GeisterLangeMordMysterie

Evelyn

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Ein überschaubarer Archivraum, die Regale gefüllt mit Schulbüchern. Ein alter Computer mit Röhrenbildschirm. Ein Fenster mit transparenten Gardinen, darauf kleine Schildkrötenmuster abgebildet. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, etwa zwei Meter lang und einen Meter breit.

Am Tisch sitzt ein Mädchen, regungslos, die Stirn auf der Tischplatte platziert. Er kann nicht sagen, ob sie schläft oder wach ist. Ihre langen kastanienbraunen Haare verdecken ihr Gesicht und breiten sich wie Wurzeln über den Tisch aus. Henry sitzt in der Ecke und versucht, die Situation einzuordnen. Seit wann sitzt sie da? Warum bewegt sie sich nicht? Tote Schüler liegen draußen im Flur. Wie Sandsäcke blockieren sie die Tür. Puzzleteile liegen verstreut auf dem Boden.

Wird sie die Augen öffnen?

Er schätzt sie auf sein Alter, vielleicht 16 Jahre, vermutlich 10. Klasse. Aber sie ist unheimlich, wie sie einfach da liegt, regungslos, wie eine Puppe. Als ob sie vor der Dummheit der Welt kapituliert hätte und in einen Dornröschenschlaf gefallen ist. Das Puzzle vor ihr ist unvollendet, das Motiv unkenntlich. Sollte er es riskieren, sie anzustupsen, um herauszufinden, was los ist?

Schon am Frühstückstisch, als seine Mutter versehentlich Salz in seinen Kakao schüttete … Nein, noch früher, als er kurz nach dem Aufwachen auf einen Legostein trat, den sein fünfjähriger Bruder liegengelassen hatte, wusste er, dass dieser Tag nicht gewöhnlich werden würde. Eigentlich noch früher, als ihn Albträume auf der Matratze hin- und herwarfen. Wenigstens fällt der Mathetest aus.

Henry schaut auf sein Handy. Der Bildschirm bleibt schwarz, der Akku ist leer. Es ist so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Er weiß, was für ein Gesicht sich hinter ihrem Haar verbirgt … Er nimmt all seinen Mut zusammen und setzt sich ihr gegenüber. Sollte er eine ihrer Haarsträhnen beiseiteschieben, um nach ihrer Stimmung zu sehen? Nein, lieber nicht. Stattdessen beschließt er, das Puzzle zu vervollständigen. Während er die Teile zusammensucht, denkt er an sein erstes Aufeinandertreffen mit ihr.

Er saß in einer Toilettenkabine, als er zwei Füße unter der Tür sah. Sie steckten in Schuhen mit Schleifen – die Schuhe eines Mädchens. Erst nach mehrmaligem „Besetzt!“ rufen stolzierte sie davon, ohne ein Wort zu sagen. Moment … nein, sie tanzte in geschmeidigen Kreisbewegungen davon. Henry fragte mehrere Klassenkameraden, ob sie etwas wussten. Ob er Ziel eines Streichs geworden war. Sie verneinten.

An einem anderen Tag, die Regenwolken waren abgezogen, machte er sich nach Schulschluss auf den Weg zur Bushaltestelle. Dort gab es eine kleine überdachte Wartenische mit dichter Verkleidung, sodass man nicht sehen konnte, wer darin wartete. Als er sich näherte, sah er zuerst die Spitze eines Regenschirms, der auf- und zugeschnappt wurde, um Wassertropfen wegzuschießen. Jemand war da, aber er wusste nicht, wer. Dann bemerkte er eine Hand, die um die Ecke griff – eine zierliche Hand mit hellblau lackierten Fingernägeln. Sie verkrampfte sich kurz an der Holzverkleidung, nur um ihm dann fröhlich zu winken, als stecke eine Botschaft dahinter.

Als er sich ihr langsam näherte, sah er eine Schülerin, die einen sympathischen Eindruck machte. Sie lud ihn ein, sich neben sie zu setzen.

