Wolfsjagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (5)
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Hier geht’s zu den vorigen Kapiteln:
– Kapitel 1: Wolfsjagd (1) – Creepypasta-Wiki
– Kapitel 2: Wolfsjagd (2) – Creepypasta-Wiki
– Kapitel 3: Wolfsjagd (3) – Creepypasta-Wiki
– Kapitel 4: Wolfjsagd (4) – Creepypasta-Wiki
– Kapitel 5 –
Mit Blaulicht und einer scheinbar unkontrollierten Geschwindigkeit raste ich durch die Straßen, bevor ich vor dem Eingang zum Campusgelände in die Eisen stieg und quietschend zum Stehen kam, während einige Studenten erschrocken zurückwichen. Ich stieg aus, ließ den Wagen verriegeln und stürmte zum Wohnheim der Studenten, vor dem sich sechs Sicherheitsbeamte der Campuspolizei eingefunden hatten.
„Was ist denn hier los, Sergeant?“, fragte mich Herr Rieux, der mir entgegen kam.
„Keine Zeit für Erklärungen!“, entgegnete ich und sprang die Stufen hinauf. Ich schnappte mir die nächste Studentin, die mich erschrocken betrachtete und fragte sie, welche Zimmernummer Naomi besaß. Völlig überrascht und verwirrt wusste sie nicht, was ich von ihr wollte, als ich mich mit mehr Nachdruck erneut nach Naomis Zimmernummer erkundigte, als sie die Nummer eins-null-sieben stammelte.
Sofort stürmte ich in Begleitung der Beamten die Treppen nach oben und eilte durch die Gänge, bis ich schließlich die Tür mit dem bedruckten Messingschild von Zimmer 107 entdeckte. Ich ergriff die Türklinke und drückte sie nach unten, aber war das Zimmer verschlossen. „Naomi! Bist du da drin?“
„Wollen Sie uns nicht endlich sagen, was los ist, Sergeant?“, erkundigte sich Herr Rieux sowohl ungehalten als auch ein wenig besorgt. Ich ignorierte ihn, zog meine Waffe, trat zwei Schritte zurück und trat die Tür ein, die mit einem lauten Krachen aus dem Schloss flog. Ich stieß sie zur Seite, betrat den Raum … und blieb stehen.
Meine Befürchtung hatte sich bestätigt.
Naomi lag seitlich liegend auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch, umgeben von einer sich immer stärker ausbreitenden Blutlache, die ihre Kleidung und Haut in ein tiefes Rot tauchte. Mit einem Seufzen des Selbstvorwurfes steckte ich die Waffe zurück ins Holster und trat zu der Studentin, während die Sicherheitsbeamten die übrigen Studenten daran hinderten auch nur in die Nähe des Zimmers zu kommen.
Während ich mich zu ihr niederkniete musste ich daran denken, dass ich es hätte verhindern können, wenn ich … wenn ich was?
Früher aufgewacht wäre?
Sie unter Polizeischutz gestellt hätte?
Mit welcher Begründung?
Ich seufzte und gestand mir ein, dass es meine Schuld, mein Versagen gewesen ist, dass es ein weiteres Opfer gab. Aber sagte ich mir gleichzeitig, dass ich eine Aufgabe zu erfüllen hatte, um weitere zu vermeiden. Mich selbst dafür zu hassen, dass die Ermittlungen ein weiteres Opfer gefordert hatte und ich es nicht verhindern konnte, konnte ich später noch genug.
Ich legte meine Hand auf ihre Schulter und drehte sie vorsichtig auf den Rücken.
Noch während ich dies tat hörte ich ein schweres Seufzen, gefolgt von einem kurzen Husten und einigen Spritzern von Blut, die sie dabei ausspuckte.
„Rufen Sie sofort einen Arzt, sie ist noch am Leben!“, schrie ich trotz der Gefasstheit ein wenig überrascht über die Schulter zu den Beamten, bevor ich mich wieder Naomi zuwandte, meine Hand auf die Wunde presste, da sie zu schwach geworden ist es selbst zu tun und versuchte die Blutung damit zu stoppen. Naomi biss die Zähne zusammen und atmete so gut sie es trotz der Verletzung konnte. „Naomi. Naomi, sieh mich an.“ Sie öffnete die Augen und schaute zu mir.
„S-Ser-Sergeant.“ Ihre Stimme war schwach und glich mehr einem leichten Windhauch, der einem über die Haut strich, als einer richtigen Stimme.
„Der Arzt ist auf dem Weg. Du musst nur durchhalten.“
„I-I- … hust ich soll Ih-Ihnen e-eine …“ Immer wieder musste sie husten oder röcheln, um genug Luft und gleichzeitig ihre Luftröhre und Mundhöhle frei zu bekommen, wobei mir dieser Kampf mehr als vertraut ist und nur allzu gut weiß wie sie sich fühlte, weshalb es umso wichtiger war, dass ich ihr dabei half, bis man sie medizinisch versorgen konnte.
„Verdammt nochmal, wo bleibt der Arzt?!“, fragte ich mit bebender, autoritärer Stimme.
„Er ist auf dem Weg, aber braucht er noch sechs Minuten.“
„So viel Zeit haben wir nicht!“
„Sergeant.“ Ich wandte mich wieder an Naomi, die mich an meiner Jacke gepackt hatte, aber schon einen Moment später wieder los ließ, da ihr die Kraft versagte. Ich ergriff ihre mit Blut getränkte Hand und hielt sie fest, um ihr das Gefühl zu vermitteln, dass jemand an ihrer Seite war und blieb. „B-Bitte … rett-retten Sie … sie. Ma-Machen … Sie es un-ungeschehen.“
„Was meinst du?“
„Er … er sagte … Sie … hust … können ihn aufhalten, bevor … bevor das Ende ge-ge- … hust … geschrieben ist.“ Ich hörte sie schluchzen, Tränen liefen an ihrer Haut herab und befeuchteten ihr Haar. „Ich … ich habe Angst.“ Ihre Stimme zitterte, sie schluckte schwer und keuchte, als ob jeder Atemzug, den sie tat, der Letzte wäre.
Mit der freien Hand fuhr ich ihr sanft durch die Haare und legte sie schließlich an ihre leicht erkaltete Wange, ihre Hand noch immer festhaltend, ohne mich um das langsam kälter werdende Blut zu kümmern, das an meiner Haut klebte.
