Wolfjsagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (4)
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Hier geht’s zu den vorigen Kapiteln:
– Kapitel 1: Wolfsjagd (1) – Creepypasta-Wiki
– Kapitel 2: Wolfsjagd (2) – Creepypasta-Wiki
– Kapitel 3: Wolfsjagd (3) – Creepypasta-Wiki
– Kapitel 4 –
Minutenlang starrte ich die Akte mit meinem Namen an, ohne auch nur eine der Fragen beantworten zu können, die trotz Naomis Erklärung in meinem Kopf herumschwirrten, als ich mich schließlich dazu entschied sie mir etwas genauer durchzulesen, in der Hoffnung ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, warum Claire gerade mich gewählt hatte. Ich öffnete den Aktendeckel, betrachtete noch einmal die Zeitungsartikel und die Zeichnung, ehe ich mir den Personalbogen nahm und diesen überflog.
Sämtliche persönliche Informationen wie meinen Vor – und Zuname, Geschlecht, Ethnie, Größe, Körperbau und -maße, Alter, Augen- und Haarfarbe etc. waren allesamt so, wie sie der Realität entsprachen, auch wenn ich mich bei manchen Eintragungen fragte woher sie dieses Wissen hatte. Anders sah dies bei meinem beruflichen Profil aus. So war ich kein Sergeant, sondern Officer First Class – einen Rang, den es bei der Polizei nicht gibt und auch einige Notizen zu meiner beruflichen Laufbahn stimmten nicht exakt mit der Realität überein, wobei die gravierendste Auffälligkeit darin bestand, dass der Fall des Teufelsautors nicht vermerkt war – Ein Fall, über den ich noch immer nachdachte, wann immer wir zu einem Tatort gerufen werden, an dem es gebrannt hatte und welcher für meine schlussendliche Degradierung zum Sergeant verantwortlich gewesen war.
Auf einer anderen Seite fand ich einen Text, den ich ebenfalls nur grob überflog und welcher Informationen über meinen Charakter, als auch meine Hintergrundgeschichte beinhaltete, wobei ich mich fragte, woher sie etwas über meine Persönlichkeit, geschweige denn meine Vergangenheit wusste, wenn wir uns überhaupt nicht kannten.
Zuerst hatte mich das alles ein wenig verwirrt und stutzig gemacht, als ich mir wieder Naomis Worte ins Gedächtnis rief, dass ich die Hauptfigur in einer ihrer Horrorgeschichten verkörperte, ebenso wie die anderen Personen aus meinem Umfeld, bei denen auch einige Informationen verändert worden sind und womöglich jeder seine ganz individuelle Hintergrundgeschichte erhalten hatte.
Dennoch änderte es nichts daran, dass dieses Mädchen mehr über mich wusste als jeder anderer und das jagte mir eine … gewisse Angst ein, denn das vieles, was mich betraf und mit ihren Einfällen übereinstimmte konnte angesichts der Menge der Übereinstimmungen kein Zufall mehr sein.
Und zugleich fragte ich mich noch immer warum?
Warum hatte sie gerade mich für ihre Arbeit ausgesucht?
Was hatte ich an mir, dass sie von all den Kollegen dieser Wache ausgerechnet mich genommen hatte?
Zwei weitere, für den Moment unbeantwortbare Fragen, die sich mir stellten.
Mit einem Seufzen legte ich die Akte beiseite, rieb mir kurz die Augen und schaute schließlich zum Karton, aus dem ich mir das abgenutzte Notizbuch heraus nahm.
Es schien selbst gemacht zu sein, vom Färben des Papiers, damit es älter aussah, über das Binden bis zu den Lederriemen, die das Buch festhielten und es zugleich wie eine Art Grimoire verschlossen und dabei doch mehr wie ein einfaches Notizbuch wirkte. Ich öffnete den Lederriemen und schlug das Buch auf irgendeiner Seite auf. Die auf alt getrimmten Seiten waren gefüllt mit Claires sauber geführten und eleganter Handschrift, aber bemerkte ich schnell, dass mit den Texten etwas nicht stimmte.
So zeigte sich auf der einen Seitenhälfte ein Text und auf der anderen Hälfte ein anderer, getrennt durch einen fein säuberlichen und kaum sichtbaren Knick in der Mitte der Seite. Ich blätterte einige Seiten weiter, wo sich dasselbe zeigte, wenn auch in diagonaler Form. Welche Seite ich auch aufschlug, überall fand sich diese seltsame Formatierung zusammen mit immerzu verschieden angeordneten Knickfalten – mal horizontal, mal vertikal oder auch diagonal, mal war es einer, mal waren es zwei.
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und ließ mir die Sache einen Moment durch den Kopf gehen.
Ein Notizbuch, welches in einem kaum zu findenden Versteck aufbewahrt wurde und gleichzeitig eine seltsame Formatierung besaß, womit es ohne entsprechendes Wissen kaum möglich war den darin enthaltenden Inhalt zu lesen. Es schien, als ob sie dieses Buch nicht nur vor anderen verstecken, sondern es dem Dieb so schwer wie möglich machen wollte an den genauen Inhalt zu kommen, sollte es ihm irgendwie gelungen sein das Buch in die Hände zu bekommen.
Was hatte diese seltsame Textformatierung wohl zu bedeuten?
Ich beugte mich wieder über das Buch, blätterte einige Seiten weiter und überflog die Zeilen, als ich schließlich auf einen Textabschnitt stieß, in welchem ich meinen Namen finden konnte, mehr aber auch nicht. Dennoch hatte ich weiterhin das starke Gefühl, als ob dieses Buch und diese Akte über mich etwas mit dem Fall zu tun haben mussten, obwohl ich noch immer nicht recht wusste wie, aber angesichts dessen, dass der Täter selbst danach gesucht hatte mussten diese Dinge damit zusammen hängen. Ich untersuchte die Seiten weiter, wobei mir immerzu die sauber angeordneten Knickfalten ins Auge stachen und mir der Gedanke kam, dass diese Auffälligkeit kein Zufall sein konnte. Es war zwar nur eine Vermutung, aber vielleicht machte ich es mir auch einfach unkompliziert schwer angesichts der beiden raffiniert gemachten Verstecke.
Nachdenkend lehnte ich mich wieder in meinem Stuhl zurück und überlegte einen Moment.
„Sie hatte immer schon etwas für Trickschachteln übrig„, kam mir Naomis Erklärung plötzlich in den Sinn.
„Sie hatte immer schon etwas für Trickschachteln übrig.“, murmelte ich leise vor mich hin als mir ein Gedanke kam. Abermals beugte ich mich über die Seiten des Notizbuches, um diesem Gedanken nachzugehen. Vielleicht, so dachte ich mir, ist das der Schlüssel.
Ich nahm eine der Seiten mit nur einer Knickfalte, faltete die Seite und legte sie auf die darunter liegende, aber auch dieses Mal waren es zwei verschiedene Texte auf zwei verschiedenen Seiten. Es wäre auch viel zu einfach gewesen, dennoch wollte ich mich davon nicht entmutigen zu lassen und herausfinden, wie diese Verschlüsselung zu dechiffrieren ist. Ich betrachtete die dritte Seite und bemerkte auch hier eine Knickfalte, die ebenso wie auf der ersten vertikal verlief, also faltete ich sie ebenfalls und legte den Text der ersten Seiten neben dem der dritten. Aber auch hier war es dasselbe Ergebnis. In einem vorerst letzten Versuch faltete ich die dritte Seite und legte sie unter die anderen. Die vierte Seite besaß dieses Mal zwei Knicke und war nur zur Hälfte in die Bindung eingearbeitet worden. Ich dachte kurz nach, als ich die vierte Seite von oben nach unten faltete und die übrigen gefalteten Seiten daneben legte. Oben war es das übliche Resultat, aber auf der unteren Hälfte erkannte ich, wie sich ein ganzer Blocksatz gebildet hatte, den ich von links nach rechts lesen konnte. Ich hatte das Gegenstück, wenn auch nur die Hälfte, zu dieser Seite gefunden.
So funktionierte die Verschlüsselung also, dachte ich mit einem Lächeln auf den Lippen und war beeindruckt von Claires Raffinesse, auch wenn es einige Fragen mehr über sie aufkommen ließ als beantwortet werden konnten. Sie hatte eine einfache, wenn auch aufwendige Methode gefunden den Inhalt dieses Buch und vermutlich anderer Aufzeichnungen zu verschlüsseln, ohne die Worte selbst chiffrieren zu müssen.
Ich faltete die Blätter wieder normal, schloss das Buch und legte es vorerst wieder zurück in den Karton, um mich später noch einmal genauer damit zu befassen. Anschließend nahm ich mir das andere, dass sich zusammen mit dem ersten in dem kleinen Versteck befunden hatte.
