
Die Eitelkeit der Sterblichen
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Abschuss.
In der Dunkelheit des Waldes schreckte der junge Rehbock auf und sprang in einer Geschwindigkeit ins Dickicht, die einer Olympiade würdig gewesen wäre. Doch bereits vom Hochsitz aus hatte sie gesehen, dass der Schuss ein Volltreffer gewesen sein musste. Ein Lächeln huschte der Jägerin über das Gesicht. Dieses Jahr war das bereits der fünfte Bock, der ihr vor die Flinte lief.
Nach ihrem Abstieg vom Hochsitz war es nur eine Frage der Zeit, bis sie erst die verräterische Blutspur und dann den Bock finden würde. So war es bisher immer gewesen und so sollte es auch diesmal sein. Der Abend färbte den Himmel blutrot. Die sich von selbst bewegenden Schatten des Waldes tanzten ein Duett mit dem bronzen schimmernden Licht, doch mit der untergehenden Sonne verblasste auch das letzte Gold des Tages.
Zwar hatte sie ihren Jagdhund dieses Mal nicht mitgenommen, dennoch fand sie die mit dem Blut ihrer Beute beschmierten Blätter und Zweige. Sie ragten wie nach Hilfe suchende Hände in Richtung der Jägerin, doch diese schüttelte nur den Kopf, schüttelte diesen Gedanken ab, und packte ihre Taschenlampe aus. Der Abend wich der Nacht und so wurden die einst warmen Schatten immer kälter und finsterer.
Wenn sie richtig gesehen hatte, sollte ihre Kugel den Hals des Rehs durchbohrt haben. Es sollte also nicht allzu weit kommen, bevor es erst vor Erschöpfung zusammenbrach und dann … bisher war es noch nie dazu gekommen, dass sie einen Gnadenstoß ansetzen musste, doch es war nicht ausgeschlossen, dass sie ihrer Jagdbeute irgendwann in die klagenden Augen schauen musste, während sie die Kehle aufschlitzte. Ihr grauste bei der Vorstellung, dies machen zu müssen. Es war immerhin so viel einfacher, aus der Ferne das Tier anzuvisieren und dann den tödlichen Schuss zu tätigen.
Zügig bewegte sich die Jägerin fort. Die Schreie der ersten Eulen wurden laut, der Wind pfiff leise und brachte die dichten Baumkronen zum Rauschen. Der bleiche Lichtkegel ihrer Taschenlampe huschte von Stelle zu Stelle, suchte nach dem tiefen Rot des Blutes.
Vereinzelt blitzte es auf, das einzige Nass im vom Sommer trockenen Wald, und immer weiter folgte die Jägerin der Spur der Sterblichkeit. Knorrige Bäume ragten majestätisch in die Höhe und das Zwielicht der Nacht ließ sie wie alte Könige aussehen, die sich von der Finsternis vereinnahmen ließen. Der Himmel erstreckte sich ungesehen über den Wald. Nur gelegentlich blitzte vereinzelt ein Stern durch das alles umschließende Blätterdach, das den Wald abzuschirmen und zu behüten schien.
Im Licht ihrer Taschenlampe erkannte sie vielerlei Pflanzen. Kleine Sträucher und Kräuter, unter denen Ratten und Mäuse huschten, Büsche und Bäume, die Heimat für Vögel, Käfer und kleine Säuger darstellten und …
Rosen.
Nirgends im tiefen Dickicht des Waldes hätte die junge Jägerin Rosen erwartet, doch die dornigen Ranken und prachtvollen Blüten einer ebensolchen waren nun das, was vor ihr gen Himmel ragte. Fast schienen sie mit den Baumkronen in Konkurrenz treten zu wollen, um den Himmel an ihrer Stelle erreichen zu können.
Die Jägerin tippte sich nachdenklich an die Unterlippe und leuchtete mit ihrer Taschenlampe an der Pflanze entlang. Jemand musste sie absichtlich hier eingepflanzt haben, denn vor der Jägerin erstreckte sich nicht nur ein einzelner Rosenstock, sondern eine ganze Reihe Rosen, die eng ineinander verschlungen eine hohe Mauer bildeten. Ein unwohles Gefühl machte sich in ihrer Brust breit. Es wirkte fast, als würde diese Mauer etwas umschließen und vor den Augen der Welt verbergen, doch ihr Blick wurde durch ein leises Rascheln auf den Boden der Rosenmauer gelenkt. Jeder Gedanke und jede Furcht waren sofort vergessen. Das Licht der Taschenlampe machte einen blutbeschmierten Spalt sichtbar, durch den der Rehbock wohl geflohen war.
Die Jägerin runzelte die Stirn und kniete sich an die Öffnung. Sollte sie …?