„Das brauchst du nicht, ich bin bei dir.“ Obwohl diese Phrase selbst für mich ein wenig abgedroschen klingen mag, schien sie dennoch die einzige zu sein, die mir in diesem Moment eingefallen war und die sie hören wollte angesichts des kleinen Lächelns, welches sich auf ihren mit Blut bespritzten Lippen zeigte.
„S-Sergeant …“, schluchzte sie verängstigt, „Ver- … hust … versprechen Sie mir, d-dass … dass Sie … hust … dass Sie ihn finden w-. .. hust … werden.“
„Ich verspreche es.“, antwortete ich, ohne auch nur einen Augenblick lang zu zögern. Erneut zeigte sich ein kleines Lächeln, als sie erneut Tränen aus ihren Augen blinzelte.
„Mir … mir ist so k-ka- … hust … kalt.“ Vorsichtig schob ich meinen Arm unter sie, hievte sie hoch und drückte sie an mich, um sie mit meinem Körper zu wärmen. Sie lächelte, während ich spürte, wie sich ihr Körper aus Erleichterung als auch Erschöpfung zu entspannen begann. „Sie … sie ähneln ihr sehr.“, sagte sie, während sie mich mit ihren müden Augen betrachtete, meine Wange mit ihren blutigen Fingern berührte und mir war bewusst, dass dies die letzten wenigen Worte sein würden, die sie an mich richten würde, als sie die müden und schweren Augen langsam schloss.
„Nein, komm Naomi. Jetzt nicht aufgeben. Bleib bei mir.“, redete ich ihr zu, aber reagierte sie nicht.
Vorsichtig legte ich sie auf den Boden zurück, beugte mich über sie, legte meine Lippen auf die ihren und begann damit ihr Luft in die Lungen zu drücken, als ich hörte, wie Blut aus der Stichwunde spritzte und auf den Boden klatschte, wobei sich zwei Beamte, die im Raum standen, ein wenig zurück wichen. Mit einem leichten Keuchen und der erneuten Bestätigung, dass ich versagt hatte, realisierte ich dass es keinen Sinn hatte weitere Maßnahmen zu ergreifen, denn hatte die Klinge nicht nur das Zwerchfell, sondern auch die Lunge verletzt, dass sie gleichermaßen verblutet als auch ertrunken ist, wobei ersteres schlussendlich die Oberhand gewonnen hatte.
„Hier herein!“ Schwere Schritte betraten den Raum und blieben schließlich stehen, als ich Naomis Hand auf die Stichwunde legte, langsam aufstand und mich zu den Sanitätern umdrehte. Ich dachte, in diesem Moment müsste ich zittern, mir Vorwürfe machen und mir selbst die Schuld daran geben, dass ich es hätte verhindern können, aber zu meiner eigenen Überraschung und leichten Angst blieb ich völlig gefasst. Selbst das Naomis frisches Blut an meiner Kleidung und Haut klebte oder daran hinunter lief ignorierte ich völlig.
Ich hörte die Stimme der Sanitäter, die mich fragten, ob ich in Ordnung sei, da mein Anblick wohl Zweifel daran weckte.
„Es … es geht schon.“, antwortete ich lediglich ein wenig entkräftet. Ich hörte weitere Schritte und sah Chief Inspector Hayle, als auch den Superintendent im Flur, die mich anschauten und darauf warteten, dass ich zu ihnen nach draußen kam. „Entschuldigen Sie mich.“ Ich trat nach draußen, wo die Studenten erschrocken und mit Angst einen Schritt zurückwichen als sie mich mit Naomis Blut sahen. Die beiden Vorgesetzten schauten ebenso an mir herab und wirkten trotz des Anblickes genauso gefasst, wie ich es selbst war, wenn auch ein wenig besorgt um meinen Zustand. „Ich kam zu spät, Sir.“
„Ich weiß, dass Sie alles versucht haben.“, erwiderte der Superintendent ruhig. „Woher wussten Sie, dass sie das nächste Ziel sein würde?“ Wieder war es eine Frage, die ich zwar wahrheitsgetreu hätte beantworten können, mir jedoch nicht sicher war, ob er oder der Chief Inspector mir glauben würden.
„Ich wusste es nicht.“, gestand ich. „Zumindest nicht, bis ich meine Notizen durchgegangen bin. Aber …“, fügte ich seufzend hinzu, „leider zu spät und ich denke, dass Kya die Nächste sein wird.“
„Die Freundin, mit der Claire eine Beziehung pflegte und diese beenden wollte?“ Ich nickte. „Sorgen Sie dafür, dass Miss Simmons Polizeischutz erhält.“, wandte er sich an den Chief Inspector.
„Natürlich, Sir.“, erwiderte er gehorsam und ging, als ich hörte, wie die Trage in Richtung Ausgang geschoben wurde. Ich machte den Sanitätern Platz und beobachtete die Bare, auf der sie Naomi gelegt und mit einem Laken bedeckt hatten, welches langsam begann sich an einigen Stellen rot zu färben. Schweigend traten die Studenten beiseite und betrachteten die Bare, während einige von ihnen versuchten mit ihren Handys ein Foto zu machen, wenn die Beamten sie nicht daran gehindert hätten. Ohne etwas zu sagen schloss ich mich ihnen an und begleitete Naomi auf ihrem Weg in die Gerichtsmedizin.
Wenige Minuten später stand ich noch immer mit ihrem bereits getrockneten Blut ein weiteres Mal in diesem klimatisierten Raum und betrachtete den Körper einer jungen Frau, der man das Leben gewaltsam genommen hatte. Wie bereits beim letzten Mal wartete ich auf Doktor Layhne, die sich um die Formalitäten kümmerte, während ich Naomi betrachtete. Bereits als ich sie das erste Mal gesehen hatte, war mir aufgefallen, dass sie wie Claire ein besonders hübsches Antlitz besaß und sicherlich keine Probleme dabei gehabt hätte einen Partner, beziehungsweise Partnerin zu finden, obwohl ihr Charakter beinahe das völlige Gegenteil zu ihrer Erscheinung war – stark und entschlossen, als ob sie zeigen wollte, dass man zugleich hübsch und stark sein konnte.
Ich seufzte, wandte den Blick von ihrem schlafenden Gesicht und konzentrierte ihn auf die einzelne Stichwunde unterhalb des Brustkorbs.