Im Gegensatz zum ersteren war dieses ein einfaches Notizbuch mit Spiralbindung und einem kräftigen Einband, wie man es in jedem Schreibwarenladen finden kann. Ich schlug die erste Seite auf, das Papier war liniert und zeigte keinerlei Spuren von Falten oder Knicken, was bedeutete, dass dieses nicht verschlüsselt worden war.
„Vom Mythos zur Legende – Wie die Mythologie die moderne Fantasy und Horrorliteratur beeinflusst“ lautete der obere Titel, was bedeuten musste, dass dies ihre Abschlussarbeit sein musste, von der Naomi erzählt hatte, oder zumindest ihre Notizen zu dem Thema. Ich las mir das Essay auf den nächsten Seiten durch und war selbst ein wenig überrascht, wie man ein solches Thema so interessant gestalten konnte und konnte mir vorstellen, dass es sicherlich den einen oder anderen Kommilitonen gab, dem dieses Thema selbst nie eingefallen wäre und es gerne als seine ausgeben würde. Sicher war ich mir zwar nicht, denn hatte ich keinerlei Ahnung von der Materie oder vom Studium allgemein, aber wenn dem nicht so wäre, hätte sich Claire keine große Mühe gegeben dieses Thema vor den anderen zu verbergen oder ihr Zimmer immer dann abzuschließen, wenn sie es verließ, sei es für einige Stunden oder nur wenige Minuten.
Ich nahm mir das Telefon, wählte die Nummer der Universität und bat nach einigen Sekunden des Wartens darum mir den Vorlesungsplan des Dozenten zu schicken, bei dem Claire ihre Abschlussarbeit schrieb, bevor ich schließlich meinen Bericht für den Superintendent über die neuesten Erkenntnisse und den Vorfall mit dem Unbekannten fertig machte, diesen abgab und mich schließlich ein wenig in ihr Thema einlas.
Ich wartete genau wie die anderen darauf bis die Kollegen der nächsten Schicht aus dem Breefing kamen um ihren Dienst anzutreten und nutzte die Zeit um noch einige Notizen anzufertigen, bevor ich die Beweise zurück in die Box legte und diese bei der Asservatenkammer abgab, wo sie zu den anderen Boxen gestellt wurde, bis ich sie bei meinem nächsten Dienst wieder abholen würde.
Kate und Aaron, die man allgemeinhin als Die Archivare oder auch scherzhaft Die Hüter bezeichnete, wobei die Bezeichnung wohl mehr als treffend ist angesichts der Unmengen an Beweisen, die in den Dutzenden von Regalen lagern – von enthüllenden Dokumenten und brisanten Fotos über hochwertige und ungeschnittene Drogen bis hin zu verschiedenen Schusswaffen und Munition, deren Bestand beinahe mit dem der Waffenkammer mithalten oder auch in einigen Bereichen übertreffen kann. Ich setzte meine Unterschrift unter das Formular, verabschiedete mich und machte ich mich zu den Umkleiden auf, um meine Sachen zu holen. Wie sonst auch immer war ich die Letzte, die die Umkleide betrat und eine gähnende Leere vorfand, aber war es mir offen gestanden lieber als wenn ich immerzu die Blicke der anderen Kollegen auf mir zu spüren konnte, während sie miteinander tuschelten, auch wenn sie das ohnehin taten, egal ob ich im selben Raum anwesend war oder nicht.
Mein Spind befindet sich an der hintersten Wand.
Normalerweise sind diese den Frischlingen vorbehalten, aber im Laufe der Jahre war sie eher zur Außenseiterecke geworden, damit die ausgelassene Stimmung beim Umziehen nicht gestört wird, sollte der unliebsame Kollege dazu kommen, über den man sich gegebenenfalls lustig machte. Es mag vielleicht kränkend sein und an das typische Bild in der Schule erinnern, aber hatte ich somit eine ganze Ecke für mich alleine, in der ich meine Ruhe hatte.
Dennoch kann ich es nicht leugnen, dass ich mich manchmal ein wenig einsam fühle, selbst wenn der Raum berstend voll ist, wenn ich alleine zwischen den Spinden auf einer der beiden Bänke sitze, ohne jemanden zu haben, mit dem ich mich unterhalten könnte oder der sogar versuchte mich zu umwerben.
Ich seufzte, öffnete meinen Spind, holte meine Tasche heraus und stellte sie auf die Bank, bevor ich mich umzog, während zwei weitere Beamte die Umkleiden betraten und sich zu ihren Schränken aufmachten, ohne mich dabei in irgendeiner Weise zu bemerkten.
„Hast du schon gehört, dass Winter einen Verdächtigen hat entkommen lassen?“, meinte einer der Beamten amüsiert.
„Ich kann ohnehin nicht verstehen, warum ausgerechnet sie für diesen Fall eingeteilt ist.“, meinte seine Kollegin. „Die arbeitet doch ohnehin alleine, weil sie nach der Geschichte damals keinem anderen mehr aus der Abteilung traut.“ Ich musste mich beherrschen ruhig zu bleiben, obwohl ich in den vergangenen Jahren gelernt habe solche Äußerungen einfach zu ignorieren, aber manchmal kommt es doch noch vor, dass ich diesen innerlichen Drang danach habe einiges klar zu stellen, notfalls mit den Fäusten als mit Worten.
Abermals öffnete sich die Tür und ein weiterer Beamter betrat die Umkleiden.
„Noch hier?“, fragte der Beamte.
„Wir mussten noch eine Übergabe machen, sind aber auch schon weg.“, meinte die Kollegin. Ich hörte, wie ein Spind geöffnet wurde, der sich zwischen meiner Ecke und der der beiden anderen Kollegen befand.
„Sag mal, Havelock …“
„Hm?“, erwiderte dieser ein wenig abwesend.
„Hast du schon das mit Winter mitbekommen?“ Havelock seufzte.
„Ehrlich jetzt? Gibt es eigentlich kein anderes Thema, über das ihr tratschen könnt?“
„Warum regst du dich so auf?“
„Seit der Sache mit ihrem Partner geht die Sache jetzt schon.“, konterte er genervt. „Dabei vergesst ihr wohl, was er ihr angetan hatte.“
„Ts, es gibt keine Belege für ihre Aussage.“
„Keine Belege?“, fragte er ein wenig erregt, ohne dabei aber zu emotional zu werden. „Hast du sie noch alle? Du hast sie doch gesehen, als sie da auf der Straße lag. Willst du mir etwa sagen, dass das nur oberflächliche Verletzungen und das Blut der Verdächtigen gewesen sind?“
„Glaubst du etwa ihrer Aussage? Dass einer von uns der Kopf hinter dem Kartell gewesen sein soll und nur aufgeflogen ist, weil eine Anfängerin bei Nachforschungen zufällig darauf gestoßen ist? Wenn du mich fragst wirkt das alles sehr unglaubwürdig.“
„Was ist eigentlich dein Problem mit ihr, he, Ken? Bist du sauer, nur weil sie deine Beförderung damals bekommen hat, als die Sache rausgekommen war?“ Es war zwar nett, dass er sich in gewisser Weise für mich einsetzte, wobei er darauf achtete auf sachlicher Ebener zu bleiben, ohne jedwede persönliche Meinungen in die Unterhaltung mit einfließen zu lassen, aber so sehr ich es auch schätzte, wäre es mir lieber, wenn er es bleiben lassen würde, damit nicht noch irgendwelche Gerüchte oder Geschichten die Runde machen würden.
„Hey, die Beförderung stand mir zu. Ich war schon länger dabei, hatte weitaus mehr Fälle bearbeitet und dann kommt sie und wird einfach vor mir befördert, nur weil sie eines der größten Kartelle der Stadt ausgeschaltet hat und dabei auch noch einen Kollegen erschoss. Was hat sich der Superintendent eigentlich dabei gedacht?“, fauchte er ihn an.
„Kann es sein, dass du auf sie stehst, Eric?“, erkundigte sich die Kollegin neugierig.
„Das kann dir doch egal sein.“, erwiderte er unbeeindruckt, ohne auch nur eine Spur jedweder Gefühle zu zeigen, als ob er es entweder sehr gut verstand seine persönlichen Ansichten über mich zu verbergen oder weil er es einfach nur leid war, ständig dieselben Tratschereien über eine paranoide Kollegin zu hören, die man gerne für das eigene Versagen verantwortlich machte.
