Wer hat Angst vorm Wechselbalg?
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Lasst mich damit anfangen, dass ich keine Angst vor schwarzen Katzen oder zerbrochenen Spiegeln entwickeln werde. Ich bin schließlich nicht blöd. Klar, fortan muss ich zwangsläufig vorsichtiger sein, aber es ist doch alles gut gegangen, also kein Grund zur Sorge! Und ein zweites Kind wollte ich ohnehin nie haben. Eins reicht doch vollkommen!
Gut, ich greife der Geschichte ein wenig voraus, aber bevor ich wirklich zum Anfang komme, möchte ich, dass du mir versprichst mir zuzuhören und mich nicht sofort als verrückt abzustempeln. Okay? Okay.
Ich war ja selbst nie abergläubisch. Zwar bin ich mit Glücksbringern und Salzstreuern To Go aufgewachsen, da meine Eltern da anders ticken, aber ich war nie so. Ich war normal. Bis Jericho auf die Welt kam.
Ihr braucht jetzt nichts zu sagen. Wie oft haben mir Leute schon gesagt, dass das alles ganz normal sei.
„Mach dir keine Sorgen, Silvy, ein Kind stellt jedermanns Leben auf den Kopf!“ und „Stell dich nicht so an, Silvy, jeder jungen Mutter geht es so wie dir.“ Pustekuchen!
Ich bin ja selbst dran schuld, aber um das zu verstehen, sollten wir vielleicht zurück an den Anfang gehen.
Mittlerweile ist es beinahe ein ganzes Jahrzehnt her, doch der Tag, an dem ich herausfand, dass ich schwanger war, wird mir wahrscheinlich mein Lebtag in Erinnerung bleiben.
Den Test hatte ich auf den Rand der Badewanne legen müssen, weil meine Finger so gezittert haben, dass ich Angst hatte, ihn in die Kloschüssel fallen zu lassen. Und ein zweites Mal wollte ich nicht zurück in diese dumme Apotheke und mir von Mr. Meyer so ein anzügliches Grinsen zuwerfen lassen. Ich wusste, dass es ein Risiko war, in Meyers Apotheke zu gehen. Das hier ist eine kleine Stadt, und die Leute tratschten gerne, also ging ich davon aus, dass meine Eltern spätestens in einer Woche wissen würden, dass ich mir einen Schwangerschaftstest gekauft hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich jedoch noch der festen Überzeugung, dass ich ihnen ein negatives Testergebnis vorzeigen können würde. Ich habe es sogar manifestiert, aber anscheinend war mein Wunsch nicht groß genug.
Als ich die zwei roten Striche auf dem weißen Feld sah, wäre ich beinahe in Tränen ausgebrochen.
Meine Eltern haben das Ganze dann besser aufgenommen als erwartet. Beinahe sah es so aus, als hätten sie sich darüber gefreut, dass ihre Teenager-Tochter ein Baby erwartet. Selbst als ich ihnen beichtete, dass mehrere Kandidaten als Vater infrage kämen, haben sie mich nicht verurteilt. Sie haben sich zwar einen peinlich berührten Blick zugeworfen, aber gesagt haben sie nichts.
Danach ging alles ziemlich schnell. Ich und mein wachsender Bauch waren schnell der neuste Kleinstadt-Tratsch, doch das sorgte vordergründig dafür, dass die potenziellen Väter sich von mir fern hielten, und dafür war ich sehr dankbar. Ein Sorgerechtsstreit war von Anfang an das, vor dem ich am meisten Angst gehabt hatte.
Jedenfalls verlief die Schwangerschaft recht ereignislos. Klar, sporadisch war mir schlecht und gerade am Anfang kotzte ich mir nach beinahe jeder Mahlzeit die Seele aus dem Leib, aber das war nichts, womit ich nicht zurechtkommen würde. Und irgendwann fing ich sogar an, mich auf das Kind zu freuen. Mein Kind. Noch immer kommt es mir komisch vor, das zu sagen.
Ich wusste von Anfang an, dass es ein Junge werden würde. Nennt es mütterliche Intuition oder die Gabe zum Raten, aber ich hatte schon nach dem ersten Trimester dieses überwältigende Gefühl, einen kleinen Jungen in mir zu tragen. Meine Eltern versuchten sogar diese komischen Kräuterhexen-Tricks, um das Geschlecht zu bestimmen. Ihr wisst schon: sitzt der Bauch unten, wird es ein Junge, sitzt er oben, wird es ein Mädchen. Oder doch andersherum? Ach, egal.
Mir war nur wichtig, dass mein Kind gesund auf die Welt kommt. Meinetwegen hätte es auch ein Alienbaby sein können.
Hätte ich das mal nicht zu früh gesagt …
Naja, ich schweife schon wieder ab.
Jericho kam ein paar Tage später als geplant auf die Welt, was an sich vollkommen okay war. So konnte ich wenigstens ganz entspannt zum Entbindungstermin ins Krankenhaus einchecken und als dann die Wehen einsetzten, war sofort jemand vom Dienst zur Stelle, um mich zu unterstützen.
Er war ein ziemlich schweres Baby, wog ganze vier Kilogramm, ihr könnt euch also vorstellen, welche Schmerzen ich durchlitt, nur um seinen kleinen Kopf aus meiner- … naja, ihr wisst ja sicher alle, wie eine Geburt funktioniert.
Als ich Jericho schließlich in den Armen hielt, habe ich mich gefreut wie eine Schneekönigin. Nie hätte ich gedacht, dass ich in meiner Rolle als Mutter wirklich aufgehen würde. Das stand schließlich nicht auf meinem Lebensplan, jedenfalls nicht so früh. Doch als meine Eltern so stolz wie nie neben meinem Bett standen und liebevoll auf ihren Enkel herabblickten, hatte ich das Gefühl, dass das Universum mich genau zu diesem Moment hatte hinführen wollen. Dass meine Manifestation doch geholfen hatte, nur auf einem unerwarteten Wege.