Ich nahm mir ein Paar Handschuhe, streifte sie über meine Hände und schob vorsichtig das das feuchte Oberteil nach oben, bis ich die Verletzung frei gelegt hatte. Trotz des ganzen Blutes, welches ihre Haut in ein leichtes Rot tauchte, musste man keine jahrelange Erfahrung besitzen um zu erkennen, dass der Stich präzise und sauber gesetzt, als auch durchgeführt worden ist, so als ob er sie vollkommen im Griff gehabt hätte, während er die Klinge langsam Zentimeter für Zentimeter in ihren Körper trieb und dabei wusste, wann er aufhören musste.
Wenn dem wirklich so war, dann wollte er, dass Naomi langsam an der Verletzung verbluten sollte, als ob er sie leiden lassen wollte.
Aber warum?
War es, weil sie Claire Unrecht getan hatte, als sie sie zurückgewiesen hatte, die Freundschaft zu ihr beendete und somit mehr verletzte als alles andere?
Wie eine Art Gerechtigkeit, die er Claire zukommen lassen wollte?
Es war durchaus eine Theorie, aber dennoch fraglich, denn widersprach sie meinen bisherigen Kenntnissen über diesen Täter, der scheinbar etwas völlig anderes verfolgte, zumindest in einigen Aspekten.
Behutsam schob ich das Oberteil wieder zurück, ergriff ihre Hand und schaute ein weiteres Mal in ihr Gesicht, welches lediglich so wirkte als ob sie schlafen würde und dabei so unschuldig aussah wie das von Claire. Innerlich sagte ich zu mir, dass ich das Versprechen, dass ich ihr gegeben hatte, einhalten werde, bevor ich mich wieder fasste, die Handschuhe abstreifte und in Richtung Ausgang ging, als Doktor Layhne eintrat und mich auf sich zukommen sah.
„Cass.“, sprach sie mich ruhig an.
„Doktor.“ Sie schaute kurz zu Naomi, die dort auf dem Obduktionstisch lag und sah dann wieder zu mir. Den Blick, den sie dabei auflegte hatte ich bisher nur ein einziges Mal bei ihr gesehen und zwar als ich schwer verletzt und mehr tot als lebendig von ihr versorgt wurde, während man uns auf den schnellsten Weg ins nächstgelegene Krankenhaus brachte.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich innerhalb von nur zwei Tagen eine weitere Studentin hier habe.“ Sie zögerte einen Moment. „Ich … habe gehört, dass du bei ihr warst.“
„Ja.“, antwortete ich etwas heiser, darum bemüht nicht in Tränen auszubrechen, obwohl ich es gerne getan hätte, um mich von ihr trösten zu lassen. „Wenn ich nur …“
„Nein.“, unterbrach sie mich. „Es ist nicht deine Schuld. Du hast getan, was du konntest.“ Wie gerne hätte ich ihr davon erzählt, dass ich es wusste, dass ich es hätte wissen müssen, nachdem mich der Täter in meinem Haus besucht und mir gesagt hatte, dass Claire lediglich der Anfang gewesen ist. Und trotzdem konnte ich es nicht, so sehr ich es auch wollte oder mir wünschte es zu können. „Möchtest … möchtest du vielleicht nach dem Dienst etwas trinken gehen? Ich lade dich ein.“ Ich lächelte angesichts ihrer etwas zögerlichen und schüchternen Einladung, als ob sie etwas damit verfolgen würde, aber Angst hätte dass ich wusste was es war.
„Das ist wirklich nett von dir, Eve, aber … ich kann nicht.“ Ich schaute noch einmal zu Naomi. „Nicht, so lange der Täter noch dort draußen ist.“ Ein wenig niedergeschlagen senkte sie den Blick.
„Ich verstehe. Aber bitte … sei vorsichtig.“ Obwohl ich wusste, dass sie noch immer etwas für mich empfand, bewiesen ihre warmen und liebevollen Worte erneut, dass dem immer noch so war.
„Schickst du mir den Bericht, wenn du fertig bist?“
„Mach ich.“ Ich nahm Doktor Layhne in den Arm und drückte sie an mich. Dieser kurzer, zärtliche Augenblick, den sowohl sie als auch ich innerlich genoss und an den ich selbst noch denken musste als ich mich auf dem Weg zur Wache machte. Dort angekommen wusch ich mir das Blut von der Haut, zog mir andere Sachen an und machte mich nach einem kurzen Abstecher bei der Asservatenkammer anschließend zu meinem Schreibtisch auf, an dem ich einen Mann finden konnte, der dort auf mich zu warten schien und dabei in Ruhe einige Notizen durchlas. Seine Erscheinung wirkte wie der typische Professor, wie man ihn sich vorstelle – gepflegte Lederschuhe mit einer langen Hose, einem Hemd mit offener Weste und einem Jackett aus Tweet, sowie einer Brille auf der Nasenspitze.
Ich trat zu ihm, ohne dass er von seinen Notizen aufschaute.
„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ Er unterbrach seine Lektüre und schaute zu mir auf, wobei ich sein Gesicht besser sehen konnte, welches gekennzeichnet war von einigen Falten, die aber genau an den richtigen Stellen zu sein schienen und seinem ruhigen, väterlichen Blick einen gewissen Ausdruck verlieh.
„Ihre Kollegen meinten, dass das Ihr Schreibtisch sei, wo ich warten könnte.“, sagte er. Seine Stimme klang dabei so ruhig und tief wie die eines Geschichtenerzählers, dem man so lange zuhören wollte bis seine Worte einen zum einschlafen gebracht haben. Ich stellte den Karton neben mir ab und setzte mich. „Ich bin Professor Evans. Die Direktorin hat mich darüber informiert, dass sie sich nach meinem Vorlesungsplan erkundigt haben. Sie meinte, dass Sie mit mir sprechen wollten.“
„Sie hätten sich nicht herbemühen müssen.“ Er lächelte verlegen, als überraschte es ihn wie ich mit ihm redete.
„Um ganz offen zu sein bin ich froh ein wenig von der Universität weg zu kommen, selbst unter diesen bedauerlichen Umständen.“, meinte er ein wenig betrübt.
