Die falsche Frau
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Die richtige Frau zu finden ist gar nicht so leicht. Christian scheint es gelungen zu sein und er steht endlich am Ziel seiner Träume: am Traualtar. Doch ist es wirklich die richtige Frau, die er da heiraten will? Oder begeht er vielleicht einen tödlichen Fehler?
Was in mir vorging, als ich von der bevorstehenden Trauung erfuhr, ist schwer zu sagen. Ein Chaos aus Gefühlen explodierte in mir, wobei die Angst das vorherrschende war. Angst und die furchtbare Vorahnung einer Katastrophe.
Denn ich wusste, nein vielmehr SPÜRTE tief in meinem Herzen, dass Christian mit dieser Ehe unaufhaltsam seinem Untergang entgegensteuerte, dass er dabei war einen schrecklichen Fehler zu begehen.
Chris wollte den heiligen Bund der Ehe eingehen, das höchste Gelübde der Treue und ewigen Liebe der falschen Frau geben. Und ich hatte nur noch einen Tag Zeit, um das zu verhindern und ihn zu retten.
Ich wage zu behaupten, dass niemand, nicht einmal Christian selbst, ihn so gut kennt wie ich. Seit dem Gymnasium, wo wir uns auf dem Schulhof vor 15 Jahren das erste Mal begegneten, waren wir unzertrennlich. Chris war schon damals einer der beliebtesten und coolsten Jungs gewesen und umso größer war mein Erstaunen als der gutaussehende schwarzhaarige Skater, der immer von seiner Clique umringt war, ausgerechnet bei mir Rat und Hilfe für seine Schulaufgaben suchte. So banal sich das anhören mag und wahrscheinlich wäre es auch eine banale und schnell wieder vergessene Begegnung geblieben, hätten wir nicht beim gemeinsamen Lösen der Matheaufgaben festgestellt, dass wir tatsächlich einige Gemeinsamkeiten hatten. Dies war auf den ersten Blick zwar nicht zu erkennen, denn wie schon gesagt war Chris ein gutaussehender charismatischer Junge mit einem großen Freundeskreis und ich nur ein stilles schüchternes Mädchen, das, wenn auch nicht hässlich, damals noch nichts aus sich zu machen wusste und eher zum Typ Mauerblümchen gezählt wurde. Doch Chris schien etwas in mir zu sehen, was andere nicht sahen, schien sich, neben all seinen Freunden, mit denen er abhängen und Sprüche klopfen konnte, nach einem stillen, einem ECHTEN Zuhörer zu sehnen, jemandem, mit dem er wirklich REDEN und nicht nur quatschen konnte. Mit meinem ernsthaften und stillen Wesen schien ich mehr Eindruck auf ihn zu machen, als mir anfangs bewusst war und so dauerte es nicht lange und aus dem gemeinsamen Lernen wurden ausgedehnte Treffen, bei denen wir gemeinsam Musik hörten, feststellten dass wir die gleichen Bands und Bücher mochten, eine Leidenschaft für Literatur und Lyrik teilten und miteinander so manch tiefsinnigen Gedanken austauschen konnten, der unsere Herzen umtrieb. Ich erinnere mich noch genau an einen besonderen Tag. Es war ein verregneter Nachmittag gewesen, den wir wie so oft in Chris Dachzimmer zusammen verbrachten. Auf Chris Stereoanlage lief ein Song von den Angels and Airwaves., unserer Lieblingsband. Es war „Good Day“. Auch heute noch kann ich ihn auswendig und wenn ich ihn höre bekomme ich eine Gänsehaut:
True love is something that comes easy
Just one kiss, God I swear I want to
I heard a pin drop and a nervous heartbeat
Have you ever heard me scream „I love you“?