„Du leugnest es nicht einmal, dabei kennst du sie nicht mal wirklich. Wie oft hattest du schon mit ihr zu tun, he? Ein, zwei Mal vielleicht?“
„Und du denkst, du würdest sie besser kennen, um dir eine Meinung über sie bilden zu können oder bist du nur eifersüchtig auf sie, weil die Kollegen trotz ihres Rufes noch immer ein Auge auf sie werfen als auf dich?“ Ich ertappte mich dabei wie ich ein Schmunzeln aufsetzte. Havelock verstand es tatsächlich zu kontern, ohne sich dabei selbst zu verraten oder seinem Gegenüber eine Gelegenheit für seinen Konter zu bieten.
„Du kleiner Pisser!“, hörte ich den Kollegen fluchen, packte sich Havelock und knallte ihn gegen die Schränke. Ich hatte genug gehört, schloss beinahe demonstrativ die Tür meines Spindes als ob ich es mit Absicht getan hätte um darauf aufmerksam zu machen, dass sich neben ihnen noch eine Person im Raum befand, nahm mir meine Tasche und trat zu ihnen. Es schien sie zu überraschen mich zu sehen, weshalb sie ein wenig blass wurden als sie realisierten, dass ich ihr kleines Gespräch mit angehört hatte, wenn auch ein wenig unfreiwillig.
„Hey Aileen.“ Ich schaute zu ihm und Havelock. „Ken, Eric.“ Sie betrachteten mich schweigend, peinlich berührt und unfähig zu wissen, was sie darauf erwidern sollten, während Ken Eric los ließ und einen gewissen Abstand zu ihm hielt.
„Scheinbar hast du alles mit angehört, was?“, meinte Ken ein wenig zurückhaltend, dafür dass er noch Augenblicke zuvor den großen Mann markiert hatte.
„War ja kaum zu überhören, oder?“, meinte ich ruhig.
„Schön, und was jetzt, Winter? Willst du uns die Meinung geigen?“
„Nein.“, antwortete ich schlicht und blieb gelassen. „Ich muss mich nicht auf dein Niveau herunter lassen, aber wegen der Beförderung, auch wenn du sie aufgrund meiner Degradierung doch noch bekommen hast, kannst du dich gerne beim Superintendent beschweren, ebenso über seine Entscheidung mich ebenfalls an diesem Fall mitarbeiten zu lassen. Vielleicht erfüllt er dir ja deinen Wunsch.“ Dann sah ich zu Eric und unterließ es irgendetwas wegen der Sache mit meinem ehemaligen Kollegen zu erwidern. „Wir sehen uns morgen, Havelock.“
„Bis dann.“, erwiderte dieser schlicht, eben wie ein Kollege, den man zwar kennt, aber zu dem man ein neutrales Verhältnis hat.
Als ich die Wache verließ war ich mir in zwei Dingen definitiv sicher: Zum einen, dass keiner der beiden zum Superintendent gehen und sich beschweren würde, da jeder in der Abteilung wusste, dass der Superintendent in solchen Dingen sehr ungehalten war, wenn man seine Entscheidungen in Frage stellte und zum anderen, dass sie vermutlich einen Scheiß auf meine Meinung gaben, so wie es ohnehin fast alle tun.
Nach einem ruhigen Abend, den ich alleine und in Gedanken versunken verbrachte, entschloss ich mich, schließlich ins Bett zu gehen, jetzt, wo ich zumindest ein bisschen über mein zweites Ich wusste, wenn auch nicht unbedingt mehr als vorher. Erneut versteckte ich meine Waffe unter dem Kopfkissen, legte mich hin und schloss nach einigen Minuten des Nachdenkens die Augen. Es dauerte nur ein paar Minuten bis ich sie wieder öffnete, wenn auch in der anderen Welt.
Abermals verspürte ich leichte Kopfschmerzen, an die ich mich vielleicht noch gewöhnen würde, je öfter ich diese Welte betrat, aber ließ ich mich davon nicht ablenken. Ich setzte mich auf und sah mich um, ehe ich aufstand und zu dem Schreibtisch schaute, der neben der Treppe an der Wand vor den Fenstern stand und auf dessen Stuhl ich meine Sachen fein säuberlich zusammengefaltet über der Lehne und auf der Sitzfläche fand. Es kam mir schon ein wenig seltsam vor, diese Kleider anzuziehen, aber war es in gewisser Weise auch ein vertrautes Gefühl, das ich mir nicht wirklich erklären konnte.
Meine Uniform bestand aus einer langen Hose mit Hosenträgern, einem weißen Hemd mit dunkelblauer Krawatte, sowie einer mittelangen Uniformjacke, die an einem Kleiderbügel an der Tür hing und an die Militärjacke eines Soldaten der Alliierten zur Zeit des ersten Weltkrieges erinnerte. Auf den Schulterklappen fand ich die Stickerei meines Ranges, welcher durch eine römische Eins dargestellt wurde, darunter fand sich eine Nummer, die mit der auf dem Kragen übereinstimme und scheinbar meine individuelle Dienstnummer darstellte. Zwischen diesen beiden Stickereien zog sich ein schmaler Streifen, der wohl die Grenze zwischen Dienstnummer und Rang bildete.
Ich streifte die Jacke über, schloss die Reihe von Knöpfen, nahm mir den breiten Gürtel, an dem sich eine kleine Tasche für den Notizblock oder anderes, zwei weitere für die Stangenmagazine, sowie mein Holster für die Pistole befanden und schnallte ihn mir um die Taille. Obwohl ich mich in dieser Welt nicht, oder zumindest noch nicht, besonders gut auskannte schien mir dennoch alles in gewisser Weise … vertraut. Ich ging zurück zum Bett, hob das Kopfkissen und fand meine Dienstwaffe, welche größtenteils einer Mauser C96 ähnlich sah.
Ich steckte sie gerade in das Holster, als ich hörte, wie jemand an meiner Tür klopfte.
Nach einem Moment des Zögern verließ ich das Schlafzimmer und machte mich nach unten auf, wobei mir auffiel, dass meine Wohnung fast genauso aussah wie meine reale und wieder fragte ich mich, woher Claire wusste wie sie aussah.
Erneut klopfte es an der mit Eisen beschlagenen Holztür, als ich die Treppe nach unten ging, sodass ich mir später Gedanken um die Frage machen musste, die Klinke nach unten drückte und sie schließlich öffnete.
Vor mir stand ein Beamter in derselben Uniform wie ich, wenn auch mit einer Raute und zwei darüberliegenden Keilen auf den Schulterklappen. Welchen Rang diese Anordnung allerdings bedeutete wusste ich nicht.
„Guten Abend, Officer.“, sprach er ruhig und mit einer genauso tiefen Stimme wie Chief Inspector Hayle, während er sich kurz an die Mütze fasste und mich damit begrüßte. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht in irgendeiner Weise gestört.“ Er drückte sich auch genauso aus wie der Chief Inspector. „Aber sollten wir keine Zeit verlieren.“ Irgendwie hatte ich das Gefühl eines Déjà-Vus, nur sagte er hier nichts von einem Mord.
„Gab es einen Mord?“, fragte ich ihn instinktiv.
„Woher …?“, begann er und unterbrach sich. Er räusperte sich kurz und fasste sich wieder. „Ich fürchte ja.“
„Warten Sie kurz.“ Ich drehte mich um, nahm die Schlüssel aus der Schale, die auf der Kommode neben der Treppe stand, trat zu dem Kollegen nach draußen, schloss die Tür ab und trat an seine Seite. „Wo ist der Mord passiert?“, fragte ich ihn, während wir uns auf den Weg machten.
„In der Blackstreet.“, antwortete er mir ruhig und sachlich. „Ich hätte zugegebenermaßen allerdings nie gedacht, dass es dort zu einem solchen Zwischenfall kommen würde, nachdem Sie in dem gesamten Bezirk aufgeräumt haben.“
Habe ich das? Wann? Wie? Warum?
Je mehr ich mich in dieser Welt bewegte, desto mehr Fragen stellten sich mir, nach deren Antwort ich zwar hätte fragen können, aber vermutlich seltsam für die Kollegen und Menschen dieses Ortes gewesen wären, da ich ja ein Teil dieser Welt war.
Vielleicht hätte ich die vereinzelten Seiten der Akte nicht nur grob überfliegen sollen. Verdammt Cassandra. Du bist doch sonst immerzu so gründlich. Warum also jetzt dieser Fehler?
Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte sich jetzt darüber zu ärgern, das könnte ich immer noch, denn musste ich mich auf das hier und jetzt konzentrieren, wenn es denn wirklich ein hier und jetzt war und keine halluzinogene Nebenwirkung des Spritzeninhaltes, die mein Vorstellungsvermögen beeinflusste und eine Traumwelt erschuf, in der ich das Gefühl hätte, dass diese genauso real sei wie jene, in der ich in meinem Bett lag und schlief.