Alles lief gut, wirklich. Fast schon zu gut! Klar, ich hatte auch danach noch Schmerzen und die ersten Stunden des Heulens hätten mich fast in den Wahnsinn getrieben, doch am Ende schien alles perfekt zu verlaufen. Meine Wunden heilten außergewöhnlich schnell, das sagte jedenfalls der Arzt und schon bald hatte ich diese ganzen Babysachen voll drauf!
Noch bevor ich das Krankenhaus verlassen durfte, wusste ich genau, wie ich Jericho davon abbringen konnte, sich die Seele aus dem kleinen Leib zu schreien und sogar das Stillen klappte genauso, wie man es mir gezeigt hatte.
Ich fühlte mich wie die Königin der Welt, was für euch vielleicht übertrieben klingt, doch für mich sehr viel bedeutete.
Denn natürlich hat man es als junge Mutter in einer religiösen Kleinstadt nicht immer leicht. Nicht nur das Getratsche wurde irgendwann anstrengend, nachdem ich keinen sichtbaren Babybauch mehr gehabt hatte, schien ich an dessen Stelle nämlich eine Zielscheibe zu tragen. Nur gut, dass ich mich dazu entscheiden hatte, das Schuljahr bis zum Ende auszusetzen und meinen Abschluss im nächsten zu wiederholen. So konnte ich mir wenigstens das Geflüster und die dummen Kommentare auf dem Schulhof ersparen.
Als ich mit dem kleinen Jericho in einem Maxi Cosi nach Hause kam, war es so, als würde sich ein komplett neues Leben vor meinen Augen aufbauen.
Dabei war das Einzige, was sich verändert hatte, dass da nun ein Babybett neben meinem stand und ein Hochstuhl an den Esstisch geschoben wurde. Der Rest kam so peu à peu.
Denn ich kann unsere Stadt gerne schlechtreden, doch eines werden wir immer bleiben: hilfsbereit.
Selbst wenn sie sich danach das Maul über uns zerrissen, so besuchten uns unsere Nachbarn und brachten Klamotten und Spielzeug zuhauf mit. Da war es mir dann egal, wer was über mich sagte. Denn meine Eltern und mein Sohn waren alles, was ich wirklich brauchte.
Und wir machten unsere Sache hervorragend. Meine Eltern entpuppten sich als perfekte Oma und Opa und es gab Tage, da bekam ich mein Kind nur für ein paar Stunden am Tag zu sehen, weil Oma und Opa ihn in den Park, ins Einkaufszentrum und Gott-weiß-wohin-noch schleppten. Ein riesiges Privileg, das ist mir bewusst. Die neidischen, übermüdeten Augen der anderen Mütter habe ich sehr wohl gespürt.
Nun fragt ihr euch bestimmt, wann der komische Part endlich anfängt, richtig? Das kann ich euch gar nicht übel nehmen. Wenn man über das großartige Leben einer frisch gebackenen, und dennoch ausgeschlafenen Mutter hört, wird man wahrscheinlich automatisch ein wenig wütend. Warum sollte ich auch ein besseres Leben haben als jeder andere? Wartet noch, ihr bekommt gleich eure Befriedigung.
An dieser Stelle muss ich zugeben, dass mir selbst erst viel zu spät aufgefallen ist, dass etwas nicht stimmt. Genauer gesagt fiel es mir erst zwei Wochen nach meiner Heimkehr aus dem Krankenhaus auf.
Es war mitten in der Nacht und aus irgendeinem Grund erwachte ich aus dem Tiefschlaf. Ich horchte in die Dunkelheit, doch Jericho atmete neben mir ganz leise und gleichmäßig aus und ein. Das beruhigte mich natürlich. Jede Nacht wickelte ich ihn in ein großes Tuch, damit er sich nicht aus Versehen auf den Bauch drehen konnte, doch die Paranoia konnte nur durch das Geräusch seines Ein- und Ausatmens gestillt werden.
Gerade drehte ich mich auf die linke Seite, wo ich mit dem Gesicht die Wand anvisierte, als ich es hörte. Ein zweites Atmen in der Dunkelheit.
Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört. Um sicherzustellen, dass ich wirklich falsch lag, hielt ich selbst den Atmen an, doch tatsächlich konnte ich dort hinter mir jemanden hören. Oder etwas.
Noch immer hielt ich den Atem an, diesmal jedoch vor Angst. Irgendjemand war hier in meinem Zimmer. Bei mir und bei meinem Baby.
Mein Magen krampfte sich zusammen und Tränen bildeten sich in meinen Augenwinkeln. Auch das klingt vielleicht etwas übertrieben, aber Tränen waren meine natürliche Körperreaktion auf Angst.
Ich hatte eigentlich immer Angst im Dunkeln und gerade erlebte ich meinen wahrgewordenen Albtraum.
Doch neben der Angst war da noch etwas anderes in mir. Wut. Der Wille zum Kampf.
Das Wissen, dass ich mich allem stellen würde, um dieses wehrlose Geschöpf neben mir zu beschützen.
Und so drehte ich mich wieder auf die andere Seite. Ganz langsam, locker, so als wäre ich wieder eingeschlafen und würde mich natürlich bewegen.
Meinen Atem hatte ich immer noch angehalten, doch jetzt versuchte ich, alle angestaute Luft so leise wie möglich entweichen zu lassen, um noch einmal tief einzuatmen.
Dann sprang ich auf. Ich schrie, weil ich einmal gelesen habe, dass es wichtig ist, einen Einbrecher zu überraschen, um ihn angreifbar zu machen, und dann stürzte ich mich mit allem, was ich aufbringen konnte nach vorn, mitten in die Dunkelheit.
Das war vielleicht eine blöde Idee, denn ich hatte keine Ahnung wen oder was ich da vor mir haben könnte und wusste nicht mal, ob ich mein Ziel auch nur ansatzweise erwischt hatte, aber ein erschrockenes Japsen verriet mir, dass ich mit meinem Überraschungsmoment wenigstens gepunktet hatte.