Da er ohnehin warten musste, ging er der Einladung nach. So kamen sie ins Gespräch auf der Wartebank. Sie hatte eine lange Narbe am Hals.

„Weißt du zufällig, wo ich wohne?“

„Du weißt nicht, wo du wohnst? Willst du mich auf den Arm nehmen?“, fragte er verwundert.

Sie zeigte ihm einen Zettel mit schmieriger Handschrift: Maystreet 12.

„Kennst du diese Adresse?“

„Mmh … ja, die Gegend kenne ich. Ist vielleicht fünf Minuten zu Fuß entfernt. Soll ich dich begleiten?“

„Das wäre sehr lieb.“

Also machten sie sich auf den Weg. Er beschloss, einen späteren Bus zu nehmen. Beim Laufen fielen ihm ihre Schuhe mit den Schleifen auf – dieselben Schuhe, die auf der Toilette tanzten. „Das warst du neulich auf der Toilette, oder?“, fragte er.

„Ja. Ich tanzte, weil du mich sehen konntest.“

„Also ehrlich … Stalking ist nicht witzig“, scherzte er.

„Stalking … das Gleiche sagten sie, als sie mich fanden.“

„Du bist mir echt ein Rätsel“, sagte er, als er sie vor ihrer Wohnung absetzte. Dort brannte kein Licht.

„Deine Eltern sind wohl nicht zu Hause.“

Sie schwieg.

„Sehen wir uns morgen wieder an der Haltestelle?“, fragte er.

„Ja.“

„Wie heißt du eigentlich?“

„Evelyn.“

„War schön, dich kennenzulernen, Evelyn. Ich bin Henry. Bis dann.“

Immer, wenn er das Laub unter seinen Stiefeln knirschen hörte, musste er an ihre erste Unterhaltung denken, auf dem Heimweg durch die kleine Stadt.

Ab da an trafen sie sich täglich an der Bushaltestelle, wo Henry jeden Tag ein wenig mehr über sie erfuhr.

Obwohl es in dieser Stadt nur eine Schule gab, hatte er Evelyn noch nie auf dem Flur noch auf dem Schulhof gesehen, was ihm zwar merkwürdig erschien, ihn jedoch auch nicht weiter beschäftigte. Da er ihr außerhalb des Schulgebäudes begegnet war, hatte er es als Zufall abgetan.

Anscheinend hatte sie Schwierigkeiten damit, sich ihren eigenen Heimweg zu merken, weshalb Henry sie stets nach Hause begleitete, sofern er Zeit dafür hatte. Ein Umstand, dem er nicht immer nachgehen konnte. Deshalb fragte er sie nach ihren Eltern, weshalb diese sie nicht mit dem Auto abholten. „Sie seien im Moment noch nicht bei ihr“, antwortete sie nur.

Was meinte sie damit?

„Sag mal, Evelyn …“ Sie saßen beide auf einer Doppelschaukel eines alten, verkommenen Spielplatzes, umringt von Bäumen, die durch eine Brise leicht hin und her wankten und raschelten. „Diese Narbe, … woher stammt sie eigentlich?“

„Spielt doch keine Rolle … Hauptsache, wir sind jetzt Freunde.“

„Aber erzählen sich Freunde nicht alles?“, fragte er.

Herbstliches Laub tanzte in kleinen Wirbeln um sie herum, bis über den verlassenen Ort hinweg. Sie antwortete nicht.

„Naja. Vielleicht erzählst du es ja ein anderes Mal.“

„Lass uns morgen etwas unternehmen“, schlug sie plötzlich vor.

„Sicher“, antwortete er.

Ab da an trafen sie sich öfter. Jedes Mal, wenn er ihr begegnete, spürte Henry ein Kribbeln im Bauch, aber da war auch immer eine … eine merkwürdige Vorahnung. Egal ob sie ins Kino, ins Schwimmbad oder ins Café gingen, sie umgab immer eine dunkle Aura. Sie umgab ein Geheimnis, das er ergründen wollte.