Während die Stimme Tom Delongs unsere Ohren und Herzen füllte, hatte sich eine knisternde Spannung zwischen uns ausgebreitet und wir sahen immer mal wieder verstohlen zu dem anderen Hinüber, dann schüchtern wieder auf den Boden. Doch auf einmal saß Chris näher als sonst neben mir. Auf einmal waren da seine Lippen auf den meinen, ich kann sie heute noch schmecken, wenn ich die Augen schließe… I think I like today… I think it´s good… it´s something I can´t get my head around…
Aber ich schweife ab, verliere mich in der bittersüßen Erinnerung meiner ersten großen Liebe. Dieser einen, dieser besonderen, wie man sie nachher nie wieder findet und die niemals halten kann…
Nach diesem Kuss waren wir ein Paar und hatten auch eine wunderschöne gemeinsame Zeit zusammen. Chris stellte mich seinen Freunden vor, wir unternahmen viel gemeinsam oder auch nur zu zweit. Im Sommer fuhren wir mit den Rädern zum See und verbrachten endlose goldene Tage am Wasser. Einmal nahmen wir sogar das Zelt mit und übernachteten unter freiem Himmel am See. Diese Nacht werde ich nie vergessen, sie war die schönste meines Lebens…
Im darauffolgenden Herbst stand der große Schulball an, auf den ich natürlich mit Chris an meiner Seite ging und zu dessen Anlass mir meine Mutter ein wunderschönes Kleid aus roséfarbener Seide genäht hatte. Auch zog sie mir die Haare durch ihren Lockenstab und ich durfte mich das erste Mal schminken. Chris Vater fuhr uns in seinem Mercedes bis zum Schultor und als ich an Chris Arm ausstieg schauten unsere Mitschüler mit großen Augen und offenen Mündern zu uns herüber. Als wir die Tanzfläche betraten, ging ein Raunen durch die Menge. Ich war von der grauen Maus zum beliebtesten Mädchen der Schule geworden und natürlich machte sich das auch in meinem Aussehen und Auftreten bemerkbar. Ich legte nun viel mehr Wert auf mein Aussehen und meine Kleider, nicht nur, weil ich mit Chris mithalten und ihm gefallen wollte, sondern auch, weil mein Selbstbewusstsein immens gewachsen war und ich mir viel mehr zutraute.
Langsam, aber sicher wurde ich an Chris Seite vom schüchternen Mädchen zur bewundernswerten Frau.
Dies war das eine. Das andere aber war die tiefe, innige und echte Liebe, die mich mit Chris verband. Dies war es auch, was zwischen uns hielt, auch als wir älter wurden, reifer wurden und uns leider, im Strom der Zeit voneinander weggetrieben sahen. Woran genau es lag, kann ich heute nicht mehr sagen. Vielleicht waren wir damals, mit unseren 15 Jahren einfach „zu jung“ wie man so schön sagt. Keiner wusste damals recht, wohin er wollte, was aus ihm werden solle und wer er eigentlich war. Wie dem auch sei, die junge, heftige Teenagerromanze fand ihr vorbestimmtes Ende. Was blieb waren zwei junge Erwachsene, die sich noch immer nahestanden, noch immer im Herzen verbunden waren, die sich ihre innigsten Geheimnisse und Wünsche anvertraut hatten und Erinnerungen an Erlebnisse teilten, die sie so mit niemandem je mehr erleben würden. Nachdem der erste heftige Kummer über die Trennung überwunden, die tiefsten Verletzungen geheilt waren, besannen wir uns, dass wir einander nicht verlieren wollten. Zu kostbar waren, trotz aller Differenzen, die gemeinsamen Verbindungen. Und so entwickelte sich aus der unbeständigen Liebe eine tiefverwurzelte Freundschaft. Waren wir auch keine Liebenden mehr, so blieben wir Seelenverwandte.
Wir verließen das Gymnasium, blieben aber beide trotz unterschiedlicher Laufbahnen in der gleichen Gegend wohnen und setzten unsere Treffen, wann immer es sich zeitlich einrichten lies fort. Chris verbrachte ein Jahr in Australien, welches wir mit Briefen und Telefonaten überbrückten und es verging kaum eine Woche in der wir nicht voneinander hörten. Mit der Zeit wurden unsere Treffen natürlich seltener. Jeder wurde erwachsen und hatte sein eigenes Leben zu bewältigen, die Ausbildung, das Studium, der erste Job. Dennoch, das Band unserer Freundschaft war stärker als der Lauf der Zeit und unsere Leben trotz aller Gegensätzlichkeiten untrennbar miteinander verbunden.