Jericho fing in dem ganzen Trubel ebenfalls anzuschreien und nachdem ich eine Weile lang meine Arme ziellos durch die Gegend geschleudert hatte, wusste ich nicht mehr, was ich hier eigentlich genau tat. Ich schien irgendwas zu treffen, denn meine Fäuste schlugen immer mal wieder gegen einen weichen Körper, doch effektiven Kampf konnte man es wirklich nicht nennen.
Diese ganze Aktion ging vielleicht ein halbe, höchstens eine ganze Minute so, bevor mein Zimmer in helles Licht getaucht wurde und ich in das besorgte Gesicht meines Vaters blickte. Wieder durchströmte mich eine Welle der Erleichterung, gefolgt von einem Gefühl der Unsicherheit. Ich drehte mich um meine eigene Achse. Jericho schien es – neben dem kleinen Schrecken, den er sicherlich gerade erlebt hatte – gut zu gehen und ich konnte nichts Außergewöhnliches in meinen vier Wänden entdecken.
„W-Was …?“, fragte ich in den Raum hinein und verlor mich kurz in meinen eigenen Gedanken. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Nein, ganz sicher nicht. War der Einbrecher abgehauen? Auch das schien mir unwahrscheinlich.
Jericho hatte mittlerweile aufgehört, zu weinen. Mein Vater war sofort an sein Bettchen getreten, das schreiende Bündel in die Arme genommen und summend hin und her gewiegt, bis es letztendlich wieder still war.
„Dad, ich hab’ hier irgendjemanden atmen gehört“, sagte ich sofort, als ich wieder in die Realität zurückgekehrt war.
Mit einem Finger an die Lippen gepresst bedeutete er mir, leiser zu reden. Aber die leichte Panik, die noch immer an meinen Knochen nagte, lies das nicht zu. Mein Herz klopfte noch immer so heftig, als wäre es in Gefahr.
„Dad, hör mir zu, hier war jemand“, drängte ich und trat näher an ihn und meinen Sohn heran.
Mein Vater nickte und schaukelte noch immer den kleinen Jungen in seinem Arm.
„Ich weiß“, sagte er schließlich, „das war ich.“
„Du? Was willst du mitten in der Nacht in meinem Zimmer?“, stutzte ich und drehte mich noch einmal in die Richtung, aus der ich das Atmen vernommen hatte. Mein Schreibtischstuhl stand dort, mit der Sitzfläche zu meinem Bett gedreht.
„Seit wann sitzt du schon hier?“, fragte ich schließlich, als mein Vater noch immer keine Antwort von sich gab.
„Wir wechseln uns ab, deine Mutter und ich. Weißt du denn nicht, dass man ein Baby die ersten 6 Wochen seines Lebens nicht unbeobachtet lassen darf? Du sollst schlafen können, darum sitzen entweder deine Mutter oder ich nachts Wache“, erklärte er, während er meinen Sohn zurück in sein Bettchen legte, so als wäre das, was er gerade gesagt hatte, die normalste Sache überhaupt.
„Ihr- … was?“, brachte ich mit Mühe heraus. Ich versuchte gar nicht erst meine Verwirrung zu verbergen. Ich bin mit den Eigenarten meiner Eltern aufgewachsen, aber das hier hatte ich noch nie zuvor gehört.
„Das hat einige Vorteile“, sagte er, „du kannst die Nacht gut durchschlafen, weil immer jemand in der Nähe ist, um den kleinen Engel zu trösten und er ist sicher und geborgen. Garantiert.“
Tatsächlich konnte ich mich an keine Nacht erinnern, in der ich nicht durchgeschlafen hatte. Heute war es das erste Mal gewesen, dass ich meine Augen noch vor dem Morgen geöffnet hatte.
Trotzdem war mir noch immer nicht klar, was das alles bedeuten sollte. Mal davon abgesehen, dass es verdammt gruselig war zu wissen, dass mich meine Eltern anscheinend beim Schlafen beobachteten. Es ließ mich an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln.
„O-kay?“, sagte ich ganz langsam, „also sitzt ihr hier auf meinem Stuhl und beobachtet mich beim Schlafen?“
„Nicht dich, Dummerchen“, mein Vater lachte leise, „Jericho. Nur so können wir ihn schützen.“
Ich seufzte. Und ich dachte schon, ich sei paranoid.
„Dad … ihm geht es gut. Ich habe ihn so fest eingewickelt, es ist fast unmöglich, dass er sich dreht und-“
„Das meine ich doch gar nicht“, unterbrach er mich, „ich meine, dass wir nur so sicher sein können, dass er nicht ausgetauscht wird.“
In diesem Moment kam es mir so vor, als sage mein Verstand nun endgültig ‚Auf Wiedersehen‘. ‚Adieu, Silvy, wir sehen uns nächsten Sommer!‘
„Ausgetauscht? Dad, du machst mir Angst.“
Ich presste ein Lachen hervor, in der Hoffnung, dass auch er lachen und das alles als riesigen Scherz entlarven würde. Aber er lachte nicht und so langsam dämmerte mir, dass er es wirklich ernst meinte.
„Wie lange macht ihr das schon?“, fragte ich trocken, „Wie lange sitzt ihr hier bereits nachts an meinem Bett wie die letzten Psychos?“
„Sag so was nicht, wir haben dich besser erzogen“, antwortete er zuerst in einem strengen Tonfall, doch seine Stimme wurde etwas sanfter, beinahe beschämt als er sagte: „Seit ihr aus dem Krankenhaus zurück seid.“
Mir stockte der Atem. Zwei Wochen lang hatte ich nicht bemerkt im Schlaf beobachtet zu werden und wer weiß, wie lange das noch weitergegangen wäre, wäre ich heute Nacht nicht wach geworden. Ich war eine schreckliche Mutter. Wie sollte ich mein Kind vor der großen weiten Welt beschützen, wenn ich nicht einmal mitbekam, dass sich nachts jemand vor sein Bettchen setzte?