Im Archivraum hebt er weitere Puzzleteile vom Boden auf, um weiter an der Vollendung zu arbeiten. Sein Gegenüber ist immer noch regungslos … Ob sie etwas dagegen hat, dass er das Bild vervollständigt? Er weiß es nicht. Jedenfalls hofft er, sie wird es ihm nicht verübeln.

Während des Zusammensetzens schwelgt er in weiteren Erinnerungen …

Es war ein trüber Tag, als er sie zum ersten Mal zu sich nach Hause einlud. Zwei Raben landeten und krähten auf den außerhalb des Fensters zu sehenden Telefonleitungen, nur um gleich wieder gen Himmel zu flattern. Sie saßen nichtssagend auf der Matratze. Zumindest für den Moment.

Henry war nach wie vor fasziniert von der langen Narbe direkt über ihrer Kehle und fragte erneut: „Möchtest du es mir wirklich nicht erzählen?“

„Er hat es getan“, antwortete sie.

„Wer ist er?“, fragte er und bekam ein mulmiges Gefühl, als ob er sich vor der Antwort fürchten würde – weshalb auch immer.

„Reden wir nicht über ihn … Hauptsache, wir sind zusammen, und du kannst mich sehen“, sagte sie.

Ihre Antworten stellten ihn vor Rätsel, doch ihre nächste Frage überraschte ihn und ließ sein Herz etwas schneller schlagen.

„Meinen ersten Kuss habe ich nie erlebt … Würdest du also …?“

Sie rückte heran, sodass ihr Kopf ganz nah an seinen kam, und er erwartete schon, den Shampoo-Duft ihres Haares zu riechen. Doch im ersten Moment fiel ihm auf: Ihre Haare waren geruchlos. Nichts.

Dann trafen sich langsam ihre Lippen. Sie waren weich – eben die Lippen eines Mädchens. Aber … sie waren eiskalt, was ihn wunderte.

„Ist dir kalt?“, fragte er, nachdem sich ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatten.

Schüchtern senkte sie den Kopf, verbarg ihr Gesicht hinter den Haarsträhnen und kicherte, anstatt zu antworten.

„Ich danke dir, Henry. Du bist ein lieber Junge. Aber ich muss jetzt gehen“, sagte sie dann, und ehe er sie fragen konnte, ob sie den Nachhauseweg finden würde, war sie bereits fort.

Später am Abend lag er mit den Händen hinter dem Kopf im Bett und dachte nach, was vorhin passiert war. Er versuchte, einiges an ihr zu verstehen und zu verarbeiten. Warum redete sie so in Rätseln? Wieso waren ihre Eltern angeblich nie zu Hause? Woher stammte die Narbe? Warum waren ihre Lippen so kalt? Und … waren sie jetzt ein Paar?

Es verging einige Zeit. Eines Nachmittags saßen sie in einer Kletterhütte auf dem alten Spielplatz, der zu ihrem Lieblingsort geworden war, da dort keine Menschenseele anzutreffen war. Dass die kahlen Bäume um sie herum die stillen Zeugen eines Vorfalls werden würden, der Henry zutiefst erschütterte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Abermals war er vollständig von der Narbe eingenommen. Diesmal wollte er nichts von ihren ausweichenden Antworten wissen. Selbst wenn das ihre Harmonie stören würde, bohrte er immer und immer wieder nach.

Schließlich senkte sie den Kopf und schluchzte leise. „Scheiße, ich hab’s übertrieben …“, dachte er. „Nur ein Arschloch bringt ein Mädchen zum Weinen.“

Doch was kurz darauf geschah, versetzte Henry in eine Schockstarre, wie er sie zuvor noch nie erlebt hatte. Ihm gefror das Blut in den Adern. In diese Augen zu blicken, in dieses Gesicht zu blicken … Gott stand ihm bei.

Vorsichtig legte er in entschuldigender Manier die Hand auf Evelyns Schulter. Dann kam es wie eine Explosion: Mit einem geisteskranken Lachen und einer dämonischen Kraft packte sie Henry und drückte ihn Angesicht zu Angesicht zu Boden. Es war ihm unmöglich, sie von sich herunterzustoßen.