All das änderte sich aber, als Chris Nathalie kennenlernte. Es war immer bewusst gewesen, dass ich nicht für ewig die einzige Frau in seinem Leben bleiben konnte. Wir hatten damals entschieden getrennte Wege zu gehen und festgestellt, dass sich zwar nicht unsere Liebe, wohl aber unsere Freundschaft erhalten lies und das in all den Jahren auf so besondere Weise geknüpfte Band würde zwischen uns würde nicht reißen, komme was da wolle. So hatte ich immer gedacht. Ich hatte mich darauf vorbereitet, Chris in den Armen einer anderen Frau zu sehen. Er sah gut aus, war charismatisch, charmant, humorvoll und machte natürlich auf die Damenwelt Eindruck. Auch ich hatte mich, nachdem die Wunden der ersten Trennung verheilt waren nicht vor der Männerwelt verborgen. Allerdings war bisher nichts Ernsthaftes dabei herausgekommen und bei Chris schien es ebenso zu laufen: Ein anfängliches Feuer war schnell entfacht, gerade in Zeiten des Internets und Onlinedatings. Doch wie gewonnen, so zerronnen, heutzutage kann und will sich wohl niemand mehr festlegen und selbst ein so bildhübscher, liebenswürdiger Mann wie Chris hatte kein Händchen mehr für etwas längerfristiges. Bis Nathalie in sein Leben trat. Und ich mich mit der Situation konfrontiert sah, auf die ich mein Herz schon lange vorzubereiten versucht hatte. Chris und Nathalie meinten es ernst miteinander. Anfangs verbrachten sie sehr viel Zeit zusammen, flogen gemeinsam in den Urlaub und schließlich zog Nathalie bei Chris ein. Dagegen sahen Chris und ich uns natürlich immer seltener. Auch die Briefe und Telefonate blieben jetzt oft wochenlang aus. Chris schrieb oft nicht zurück oder ging nicht ran. Das kannte ich so gar nicht von ihm. Aber ich nahm mich zurück, versuchte, mich selbst zu beruhigen. „Es ist okay.“ Sagte ich mir „Es ist ganz normal. Du hast ihm immer gewünscht, dass er glücklich wird. Nathalie wird ihm guttun. Sie wird ihn glücklich machen. Sie wird die Freundschaft zwischen ihm und dir akzeptieren, wenn sie ihn wirklich liebt. Er wird ihr von dir erzählen, wenn du ihm wirklich wichtig bist. Wir werden gemeinsame Nenner finden. Vielleicht ist sie ja wirklich nett, du könnest sie mögen…“ so redete ich mir selber gut zu und beschwor mich zu Besonnenheit und Vernunft. So vergingen die Wochen und Monate. Ich hörte nichts mehr von Chris. Gar nichts mehr. Und begann mir Sorgen zu machen. Eines Abends hielt ich es dann nicht mehr aus, fasste mir ein Herz und beschloss bei einem Spaziergang einen Abstecher zu Chris Wohnung zu machen. Einfach mal unverbindlich klingeln. Das wäre einer alten Freundin ja wohl noch erlaubt.
Vor Chris Wohnung angekommen spürte ich, gerade noch selbstsicher und guten Mutes, auf einmal ein mulmiges Gefühl in der Brust. Die Wohnung zeigte eindeutige Anzeichen, dass jemand zu Hause war, das Auto stand in der Einfahrt und es brannte Licht. Allerdings sah bereits der Eingangsbereich und der kleine Vorgarten so gänzlich verändert aus: Blumenbeete waren entlang des Zauns angelegt worden, es hing ein Kranz an der Tür und auf dem Fußabstreifer stand in schnörkeliger Schrift: Willkommen.