„Claires Freunde erzählten mir, dass sie mit zu den besten ihres Jahrganges gehörte und Sie ihr erlaubt haben, ihre Abschlussarbeit bereits jetzt zu schreiben.“
„Ja.“, freute er sich in Erinnerung schwelgend. „Claire war wirklich eine außergewöhnliche Studentin, was ich von einigen anderen ihres Kurses leider nicht behaupten kann.“ Er machte eine kurze Pause. „Wie kann ich Ihnen helfen, Sergeant?“ Ich holte Claires Notizbuch aus dem Karton und legte es zwischen uns auf den Tisch.
„Durch Naomis Hilfe fand ich den Entwurf ihrer bisherigen Abschlussarbeit in einem Geheimfach ihres Zimmers.“
„In einem Geheimfach sagten Sie? Warum das?“
„Es scheint, als ob Claire Angst davor hatte, dass ihr jemand diese Arbeit stehlen und als die seinige ausgeben könnte. Ist so etwas denn schon einmal vorgekommen?“
„Vor einigen Jahren gab es drei Fälle, aber würde es mich nicht überraschen, wenn es jemand bei einer Studentin wie Claire ebenfalls versucht hätte, schließlich gehörten Ihre Arbeiten mit zu den besten. Aber … warum fragen Sie das? Denken Sie etwa, dass Claire ihrer Arbeit wegen getötet worden ist?“
„Als ich ihr Zimmer besichtigen wollte versuchte jemand dort einzubrechen und wie es zurzeit aussieht ist er auf der Suche nach diesem oder dem anderen Notizbuch gewesen. Bisher denke ich jedoch nicht, dass es etwas mit ihrem Tod zu tun hat. Dennoch wollte ich mit Ihnen darüber sprechen.“
„Natürlich. Fragen Sie nur, was immer Sie wollen, sofern es Ihnen weiterhelfen wird.“
„Naomi erzählte mir, dass es zwei Themen für ihre Abschlussarbeit gab. Wissen Sie, was das zweite Thema gewesen sein könnte?“
„Natürlich.“, antwortete er. „Die Erschaffung eines modernen Mythos – Von der Geschichte zur urbanen Legende. Eine Anknüpfung oder auch Fortsetzung dieser Arbeit. Ein ebenso interessantes und spannendes Thema, aber … schätze ich, dass es in nächster Zeit niemanden geben wird, der in dieselbe Richtung forschen wird.“
„Können Sie mir mehr darüber erklären?“, bat ich ihn. Er lächelte und vermittelte den Eindruck, dass es ihm gefiel, dass ich ihm diese Fragen stellte, als ob er ganz genau wüsste welches Interesse ich dem Thema entgegen brachte, auch wenn es primär nur für die Ermittlungen relevant gewesen ist.
„Sind Sie mit dem Thema der urbanen Legenden vertraut, Sergeant?“
„Ich fürchte nicht besonders, Professor. Ich weiß nur, dass es sich um Geschichten handelt, die man sich erzählt oder im Internet findet und fiktiv oder real sein können, ihren genauen Ursprung sich jedoch nicht mehr finden oder beweisen lässt, wie im Fall des Jack The Ripper.“
„Sehr gut, Sergeant.“, erwiderte er überrascht. „Sicherlich ist Ihnen auch bekannt, dass sich einige Mythen und Legenden trotz unserer modernen und aufgeklärten Gesellschaft hartnäckig halten. Natürlich war es damals noch relativ leicht solche Geschichten so glaubwürdig zu erzählen, dass man sie für real halten konnte, ohne sie wirklich beweisen zu können, geschweige denn sie zu hinterfragen. Mit der Moderne änderte sich dies jedoch, durch das Internet können wir praktisch fast alles überprüfen und den Dingen auf den Grund gehen. Aber selbst in unserer modernen Zeit tauchen immer wieder solche Phänomene auf, die sich mit der Zeit über etablieren und zu urbanen Legenden werden.“
„Sie meinen Creepypstas?“
„Nicht unbedingt. Ein Großteil der Mythen und Legenden, die wir kennen, mögen aus der Welt des Horrors kommen, sind aber nicht zwingend erforderlich. Trotzdem ist es der Horror, der die meisten von ihnen erschafft. Damals nutzte man sie, um Kinder davon abzuhalten in die Wälder zu laufen oder nachts nach draußen zu gehen, heute dienen sie eher als Geschichten, um anderen Angst zu machen, zu unterhalten, zu faszinieren und zu begeistern.“ Er schaute auf die Arbeit, die vor mir auf dem Tisch lag. „Claire war von dieser Entwicklung fasziniert und wollte aufzeigen, wie es möglich ist, selbst in unserer heutigen Gesellschaft eine Figur, einen Mythos zu erschaffen, der sich hartnäckig halten sollte, ohne die Hintergründe zu kennen, sondern nur das, was man kennt.“
„Klingt nach einer besonders schwierigen Arbeit.“
„Das ist wohl wahr. Die Menschen heute sehen den Horror nur noch als Unterhaltung, machen daraus Mutproben, Spiele, Filme oder ähnliches, wodurch natürlich vieles verloren geht. Und selbst wenn sie es schaffen zu solchen urbanen Legenden zu werden ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis auch diese verloren gehen, wie etwa im Falle des Slenderman, während sich andere, wie der Fall des Jack The Ripper bis heute weiterhin halten.“
„Und Claire wollte dies ändern?“ Er nickte.
„Worin ihr Vorhaben im Detail bestand weiß ich nicht, aber ihrem Essay nach wollte sie eine besondere Art von Mythos erschaffen – eine Art … modernen schwarzen Mann, wenn man es denn so beschreiben kann.“ Er nahm die Brille ab und schaute mich einen Moment lang an. „Auch wenn ich es schätze mit Ihnen darüber zu sprechen, so frage ich mich dennoch, was all das mit Claires Ermordung zu tun hat.“
Ich wusste, dass ich ihm eine Antwort schuldig war, die ich ihm auch ohne zu zögern sagte, ohne ihm aber dabei meine wahren Gedanken zu verraten, die mir vor Beginn unseres Gespräches über dieses Thema gekommen waren und mir vielleicht dabei helfen könnten diese Frage zu beantworten.