„Er hat’s getan! Er hat’s getan! Er hat’s getan! Er hat’s getan!“, kreischte sie beinahe wie eine Wahnsinnige. Nun war sie es, die nicht mehr von ihm abließ – wenn auch mit Gewalt, statt Worten.

Dann begann sie, Henry zu würgen, bis ihm schwarz vor Augen wurde. Kurz bevor die Lichter ausgingen, glaubte er, leuchtende Augen und ein widerwärtig verzerrtes Grinsen gesehen zu haben, das nicht von dieser Welt zu stammen schien. Überall wirbelte das Laub in Fontänen, als wäre es in Aufruhr geraten. Aber das könnte er sich wirklich nur aufgrund der unterbrochenen Blutzufuhr zum Gehirn eingebildet haben … oder?

Als er jedenfalls in der kleinen Hütte wieder zu sich kam, war von ihr weit und breit keine Spur mehr zu sehen. Sie hatte auch keine Spuren hinterlassen. Als ob sie nie dagewesen wäre …

Zurück im gegenwärtigen Archivraum ist das Puzzle fast vollendet, und Henry kann das Motiv bereits erahnen.

Er legt das Puzzle fürs Erste beiseite, steht auf und beginnt, im Raum umherzuwandern. Sein Blick schweift durch das Sichtfenster, wo sich Leichen häufen, bevor er zur alten Wanduhr hinaufblickt. Lautlos schleicht er an ihr vorbei und setzt sich vor den verstaubten Röhrenmonitor des Computers. Er seufzt tief. Nach all den Gedanken an seine gemeinsame Zeit mit Evelyn legt sich langsam die Anspannung.

Henry verbringt oft seine Freizeit am Computer, um über merkwürdige Dinge zu recherchieren. Aus Gewohnheit drückt er den Einschaltknopf, doch der Bildschirm bleibt schwarz – für diese Szenerie hat der Computer keine Bedeutung. Er bewegt die Maus, aber der Monitor bleibt dunkel. Plötzlich sieht er jedoch etwas Schreckliches in der Spiegelung: Sie ist aufgewacht. Evelyn hat ihren Kopf erhoben. Ihre Augen funkeln, als würden sie Henrys Rücken durchbohren.

„Oh … du bist ja hier“, sagt sie schläfrig. „Es mag so wirken, als hätte ich dieses Puzzle angefangen. Aber ich war es nicht. Du warst es. Und du bist auch derjenige, der es vollenden muss.“

Henry erstarrt vor Schreck. Er versucht zu antworten, doch nur ein gestammeltes „Ich habe es angefangen?“ bringt er hervor. Seine Augen sind geweitet, und er starrt weiterhin in die Spiegelung.

Evelyns Augen beginnen, in einem intensiven Orange zu leuchten. Sie springt plötzlich auf, krabbelt die Wand hinauf, über die Decke und wieder hinunter auf die gegenüberliegende Wand, bevor sie zurück auf ihren Stuhl klettert. „Du warst es! Du warst es! Du warst es! Du warst es!“, wiederholt sie mit einer immer tiefer werdenden Stimme, während sie sich mit unheimlicher Geschwindigkeit bewegt.

Henry zögert. Schließlich setzt er sich wieder zu ihr an den Tisch, und ein breites, übertriebenes Grinsen breitet sich auf Evelyns Gesicht aus.

„Du machst mir keine Angst! Ich weiß selbst, was zu tun ist! Also halt endlich die Klappe!“ Er greift entschlossen nach den verbliebenen Puzzleteilen, während ihr Grinsen nun fast ihre Augenbrauen erreicht, überspitzt formuliert.

Gemeinsam blicken sie auf das fertige Bild.

Es zeigt ein Mädchen, aus dessen geöffnetem Mund hunderte Motten hervorströmen und durch die Luft fliegen.