Dennoch sagte die ganze Atmosphäre etwas völlig anderes als „Willkommen“. Sie schrie einem laut und deutlich in Nathalies Stimme entgegen: „ICH BIN JETZT HIER! HALT DICH VON CHRIS FERN! ER GEHÖRT MIR!“
Ein Schauder lief mir über den Rücken als ich da so in der kühlen Dämmerung fröstelnd vor der einstmals so vertrauten Türe stand und war mir auf einmal todsicher, dass mir nicht geöffnet werden würde. Ich haderte mit mir, den zitternden Finger über der Klingel, auf der jetzt zwei Nachnamen standen. Wer, wenn überhaupt, würde mir öffnen? Als ich noch so dastand, erbärmlich zitternd vor Käte und einem anderen, unerklärlichen Schauern und mit mir kämpfte, wurde unvermittelt die Haustüre aufgerissen! Ich fuhr so sehr zusammen, dass ich beinahe rückwärts die drei kleinen Steinstufen hinuntergefallen wäre. Nathalie stand in der Türe. Groß, schön, elegant… und offensichtlich furchtbar wütend! „DU!“ schrie sie mich an. „Was willst DU schon wieder hier?! Hat Chris dir nicht gesagt, dass du uns in Ruhe lassen sollst? Halt dich fern von uns hörst du?! Wenn du es noch einmal wagst hier aufzutauchen, rufe ich die Polizei!“
Einige Sekunden lang stand ich vor Schreck wie erstarrt auf der Stufe. Ich hatte noch immer die Hand nach der Klingel ausgestreckt, den Mund geöffnet, aber ich konnte mich nicht bewegen. Da hob Nathalie unvermittelt ihre Hand und schlug auf meinen ausgetreckten Zeigefinger! „WAG ES NICHT ZU KLINGELN!“ zischte sie, wie eine bösartige Schlange. Auf einmal tauchte ein vertrautes Gesicht hinter ihrer Schulter auf. „Nati…ist schon gut… sie ist…“ „Chris!“ flüsterte ich und bemerkte plötzlich, wie meine Stimme zitterte und mir die Tränen über das Gesicht liefen. So gedemütigt, wie ein begossener Pudel stand ich nun also da auf der Schwelle zu Chris Wohnung, schaute von einem zum anderen. Nathalies Augen funkelten vor Zorn. Aber schlimmer, viel schlimmer traf mich Chris Blick. Da war etwas in seinen Augen, was eine lang vernarbte Wunde tief in mir wieder aufriss. Es war tiefes, reines Bedauern in seinen Augen. Hatte er diesen Blick nicht bei unserer Trennung gehabt? Hatte ich damals schon etwas übersehen? Gefühle, die viel zu mächtig waren, um sie in Worte zu fassen? Hatte ich all die Jahre nicht ahnen, nicht sehen können, dass er mich immer noch vermisste? Mich gar immer noch… liebte? Konnte das möglich sein? Hatten wir all die Jahre nur versäumt uns das zu sagen? „Oh Chris, ich weiß, wie du dich fühlst! Bitte, lass uns die Zeit jetzt nicht mehr vergeuden! Wir sind erwachsen, wir können es jetzt besser! Ich liebe dich doch auch noch…“ All das wollte ich ihm in diesem Moment sagen. Mein Herz floss über vor Gefühlen, vor Liebe zu diesem Mann und ich sah in seinen Augen, dass er dasselbe fühlte! Ich wollte rufen, mein Herz herausschreien, ihm in die Arme fallen ihn küssen… und dann schlug Nathalie mit einem lauten Knall die Haustüre vor meiner Nase zu.
Seitdem habe ich von Chris nichts mehr gehört. Ich habe natürlich versucht ihn zu erreichen, aber vergebens. Ich weiß, dass das nicht Chris Schuld ist. Es muss Nathalie sein, die ihn aus Eifersucht vor mir fernhält. Sie will ihn haben, will ihn besitzen. Und offensichtlich kann er sich nicht von ihr befreien. Ich spüre jeden Tag, dass er an mich denkt, dass er mich zurückwill Doch ich fürchte, diese Frau wird ihn nicht gehen lassen. Ich habe ihre bösen funkelnden Augen gesehen…
Gestern habe ich eine Anzeige in der Zeitung gelesen. In der Kirche in unserem Ort findet eine Hochzeit statt. Als ich die Namen des Brautpaares las, blieb mir fast das Herz stehen! Christian und Natalie! Kein Zweifel, um wen es sich hier handelte! Für den Sturm an Gefühlen, den diese Nachricht in mir auslöste, habe ich keine Worte gefunden. Ich kann mich ehrlich gesagt an die folgenden Stunden auch nicht mehr genau erinnern, da meine Emotionen mein komplettes rationales Denken für einige Zeit lahmlegte. Nachdem nun aber der erste und schlimmste Sturm vorüber war, meldete sich doch die Stimme der Vernunft zurück und diese sagte mir ganz deutlich, dass dies nun wohl meine letzte Chance war, Chris aus den Fängen dieser furchtbaren Frau zu befreien. Ich musste noch einmal mit ihm reden! Nur noch ein einziger letzter Versuch, an sein Herz zu appellieren! Denn was sein Herz wollte, das hatte ich in seinen Augen gesehen.