„Das ist nicht euer Ernst. Sag mir, dass das ein Scherz ist.“
Doch die Antwort fiel aus und verriet mir alles, was ich wissen musste. Und das machte mich wütend. In dem Moment drängte ich alles, was meine Eltern für mich getan hatten, aus meinem Gehirn und sagte so ruhig wie möglich:
„Du verlässt jetzt mein Zimmer, wir reden morgen früh darüber.“
„Aber einer von uns muss auf ihn achtgeben“, warf mein Vater schnell ein, „Wir müssen aufpassen, dass er nicht ausgetauscht wird.“
„Ihr seid absolut verrückt“, murmelte ich, mehr zu mir selbst. Ich war diese ganze abergläubische Schiene schon gewohnt, deswegen überraschten mich seine Argumente nur wenig, doch diesmal hatte er den Vogel abgeschossen.
Ich massierte meinen Nasenrücken, während ich seufzend meine andere Hand Richtung Tür ausstreckte.
„Raus hier. Sofort.“
„Dann musst du aber wach bleiben, verstanden?“ Es klang mehr wie ein Befehl als alles andere. „Jericho darf unter keinen Umständen unbeobachtet sein, sonst könnte er- …“
„Ausgetauscht werden. Hab’s kapiert.“
Das war eine Lüge, nichts hatte ich kapiert. Aber ich war müde und noch immer verängstigt und hätte in diesem Moment wahrscheinlich alles gesagt, um meinen Vater aus diesem Zimmer zu bekommen.
„Ich werde wach bleiben.“
Zwar schien er nicht sehr überzeugt, doch mein Vater verließ nach einem Moment des Zögerns wirklich mein Zimmer. Und mit einem Blick über die Schulter auf Jericho schloss er sogar die Tür hinter sich.
Ohne groß darüber nachzudenken, kramte ich den alten Schlüssel aus einer meiner Schubladen und schloss die Tür ab. Das hatte ich schon lange nicht mehr getan, doch meine Eltern hatten auch noch nie zuvor so hart in meine Privatsphäre eingegriffen. Es erschien mir nur fair.
Und obwohl ich eigentlich nicht wirklich vorgehabt hatte wach zu bleiben, dauerte es bis zum Morgengrauen, bis ich schließlich noch zwei Stunden Schlaf einheimsen konnte.
Zu sagen, dass das Frühstück am nächsten Morgen unangenehm war, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Denn während ich mein Müsli in mich hineinstopfte und Jericho geduldig darauf wartete, gestillt zu werden, erzählten mir meine Eltern von den Teufelskindern.
„Der Teufel holt die Babys ganz früh.“, erklärte meine Mutter im Flüsterton, so als würde Satan selbst unser Gespräch belauschen, „Noch vor der Taufe, denn den ungetauften Kindern wird der Übergang ins Himmelreich verwehrt und so kann er sie für immer bei sich behalten. Und an ihre Stelle setzt er eine Kopie. Ein Kind der Hölle, damit es Grauen und Unglück auf Erden schaffen kann.“
Mit jedem Wort, das aus dem Mund meiner Mutter kam, wurde mein Kauen langsamer, bis ich schließlich gänzlich aufhörte zu essen.
„Ein … Kind der Hölle?“, fragte ich und sowohl meine Mutter als auch mein Vater nickten energisch.
„Deswegen muss man das Kind in den ersten 6 Wochen immer im Auge behalten. Somit hat der Teufel gar keine Chance, es sich zu nehmen!“
Ich schluckte das letzten bisschen Müsli herunter und starrte meine Eltern ungläubig an.
„Ihr wollt mir also sagen, dass ihr die Nacht in meinem Zimmer verbringt, damit Jericho nicht vom Teufel geholt und gegen ein Höllenkind eingetauscht wird?“
An dieser Stelle konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es laut auszusprechen, machte alles noch lächerlicher als der Gedanke selbst.
Doch wieder nickten sie nur, so als wäre das eine ganz logische Kette von Gedanken.
Nun musste ich sehr vorsichtig mit dem sein, was ich als Nächstes sagen würde. Schon oft hatte ich versucht, mich gegen den Glauben meiner Eltern zu wehren und es endete immer im Streit und damit, dass ich dem nachgab, was mir vorgelebt wurde. Denn so gut meine Eltern im Herzen auch waren, sie waren mindestens genauso alt eingesessen in ihrer Weltanschauung.
„Okay …“, begann ich, „Und woran erkenne ich, dass der kleine Sonnenschein dort drüben durch ein Balg der Hölle ausgetauscht werden wird?“
Ich deutete mit meinem Löffel auf den kleinen Jungen im Hochstuhl, der ganz gebannt eine Topfpflanze anvisierte, die auf dem Fensterbrett stand. Nichts deutete darauf hin, dass dieses Kind aus der Unterwelt kam.
„Du kannst es erst wissen, wenn es so weit ist“, sagte mein Vater und zuckte mit den Achseln.
„Und gibt es einen anderen Weg, das Ganze zu verhindern, außer mir den Schlaf zu rauben?“
„Du kannst einen Schlüssel neben seinem Kopf ins Bettchen legen“, antwortete meine Mutter schnell, „oder ein Paar von Dad‘s Hosen über das Bett werfen.“
Ich konnte ein lautes Losprusten gerade noch verhindern, indem ich ein Husten vortäuschte. Dieser Tag wurde immer besser.
„Was zum- … wisst ihr was? Gute Idee. Wie wärs, wenn ich ab jetzt immer einen Schlüssel mit ins Bettchen lege und ihr mir dafür versprecht nie wieder nachts in mein Zimmer zu kommen, außer es handelt sich um einen absoluten Notfall“, schlug ich schließlich vor.
Und damit war der Deal besiegelt. Zwar schienen meine Eltern nicht zu 100 % begeistert von der Idee, da für sie nur die 24-stündige Beobachtung wirkliche Sicherheit versprach, doch sie stimmten meinem Vorschlag zu.