In diesem Moment scheint Evelyn das Bild imitieren zu wollen, denn als Henry erneut zu ihr aufblickt, befindet er sich plötzlich inmitten eines Schwarms von Motten, die Evelyn ausgespien hat. Panisch rennt er zum Fenster, reißt es auf und lässt den Schwarm in den Nachthimmel entweichen. Als er sich umdreht, ist sie verschwunden – der Stuhl ist leer.

Henry hat kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn draußen beginnt das nächste Schauspiel: Die Untoten erheben sich. Ihre grün bemalten Gesichter, die billigen Masken und die schlampige Schlurfchoreografie wirken wie ein schlecht inszeniertes Schulprojekt. Doch es gelingt ihnen, das Theaterglas des Sichtfensters zu zerschlagen und gewaltsam die Tür zu öffnen. Die Zombies stürzen sich auf Henry und beginnen, ihn zu „fressen“, ganz nach dem Skript.

Plötzlich ertönt ein lautes „CUT!“.

Die Wände der Kulisse beginnen, sich zu bewegen, und Schüler in schwarzen T-Shirts bauen sie hektisch ab. Ein greller Scheinwerfer wird ausgeschaltet, und die Zombies halten inne, grinsend und lachend. Einer der Zombies zieht seine Maske ab – es ist Finn aus der Parallelklasse.

Der Regisseur, ein aufgeregter Schüler, ruft begeistert: „Leute, das war super! Echt klasse! Aber Henry, du musst das nochmal mit mehr Panik spielen, okay? Wir drehen das für unser Puzzle-Werbespot-Special.“

Henry blinzelt verwirrt. „Puzzle-Werbespot?“

Finn grinst breit: „Ja, ein ‚Puzzle-Werbespot‘! Unser selbst entworfenes Puzzlemotiv, das sogar eine Zombie-Apokalypse übersteht!“

Er schaut sich um und bemerkt nun erst die Kameras, die die ganze Zeit auf ihn gerichtet waren.

„Warte … das war alles … ein Dreh?“, fragt er fassungslos.

„Natürlich! Du hast doch zugestimmt, Henry! Hast du das etwa vergessen?“, lacht der Regisseur.

Er klopft Henry auf die Schulter. „Keine Sorge, das war nicht schlecht!“

Henry fragt verwirrt: „Aber … wo ist Evelyn? Die vielen Motten waren echt ein krasser Effekt.“

„Wer ist Evelyn? Und welche Motten? Die einzigen Motten sind auf dem Puzzlemotiv“, antwortet der Regisseur.

„Na, das Mädchen mit der Narbe. Es saß doch die ganze Zeit mit mir im Raum?“

„Du machst mir langsam echt Angst. Welches Mädchen?“ Der Regisseur zeigt ihm die Aufnahme. „Siehst du? Nur du bist im Raum.“

Henry stockt der Atem. Niemand scheint Evelyn zu kennen. Wie ist das möglich?

Auf dem Weg nach Hause fühlt sich für Henry alles anders an. Vertraut, aber auf seltsame Weise fremd. Vielleicht ist es ein Nebeneffekt seiner durcheinandergewirbelten Gedanken. Es fühlt sich an wie ein Traum, aus dem er nicht vollständig erwachen kann.

Evelyn.

Ist sie überhaupt real? Niemand erinnert sich an sie, außer ihm. Vielleicht ist sie eine Illusion, ein Trugbild, das sein Verstand erschaffen hat. Oder sie ist eine Lücke in seiner Realität, eine Bruchstelle in dem, was er sicher zu wissen glaubte. Vielleicht ist sie nichts weiter als der Schatten seiner eigenen Unsicherheit. Doch schlimmer noch – was, wenn sie real ist, und er ist derjenige, der vergessen möchte?

Vielleicht sind die Worte „Sie existiert nicht“ eine Scheinwahrheit, die er sich selbst einreden will. Aber egal wie oft er diesen Gedanken zulässt, jagt ihm der Gedanke an sie jedes Mal einen Schauer über den Rücken. Und trotzdem … tief in seinem Inneren empfindet er etwas für sie. Es ist diese Ambivalenz, die ihn nicht loslässt.

Er muss die Wahrheit herausfinden. Er kann sie spüren – aber will er sie wirklich wissen?