Nun stehe ich also hier. Die Kirche ist schon gut gefüllt als ich dort ankomme. In dem allgemeinen Trubel aus Freunden und Verwandten falle ich nicht weiter auf und kann mich problemlos unter die Hochzeitsgäste mischen. Ich erkenne unter ihnen auch die Mutter von Chris, die mich zu früheren Zeiten immer gerngehabt hatte und will schon auf sie zugehen, halte mich aber zurück. Chris ist jetzt wichtig. Und ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich hatte einmal gehört, dass der Bräutigam die Braut vor der Trauung nicht sehen dürfe, weshalb er schon vorher und die Braut erst etwas später bei der Kirche ankommen würde, während der Bräutigam schon am Altar wartet. Als ich in die festlich geschmückte Kapelle eintrete, die aufgeregten, fröhlichen Stimmen höre, die elegant gekleideten Menschen sehe, die vielen Rosen auf den Bänken und dem Altar, da überfällt mich plötzlich eine schreckliche Wehmut. ICH sollte hier mit Chris stehen, das sagt mir mein ganzes Herz. Beinahe wäre ich wieder in Tränen ausgebrochen. Doch ich reiße mich zusammen. Noch ist nicht alles verloren. Ich darf jetzt nur nicht unachtsam werden. Eilig, aber möglichst unauffällig durchschreite ich die heilige Halle. Am Altar ist noch niemand zu sehen. Verstohlen sehe ich mich nach allen Seiten um, lasse meinen Blick über die Menge schweifen. So viele Menschen. Dort drüben stehen zwei Männer, die mir dunkel bekannt vorkommen und bei deren Anblick mir merkwürdigerweise kurz mein Magen verkrampft. Freunde von Chris? Wahrscheinlich. Aber von Chris selbst keine Spur. Wo kann er nur…?
Da fällt mein Blick auf eine Tür, die wohl zum Nebengebäude führt. Sie ist offen. Dort musste er sein. Bestimmt wird er gerade von seinem Trauzeugen nochmal schick gemacht. Wie schön muss er in seinem schwarzen Anzug aussehen. Wie perfekt! Alles hier ist so perfekt! Alles für die falsche Frau…
Die Tür führt in einen langen Flur, den Durchgang zum Nebengebäude. Als ich sie vorsichtig hinter mir schließe ist es um mich plötzlich ganz still und ich kann mein Herz in meinen Ohren pochen hören. Und zwei Stimmen, die unablässig um mein Gewissen kämpfen: Die eine fragt „Was tust du nur hier? Mach dass du hier wegkommst, das geht niemals gut!“ Die andere übt noch einmal haargenau alles, was ich Chris sagen möchte. Diese Worte habe ich mir die ganze letzte Nacht lang zurechtgelegt. Diese Worte werden darüber entscheiden, ob ich Chris Herz zurückgewinnen kann. Diese Worte werden über unser beider Zukunft und Glück entscheiden. Dessen bin ich mir bewusst, als ich auf die Tür am Ende des Flures zugehe. Dahinter höre ich Geräusche. Es ist so weit. Mit wild pochendem Herzen, aber fest entschlossen, drücke ich die Klinke.
In dem Raum hinter der Tür ist jemand. Aber es ist nicht Chris.