„Noch haben wir nur vereinzelte Indizien, weshalb wir allen Spuren nachgehen, aber bisher gibt es keinerlei Anhaltspunkte, dass Claire ihrer Abschlussarbeit wegen getötet wurde.“
„Ich verstehe.“
„Ich melde mich bei Ihnen, sollte ich noch weitere Fragen haben.“
„Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, Sergeant.“ Er setzte sich die Brille wieder auf und erhob sich, während ich es ihm gleich tat. Er schüttelte mir die Hand und wandte sich zum gehen, als er kurz inne hielt und sich noch einmal zu mir umdrehte, als ob er mir noch etwas mitzuteilen hatte. „Ich weiß nicht, ob es Ihnen weiterhelfen wird, aber wenn es um ihr zweites Thema geht, sollten Sie vielleicht mit Sillas reden. Er ist, was die Horrorliteratur angeht, ein Mann seines Faches, wenn auch noch am Anfang.“
„Danke, Professor.“ Er schenkte mir erneut ein freundliches Lächeln.
„Wissen Sie, sie ähneln Claire in gewisser Weise, nicht nur äußerlich.“ Die überraschende Schmeichelei brachte mich in Verlegenheit, was er mir anzusehen schien, obwohl ich versuchte es zu verbergen, so gut ich es konnte und in den vergangenen Jahren hatte ich gelernt vieles zu verbergen. Und dennoch schien dieser Mann hinter die Fassade eines Menschen schauen zu können, wie es eigentlich nur Doktor Layhne tun kann. Mit einer Handbewegung verabschiedete er sich und verließ das Revier, während ich mich langsam in den Stuhl sinken ließ und über dieselben Worte nachdachte, die Naomi im Augenblick ihres Todes ebenfalls an mich gerichtet hatte. Zuerst war ich davon ausgegangen, dass sie sich aufgrund des hohen Blutverlustes in einer Art Delirium befand, aber als der Professor und Kya bereits zuvor dasselbe zu mir sagten schien sie es genauso gemeint zu haben.
Sah ich ihr denn so ähnlich, oder wirkte es einfach so?
Obwohl ich noch eine Zeit lang darüber nachdachte nahm ich Claires Notizbuch erneut zur Hand und begann damit mich in diese Geschichte hinein zu lesen, da ich noch immer den Verdacht hatte, dass Sie womöglich etwas beinhalten könnte, was ich bisher nicht vor Augen hatte, nicht zuletzt da nicht nur diese vermummte Gestalt, wenn sie denn überhaupt danach und oder eher ihre Abschlussarbeit, sondern auch der Täter selbst danach gesucht hatte. Ich war ihm zwar zuvorgekommen, was mich in meinem Verdacht sogar bestärkte, aber war dieser kleine Sieg kaum noch etwas wert angesichts dessen, dass eine weitere Studentin ihr Leben dafür lassen musste. Auch wenn ich jetzt nichts mehr daran ändern konnte, so wollte ich zumindest alles daran setzen, sein drittes Opfer, welches er womöglich bereits im Visier hatte, sei es hier oder in seiner Welt, zu beschützen.
Die einzige Frage, die es nur zu klären galt war, wer es sein würde.
Kya oder vielleicht doch Amanda? Anna oder Sillas?
Wer es auch sein würde, so erschien mir dieses Buch der einzige Weg zu sein diese Frage zu klären.
In den kommenden Stunden verbrachte ich damit die Akte meiner Figur genauer zu studieren, wobei es mir jedoch erschien als ob es sich dabei lediglich um grobe Notizen handelte als um eine genauere Personenbeschreibung. Dennoch konnte ich einiges mehr über mich erfahren und die Figur, die ich verkörperte, besser kennenlernen, wobei viele der vereinzelten Aspekte und Informationen mit meiner realen Person übereinstimmten, was mir bereits wie beim ersten groben Überfliegen der Akte eine gewisse Angst machte – etwa das ich im Waisenhaus aufgewachsen bin und dort bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr verbracht hatte, wobei es lediglich die anderen Kinder gewesen sind, die mich schweren Herzens verabschiedet hatten, meine Degradierung, wobei diese mit meiner Dienstzeit beim Militär verbunden worden ist und erhielt, nachdem man festgestellt hatte, dass ich eine als Mann verkleidete Frau gewesen bin und der Todesstrafe, die wohl darauf stand, nur entgehen konnte, als sich meine Einheit und sogar das Königshaus dafür eingesetzt hatten und meine anschließende, wenn auch eher unfreiwillige Aufnahme in die Polizei und der damit verbundenen Versetzung in den südöstlichen, oder auch „Teufelsbezirk“ genannten Bezirk, in der Hoffnung aufgrund der hohen Kriminalitätsrate schnell wieder auszutreten oder vielmehr ein weiteres unbedeutendes Opfer der Kriminalität zu werden.
Nicht gerade viele neue Informationen, aber zumindest war es ein Anfang.
Trotzdem hatte ich irgendwie das Gefühl, als ob es irgendwo noch genauere Informationen über meine Figur geben musste, wobei mir sofort das dritte Versteck einfiel, welches niemand von uns beiden bisher gefunden hatte.
Nachdem ich meine, als auch die Bögen der anderen Figuren durchgegangen war, legte ich die Akte beiseite, bevor ich damit begann die ersten Kapitel ihrer Geschichte zu lesen, wobei es mir doch einige Schwierigkeiten bereitete angesichts dessen den Text einer einzelnen Seite zu decodieren. Mit Bleistift schrieb ich daher kleine Zahlen auf die jeweiligen Abschnitte und notierte mir, welche von ihnen jeweils zusammen gehörten, damit ich im Falle eines erneuten Nachschlagens die entsprechende Stelle schneller finden könnte.
Auf den ersten paar Seiten, welche den Prolog beinhalteten, schien es keinerlei Hinweise darauf zu geben, warum der Täter nach diesem Buch gesucht hatte. Der Text war in der dritten Person geschrieben worden und erzählte mit einer beeindruckenden Detailfülle das Geschehen der Figur, welche in ihrem Zimmer saß und mit der Feder Seite um Seite eines entstehenden Manuskriptes füllte. Für viele sicherlich kein besonders interesseweckender Anfang einer Geschichte, aber dient der Prolog auch lediglich in erster Linie dazu den Leser in das Thema einzuführen und anzuregen oder aber auch erste Informationen für den späteren Verlauf zu geben, ohne dabei jedoch zu viel zu verraten.