Sie wurde sich der Kälte um sich herum bewusster als ihr lieb war. Durch das Heckenloch zu kriechen, musste anstrengend sein. Vielleicht war der Bock auch nicht auf der anderen Seite.
Behutsam ging sie in die Hocke, doch sie konnte das Knacken von kleinen Zweigen unter sich nicht verhindern. Das Blut am Spalt war noch sehr frisch. Der stellenweise aufkommende Wind hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, die Ränder der Spritzer dunkel werden zu lassen. Ihre Hand fuhr langsam über die überraschend grünen Blätter, die prallen Knospen und die wunderschönen, halb geschlossenen Blüten. Gleichzeitig fuhr ihr ein Schauer, kalt wie die Nacht, über ihren Rücken. Sie schluckte. Zog ihre Hand zurück. Wie konnte dieser Strauch eine solche Blütenpracht haben, wo die Dürre selbst die Blumen in ihrem regelmäßig gewässerten Garten dahinzuraffen vermochte? Das mulmige Gefühl von eben machte sich wieder in ihrer Brust breit und sie bewegte sich Schritt für Schritt rückwärts. Bestimmt war der Rehbock nur vorbeigelaufen.
Hinter der Mauer aus Dornen wurde ein dumpfer Aufprall hörbar. Die Jägerin hielt inne. Das musste der Bock gewesen sein. Sie ging wieder zum Strauch, die Furcht durch das Jagdfieber vergessend, drückte sie die blutverschmierten Ranken vorsichtig weiter auseinander und robbte langsam durch den von ihrer Beute verursachten Spalt. Die Dornen verhakten sich in ihrer Kleidung, rissen sie auf. Der Stoff saugte sich langsam mit dem Blut ihrer Beute voll, umhüllte sie im metallisch-süßen Duft eines erfolgreichen Mordes.
Und da lag er dann auch, der erschossene Bock. Sie lächelte, klopfte sich den Schmutz von der Hose und ging auf das zusammengekauerte Reh zu.
Es atmete noch. Die großen, braunen Augen starrten sie an. Doch es lag keine stumme Klage in ihnen, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, sondern Furcht. Furcht vor dem Tod, der sich in Gestalt einer jungen Frau gnadenlos näherte.
Seine Brust hob und senkte sich in einem zittrigen Rhythmus, seine verängstigten Augen rollten so weit nach hinten, dass beinahe ausschließlich das Weiße zu sehen war und das braune Fell war blutverklebt. Die Jägerin erstarrte bei dem Anblick des sterbenden Tieres. Sie atmete tief durch. Jetzt durfte sie nicht hadern. Je mehr sie zögerte, desto länger würde das Reh leiden. In ihrer Hand lag inzwischen das Jagdmesser, mit dem sie es tun würde.
Der Gnadenstoß.
Als sie mit ihrem Messer in seine Kehle schnitt und zusah, wie das Blut hervorquoll, bildete sich ein Knoten der Schuld in ihrem Magen. Das Reh hatte nicht einmal mehr genug Kraft, sich dagegen zu wehren. Seine Atmung wurde flacher, Blut rann aus seinem halb geöffneten Mund und die Nüstern bebten.
Als jede Regung erstarb, ließ sich die Jägerin von der Hocke in eine sitzende Position fallen und presste die Lippen aufeinander. Schweißperlen benetzten ihre Stirn. Dutzende Male hatte sie bereits Wild ausgenommen, das Fleisch zerteilt und jedes Stück einzeln verpackt. Und doch war dieser Moment, in dem sie ihrer Beute zusah, wie sie ihren letzten Atemzug tat, einer, der sie schaudern ließ.
Die Jägerin stand schließlich auf, krempelte sich die Ärmel hoch und packte den Bock bei den Vorderbeinen, um den Kadaver durch das Loch in der Rosenwand wieder nach draußen und anschließend in ihr Auto zu befördern. Doch als sie die Wand erreichte und beleuchtete, schien das Loch verschwunden zu sein. Die Jägerin runzelte die Stirn. Eben war sie doch … sie suchte die Hecke ab, fand allerdings nicht einmal mehr die Blutspur. Kopfschüttelnd ging sie in die Hocke und packte das Messer, mit dem sie das Reh getötet hatte, fester. Das Blut ihrer Beute glänzte nach wie vor im Licht der Taschenlampe auf der Klinge, als sie sich daran machte, die Hecke aufzuschneiden. Das Rascheln und Knacken der Äste mischte sich mit dem leisen Fluchen der Jägerin, die immer wieder mit den Händen an den Dornen der Hecke hängen blieb und sich dadurch kleine Wunden zufügte.