Am nächsten Tag betritt Henry die Stadtbibliothek. Er sucht nach alten Zeitungsartikeln, die sich auf seine Schule und deren Schüler beziehen. In den frei zugänglichen Archiven stößt er auf ein Fotobuch aus den 60er Jahren. Beim Durchblättern entdeckt er das Bild eines Mädchens, das Evelyn erstaunlich ähnlichsieht. Ihr Name: Evelyn Malet.

Henry starrt das Foto an. Ist es nur Zufall, oder steckt mehr dahinter? Es ist schon spät geworden, und so fragt er die Bibliothekarin, ob er einen Sammelband der wichtigsten Zeitungsartikel aus den 60er Jahren ausleihen dürfe. Seine Intuition hatte ihn darauf verwiesen. Die Bibliothekarin erlaubt es ihm, unter der Bedingung, dass er ihn auch zuverlässig zurückbringt.

Zuhause, mit einer Pizza aus der Mikrowelle und einem Softdrink aus dem Kühlschrank, macht er sich an die Arbeit. In seinem Zimmer schlägt er den dicken Wälzer auf und beginnt, darin zu blättern. Obwohl ihm alles surreal erscheint, sucht er unermüdlich. Er sucht nach Evelyn. Nach ihrem Namen. Nach irgendeiner Verbindung zu seiner Schule.

Schließlich stößt er auf etwas.

Ein Artikel aus den 70er Jahren. Ein Mordfall.

Evelyn M.

Seine Hände zittern, als er den Artikel liest:

Ein abscheuliches Verbrechen erschütterte die Gemeinde: Die 16-jährige Evelyn M. wurde auf ihrem Heimweg von dem als gefährlich bekannten Stalker Steve Mali (45) entführt, in dessen Keller festgehalten und grausam ermordet. Der Täter, der bereits mehrfach wegen Belästigung junger Frauen in Verdacht geraten war, wurde nach intensiven Ermittlungen der Polizei verhaftet.

Es war ein kühler Herbsttag, als Evelyn M. den Heimweg von der Schule antrat. Sie ging wie üblich zu Fuß durch ruhigere Straßen, die zu ihrem kleinen Apartment führten. Evelyn erreichte nie ihre Wohnung. Zu jener Zeit war es unüblich, dass Schüler sofort als vermisst gemeldet wurden, doch aufgrund der Dringlichkeit und Evelyns verlässlicher Natur nahm die Polizei die Suche rasch auf.

In den 1970er Jahren waren die Ermittler auf traditionelle Polizeiarbeit angewiesen – Handys, GPS-Tracking oder Überwachungskameras gab es nicht. Stattdessen befragten die Polizisten Familie, Freunde und Nachbarn und sammelten mühsam Informationen über Evelyns letzte Schritte. Während die Ermittlungen in den ersten Tagen nur wenige Anhaltspunkte ergaben, erzählte eine Anwohnerin von einem Mann, der Evelyn schon seit einigen Wochen aufgelauert hatte. Evelyn selbst hatte mehrfach erwähnt, dass sie das Gefühl hatte, von einem Unbekannten verfolgt zu werden, sich jedoch nicht sicher war, ob es ernst zu nehmen sei.

Dieser Hinweis führte die Polizei auf die Spur von Steve Mali, einem stadtbekannten Stalker, der bereits wegen ähnlicher Fälle ins Visier geraten war. In den vergangenen Monaten war Mali mehrfach von jungen Frauen gemeldet worden, die sich von ihm belästigt fühlten, doch ohne ausreichende Beweise blieb er auf freiem Fuß.

Mali wurde rasch zum Hauptverdächtigen im Fall Evelyn M. Die Polizei begann, seine Bewegungen zu überwachen und erfuhr von einem Zeugen, dass Mali in der fraglichen Nacht mit seinem alten, rostigen Wagen in der Nähe von Evelyns üblichem Heimweg gesehen worden war. Dies, gepaart mit seiner bekannten Vergangenheit, reichte aus, um eine Hausdurchsuchung bei Mali zu rechtfertigen.