Der Prolog endete nach nur fünf Seiten, wobei mich die letzten beiden Sätze ein wenig stutzig machten.
„Was Sie jedoch in der Tiefe Ihrer Arbeit nicht ahnte war, was sie damit hervorbringen würde. Und selbst wenn, so würde es bereits zu spät sein das Kommende noch verhindern zu können.“
Nachdenkend lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und ließ mir diese letzten Worte durch den Kopf gehen. Es war vermutlich nur ein Gedanke, aber irgendwie hatte ich das Gefühl als ob diese Worte später noch einmal wichtig werden sollten.
Was die ganze Sache allerdings damit zu tun hatte, warum der Täter mit allen Mitteln nach diesem Buch gesucht hatte, war mir noch nicht ganz klar, aber vermutlich würde sich im weiteren Verlauf darüber etwas finden lassen. Dennoch kam mir der Gedanke, dass er es auch einfach nur so gesagt hatte, um mich von meinen Ermittlungen abzulenken, sodass er ungestört weiter morden konnte, während ich die Geschichte eines Opfers durchlas, welche überhaupt keine Relevanz für diesen Fall besaß.
Beide Theorien hatten durchaus eine gewisse Gewichtung, weshalb es umso schwerer war zu entscheiden, welche schlussendlich nun stimmten konnte. Ich seufzte und rieb mir die Augen, als ich Schritte vernehmen konnte, die sich mir näherten und neben meinem Schreibtisch stehen blieben.
„Winter.“ Ein wenig überrascht schaute ich auf und betrachtete den Superintendent, der neben mir stand, gekleidet in Schal und Wollmantel und im Begriff war zu gehen. „Sie sollten nach Hause gehen.“
„Ich … ich kann nicht, Sir.“, meinte ich ein wenig demütig.
„Ich weiß, dass Sie sich noch immer Vorwürfe machen und ich verstehe Ihren Eifer, aber ist Ihre Dienstzeit seit über drei Stunden vorbei.“ Ich schaute auf die Uhr und bemerkte, dass er recht hatte, obwohl es mir erschien als wären es gerade einmal ein paar Minuten oder eine halbe Stunde vergangen, seit ich mit dem lesen angefangen hatte. „Außerdem möchte ich nicht riskieren, dass Sie einen erneuten Zusammenbruch erleiden.“ Ich seufzte, bevor ich mir einige Strähnen aus dem Gesicht strich und durchatmete, während er seinen Blick auf meinen Schreibtisch, die ganzen Blätter mit all den Dutzenden von Notizen, der Akte und dem Buch richtete. „Haben Sie etwas gefunden?“
„Ich bin mir nicht sicher, Sir, aber … habe ich eine Vermutung, die ich noch nicht belegen kann.“ Er dachte kurz darüber nach, was er mir wohl sagen sollte.
„Ich hoffe es, denn bis jetzt haben wir nicht viel, was uns weiter bringen kann.“, antwortete er schließlich.
„Was ist mit den sichergestellten Beweisen, die wir bei Claire fanden?“, erkundigte ich mich.
„Befinden sich noch immer im Labor. Ich weiß zwar nicht, warum die so lange brauchen, aber wenn wir bald nichts vorzuweisen haben werden uns die Medien zuvor kommen. Dessen bin ich mir sicher.“ Ich konnte seine Haltung angesichts der letzten Geschichte gut verstehen. „Ich hoffe die Ergebnisse kommen demnächst.“ Er seufzte und schaute wieder zu mir. „Du solltest nach Hause fahren und dich ausruhen.“
„Ist das eine Anordnung?“ Er schmunzelte darüber, wann immer ich ihn das fragte.
„Nein.“, meinte er. „Mehr eine Bitte eines guten Freundes.“ Ich dachte kurz nach, als ich das Lächeln erwiderte.
„Ich werde noch eben schnell aufräumen.“ In dem Wissen, dass ich nach dem Aufräumen meines Schreibtisches gehen würde, verabschiedete er sich und ging. Natürlich hätte ich ihn belügen und weiterarbeiten können, aber wollte und konnte ich ihm nicht widersprechen oder ungehorsam ihm gegenüber sein. Ich legte daher Claires Arbeit, die Akte, als auch das Notizbuch in meine Schublade, schloss diese ab, nahm mir meine Notizen und verließ die Wache, bevor ich Chief Superintendent Jarvis oder einem der anderen Stellvertreter über den Weg laufen und mir anhören müsste, was ich hier noch zu suchen hätte, wo jetzt die Nachtschicht begann.
Ich befand mich auf dem Weg zu meinem Wagen und war ein wenig in Gedanken versunken, als ich ein plötzliches Krähen vernehmen konnte. Ich schaute auf und entdeckte Salem, der auf dem Dach meines Wagens saß und mich zu begrüßen schien. Es erschien mir, als ob er trotz der langen Zeit, die er dort schon saß, geduldig auf mich gewartet hätte und schmunzelte darüber. Ich ging zu ihm und streckte vorsichtig meine Hand nach ihm aus, um ihn nicht zu erschrecken, bevor er sich liebevoll von mir streicheln ließ.
„Du weißt wohl nicht wohin, hm? Jetzt, wo selbst Naomi nicht mehr für dich sorgen kann.“ Ein leises Krähen des Bedauerns entfuhr ihm, so als ob er seine Trauer damit ausdrücken wollte. Ich seufzte.
„Sprichst du schon mit Vögeln?“, fragte mich Ken, der zusammen mit einigen Kollegen entfernt stand und eine rauchte. Mir waren sie zuerst gar nicht aufgefallen, warum auch, wenn ich mich auf meine Gedanken, die diesen Fall betreffen und dabei versuchte zumindest eine Antwort auf all die Fragen und dabei die Verbindung zwischen den vereinzelten Beweisen und Indizien zu finden, fokussiert war? Die Beamten lachten amüsiert, als Salem begann aggressiv und wütend zu krächzen, als wolle er mich verteidigen. Ich beruhigte ihn, indem ich ihm über das Rückengefieder strich.
„Was interessiert es dich, mit wem ich mich unterhalte?“, erwiderte ich ruhig und vollkommen unbeeindruckt von seinem kläglichen Versuch mich vor den anderen Kollegen bloß zu stellen.