Wenige Minuten später erreichten wir die Blackstreet, an deren jeweiligen Enden sich Polizeibarrieren und Dutzende von Beamten eingefunden hatten, während mitten auf der Straße ein Zelt errichtet worden war. Als wir uns näherten öffnete man die Barriere und ließ uns passieren, während sich ein Beamter näherte, vor uns stehen blieb und salutierte.
„Sergeant Radcliff, Officer First Class Winter.“
„Was wissen wir über das Opfer?“, fragte ich instinktiv, obwohl ich aufgrund der Anwesenheit des Sergeant, der deutlich über mir stehen musste, nicht die Dienstleitung besaß und mich daher nicht in den Vordergrund spielen durfte, aber blieb er zu meiner leichten Überraschung doch ruhig und sagte nichts.
„Bisher nur das Geschlecht.“, antwortete er, wobei er mich der Officer ein wenig an Havelock erinnerte. „Wir befragen derzeitig einige Passanten und Gäste des Lokals, bisher gab es aber keine brauchbaren Aussagen.“
„Sagen Sie mir …“, begann der Sergeant.
„Officer Second Class Eric Havelock, Sir.“, stellte er sich schnell vor.
„Warum konnten Sie bisher nur das Geschlecht des Opfers bestimmen?“, fuhr der Sergeant unbeirrt fort. Der Beamte schluckte.
„Ich … ich denke, dass sollten Sie sich selbst ansehen, Sir.“ Wir traten an dem Beamten vorbei und betraten das Zelt. Der Geruch von frischem Blut stieg mir in die Nase und erneut konnte ich den Körper einer jungen Frau vor mir sehen, der vor mir auf dem Pflaster der Straße lag, umgeben als auch bedeckt von einer Lache aus Blut, welches die vereinzelten Rillen zwischen den Pflastersteinen füllte, bevor sie die Massen nicht mehr fassen konnten und es über das Pflaster selbst lief. Da sie auf dem Rücken lag konnte ich sofort die Maske erkennen, die ihr Gesicht verbarg, aber anders als beim ersten Mal zeigte diese nicht das Bildnis einer Katze, sondern das eines bärenähnlichen Wesens mit einem kleinen, hirschartigen Geweih.
Obwohl es viele verschiedene Theorien geben konnte, die der Täter mit diesen Masken verfolgte, schien er sie nicht grundlos zu wählen und seinen Opfern aufzusetzen und etwas, vielleicht auch nur für ihn, zu bedeuten haben. Aber drängte sich mir auch der Gedanke auf, dass er uns, der Polizei, oder vielleicht auch nur mir etwas damit sagen wollte, auch wenn sich mir die Botschaft oder die Bedeutung dahinter noch nicht offenbart hatte.
Mit einem leichten Seufzen kniete ich mich neben dem Körper der Toten nieder und betrachtete ihn.
In den bereits etwas abgenutzten Lederstiefeln, die unterhalb der Knie endeten, steckte eine elegante Hose, die die Beine betonten und bis zur Taille verlief, wo sie an der Seite von einer Knopfreihe geöffnet, beziehungsweise geschlossen und von einem Paar Hosenträgern gehalten wurde. Darüber trug sie ein einfaches, figurbetontes und leicht abgenutztes Hemd, eine einfache Arbeiterjacke und -mütze, die neben ihrem Gesicht lag, welches von der Maske bedeckt wurde.
Instinktiv betrachtete ich ihre Hände, aber abgesehen von einigen Spuren körperlicher Arbeit, die wohl ihres Berufes, welcher das auch immer gewesen sein mochte, zu verschulden war, gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sie sich gewehrt haben musste, was auch die einzelne Stichwunde unterhalb der linken Brust erklärte, die ihre Lunge verletzt zu haben schien, wodurch sie innerlich nicht nur verblutet, sondern auch ertrunken war als sich ihre Lunge durch die Verletzung langsam mit Blut gefüllt hatte.
„Ein Arbeitermädchen.“, vernahm ich die Stimme des Sergeant, in der sich Mitleid finden konnte, als ob ihm der Anblick wirklich zusetzen würde. „Sie muss hier aus der Gegend sein.“
Ich schaute zu der Maske, musterte diese und genau wie bei Claire war es eine außergewöhnlich detaillierte und besonders ausgearbeitete Arbeit, die viel Zeit gekostet haben musste. Auch wenn ich keine große Hoffnung besaß legte ich meine Finger an die Seiten der Maske und hob sie vorsichtig an, aber gab sie zu meiner Überraschung nach, was bedeutete, dass der Täter entweder keine Zeit hatte sie fest zu kleben oder aber es nicht vor hatte.
Ich machte mich bereit das vertraute Gesicht Claires zu sehen, legte die Maske beiseite und richtete meinen Blick wieder auf ihr Gesicht, aber … war es nicht das von Claire, das ich betrachtete, sondern einer anderen seltsam vertrauten Person, das ich aufgrund der etwas schlechten Beleuchtung allerdings nicht richtig identifizieren konnte.
„Geben Sie mir bitte eine der Laternen.“, bat ich. Der Sergeant reichte mir wortlos eine der Lampen, die das Zelt erhellten. Schweigend nahm ich sie entgegen und richtete den Schein auf das Gesicht der jungen Frau. Auch wenn ich nicht wusste, wie sie in dieser Welt hieß, so wusste ich zumindest, wer sie in meiner Welt war.
Es war Naomi – Claires langjährige Freundin.
„Ist sie das einzige Opfer?“, fragte ich nachdenkend, ohne den Blick von ihr abzuwenden, als eine weitere Person das Zelt betrat und dem Sergeant zuvor kam.
„Wieso fragen Sie das?“, fragte er. „Denken Sie, dass es noch eine weitere Leiche gibt?“ Ich sah zu dem Mann, der recht starke Ähnlichkeiten zum Superintendent hatte, im Gegensatz zu ihm jedoch eine sich kreuzende Narbe neben dem linken Auge und ein etwas kantigeres Gesicht besaß, was seinem ohnehin schon soldatenhaften Aussehen noch mehr Ausdruck verlieh. Ich hörte, wie der Sergeant Haltung annahm und salutierte.
„District Superintendent.“, grüßte er, während ich es ihm gleich tat und ebenfalls salutierte. Mit einer Handbewegung signalisierte er uns, dass wir uns rühren durften und nahmen eine entspannte Haltung an.
„Also?“, fragte er, um mich wieder auf seine Frage beim Betreten des Zeltes aufmerksam zu machen, auf die er noch eine Antwort zu erwarten schien, aber wusste ich nicht recht, was ich ihm sagen sollte.
„Ich habe das Gefühl, als ob sie nicht das einzige Opfer sein wird, Sir.“
„Sergeant.“, wandte er sich an den Kollegen.
„Sir.“
„Erkundigen Sie sich, wie weit die Beamten mit den Befragungen sind.“, wies er ihn an.
„Jawohl.“, erwiderte er gehorsam und verließ das Zelt, während sich der District Superintendent wieder an mich wandte.
„Was wollen Sie mir damit sagen, dass Sie das Gefühl haben, als ob sie nicht das einzige Opfer sein wird, Officer?“, fragte er mich, als er mit schweren Schritten zu mir getreten und sich mir bis auf wenige Zentimeter genähert hatte. „Das wir es hier womöglich mit dem Beginn einer Serie zu tun haben?“ Ich erwiderte seinen durchdringenden Blick, ohne dabei eine Spur von Nervosität zu zeigen. „Sie wissen, dass ich Ihren Fähigkeiten vertraue, aber wenn die Presse erfährt, dass wir es mit einer Mordserie zu tun haben, die gerade erst begonnen hat, wird blanke Panik ausbrechen, wenn es denn wirklich so ist. Wie können Sie sich in Ihrer Vermutung so sicher sein?“
„Glauben Sie mir, Sir. Ich weiß es.“ Er überlegte einen Moment, als ob er sich unsicher wäre, dies aber nicht offen zeigte. „Sollte ich mich irren, werde ich die alleinige Schuld auf mich nehmen. Sir.“
„Bist du dir im Klaren darüber, was das für dich bedeuten würde, Cass?“ Sicher war ich mir zwar nicht, aber da fast alles, was ich bisher über diese Welt und meine Rolle darin in Erfahrung bringen konnte, schien es nicht viel anders zu sein als in der meinigen.
„Meine Entlassung nehme ich an.“, antwortete ich kalt und hoffte ein wenig, dass es die richtige Deutung gewesen ist.