Nathalie steht vor mir. In ihrem atemberaubenden weißen Brautkleid. Sie ist wunderschön. Und ich hasse sie so sehr. Einige Sekunden schauen wir uns beide nur an, jede unfähig ihren Augen zu trauen. Dann bricht es plötzlich, ohne dass ich meinem Mund den Befehl zum Sprechen erteilt habe aus mir heraus. „Er liebt MICH!“ Eine solche Heftigkeit hatte ich in meiner eigenen Stimme noch nie gehört. Nathalie öffnet den Mund, aber diesmal will ich mich nicht von ihr einschüchtern und fortjagen lassen. Dafür bin ich viel zu entschlossen. Ich werde nicht gehen, ohne mit Chris geredet zu haben. „Das hier ist falsch und das weißt du ganz genau.“ Ich gehe einige Schritte auf sie zu, bis ich ganz dicht vor ihr stehe und nun schleudere ich ihr all meine Verachtung ins Gesicht. „Er liebt DICH NICHT! Du bist die falsche Frau für ihn. Er liebt mich, er hat es mir gesagt. Ich sollte hier an deiner Stelle stehen.“ Einen kurzen Moment starrt sie mich noch mit diesem furchteinflößenden, wütenden, überlegenen Blick an. Aber dieses Mal hat sie keinen Heimvorteil. Sie mag schöner sein als ich. Sie mag das Brautkleid tragen. Aber sie ist NICHT die Braut. Und mit einem unglaublichen Triumphgefühl merke ich, wie der überlegene Ausdruck in ihren Augen bricht. Doch nun bin ich es, die verwirrt ist. Mit dem Ausdruck, der stattdessen in ihre Augen tritt, habe ich nicht gerechnet: auf einmal sieht sie mich mitleidig an, beinahe… traurig… beinahe so wie… Chris. Und dann tut sie etwas, womit ich noch viel weniger gerechnet habe: sie ergreift meine Hand! „Lydia…“ sagt sie und ihre Stimme klingt so vollkommen anders als damals vor ihrer Türe. Was geht hier vor? Sie seufzt tief. „Lydia, ich weiß, was dir damals angetan wurde… Chris hat mir alles erzählt. Es war furchtbar, was die Jungs mit dir gemacht haben, es tut mir wahnsinnig leid! Aber Lydia, du musst das abschließen oder dir Hilfe suchen, das ist 15 Jahre her! Chris und die Jungs waren damals noch Kinder! Das was dir geschehen ist, gibt dir noch lange nicht das Recht, unser Leben zu zerstören! Chris und ich lieben uns! Wir wollen heiraten! Bitte, Lydia, dir selbst zu Liebe…“ Vollkommen verwirrt stehe ich da und lasse mir von dieser Frau die Hand streicheln. Was redete sie da nur? Meint sie die Trennung von mir und Chris? Aber die war doch einvernehmlich? Was meint sie mit den „Jungs“? Und wer hätte mir etwas angetan… „Das ist nicht wahr…“ höre ich mich selbst flüstern. Während in meinem Kopf plötzlich ein sehr alter, verschwommener und verwackelter Film abzuspielen beginnt. Als hätte Nathalie irgendeinen verborgenen Knopf gedrückt. Jungenstimmen werden lauter. Und sie… lachen. Sie lachen über ein verschüchtertes, dünnes Mädchen in viel zu weiten Klamotten, das abseits auf dem Schulhof sitzt und sich zum Schutz ihre Bücher vor die Brust presst. Am lautesten lacht ein schwarzhaariger, gutaussehender Junge in Skater-Klamotten. Er beginnt, eines ihrer Bücher wegzureißen und schleudert es mit einem gekonnten Wurf auf das Dach der Sporthalle. Die anderen Jungen johlen und tun es ihm gleich. CUT. Das Mädchen steht zitternd und nur mit einem viel zu kleinen Handtuch bekleidet an einem See. Die nassen, straßenköterblonden Haare hängen ihr ins Gesicht und tropfen auf den Boden. Der schwarzhaarige Junge schwenkt triumphierend ihr Bikinihöschen, während ein anderer sein Handy hochhält und Fotos schießt und das Mädchen verzweifelt versucht, sich mit dem winzigen Handtuch zu bedecken CUT. Das Mädchen sitzt in einem roséfarbenen Seidenkleid in der Abstellkammer der