Während er seine Abneigung mir gegenüber entgegen brachte holte ich einen Nussriegel aus meiner Tasche, die ich immer gerne Zwischendurch esse, öffnete die Verpackung, brach ein Stück davon ab und reichte ihn Salem. Ich beobachtete ihn dabei, wie er das Stück betrachtete und es ohne mich mit seinem Schnabel zu verletzen an sich nahm. Da es sich bei dem Riegel lediglich um geschälte und grob gehackte Haselnüsse handelt, die mit einer Honig-Milch Mischung zusammengehalten werden, wusste ich, dass es weder ihm noch seinen Artgenossen schaden würden, wenn sie davon aßen. Als er das Stück fest im Schnabel hatte, raffte er seine Flügel, wobei es so wirkte als ob er eine kleine Verbeugung andeutete, und flatterte davon, während ich ihn dabei beobachtete.
„Weißt du, Winter,“, begann Ken nachdenkend und nahm noch einen Zug von seiner Zigarette, „die ganze Abteilung fragt sich, warum der Superintendent ausgerechnet dich damit beauftragt hat, dich um die Opfer zu kümmern.“
„Ich zweifle nicht an den Entscheidungen des Superintendent.“, erwiderte ich.
„Vielleicht sollte er sich das doch nochmal überlegen. Du vergisst wohl, dass wir immer noch ein Team sind und trotzdem haben wir von dir noch keine einzige Informationen erhalten.“ Ich schaute zu der kleinen Gruppe, die offenbar auf Streit aus war oder mir einfach nur wieder aufzeigen wollte, dass ich schon lange nicht mehr zur Polizei gehören sollte.
„Wir? Ein Team? Ts, ja wir waren mal ein Team.“, meinte ich ein wenig enttäuscht. „Aber das war einmal.“ Normalerweise würde ich mich einer solchen Konfrontation stellen und ihr nicht aus dem Weg gehen, aber war ich müde und hatte angesichts der heutigen Ereignisse keine Nerven dafür. Ich atmete kurz durch, während ich meine Schlüssel aus der Tasche holte und zur Fahrertür trat.
„Was willst du damit andeuten? Dass es plötzlich unsere Schuld ist, dass du nach der Sache damals keinem mehr von uns traust? Komm drüber weg, Winter. Was immer du glaubst erlebt zu haben war nur Einbildung.“ Ich hielt inne, als ich gerade einsteigen wollte. Eigentlich sollte ich in einem solchen Moment eine aufkeimende Wut, einen stetig wachsenden Hass verspüren, die mich dazu zwangen ihm klar zu machen, dass es keine Einbildung gewesen ist, aber nicht heute.
„Ich würde dir die Sache ja erklären, aber habe ich noch zu arbeiten.“
„Zu arbeiten? Deine Schicht ist seit dreieinhalb Stunden vorbei.“
„Ja, hier vielleicht.“, erwiderte ich ruhig, stieg ein und fuhr weg, während sich er und die anderen fragten, was ich wohl damit gemeint habe und mir eine gewisse Genugtuung bei dem Gedanken gab.
Seufzend schloss ich die Tür und legte die Schlüssel in die Schüssel, als mich ein langsam vertrautes werdendes Gefühl beschlich, mich aber genau wie in Claires Zimmer nicht wirklich mehr überraschte und es mittlerweile mehr alltäglich geworden ist, aber vielleicht lag es auch daran, dass mir gewisse Fehler nur einmal passieren.
„Was wollen Sie hier?“, fragte ich den Raum hinein, ohne mich dabei umzudrehen und ohne wirklich die Nerven für so etwas zu haben. „Wollen Sie sich an ihrem Triumph erfreuen, nachdem es mir gelungen ist, Ihnen für einen kurzen Moment einen Schritt voraus zu sein?“
„Sie denken es wäre ein Triumph gewesen?“, meinte er und näherte sich mit ruhigen, lautstarken Schritten seiner schweren Stiefel, aber selbst wenn er nah genug war wusste ich, dass es keinen Sinn hatte zu versuchen ihn zu überwältigen, da er eine solchen Reflex besaß, dass jeder Angriff scheitern würde, noch bevor man auch nur damit begonnen hätte diesen auszuführen. „Nein Sergeant, das war kein Triumph und um ehrlich zu sein fiel es mir sogar schwer, dies zu tun.“
„Ts.“, spottete ich mit einem kurzen, freudlosen Lächeln. „Wollen Sie damit sagen, dass Sie Reue empfinden? Oder ein Gewissen haben?“
„Sie missverstehen meinen Charakter, Sergeant. Aber ich will Ihnen das verzeihen, denn früher oder später werden Sie ihn verstehen.“
„Was meinte Naomi, als sie mir sagte, ich könne es verhindern, bevor das Ende geschrieben ist?“
„Es freut mich, dass sie Ihnen meine Nachricht noch übermitteln konnte.“ Eine überwältigende Wut packte mich und obwohl ich mir dessen durchaus bewusst war stand ich kurz davor es erneut zu versuchen, in der vergeblichen Hoffnung dieses Mal etwas ausrichten zu können. „Und ich würde es Ihnen gerne erklären, aber fürchte ich in diesem Fall müssen Sie es selbst herausfinden.“
Langsam drehte ich mich zu ihm um und schaute in Richtung seiner Augen.
„Wenn Sie sich weder an meinem Versagen erfreuen, noch meine Fragen beantworten wollen, warum sind Sie dann verdammt nochmal hier?“
„Ich weiß, Ihnen wird kaum daran gelegen sein, aber ich finde Sie sollten sich einen ruhigen Abend machen. Vielleicht etwas trinken gehen, unter Menschen gehen.“, gab er so ruhig wie der Superintendent von sich, wenn er sich Sorgen um mich machte und nicht etwa weil er wollte, dass ich die ganze Zeit über am arbeiten bin, sondern vielmehr, um davon ein wenig Abstand zu gewinnen. Dass er jedoch so etwas sagte vermittelte mir das Gefühl als ob er sich über mich lustig machen wollte. „Bitte vergleichen Sie mich nicht mit einem Ihrer Kollegen, der sich einen Spaß auf Ihre Kosten erlauben will, daher lassen Sie es mich erklären.“
Ich bitte darum, kam es mir in den Sinn, vermied es aber es laut auszusprechen, ich wusste, dass er meine Gedanken lesen konnte, wie immer er das auch anstellte, wobei ich für ihn scheinbar lediglich ein offenes Buch gewesen bin, in welchem er bereits zehn Seiten vor mir war und wusste, was ich sagen oder tun würde noch bevor ich es selbst wusste.