„Viele der Kollegen, darunter auch ich, mögen zwar hinter dir stehen, aber du gehst ein großes Risiko ein. Die Adligen warten doch nur darauf, an jemandem wie dir ein Exempel zu statuieren, selbst in einem Bezirk wie dem unsrigen.“ Seine Äußerung ließ mich kalt, als er lächelte und kurz lachte, als ob er sich an etwas erinnern musste, dass ihm in diesem Moment wieder eingefallen war. „Ich glaube ich habe noch nie einen solch engstirnigen und sturen Menschen wie dich getroffen, weder im Krieg noch hier.“
Officer Havelock betrat das Zelt.
„District Superintendent. Officer First Class.“
„Was gibt es Officer?“
„Zwei Beamte haben in der Kobaldgasse im Grovewoodbezirk einen jungen Mann verhaftet. An seiner Kleidung fand man Spuren von Blut, als auch die Tasche, die dem Opfer zu gehören scheint.“
„Und wo ist er jetzt?“
„Auf dem 18. Revier, Sir.“ Ich hörte den Superintedent seufzen.
„Ausgerechnet auf dem 18.“
„Wird uns das Probleme bereiten?“, fragte ich ihn trotz meiner gewissen Unwissenheit über diese Welt, aber anhand seiner Reaktion konnte ich sehen, dass dies keine gute Nachricht gewesen ist. Es ist allgemeinhin kein Geheimnis, dass viele Polizeireviere an einer gegenseitigen Zusammenarbeit kaum Interesse haben und sich nur wenig um die Nachbarbezirke scheren, egal in welchem Land oder welcher Welt man ist, also warum sollte es hier anders sein?
„Nicht, wenn noch immer der alte Tenneth den Laden schmeißt. Bei dem hab‘ ich noch was gut nach der Geschichte damals.“ Ich hielt es für besser nicht nach dieser Geschichte zu fragen, da es einfach zu wenige Anhaltspunkte gab und er sie mir sicherlich schon einmal erzählt hatte. „Sonst noch etwas?“
„Ja, Sir. Bei der Toten handelt es sich offenbar um eine junge Frau namens Naomi Castleton aus Rackport.“
„Aus Rackport?“ Er betrachtete die Tote. „Was macht sie dann an einem Ort wie diesen?“ Er schien keine Antwort darauf zu erwarten und atmete kurz durch, während ich mir den Namen merkte, in der Hoffnung in ihren Aufzeichnungen mehr darüber zu finden, obwohl ich bereits die Vermutung hatte, dass es sich dabei um einen gesellschaftlichen höheren Distrikt handelte als jener, in dem wir sie nun gefunden hatten. „Nun gut. Ich werde mich zum 18. Revier aufmachen und schauen, ob ich irgendetwas erreiche. Winter.“
„Sir.“
„Sie haben das Kommando, bis die Leiche abtransportiert und die Straße wieder frei gegeben ist.“
„Entschuldigen Sie, Sir, aber fällt die Zuständigkeit nicht an Sergeant Radcliff?“
„Er wird mich begleiten und trotz deiner Degradierung werden die Beamten hier auf dich hören, ganz egal was die Vorschriften sagen.“ Ich verstand natürlich seinen Einwand und wusste, dass ich ihm nicht widersprechen sollte.
„Zu Befehl, Sir.“, erwiderte ich ebenso gehorsam wie der Sergeant und salutierte. Er nickte mir zu, dann verließen er und Havelock das Zelt. In meinem Innern hatte ich gedacht, ich würde ihn begleiten, bei der Befragung dabei sein, aber auch wenn mir Dutzende von Gründen einfallen würden, warum er es nicht getan hatte, war ich mir nicht sicher, ob es überhaupt einer von diesen war, der ihn so hatte entscheiden lassen.
Ich kniete mich wieder neben die junge Frau und betrachtete ihr Gesicht.
Ich erkannte getrocknete Tränen, die sie in ihren letzten Minuten vergossen hatte und an ihrer Haut herunter gelaufen waren, während sie Blut gespuckt hatte, welches ihre blassen Lippen, den Unterkiefer und den Hals benetzten. Anhand der Menge schien es mehrere qualvolle Minuten des Kampfes gewesen zu sein, in denen sie doch von jemandem gehört oder zumindest gesehen worden sein musste. Aber warum hatte sich dann niemand gemeldet?
Mein Blick fiel auf die Verletzung unterhalb ihrer Brust. Die Kleidung war zum Großteil vom Blut des Opfers getränkt worden, die Blutlache, in der sie jedoch lag, war weitaus kleiner, als es bei einer solchen Stichverletzung eigentlich hätte sein sollen.
„Sie ist nicht hier getötet worden.“, entfuhr es mir nachdenkend, nahm mir die Laterne und trat zum Eingang des Zeltes, wo ich auf dem Boden, fernab der Lache, einige Tropfen Blut fand, die zwischen die Rinnsteine geflossen waren. Ein letztes Mal schaute ich zu der jungen Frau und spürte das Verlangen bei ihr zu bleiben, bis jemand anderer meinen Platz einnehmen würde, anstatt sie dort einsam liegen zu lassen. Für andere Beamte mag sie nur eine Leiche, ein lebloser Körper, das Opfer einer sinnlosen Tat gewesen sein, aber war sie dennoch ein Mensch, der es verdient hatte auch nach ihrem Tod als solcher behandelt zu werden. Ich trat nach draußen und schaute mich um, als ich einen Beamten sah, der ein wenig orientierungslos da stand und nicht wusste, was er jetzt tun sollte. „Sie!“
Ohne jedwede Widerworte kam er zu mir.
„Officer First Class.“, salutierte er gehorsam.
„Wie ist ihr Name?“, erkundigte ich mich.
„Corporal Stevens, Officer First Class. Ich bin vor vier Tagen zu ihrer Einheit versetzt worden.“, erklärte er mir, wobei es mir seltsam erschien mit einem solchen Respekt behandelt zu werden.
„Ich verstehe. Willkommen.“, meinte ich wenig euphorisch angesichts der Situation. „Also dann Stevens, Sie bleiben bei dem Opfer, bis die Gerichtsmediziner eingetroffen sind.“
„Sie … wollen, dass ich … bei der L- …“, fragte er stockend, versuchte sich jedoch schnell wieder zu fangen um keinen Ärger von einer Vorgesetzten, die er offenbar in mir sah, zu bekommen und salutierte. „Zu Befehl, Ma’m.“ Ich unternahm einen Schritt nach vorne, als ich stehen blieb und mich wieder zu dem Beamten umdrehte.
„Stevens.“
„Ma’m.“
„Ich weiß wie Sie sich fühlen, das ging uns allen so, aber denken Sie immer daran, was das Opfer durchlitten hat, dem wir es jetzt schuldig sind, den Verantwortlichen dafür zu finden.“
„D-Danke, Ma’m.“
„Nennen Sie mich Winter. Das tun hier alle.“ Ob dies natürlich stimme oder nicht war mir nicht wirklich bewusst, aber irgendetwas sagte mir, dass dem so war.
„Natürlich … Officer Winter.“ Ich ließ ihn ins Zelt treten und die Totenwache übernehmen, während ich die Straße abging und nach den nächsten Tropfen oder Schmierer suchte. Ich folgte der Spur von einer Straße zur anderen, ohne Rücksicht auf meine Umgebung zu nehmen, während sich mir eine kleine Einheit von Beamten anschloss und den Weg frei machten, wobei ich wohl so sehr auf die Blutspur konzentriert gewesen bin, dass ich sie zunächst gar nicht bemerkt hatte.
Mit zunehmender Entfernung und jeder Straße, in die ich einbog, wurde es mehr und mehr Blut, was bedeuten musste, dass sich der ursprüngliche Tatort näherte und auch mein Schritt wurde mit abnehmbarer Entfernung zum Tatort schneller bis ich wie ein Bluthund schließlich die Straße hinunter rannte, ohne auch nur annähernd zu wissen, wo ich mich überhaupt befand. Als ich am Ende der Straße schließlich um die Ecke bog blieben sowohl ich als auch die Beamten stehen, nachdem sie zu mir aufgeschlossen hatten.
Die Spur von Blut führte zu einer Tür eines dreistöckigen Hauses, welches wie jedes andere in diesem Viertel war – nicht heruntergekommen, aber auch nicht nobel – das typische Haus eines Arbeiters für wenig Geld mit einer Werkstatt im Erdgeschoss und einer Wohnung in den beiden darüber liegenden Stockwerken. Es war dunkel, kein Licht brannte und die Tür stand offen, während das eine oder andere Stück Papier umher flog und schon erahnen ließ, was sich dort abgespielt hatte.