Als es eine angemessene Größe erreicht hatte, robbte sie rückwärts durch das Heckenloch. Gleichzeitig ergriff sie die Vorderbeine des Bocks und versuchte, ihre Beute mit sich durch das Loch zu befördern. Doch jeder Zentimeter, den sie weiter vorankam, wurde beschwerlicher. Zunächst schaffte sie es noch, sich aus den Dornen zu befreien, diese abzuschütteln und weiterzukriechen, doch als sie mit einem Mal nicht mehr weiterkam, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Sie krallte sich an die Beine des Rehs, versuchte, sich aus der gnadenlosen Umarmung der Rosen zu lösen. Irgendwann ließ sie ihre Beute los, nahm ihr Messer und begann, an der Hecke herumzuschneiden. Ihre Mühen verliefen sich jedoch ins Leere. Der immer kälter werdende Körper des Rehbocks lag vergessen in der verborgenen Lichtung. Starrte leer in den Himmel.
Statt voranzukommen, riss sich die Jägerin weiter die Kleidung auf, verlor immer mehr die Fähigkeit, sich fortzubewegen.
Und irgendwann spürte die Jägerin, wie sich die eiskalten Dornen nun auch in ihre Haut bohrten. Sie wagte es kaum, einen Blick über die Schulter zu werfen, musste jedoch zurückschauen. Ihr zitternder Körper handelte wie von selbst. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Und als sie ebendies zitternd tat, erbleichte ihre Haut vor Furcht. Tränen rannen ihr über die Wangen, in ihrer Panik wollte sie schreien, doch als sie den Mund öffnete, kam nichts als ein leises Wimmern hervor. Wie von selbst, gesteuert durch eine unsichtbare Kraft, bewegten sie sich. Mehr und mehr, dunkler und finsterer.
Dornen.
Enger, immer enger schlangen sich die Ranken um ihren Körper, erschwerten ihr jeden Atemzug, begannen schließlich auch, nicht nur ihre Taille, sondern auch den Rest ihres Körpers langsam wie der Kokon einer Spinne einzuhüllen.
Sie wehrte sich, riss an den Ranken, durchtrennte diese mit ihrem Messer, doch diese schienen immer mehr zu werden, je mehr sie versuchte, sich zu befreien. Die Jägerin wurde zehrend langsam von den Schlingen aufgerichtet. Jeder Dorn, die sich in ihren wehrlosen Körper bohrte, erfüllte sie mit Schmerzen und Taubheit zugleich und jeder Tropfen Blut, den sie vergoss, wurde von der Pflanze aufgenommen wie der eines erfrischenden Sommerregens. Es gab keine Bewegung, die nicht mit brennenden Schmerzen bestraft wurde und jedes Schluchzen schien die Schlingen der Rosen enger werden zu lassen.
Die Jägerin hatte nicht einmal mehr genug Kraft, sich dagegen zu wehren. Ihre Atmung wurde flacher, Blut rann aus ihrem halb geöffneten Mund und ihre Lippen bebten, während sie ihre Augen in der gnadenlosen Umarmung der Rosen so weit nach hinten verdrehte, dass beinahe ausschließlich das Weiße zu sehen war.
Als der Mond seinen Platz mit der Sonne tauschte, landeten einige Rosenblätter friedlich auf dem ewigen Monument. Schmetterlinge flatterten träge durch die Luft, landeten gelegentlich auf den blutroten Rosen. Eine braune Kröte beobachtete am Fuß einer Steinfigur die fliegenden Insekten, machte aber keinerlei Anstalten, diese anzugreifen. Auch die leise brummenden Hummeln schienen die Kröte nicht zu stören.
Zahllose Risse zierten die Statuen, die seit Jahrhunderten bereits halb eingesunken im Moos ruhten. Das einschläfernde Gezwitscher der Vögel und das ruhige Rascheln der Baumkronen, die majestätisch in den Himmel ragten, vermochten die zärtliche und friedvolle Atmosphäre zu untermalen und die Geschichte hinter den Fragmenten einer ehemals prunkvollen Gottesstätte geschickt zu kaschieren.
Das, was längst vergangene Generationen der Menschheit einst anbeteten, war inzwischen vollkommen in Vergessenheit geraten. Ein Niemand vermochte es, diese heilige Stätte zu betreten. Und wenn ein Sterblicher dies in seiner Eitelkeit tat, sollte er sie niemals lebend verlassen können.
Die Götter behüten jedes Leben, das in ihrer Not zu ihnen flieht. Und es zu wagen, ein verwundetes Tier auf dem heiligen Boden zu erlegen, war ein Frevel, der nicht verziehen werden konnte. Ein Rehbock graste friedlich vor den zerfallenen Ruinen. Blut klebte an seinem dichten, braunen Fell, doch das war ein Problem, das in derselben Nacht gelöst wurde, in der es auch entstanden war.