Das ist, wo diese Geschichte so richtig beginnt.
Die ersten paar Nächte habe ich meine Zimmertüre noch abgesperrt, nur um sicherzugehen. Anfangs habe ich sogar wirklich mit dem Gedanken gespielt, meinen Zimmerschlüssel in Jerichos Bett zu legen, doch der Realist in mir schüttelte nur schmunzelnd den Kopf und warf das kleine Metallgerät wieder zurück in die Schublade.
Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass nicht nur mir die Veränderungen anfangs gar nicht auffielen. Meine Eltern behandelten Jericho wie bisher, da sie glaubten, dass ich mich an alle Regeln des Aberglaubens gehalten hatte, und die Nachbarn auf der Straße lächelten noch immer in den Kinderwagen, wenn wir ihnen beim Spazieren begegneten.
Gut, vielleicht hatte mein Sohn auf einmal einen riesigen Appetit, doch das war in unser aller Augen normal. Er musste schließlich genug aufnehmen, um auch gut zu wachsen.
Und gewachsen ist er wirklich. Nur nicht so, wie man es von normalen Kindern kennt. Denn das Einzige, was wirklich wuchs, war sein Kopf und obwohl es anfangs noch recht süß aussah, machten wir uns nach ein paar Wochen wirklich Sorgen. Sein Kopf war im Vergleich zu seinem Körper so groß, dass es nicht so aussah, als könnte sein Nacken ihn von sich aus nach oben strecken.
Also gingen wir mit ihm zum Kinderarzt, welcher versuchte uns zu beruhigen. Manchmal ist das Wachstum der Kinder fragwürdig, erklärte er uns. Er habe schonmal ein kleines Mädchen gesehen, bei dem in den ersten Wochen nur das rechte Bein gewachsen war und der Rest ihres Körpers erst im Laufe der Zeit aufholte.
Und damit waren unsere Sorgen fürs Erste gedeckt. Ich meine … wenn dir ein Arzt sagt, dass mit deinem Kind alles in Ordnung ist, dann glaubst du ihm natürlich.
Doch dieser Arztbesuch schien irgendetwas ausgelöst zu haben, denn fortan wurde immer klarer, dass mit meinem Sohn etwas nicht stimmte.
Sein Appetit wurde immer größer, so groß, dass meine Brust irgendwann nicht mehr genug Milch produzierte, um den kleinen Nimmersatt zufriedenzustellen. Das wurde mir bewusst, als Jericho eines Mittags meine Brustwarze blutig biss, weil sie nichts mehr abgeben wollte. Die Schmerzen waren unvorstellbar.
Ich wusste, dass das Stillen weh tun konnte, wenn die Haut anfing, rissig zu werden, ich war jedoch nicht darauf vorbereitet gewesen, in der Notaufnahme zu sitzen, um mir die Bisswunden rund um meine Brustwarzen nähen zu lassen.
Und es war nicht mal das Blut auf meiner Brust, welches mir Angst machte, sondern die Tatsache, dass Jericho noch nicht einmal einen Monat alt war und schon ausreichend Zähne im Mund hatte, um mir diese Wunden zuzufügen. Das war nicht normal, das bestätigte sogar der Kinderarzt, den wir nach diesem Zwischenfall erneut aufsuchten. Ein Kind, das so früh zahnte, hatte er noch nie gesehen, doch auch hier sagte er uns, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe. Das Wachstum der Kinder ist unergründlich, wiederholte er erneut und riet mir dazu, mein Kind künftig mit der Flasche zu füttern.
Das tat ich auch, denn an meine Brust wollte ich ihn nun nicht mehr lassen.
Jericho fraß sich durch zwei Packungen des Fläschchen-Pulvers in der Woche und nahm dennoch keinen Gramm zu.
Und dann kamen die Albträume. Jericho war mittlerweile ein Jahr alt, als die Träume anfingen. Ich sah mein Kind, mit Geschwüren über dem ganzen Körper verteilt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wie er in der Ecke meines Zimmers kauerte und ins Nichts starrte. Jedes Mal, wenn er blinzelte, ertönten die Schreie von tausenden Menschen, qualvoll und laut, so als hätte man einen Lautsprecher direkt neben meinem Ohr platziert. Schließlich lächelte das, was einmal ein Kind war, und der Traum war vorbei. Nacht für Nacht hatte ich diesen Traum und an den Gesichtern meiner Eltern konnte ich ausmachen, dass auch sie nicht gut zu schlafen schienen. Warum war gerade ihnen diese Veränderung nicht aufgefallen?
In dieser Zeit rannten wir von Arzt zu Arzt, denn was auch immer wir taten, Jericho schien einfach nicht wachsen zu wollen. Er war so furchtbar klein für sein Alter, das sah man vor allem als er älter wurde und anfing, sich mit anderen Kindern abzugeben. Mit 6 Jahren war er gerade einmal so groß wie ein Kind, dass erst in den Kindergarten gekommen war. Nur sein Kopf schien normal zu wachsen.
Niemand konnte uns sagen, was dazu führte, dass mein Kind mit einer Behinderung aufwuchs. Es wurden hunderte Tests gemacht, Blut genommen, Blut gewaschen und Blut gegeben, doch nichts deutete auf irgendeinen Erbfehler hin, der die ganze Sache erklären konnte. Versteht mich nicht falsch, ich liebte mein Kind noch immer abgöttisch. Als Mutter war es nur schwierig, mitanzusehen, wie mein Kind so ausgeschlossen von allen anderen aufwuchs und nichts dagegen ausführen zu können.
Irgendwann hörte ich dann auf, zu Neurologen und Pädiatern zu fahren. Zwar schienen Jericho die ganzen Untersuchungen nicht zu stören, doch ich wollte nicht, dass mein Kind sich irgendwann nur noch an Spritzen und Bandagen erinnern würde.