Eine aufmerksame Spaziergängerin, die Malis unheimliches Verhalten bemerkt hatte, lieferte den entscheidenden Hinweis. Sie erzählte den Ermittlern, dass sie Mali oft dabei beobachtet hatte, wie er in der Nähe der Bushaltestelle, an der Evelyn regelmäßig ausstieg, herumlungerte. Dies führte zu einem Durchsuchungsbefehl für sein Haus.

Als die Beamten Malis baufälliges Haus durchsuchten, entdeckten sie im Keller die furchtbaren Überreste von Evelyns Martyrium. Der Raum war dunkel, kalt und spärlich eingerichtet. Inmitten dieser unheimlichen Umgebung lag Evelyn, nackt und gefesselt. Die Ermittler fanden Anzeichen dafür, dass sie dort mehrere Tage gefangen gehalten und misshandelt wurde, bevor Mali ihr mit einem Messer die Kehle durchtrennte. Blutspuren am Boden und die brutalen Verletzungen am Hals der jungen Frau bestätigten, dass sie grausam ermordet worden war.

Der Keller wies Spuren extremer Gewalt und Misshandlung auf. An den Wänden befanden sich Ketten und Seile, die wahrscheinlich zur Fixierung des Opfers dienten. Es war ein verstörender Ort, an dem sich das entsetzliche Verbrechen abspielte.

Steve Mali wurde noch am selben Tag in seiner Wohnung festgenommen. Er leistete keinen Widerstand, schwieg jedoch während der gesamten Vernehmung. Die Beweise waren erdrückend: Neben Evelyns Leiche fanden die Ermittler auch Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände, die eindeutig zu ihr gehörten. Malis Vorstrafen und sein bekanntes Stalking-Muster machten ihn zum eindeutigen Täter.

Mali war ein Einzelgänger, der bereits in der Vergangenheit auffällig geworden war. Nachbarn beschrieben ihn als seltsam, aber unauffällig. Er verbrachte viel Zeit allein und hatte nur wenige soziale Kontakte. Frauen, die ihm in der Vergangenheit begegnet waren, berichteten von einem schleichenden Gefühl der Angst, wenn sie ihm zu nahe kamen. Doch trotz mehrerer Anzeigen war Mali immer wieder entkommen, da es nie zu ernsthaften Konsequenzen kam.

Evelyns Tod hinterließ eine tiefe Wunde in der Gemeinschaft. Freunde, Familie und Kollegen waren erschüttert über das grausame Schicksal der jungen Frau, die Opfer eines kranken Stalkers wurde. Der Fall zeigte die gefährliche Realität, dass Stalking zu eskalierender Gewalt führen kann, wenn die Täter nicht frühzeitig gestoppt werden.

Der Schwerverbrecher Mali wurde letztlich zum Tode verurteilt – ein Minimum an Gerechtigkeit für Evelyn M. und ihre Angehörigen.

Henry ist so sehr in den Text vertieft, dass er das leise Rascheln hinter sich, auf der Bettkante im Schatten, nicht bemerkt.

Eine vertraute Stimme durchbricht die Stille. „Du wolltest doch unbedingt wissen, woher die Narbe stammt?“

Er erstarrt. Langsam dreht er sich um. Es ist Evelyn, die auf dem Bett sitzt, ihren Kopf leicht zur Seite geneigt, und mit einem heiteren Lächeln auf die Narbe an ihrem Hals deutet.

Henry starrt sie an, Tränen füllen seine Augen. „Evelyn … ich wusste ja nicht—“ Seine Stimme bricht ab.

„Was? Dass ich tot bin?“ Sie lacht leise, fast fröhlich, als würde sie über einen belanglosen Witz sprechen. „Ach, was macht das schon.“

Ihr breites Grinsen wirkt fehl am Platz, unheimlich und doch irgendwie traurig. Sie rückt ein Stück näher zu ihm heran, ihre Augen funkeln im schwachen Licht.

„Lass uns einfach für immer Spaß zusammen haben!“

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