Vorsichtig griff ich nach meiner Waffe, zog sie beinahe schon demonstrativ aus dem Holster und vergewisserte mich, dass sie entsichert war, während es mir die Beamten gleich taten. Langsam und auf jede Bewegung achtend näherte ich mich der Tür, die sich im leichten Wind hin und her bewegte und dabei ein wenig knarrte. Sie schien nicht gewaltsam aufgebrochen worden zu sein, was bedeuten musste, dass sich der Täter anderweitig Zugang verschafft haben musste oder sie den Täter hereingelassen hatte, ohne zu wissen, was er ihr antun würde. Mit der Pistole in der Hand öffnete ich die Tür, leuchtete in den Flur hinein und betrat schließlich das Haus.
Die Männer hinter mir wussten, wie sie vorzugehen hatten und durchsuchten nach und nach jeden einzelnen Raum, sowohl im Erdgeschoss als auch in den Geschossen darüber, ohne auch nur ein verräterisches Geräusch dabei von sich zu geben, was angesichts der verwendeten Holzdielen bemerkenswert gewesen ist. Ich selbst gehörte zu den ersten, die mit vier Beamten nach oben ging, wo wir uns verteilten. Ich betrat eines der Zimmer, aus dem ein seltsamer Geruch drang, der mir wie so oft mehr als vertraut war und mich bereits erahnen ließ, was mich erwarten würde.
Vorsichtig öffnete ich die Tür, betrat das Zimmer und konnte durch den fahlen Lichtkegel der Laterne bereits einiges erkennen, was sich vor mir befand. Ein Beamter trat an meine Seite, während ich die Pistole zurück ins Holster steckte und somit signalisierte, dass uns keinerlei Gefahr drohte. Warum ich mir dessen allerdings so sicher war, war mir nicht ganz klar, aber vielleicht war dies auch eine der Eigenschaften meines zweiten Ichs.
„Wir haben alles durchsucht, Winter. Es ist niemand hier.“, berichtete Officer Havelock, wobei ich mir schon so etwas gedacht hatte.
„Haben Sie etwas gefunden?“
„Nein. Sie?“
„Der Täter hat uns etwas hinterlassen.“, meinte ich nachdenkend, während ich den schwachen Schein der Laterne und meinen Blick durch das dunkle Zimmer streifen ließ.
„Was meinen Sie?“
„Bringen Sie mehr Lampen.“, ordnete ich an und betrat das Zimmer, während er meinem Befehl ohne weiteres nachkam und diesen ausführte.
Überall auf dem Boden lagen verschiedene Seiten und Papiere, aber anders als in Claires Zimmer, wo sie vereinzelt und chaotisch herum lagen, waren diese hier vielmehr angeordnet worden, sodass sie einen Ring zu formen schienen, bevor Blut über die Seiten gespritzt war, aber … da war noch etwas anderes. Etwas, das mich ein wenig stutzig machte.
Ich kniete mich nieder und betrachtete die verschiedenen Arten von Spritzern auf den vereinzelten Papieren, die mir seltsam erschienen. Es war kein arterielles Spritzmuster, sondern sah eher so aus, als ob jeder einzelne von ihnen präzise verteilt worden ist, als ob der Täter einen Pinsel mit dem Blut getränkt und diesen mit einer schwingenden Bewegung geführt hätte, was bedeuten musste, dass er wollte, dass wir diesen Ort hier finden und darauf aufmerksam werden.
Schritte betraten den Raum, welchen ein heller Schein folgte.
Ohne mich zu den Männern umdrehen zu müssen wusste ich, dass es sich um die angeforderten Laternen handelten, die sie zu meiner leichten Überraschung recht schnell herangeschafft hatten.
„Stellen Sie die Lampen an die Seite, je mehr, desto besser. Und achten Sie darauf, keine Beweise zu kompromittieren.“, wies ich die Männer an. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis das Zimmer mit Licht geflutet wurde und mich das Ausmaß, welches einigen der Männern zusetzte, in meiner Vermutung recht behalten ließ.
Die vereinzelten Seiten waren ringförmig angeordnet und von Tinte und Blut bespritzt worden, wobei sie das Zeichen eines Wolfes formten, das ohne jeden Zweifel von ihm stammte, ebenso jene Worte an der Wand nahe der Fenster, die er mir bereits in Claires Zimmer hinterlassen hatte:
Sie werden sie nicht retten können
Was hatte diese Botschaft nur zu bedeuten?
Wen würde ich seiner Meinung nach nicht retten können?
„Wo befinden wir uns?“, fragte ich mit ruhiger, nachdenkender Stimme, ohne meinen Blick von diesen Worten abzuwenden.
„Wie meinen?“, erwiderte Havelock ein wenig verdutzt.
„In welchem Distrikt befinden wir uns hier?“
„Westwood.“, antwortete der Beamte ein wenig irritiert. Es war also nicht Rackport, was mich auch gewundert hätte in Anbetracht dessen, wie der District Superintendent auf die Erwähnung des Distriktes reagiert hatte, was bedeutete, dass dies nicht Naomis Wohnung war. Aber … was tat sie dann hier?
„Wissen wir, ob das Opfer diese Wohnung möglicherweise bewohnt hat?“ Einer der Beamten überflog mit seinem Blick den Schreibtisch, an dem es offensichtlich zu einem Kampf gekommen war, wie sich anhand des umgefallenen Stuhls und den vereinzelten Blutspritzern zeigte, als er ein beschriebenes Blatt Papier aufhob und es kurz betrachtete, während er sich zu mir umdrehte.
„Ich bin mir nicht sicher, aber könnte es sich bei der eigentlichen Wohnungsinhaberin eventuell um eine gewisse Vienna Night handeln.“, erklärte er, wobei mich seine Stimme an Officer Valens erinnerte. Ohne dass ich ihn dazu aufgefordert hatte überreichte er mir das Papier, dessen Text ich kurz überflog und feststellte, dass es sich abgesehen von einigen Abweichungen fast um denselben Brief handelte, den Claire an Naomi geschrieben hatte, sowohl von der Wortwahl, der Satzstellung bis hin zur Handschrift und den Emotionen, mit denen sie den Füller oder die Feder geführt hatte.
Ob das vielleicht ihre Wohnung war?
War Naomi hier her gekommen um mit ihr zu reden, wobei sie vom Täter überrascht worden war, sich wehrte und trotz der schweren Verletzung entkommen konnte, bevor sie in der Blackstreet zusammengebrochen ist?
Eine vage Theorie, aber war es zumindest eine der wenigen, die eine plausible Erklärung des Tatherganges ergab und in mir einen schweren Verdacht aufkommen ließ, der mir ein wenig Kopfschmerzen und eine gewisse Angst bereitete. Wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich sofort die Augen geöffnet und wäre davon gestürmt, in der Hoffnung mein Verdacht würde sich nicht bewahrheiten, aber angesichts der Gesetzmäßigkeiten, von denen mir der Täter erzählt hatte, musste ich warten.
„Officer Winter?“ Mir war nicht aufgefallen, dass ich so tief in meinen Gedanken versunken war, dass ich die anwesenden Beamten gar nicht bemerkte, die zu mir sahen, als erwarteten sie die nächsten Befehle. Ich überlegte einen Moment und erinnerte mich daran, dass ich noch immer die Amtsgewalt besaß.
Ein komisches Gefühl, das ich schon lange nicht mehr hatte, seit ich zum Sergeant degradiert worden bin und durch meine ganzen Disziplinarverfahren fast niemand mehr etwas auf mich gibt, obwohl ich schon davor kaum die Möglichkeit bekommen hatte, das Kommando zu übernehmen, weshalb es mir in dieser Situation etwas fremd erschien. Ich räusperte mich.
„Sie übernehmen das Kommando in der Blackstreet. Wenn sich dort alles geklärt hat soll die Hälfte von ihnen hier her kommen und den anderen Beamten beim absperren der Straßen helfen, während der Rest ihren normalen Aufgaben nachgehen sollen.“
„Zu Befehl, Officer.“, antwortete der Angesprochene in einem für einen Soldaten typischen Tonfall, salutierte und ging, während ich mich dem nächsten zuwandte.
„Sperren Sie die Straßen im Umkreis von zwei Häusern und befragen Sie die Anwohner, ob jemand etwas bemerkt hat. Melden Sie mir jede noch so kleine verdächtige Aktivität.“
„Jawohl.“ Die Männer wollten an mir vorbei treten, als ich drei von ihnen zurück hielt.
„Besorgen Sie sich eine Kamera und protokollieren Sie die Blutspur von der Blackstreet bis hierher. Nehmen Sie sich dafür einen Beamten, wenn es nötig ist.“ Er nickte. „Gehen Sie.“ Damit ging er, sodass nur noch zwei Beamte vor mir standen.