Was mir auch Sorgen machte ist, dass er selbst mit 8 Jahren noch immer kein Wort sprach. Anfangs hatten wir geglaubt, dass er vielleicht stumm geboren wurde, doch das wurde in frühen Tests ausgeschlossen. Außerdem schien er alles, was wir sagten, sehr gut verstehen zu können, reagierte auf alles, was wir sagten und taten. Nur sprechen wollte er nicht.
Und auch damit kam ich klar, denn ich wollte mein Kind so gerne lieben. Ich wollte es so sehr. Doch je älter er wurde, desto mehr begann ich mich vor ihm zu fürchten.
Die Albträume wurden schlimmer, die Schreie lauter, die Bilder immer grausamer. Nun sah ich nicht nur Jericho, sondern auch meine Eltern vor meinem inneren Auge. Sie standen neben meinem Sohn, ihre Augen ausgestochen, die klebrigen Rückständen noch immer auf ihren Wangen. Sie rissen ihre Münder so unnatürlich weit auf und aus ihnen kamen die Schreie, die ich immerzu hörte. Und Jericho saß nur da und lächelte wie ein kleiner Engel.
Als er sein erstes Tier tötete, wusste ich, dass er alles andere als ein Engel war.
Ich saß draußen auf der Terrasse und genoss die Sommersonne mit einer Tasse heißem Kaffee, während Jericho mit einem Set an Holzklötzen spielte. Er ließ alles stehen und liegen und kam zu mir herübergerannt, sah mich erwartungsvoll an und rieb sich dann seinen kleinen Bauch. Das Zeichen dafür, dass er hungrig war.
Wir hatten versucht, ihn an die normalen Essenszeiten zu gewöhnen, doch sein Hunger war so groß, dass wir bald von drei Mahlzeiten am Tag, auf sieben erhöhen mussten.
An diesem Tag wollte ich einen erneuten Versuch wagen.
„Es gibt bald Abendessen, mein Spatz. Kannst du noch ein paar Stunden warten?“, fragte ich in meinem verlockendsten Tonfall und gab ihm ein Lächeln, welches gleichzeitig bittend, als auch bestimmend sein sollte.
Jericho sagte nichts, wie erwartet, sondern drehte sich einfach nur um und rannte zurück zu seinen Holzklötzen. Ich war erstaunt. So einfach hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich fühlte den Triumph bereits, als ich sah, dass Jericho auf einmal großes Interesse am Nachbarzaun zeigte.
Ich stützte mich auf die Armlehnen des Gartenstuhles, um zu sehen, was er dort trieb, entschied mich dann jedoch dazu, aufzustehen und eine gute Mutter zu geben.
„Hast du da etwas Spannendes entdeckt?“, fragte ich und streckte meinen Hals in die Höhe. Etwas angeekelt stellte ich fest, dass das, was meinen Sohn so faszinierte, ein Frosch war. Wie kam der nur hier her? Die Nachbarn hatten zwar einen kleinen Teich, doch der Zaun war so dicht, dass ein Frosch keinesfalls hier herüberkommen sollte.
„Das ist ein Frosch“, erklärte ich meinem Sohn, weil ich gesehen hatte, wie andere Mütter ihren Kindern vorsagten, welches Tier sie sich gerade ansahen. „Die können hüpfen und machen Quak!“
Auch wenn ich keine Hoffnung mehr darauf hatte, dass Jericho jemals mit mir sprechen würde, erwartete ich für einen kurzen Moment, dass er meinen Froschlaut nachmachen würde. Doch nichts geschah.
Ich ging vor ihm in die Knie, bereit ihm alles zu erzählen, was ich damals in Biologie über diese kleinen Dinger gelernt hatte, da schnellte Jerichos Arm nach vorn und so flink, wie ich es noch nie einen Menschen hatte machen können, schnappte er sich den Frosch und hielt ihn schließlich in seinen Händen. Er konnte seine Finger nicht einmal komplett um den Körper des Tieres schließen, so klein waren sie.
Ich lächelte verunsichert. Ich wollte ihm nicht zeigen, dass mir sein Enthusiasmus Unbehagen bereitete und wollte ihn gerade dazu überreden, den Frosch wieder freizulassen, da sah ich etwas in seinen Augen aufblitzen.
Was auch immer dort war, es verschwand so schnell, wie es gekommen war.
Jerichos Blick bohrte sich in meinen und ohne eine Miene zu verziehen, führte er seine Hand zu seinem Gesicht und grub seine Zähne in den Hals des Frosches. Innerhalb von Sekunden hatte mein Sohn der Amphibie den Kopf abgebissen und kaute nun genüsslich vor sich hin, währen Blut über seine bleichen Finger tröpfelte.
Ich hielt meine Hand vor den Mund, um nicht zu schreien und stolperte zurück. Dann begann ich zu würgen.
Jericho schien sich an meiner Reaktion nicht zu stören und ich war noch zu geschockt, um irgendetwas zu tun, und so konnte ich nur dabei zusehen, wie er sich den Rest des noch zuckenden Tieres in den Mund stopfte und es zwischen seinen Zähnen zermalmte. Das Knuspern der Knochen drang gedämpft zu mir hindurch und ich musste mich wegdrehen, um mich nicht zu übergeben.
Ich hielt ihn nicht davon ab, das Tier herunterzuschlucken. Ich setzte ihn auch nicht in den Wagen und fuhr zur nächsten Notaufnahme. Ich stand nur da und versuchte das Geräusch zu vergessen, welches dieser erste Biss in den Frosch verursacht hatte.
In diesem Moment wurde mir klar, dass das dort nicht mein Kind war. Die Verbindung zum Gespräch mit meinen Eltern damals am Frühstückstisch kommt mir jedoch erst heute.
Ich wusste nicht, wie ich ihnen von diesem Zwischenfall erzählen sollte. Sie sahen ihren Enkel nun nur noch am Wochenende und ich konnte mir schon jetzt ihre Gesichter vorstellen, wenn ich ihnen beichtete, dass ihr kleiner Schatz einen Frosch bei lebendigem Leibe verspeist hatte.
