschwestern um mich herum als fieberhaftes Geschwätz abgetan wurde. Wer der weiße Hund auch war, ich verdanke ihm mein Leben, indem er mich vor der Schattenkreatur in dem verfluchten Haus bewahrte, auch wenn mich die gnädige Ohnmacht von dem Vorfall erlöste.

Meine Freunde waren für immer verschwunden, und ich vermied dieses Haus für den Rest meines Lebens.

Ich hatte von meinem Großvater noch nie solch eine schlimme Geschichte gehört. Wir schwiegen. Mein Mund bewegte sich in Zeitlupe auf und zu, denn ich musste das Gehörte erst einmal richtig verarbeiten und einordnen. Nach dieser Geschichte wirkte das Gesicht des alten Mannes so eingefallen wie ein vertrockneter Kürbis. Es musste ihm viel Kraft gekostet haben, dieses Ereignis von der Seele zu reden.

Schwermut lag in seinem Ausdruck, wie ich sie noch nie gesehen hatte.

Mit einem »aber … du hast doch dein Bein im Krieg durch eine Granate verloren …?« unterbrach ich die Stille.

»Mein Junge, die detonierte Granate war die einzige Geschichte von mir, die ich mir ausgedacht hatte. Wer würde mir die wahre Geschichte denn schon glauben, außer dir, meinem langwieriger Freund?«

Wir waren viele Jahre unzertrennlich gewesen, sodass uns beide stets ein tiefes Vertrauen und eine große Liebe begleiteten. Ich bin mir sicher, der Einzige gewesen zu sein, dem er die wahre Geschichte über seinen Verlust erzählte. Aufgrund des Bandes zwischen uns konnte ich seine nächsten Worte bereits erahnen, auch da zumal noch die Lektion fehlte, die man immer aus seinen Geschichten zog.

»Weißt du, mein Junge“, sprach er. »Es gibt Dinge in dieser Welt – düstere, unerklärliche Dinge -, von denen sollte man einfach die Finger lassen.«

Normalerweise würde ich Opa, sobald die Geschichten zu Ende waren, sämtliche Löcher in den Bauch fragen. Wie, wo, warum. Doch diesmal nahm ich seine Erzählung einfach entgegen. Auch wenn in seinem Ausdruck die Zeichen auf Gegensätzliches standen.

Wir hatten noch ein Weilchen einfach verharrt, während wir den Sonnenuntergang beobachteten und sich unsere Schatten am Ufer des Sees in die Länge zogen.

Ich verabschiedete mich von ihm mit einem Schulterklopfen und einem ruhigen Lächeln. Wir wussten beide, dass dies unser letztes Treffen war.

Nachdem wir den kurzen Weg zurückgelaufen waren, winkte Opa mir noch langsam hinterher, als ich mich langsam mit dem Auto von seinem Hof entfernte und dessen Gestalt im Horizont verschwand.

Während meiner Heimfahrt begann ich zu grübeln. Es war ein absolutes Trauma, das mein Großvater erlebt hatte, und er hat sich mir mehr denn je geöffnet, indem er das, was er jahrelang mit sich stillschweigend herumgetragen hatte, mit mir teilte.

Es war etwas, was uns immer verbinden würde. Was waren das für wunderbare Jahre. Die Liebe zwischen einem kauzigen Großvater und dem wissbegierigen Enkel.

Ich werde dich niemals vergessen, Opa. Finde deinen Frieden.

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