„Sollen wir uns hier weiter umschauen?“, fragte mich einer der beiden.
„Das werden wir machen, während Sie alles zu Protokoll geben, damit niemand behaupten kann wir haben vorschriftswidrig gehandelt.“ Einer der Beamten nahm sich seinen Notizblock in die Hand und stellte sich neben die Tür, während wir uns umschauten, aber noch immer machte mich der Anblick des Zimmers stutzig. Es war definitiv durchsucht worden, aber anders als in Claires Zimmer an der Universität waren die vereinzelten Papiere hier nicht wahllos und chaotisch umher geworfen, sondern fein säuberlich angeordnet worden, als ob er mir irgendetwas damit sagen wollte, nur was?
Ich kniete mich neben dem Ring nieder und nahm wahllos eines der Blätter in die Hand, das weder von Tinte noch von Blut bespritzt worden war und betrachtete es. Sofort fielen mir die Knicke und Falten auf, die nicht durch die Abnutzung kamen, sondern fein säuberlich und präzise gesetzt worden waren. Ich schaute auf die Seitenzahl und suchte die nächsten zehn Seiten, sowohl auf- als auch abwärts, bevor ich mit ihnen zum Schreibtisch trat.
„Haben Sie etwas entdeckt?“, fragte mich der Beamte, der einen der Tische untersucht hatte, der als eine Art Ablage für verschiedene Dinge diente. Ich ignorierte seine Frage, da ich mich auf die Seiten vor mir konzentrierte, ordnete sie entsprechend ihrer Seitenzahl übereinander, klopfte sie zu einem Block zurecht und begann damit die entsprechenden Seiten zu falten, bis ich einen decodierten Text erhielt, dessen Handschrift ohne jeden Zweifel Viennas, beziehungsweise Claires, war.
„Diese Seiten enthalten einen codierten Text.“, berichtete ich, während ich mir zwei Dinge nicht erklären konnte:
Erstens – Wenn dies derselbe Text ist wie der, den Claire mit Mühe nicht nur codiert, sondern auch versteckt hatte, warum hatte der Täter ihn hier gelassen, sogar förmlich präsentiert, obwohl er mir hier zuvorgekommen war, nachdem ich ihm an der Universität zuvorgekommen war denselben Text zu finden?
Zweitens – Was hatte dieser Text für eine Bewandtnis für den Täter, als auch für das Verbrechen, in meiner als auch dieser Welt?
Angesichts dieser Überlegungen und dem Versuch den Überblick über zwei verschiedene Welten mit einem und demselben Verbrechen zu behalten verspürte ich einen stechenden Schmerz in meiner rechten Schläfe und drückte dagegen an, während ich mich auf dem Tisch abstützen musste, um mich auf den Beinen halten zu können.
„Ist Ihnen nicht wohl, Officer Winter?“ Ich atmete tief durch und verdrängte den Schmerz.
„Mir … geht es gut, danke.“
„Officer Winter!“ Die vertraute autoritär und vor Abneigung giftige Stimme, die plötzlich den Raum erfüllte, ohne dass ich oder einer der anderen beiden Beamten sie hatte kommen hören, ließ mich herum fahren.
„Jarvis?“
„Für Sie immer noch Superintendent, Officer First Class.“ Er schaute sich kurz um. „Was tun Sie hier? Sie haben lediglich die Befehlsgewalt in der Blackstreet.“
„Ich bin einer Spur nachgegangen … Sir.“ Es war egal, in welcher Welt oder in welchem Zeitalter, wo und wann auch immer fiel es mir schwer diesen Fatzke mit Sir anzusprechen, nur weil ich ihm unterstand, nachdem ich degradiert worden war und er einer der vielen war, die das mehr als gefreut hatte, auch wenn sie es nicht offen gezeigt hatten. Nicht zuletzt, da einige von ihnen dementsprechend befördert worden sind, um die frei gewordenen Stellen neu zu besetzen, zu denen bedauerlicherweise auch er gehörte.
„Ein Spur, wie? Und welche Spur soll das sein?“, erkundigte er sich sowohl abfällig als auch desinteressiert.
„Das Opfer wurde nicht in der Blackstreet getötet, sondern hier. Es war ihr vermutlich gelungen zu entkommen und bis zur Blackstreet zu laufen, bevor der Blutverlust sie schlussendlich getötet hat.“
„Von hier aus? Sechs Straßen? Mit einer solchen Verletzung? Hören Sie auf zu spinnen, Winter. Zudem vergessen Sie, dass die Tote der gehobenen Bürgerschicht angehörte. Warum also sollte sie sich in einem solchen Drecksloch aufhalten?“ Wieder erfasste mich dieser unaufhaltsame Drang ihn zu verdreschen, um ihn von seinem hohen Ross herunter zu holen und zu zeigen, dass der Erfolg einer Ermittlung nicht von dem Rang, sondern von den Fähigkeiten abhing, aber wie auch schon in meiner Welt beherrschte ich mich, schluckte meinen Ärger hinunter und fügte mich der Befehlskette. „Sie sollten endlich damit aufhören ständig so zu tun als ob Sie etwas besseres als unsereins wären.“
„Ich verrichte lediglich meine Arbeit.“, erwiderte ich ruhig.
„Ach, etwa so wie im Krieg?“ Er war bereits der zweite, der den Krieg erwähnte, aber hatte ich gedacht, dass dies lediglich den Superintendent betraf und nicht mich, aber offenbar war ich genauso in diesem Krieg gewesen wie er oder Jarvis, ohne etwas darüber in meiner Akte gelesen zu haben. „Ihre Verdienste zählen hier nicht, hier haben Sie sich gefälligst unterzuordnen und den Anweisungen Ihrer Vorgesetzten zu folgen, oder wollen Sie unbedingt ein weiteres Disziplinarverfahren wegen Ungehorsam, Winter? Das können Sie gerne haben, aber wenn nicht, dann befolgen Sie gefälligst Ihre verdammten Befehle und schieben Ihren Arsch zurück in die Blackstreet um dort alles zu regeln, bevor Sie den Bericht auf der Wache verfassen, haben Sie das jetzt endlich verstanden, Officer First Class?!“, schnauzte er mich an, als sei ich irgendeine Anfängerin, frisch von der Akademie, die ihren Vorgesetzten beweisen wollte, dass sie zu mehr fähig ist und auf ihren Platz zurückgewiesen werden musste um zu zeigen, dass sie lediglich ein kleines Rädchen in einer riesigen Maschinerie ist, der sie sich unterzuordnen hat. „Verpissen Sie sich endlich!“ Ich hielt die Luft an, ballte die Hände zu Fäusten und schob vorsichtig die Papiere vom Tisch, um sie wieder zu codieren, bevor ich an ihm vorbei trat und mich auf den Weg zurück zur Blackstreet machte.
Ich verließ das Gebäude und beobachtete die Beamten, die die Straßen sperrten und die kleine Menge an Menschen, ihrer Kleidung nach zu urteilen handelte es sich bei ihnen um kleine Angestellte und Arbeiter, die von hier zu kommen schienen, als mir Havelock entgegen kam.
„Officer, wir …“
„Vergessen Sie’s.“, unterbrach ich ihn abweisend.
„Ma’m?“
„Die Leitung hier übernimmt der Superintendent. Wenn Sie etwas haben, dann sagen Sie ihm das.“
„Cass.“ Seine Stimme war fest, als er mich unauffällig am Arm packte und mir in die Augen schaute. „Ich scheiße genau wie der Großteil der anderen Beamten hier auf den Superintendent, das wissen Sie, genau wie Sie wissen, dass wir hinter Ihnen stehen.“
„Sie gehen ein verdammt hohes Risiko ein, wenn Sie das weiterhin tun.“, ermahnte ich ihn, aber schien er sich davon nicht beirren zu lassen.
„Und wenn schon. Ihm ist doch nur sein Ruf und seine Karriere wichtig als die Menschen hier. Ihnen aber nicht.“ Ich seufzte, denn erschien es mir, als ob er nicht nachgeben würde, bis ich mir anhören würde, was er zu sagen hatte.
„Also gut. Was gibt es?“
„Vor einigen Tagen ist die Tote auf dem Revier erschienen und gab eine Vermisstenanzeige auf.“
„Wen?“, erkundigte ich mich.
„Eine gewisse Vienna Night, die junge Frau, die das Haus hier bewohnt, wie wir von den Anwohnern erfuhren. Und sie ist nicht die Einzige. Kurz darauf kam eine weitere Person, die sie als vermisst meldete.“
Ich wollte ihm gerade antworten als ich aus den Augenwinkeln etwas beobachten konnte. Ich schaute in die Richtung und konnte trotz des fahlen Lichtes eine Gestalt erkennen, die ihr Gesicht zwar zum großen Teil in den Schatten verbarg, es aber auch durch eine Maske bedeckte, als ob sie verhindern wollte, dass man sie erkennt.