Denn während meine Albträume seit seinem ersten Geburtstag bestehen, so haben sie bei ihnen bald darauf aufgehört. Für sie ist Jericho ein Kind, eingeschränkt durch eine Behinderung. Nicht mehr und nicht weniger. Sie wissen nicht, wie viel er isst, sie sehen seine leeren Blicke nicht, sie haben nicht gesehen, was ich gerade gesehen habe. Nämlich dass das dort vor mir, kein Kind ist.
Jericho hatte den Frosch mittlerweile aufgegessen und starrte mich nun so an, als würde er eine Belohnung für sein Verhalten erwarten.
Nicht zum ersten Mal seit seiner Geburt wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Wie in Trance ging ich zurück zu meinem Gartenstuhl und nahm einen Schluck Kaffee, um den sauren Geschmack in meinem Mund zu überdecken. Währenddessen hatte sich das, was dort im Garten spielte, wieder seinen Bauklötzen zugewandt.
Von da an sah ich ihn nie wieder als meinen Sohn, egal, wie oft ich versuchte, diesen Tag im Garten zu vergessen.
Und Jericho schien sich auch nicht mehr die Mühe zu machen, sich wie mein Sohn zu verhalten. Von diesem Zeitpunkt an lächelte er nur noch, wenn seine Großeltern zu Besuch kamen. Dann setzte er sich brav an den Tisch und ließ sich beschenken, während ich versuchte, sie so schnell wie möglich aus dem Haus zu bekommen. Ich wusste, wie sie in meinen Träumen aussahen und mittlerweile schienen diese Träume gar nicht mehr so fiktiv zu sein.
Manchmal bildete ich mir ein, ihre Schreie zu hören, wenn ich Jericho zu lange in die Augen sah. Also vermied ich dies, so oft es ging. Ich sah ihn nicht mehr an, verbrachte so viel Zeit wie möglich außer Haus und interagierte nur noch mit ihm, wenn ich ihm sein Essen vorsetzte. Seit dem Frosch-Vorfall habe ich darauf geachtet, ihn zu füttern, wenn er mir seinen Hunger signalisierte.
Vor etwa drei Monaten hat er dann angefangen, an mir zu nagen.
Ich weiß, das klingt wie ein Scherz, und heute kann ich selbst darüber lachen, eben weil es so verrückt ist, aber als es passierte war mir nicht nach Lachen zumute.
Der Tag war ganz verlaufen. Ich hatte es geschafft, Jericho so gut es geht aus dem Weg zu gehen und war gerade eingeschlafen, als mich ein stechender Schmerz in meiner Wade aus eben jenem Schlaf riss. Zuerst dachte ich, ich hätte mich verlegen, mir einen Nerv eingeklemmt und einen Krampf verursacht, doch dann kam der Schmerz wieder, schlimmer als noch beim letzten Mal. Ich versuchte mein Bein an meinen Oberkörper zu ziehen, um die schmerzende Stelle abzutasten, doch als ich es anzog, spürte ich, dass sich etwas an mir festgebissen hatte.
Das war der Moment, in dem die Panik einsetzte. Ich schnappte mir mein Handy und schaltete die Taschenlampe ein, bevor ich die Decke zur Seite zog und einen Anblick offenbarte, den ich wohl nie aus meinem Gehirn vertreiben können werde.
Jericho kniete neben meinem Bett, den Kopf so unnatürlich nach vorn gestreckt, dass es aussah, als sei er eine Schlange, die sich gerade in ihrer Beute festgebissen hatte. Ich schrie so laut, dass mein Hals schmerzte, doch Jericho rührte sich nicht. Ich schrie, obwohl ich noch gar keinen Grund zum Schreien hatte.
Denn Jericho hatte nicht wirklich zugebissen. Es war mehr so, als würde er an meinem Fleisch saugen und nur vereinzelt einen leichten Biss wagen. Als müsste er den Geschmack erst einmal testen. Doch sobald der erste Schrei meine Kehle verlassen hatte, sah ich, wie sich in seinem Hals etwas bewegte, so als würde er irgendetwas herunterschlucken und mit einem Mal biss er so fest zu, dass mir vor Schmerz schwindelig wurde. Mein Schrei wurde zu einem animalischen Brüllen als ich versuchte das Kind zu packen und von mir wegzuzerren, doch er hatte so fest zugebissen, dass jeder Versuch ihn von mir abzuschütteln nur noch mehr Schmerzen verursachte. Also musste ich warten, bis sich Jerichos Kiefer gänzlich durch mein Fleisch genagt und er von mir abließ, um das, was er von mir genommen hatte, zu zerkauen. Sein Hals schrumpfte vor meinen Augen, doch das war mir in diesem Moment egal. Ich starrte nur auf das Loch, welches nun in meiner Wade klaffte und Unmengen an Blut vergoss.
Jericho warf mir einen kurzen Blick zu, mein Blut um seinen Mund verschmiert, bevor sein Hals sich wieder dehnte und er zum nächsten Bissen ausholte. Doch diesmal war ich schneller. Irgendwie schaffte ich es aus dem Bett zu springen, ohne einzuknicken oder von dem Kind erwischt zu werden, welches nun ins Leere biss und mir enttäuscht nachschaute.
Natürlich rief ich sofort den Krankenwagen. Ich verlor immer mehr Blut und ich wollte unter keinen Umständen in Ohnmacht fallen, während Jericho in der Nähe war.
Und während ich auf die Sanitäter wartete, tat ich etwas, worauf ich nicht stolz bin, was ich aber viel früher hätte unternehmen sollen. Eine letzte Welle an Adrenalin packte meine Angst und mich mischte sich mit Wut auf das, was auch immer mir damals meinen Sohn genommen hatte.