Schule. Heute ist Ball und durch die dicke Holztüre dringt Tanzmusik zu ihr herein. Sie wird heute nicht tanzen. Sie wurde hier drinnen eingesperrt und hat schon lange aufgehört zu rufen und zu klopfen. Das Make-Up rinnt ihr in schwarzen Schlieren über das verheulte Gesicht, ihre Locken hängen aufgelöst herunter. CUT. Das Mädchen sitzt allein in ihrem Zimmer. Angels and Airwaves erklingt aus ihren Kopfhörern. Sie beugt sich über eine Schülerzeitung, das Foto des schwarzhaarigen Jungen hat sie mit einem roten Herz umkreist. Sie hält eine Rasierklinge in ihrer zitternden rechten Hand. Blut tropft auf das grinsende Jungengesicht. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Lippen bewegen sich leise zu dem Song in ihrem Kopf. I think I like today, I think it´s good… „NEIN STOPP!“ schreie ich! Stopp, Stopp, Stopp!!! Ich will das nicht mehr sehen, ich will das nicht mehr hören! Das ist alles nicht wahr! Das ist Nathalie! Sie will mir das einreden, sie will mich dazu bringen, Chris zu hassen! Aber das wird niemals passieren! Ich liebe ihn! Nathalies Stimme zerreißt meine Gedanken. „Lydia, Chris und du, ihr wart nie ein Paar! Es war furchtbares Unrecht, was sie dir angetan haben und ich weiß, dass es Chris unheimlich leidtut. Ich weiß aber auch, dass du ihm all die Jahre das Leben zur Hölle gemacht hast mit deinem Stalking. Die tausende von Briefen, Anrufen und SMS, du bist ihm sogar in die gleiche Gegend nachgezogen, als er wegzog, in seine Wohnung eingebrochen! Du musst anfangen, dein Leben in Ordnung zu bekommen, das muss aufhören Lydia, bitte. Und wenn du es nicht einsehen willst, muss ich dafür sorgen… “
NEIN! Ich weiß, was diese Hexe vorhat! Sie will wieder in meinen Kopf eindringen und dort alles durcheinander bringen. Will mir einreden, ich sei verrückt. Will mich und Chris auseinander bringen! Glühender Zorn erfasst mich. Das lasse ich nicht zu! „LÜGNERIN!“ schreie ich und greife nach der Blumenvase auf dem Tisch, in denen ihr Brautstrauß aus weißen Rosen steckt. Diese Frau dort im Brautkleid, diese falsche Braut, schreckt doch vor nichts zurück. „Lügnerin! Lügnerin! Lügnerin!“ schreie ich. Und mit jedem Schrei schlage ich mit der Vase zu, bis diese gottlose Schlange endlich schweigt und der Film in meinem Kopf endlich endet.
Angespannte Stille herrscht in der Kirche, jener heiligen Halle, in welcher der heilige Bund der Ehe geschlossen wird. Dieses Sakrileg, das zwei Menschen für immer verbindet, bis dass der Tod sie scheidet.
Ein Knistern und ein Hauch von Weihrauch liegen in der Luft. Alle warten auf die Braut. Vorne am Altar steht Christian. Er trägt einen schwarzen Anzug und sieht noch perfekter aus, als ich ihn mir in meinen schönsten Träumen vorgestellt habe.
Noch stehe ich hinten, an der Eingangstüre zur Kirche. Ich trage das wunderschöne weiße Brautkleid und den Schleier, in meiner Hand halte ich den Strauß. Die weißen Rosen zieren ein paar rote Spritzer. Es sieht hübsch aus. Wenn ich sie ansehe, muss ich lächeln. Nun ist alles perfekt. Christian wird die richtige Frau heiraten.
Die Orgel erklingt feierlich. Würdevoll schreite ich zum Altar.
I think I like today… I think it´s good…
Mein Mann beginnt zu Lächeln, als er mich auf sich zukommen sieht. Und ich schwöre, das ist das Schönste, das ich je im Leben gesehen habe. Ein Blick so voll von reiner, wahrer Liebe. Ich erwidere den Blick. Doch noch kann er es unter meinem Schleier nicht sehen.
Erst als ich neben ihm stehe, wenden wir uns einander zu, er hebt andächtig meinen Schleier und sieht mir in die Augen.