„Haben Sie etwas entdeckt? “
„Entschuldigen Sie mich.“ Unauffällig, als ob ich die Gestalt nicht bemerkt hätte, trat ich durch die kleine Gasse an Schaulustigen, wobei ich die Gestalt jedoch nicht aus den Augen ließ und weiterhin beobachtete, während ich mich ihr näherte. Als ich die Menge hinter mir hatte beobachtete ich sie dabei, wie sie sich immer mehr in die Schatten zurück zog und kaum noch auszumachen war. Mir war bewusst, dass ich jetzt schnell sein musste, ansonsten würde mir die Gestalt entkommen angesichts dessen, dass ich diese Straßen im Vergleich zu ihr nicht kannte. Ich schaute kurz über die Schulter und vergewisserte mich, dass mir niemand folgte, als ich meine Kräfte sammelte und meinen Schritt beschleunigte.
Die Gestalt schien mein schnelleres Gehen jedoch zu bemerken und wandte sich zum davonlaufen, als ich mich abdrückte und auf die Gestalt zu rannte, die einen kurzen Moment brauchte um zu reagieren und schließlich davon stürmte. Ohne sie lautstark dazu aufzufordern stehen zu bleiben folgte ich ihr durch die vereinzelten Seitenstraßen und Gassen und versuchte sie nicht aus den Augen zu verlieren, während ich das Gefühl hatte als ob ich ihr immer näher kommen würde.
Je länger diese Verfolgung allerdings dauerte, desto mehr spürte ich, wie mich die Kraft verließ, meine Lungen begannen zu brennen, mein Herz raste und das Blut schoss durch meinen Körper, ebenso wie meine Gedanken und all die neuen Fragen durch meinen Kopf, die während der Verfolgung in mir aufkamen. Mir war klar, dass ich nur eine Chance hatte die Gestalt einzuholen, bevor ich unser kleines Katz-und-Maus-Spiel aufgeben müsste und obwohl mein zweites Ich diese Straßen sicherlich gut kannte, kannte ich sie selbst noch nicht, auch wenn ich eigentlich dieselbe Person bin. Erneut keimten in mir leichte Kopfschmerzen auf, trotzdem versuchte ich konzentriert zu bleiben als mir mein Instinkt sagte, dass ich an der sich immer näher kommenden Kreuzung den anderen Weg als die Gestalt nehmen sollte um sie einzuholen. Obwohl ich mich bereits in der Vergangenheit oft auf meinen Instinkt verlassen hatte, wobei dieser trotz des Erfolges oft Ärger nach sich gezogen hatte, verließ ich mich auch dieses Mal auf ihn und lief geradeaus, während die Gestalt nach links abbog.
Mit ganzen Kräften stürmte ich durch die feuchte Straße, bog in eine Seitengasse ein, hechtete sie hinunter, den Blick stehts auf das Ende der Gasse vor mir gerichtet, um mich zu vergewissern, dass die Gestalt nicht schon an mir vorbei gelaufen ist. Als ich schließlich die Hauptstraße kreuzte, konnte ich aus dem Peripheriewinkel meiner Augen ihre Gestalt ausmachen, ließ meine Arme nach vorne preschen, packte sie und ging mit ihr zu Boden, wo wir uns abrollten und uns gleichermaßen schnell wieder auf die Füße hievten. Ein sekundenlanger Moment des Innehaltens verging, in dem ich die Gestalt genauer betrachtete, jetzt wo sie mir nicht einmal zwei Meter entfernt gegenüber stand, genauso wie sie mich betrachtete.
Ob sie jedoch ebenso überrascht war wie ich, konnte ich anhand der Maske, die sie unter der Kapuze ihres Mantels trug, aus der die beiden animalischen Ohren hervorlugten, nicht erkennen, aber war es genau das, was mich nicht nur veranlasste zu erstarren, sondern in mir noch mehr Fragen aufkommen ließen, die den leichten Schmerz in meinem Kopf weiter verstärkten.
Die Form, das Motiv, jedes der bis auf kleinste ausgearbeiteten Details – Es war ohne jeden Zweifel dieselbe Maske, die Claire nach ihrer Ermordung aufgesetzt worden war.
„Das … das kann nicht sein.“, entfuhr es mir, obwohl mir diese Worte lediglich durch den Kopf gegangen sind, ohne die Absicht diese laut auszusprechen. Ich hatte gedacht bei der Gestalt handelte es sich um ihn, aber musste ich realisieren, dass es sich um eine gänzlich andere Gestalt handelte, aber wie konnte sie …
Ein genauso stechender Schmerz wie in der Gerichtsmedizin durchfuhr mich, wodurch ich gezwungen war einige Schritte zurück zu weichen und gegen den Schmerz anzukämpfen. „Ah, v-verflucht.“
„Sie müssen zurück.“, vernahm ich die schwach keuchende und von Angst begleitete Stimme einer jungen Frau und schaute wieder zu der Gestalt, die noch immer an derselben Stelle stand und mich anschaute, als ob sie wüsste, was mit mir geschah.
„Was?“ Eine weitere Welle des Schmerzes, die sich durch meinen Kopf fraß und mich in die Knie zwang.
„Er wird sie töten. Bitte, Sie müssen es verhindern.“ Trotz des Schmerzes konnte ich aus ihrer zitternden Stimme deutlich die Angst heraus hören.
„Wen? … Argh!“ Der Schmerz wuchs ebenso wie seine Intensität, er fraß sich durch meinen Kopf und würde mir jeden Moment das Bewusstsein nehmen, während ich die Muskeln anspannte und versuchte weiterhin gegen den Schmerz anzukämpfen. Obwohl die nahe Bewusstlosigkeit bereits meine Sicht trübte, schaute ich erneut zu der jungen Frau, während sie das gleiche tat, ohne davon ergriffen zu sein wie ich gegen diesen inneren Schmerz anzukommen versuchte, als ob sie genau zu wissen schien, was dieser zu bedeuten hatte.
„Sie wissen es. Sie haben ihr Gesicht gesehen.“, sagte sie mit ruhiger Stimme, die sich zu entfernen schien, obwohl sie noch immer neben mir stand, damit ich nicht alleine war.
Dann, mit einem Mal, ließ der Schmerz nach, ich lockerte meine Muskeln und sank erschöpft zu Boden, während ich die Augen schloss und die Bewusstlosigkeit über mich kommen ließ.
Dann … umfing mich Dunkelheit.
Blitzartig riss ich die Augen auf und saß im Bruchteil einer Sekunde aufrecht in meinem Bett. Ich versuchte die leichten Kopfschmerzen und den Schwindel zu ignorieren, die mich erfasst hatten, während ich mich für einen Moment sammeln musste um das, was ich geträumt oder erlebt hatte, zu verstehen und zu verarbeiten, auch wenn ich zugegebenermaßen noch immer ein wenig an die Echtheit dieser Träume oder Realität zweifelte. Einerseits lag ich hier in meinem Bett und hatte mehr oder weniger ruhig geschlafen, aber gleichzeitig war ich in dieser „Traumwelt“, die, wie mir der Täter bereits erklärte, eine genauso reale Welt wie die meinige ist, oder die ich vielleicht auch nur als solche wahrnehmen sollte, aber konnte ich in dieser alles genauso wahrnehmen wie in der realen Welt, was es schwer machte zu entscheiden, welche der beiden Möglichkeiten nun stimmte.
Ich versuchte erst gar nicht eine Erklärung dafür zu finden, denn schoss mir nur ein Gedanke durch den Kopf, von dem ich hoffte, dass er sich noch nicht erfüllt hatte, ob unsere Begegnung in dieser Straße nun real stattgefunden hatte oder auch nicht. Ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu verschwenden stand ich auf, zog mich an, nahm mir meine Waffe und machte mich auf den Weg zur Universität, wo ich den Wachschutz, dessen Nummer mir Herr Rieux vor meiner Rückfahrt zum Revier gegeben hatte, anrief und ihnen mitteilte, dass womöglich eine ihrer Studenten in Lebensgefahr sei und sie sich sofort beim Wohnheim der Studentinnen einfinden sollten.
Mein Herz raste, die Gedanken schossen durch meinen Kopf wie die Kugel aus dem Lauf einer Waffe und immerzu bat ich, hoffte ich, dass nicht zu spät kommen würde.
Kapitel 5: Wolfjagd (5) – Creepypasta-Wiki