Ich hatte schon früher das Gefühl gehabt, den Verstand zu verlieren, doch der Anblick deines Kindes, den Mund vom Blut deines eigenen Fleisches beschmutzt, macht etwas mit dir. Es nimmt dir auch das letzte bisschen Menschlichkeit und Liebe, das du jemals für dieses Ding empfunden hast. Denn auch wenn du schon lange wusstest, dass es gefährlich war, hättest du nie gedacht, dass es auch gefährlich für dich sein könnte.
Natürlich hätte ich einen besseren Weg wählen können, um ihn zu töten. Ich hätte ein Messer packen und auf ihn einstechen können. Ich hätte die Badewanne volllaufen lassen und seinen Kopf so lange unter Wasser drücken können, bis sein kleiner Körper aufhörte zu zucken.
Doch all das schien mir zu nah. Zu unsicher. Wer weiß, wozu dieses Ding fähig wäre, stünde es Auge um Auge mit dem Tod.
Also packte ich das, was einmal mein Kind war, am Arm und zerrte es, mit aller Kraft, die ich noch in mir hatte, in die Küche. Ich hinterließ eine Blutspur, was mir zeigte, dass es mit seinem Biss eine wichtige Ader durchtrennt haben musste.
Jericho wehrte sich nicht. Er ließ sich einfach von mir ziehen wie eine Puppe, machte keine Anstalten zu laufen oder zu stolpern. Sein Körper hing nach vorn ab, seine Füße schliffen über das Parkett und alles, was er tat, war, nach meinem Unterarm zu schnappen. Höchstwahrscheinlich, um sich auch von dort ein Stück von mir zu genehmigen.
Bevor er damit jedoch Erfolg haben konnte, hatte ich mein Ziel erreicht. Ich drehte die Knöpfe an meinem Herd so hoch wie möglich. Ober- und Unterhitze, 250 Grad. Dann zog ich die Ofentür auf und nahm beide Arme zu Hilfe, um Jericho hochzuheben und vor mich zu halten. Ein letztes Mal sah ich in seine toten Augen und seinen beschmierten Mund. Ich wünschte mir auf einmal nichts sehnlicher, als die Zeit zurückdrehen zu können und diesen verdammten Schlüssel in das Bettchen meines Sohnes zu legen.
Ich zögerte noch.
Doch dann trat ein Lächeln auf Jerichos Lippen und wieder wurde mir klar, dass das hier nicht das Kind ist, welchem ich vor über acht Jahren das Leben geschenkt habe. Voller Entschlossenheit drückte ich den kleinen Körper in den Ofen und spürte die Hitze auf meinen Händen als ich nachhelfen musste, seinen Kopf in die Öffnung zu quetschen. Zum ersten Mal im Leben war ich dankbar dafür, dass Jericho so klein geraten war.
Erst als ich meine Hände von dem, was noch immer aussah, wie ein Kind wegzog, begann es zu schreien. Aus seinem Mund kamen die Laute meiner Träume. Es schrie mit der Kraft von tausend Seelen und selbst als ich die Ofentür stöhnend zuschlug, bohrten sich die Schreie in meine Ohren. Ich sank vor dem Ofen nieder und presste meinen Rücken so gut es ging gegen das Glas. So konnte ich sicher sein, dass er auch wirklich verbrannte und diesmal wollte ich alles richtig machen.
Schwer atmend wartete ich vor dem Ofen auf den Notarzt, während der Geruch von verbranntem Fleisch immer penetranter wurde. Tränen liefen über meine Wangen und ich wusste nicht, ob diese wirklich der Trauer um das Kind im Ofen entsprangen, oder dem beißenden Gestank nach Schwefel.
Erst als dicker, schwarzer Rauch durch die Ritzen des Ofens kam, brach der Notarzt durch die Haustüre. Ich entschuldigte mich bei den Sanitätern, denn ich wusste, dass dieser Anblick sie zeitweise mitnehmen würde.
Sie nahmen meine Entschuldigung als Geständnis und ich wehrte mich nicht, als sie mich in die psychiatrische Einrichtung einwiesen, in der ich noch immer saß.
Ich bin hier nicht sehr beliebt, das sind Kindsmörder nie und ich kann sie dafür nicht einmal verurteilen. Sie wissen nicht, was ich weiß.
Niemand weiß, was ich weiß.
Meine Eltern kommen mich schon lange nicht mehr besuchen und so habe ich niemanden mehr, dem ich diese Geschichte weitergeben könnte, jetzt, wo ich bereit bin sie zu erzählen.
Die Ärzte meinen, ich soll meine Gedanken aufschreiben. Soll so tun, als hätte ich jemanden, dem ich all das anvertrauen könnte und vielleicht haben sie recht. Alles niedergeschrieben zu sehen, tut gut. Es lässt mich weniger an mir zweifeln.
Alle hier halten mich für verrückt. Sie sehen nur eine Frau, die ihr Kind im Ofen gebacken hat und die keinerlei Reue zeigt. Sie erwarten, dass ich, wie viele andere hier verstört, in einer Ecke hocke und mich hin und her wiege.
Aber ich weiß mir anders zu helfen, auch, wenn sie das nicht als „Effektive Therapieentwicklung“ ansehen.
Dann klopfe ich eben jeden Tag dreimal auf Holz und schmeiße mir Salz über die Schulter, so oft ich nur kann. Vielleicht hatte ich auch einen kleinen Nervenzusammenbruch am Freitag den 13.
Was ist daran so schlimm?
Ich bin darüber hinweg. Mir geht es gut, ehrlich!
Wie dem auch sei, im Nachhinein ist es schon fast lustig, dass ich 8 Jahre lang ein Kind der Hölle aufgezogen und es Frösche und schließlich auch mich selbst habe essen lassen.
Ja, ich bin darüber hinweg.
Um ehrlich zu sein, denke ich, dass ich das mit dem Muttersein doch noch einmal probieren werde, wenn ich hier rauskomme.
Und diesmal werde ich auch ganz vorsichtig sein.
Versprochen.