„Ich kann natürlich verstehen, dass Sie sich nach dem jüngsten Vorfall, den Sie hätten verhindern können, Vorwürfe machen, sogar einen Hass auf sich selbst empfinden und doch sind da noch all die unbeantworteten und unausgesprochenen Fragen, die losen Hinweise und dieser Drang, Ihren Kollegen zu zeigen, dass Sie noch immer eine gute Polizistin sind, auch wenn dies zugegebenermaßen eine eher nebensächliche Rolle spielt, denn wissen sie, dass Sie das sind.“
„Wenn Sie all das wissen, müssten Sie genauso gut wissen, dass ich aus diesem Grund sicherlich nichts anderes tun werde als Sie daran zu hindern den nächsten zu töten und herausfinden, was hier gespielt wird.“ Er lachte ein wenig amüsiert, fühlte sich jedoch nicht annähernd von mir bedroht oder eingeschüchtert.
„Ich weiß und ich bewundere Sie dafür. Aber natürlich habe ich mir etwas dabei gedacht, wenn ich Ihnen einen solchen Vorschlag unterbreite.“ Da konnte ich ihm nicht widersprechen. Er trat zu mir und legte die Hand auf meine Schulter, wobei sie mir weitaus schwerer vorkam als Salems gesamtes Körpergewicht. „Denn was nützt es Ihnen, ununterbrochen nach Antworten zu suchen, ohne auch mal ein wenig Abstand zu gewinnen, um dann mit einem frischen Blick und klaren Gedanken weiter zu machen, wobei Ihnen vielleicht das eine oder andere auffallen oder einfallen wird, dass Ihnen die ganze Zeit über entgangen ist?“ Seine Worte erinnerten mich immer mehr an den Superintendent. Dennoch blieb ich misstrauisch.
„Wissen Sie, was ich dabei denke?“ fragte ich ihn ruhig und schob seine Hand langsam von meiner Schulter.
„Bitte, sagen Sie es mir.“
„Auch wenn ich einiges vertrage spekulieren Sie sicherlich darauf, dass ich meine Hemmschwelle aufgrund meines Selbsthasses überschreiten und meine Vorwürfe im Alkohol ertränken werde, bis ich nicht mehr daran denken muss, während Sie ungestört Ihr nächstes Opfer töten, wissend darüber, dass ich es verhindern könnte, wenn ich bei klarem Verstand wäre.“ Für einen kurzen Moment schaute er mich schweigend an, als er ein enttäuschendes Seufzen von sich gab.
„Es ist bedauerlich, dass Sie so etwas über mich denken, Vivien.“, meinte er vorwurfsvoll. „Ich mag in Ihren und den Augen Ihrer Kollegen ein sadistisches Monster sein und vielleicht ist dem tatsächlich so, aber können Sie einen Charakter nicht einfach nach den ersten wenigen Begegnungen einschätzen. Doktor Layhne mag dies vielleicht können, aber nicht Sie. Sie gehen rational an die Sache heran, ehe sie sich ein Urteil erlauben.“ Bevor ich ihn auf Doktor Layhne ansprechen konnte, kam er mir zuvor. „Haben Sie keine Angst, Sergeant. Es ist nicht Doktor Layhne, hinter der ich als nächstes oder in Zukunft sein werde.“ Ein wenig erleichtert, wenn auch weiterhin misstrauisch beruhigte ich mich ein wenig. „Aber um auf meinen Besuch und meine Bitte zurückzukommen. Es steht Ihnen natürlich frei diese zu erfüllen oder auch nicht, aber wenn Sie ihr nachkommen verspreche ich Ihnen diese Zeit zu geben, sie nutzen und genießen zu können, bevor unser kleines Spiel weiter geht.“
Mir war durch seine Aussage bewusst, dass er weitaus mehr damit verfolgte als nur dass ich mir eine Auszeit gönnte, aber würde es nichts bringen ihn danach zu fragen, da er es mir ohnehin nicht sagen würde, sondern darauf spekulierte, dass ich es selbst herausfinden würde.
„Es liegt also an Ihnen, Vivien, ob wir uns schon in balde oder doch erst in ein paar Tagen wiedersehen werden, egal ob in Ihrer oder meiner Welt.“, sagte er zum Abschluss, wandte sich zur Tür und war im Begriff zu gehen, während ich kurz nachdachte.
„Warten Sie.“ Er blieb stehen und drehte sich zu mir, während sich unsere Blicke kreuzten. „Wenn Sie wollen, dass ich in Ihnen das Bild eines Mannes, der seine Versprechen auch einhält, sehen und Ihrer Bitte nachkommen soll, müssen Sie mir einen Beweis dafür liefern.“ Er schien ein Lächeln aufzusetzen, obwohl ich vielmehr damit gerechnet hatte, dass er es abermals als Beleidung seines Charakters ansehen würde.
„Kommen Sie meiner Bitte nach, werde ich Ihrer Forderung gerne nachkommen.“, sagte er, öffnete die Tür, trat nach draußen und schloss sie wieder. Es machte keinen Sinn hinterher zu laufen, da er längst verschwunden war, weshalb ich mich auf der Kommode abstützte und mir das Gespräch durch den Kopf gehen ließ, als mein Blick auf meine Schlüssel fiel.
„Verdammt.“, entfuhr es mir mit einem leicht fluchenden Seufzen, nahm mir meine Schlüssel und verließ das Haus.
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit ich das letzte Mal dort gewesen bin und trotzdem fragte ich mich, warum ich mich ausgerechnet für dieses Lokal entschieden hatte, wenn es mindestens ein halbes Dutzend andere solcher Orte gibt, die ich hätte besuchen können. Aber vielleicht habe ich es auch gewählt, weil es der einzige Ort ist, an dem ich mich wohl fühle, auch wenn ich ihn immer mit einer traurigen Erinnerung verband.
Noch immer die Karte, die mir Kya gegeben hatte, in der Hand haltend, betrachtete ich das Lokal und versuchte mich daran zu erinnern, ob ich in der Zeit, in der ich das Lokal regelmäßig besucht hatte, vielleicht irgendwann einmal eine Begegnung mit Claire hatte, aber so sehr ich mich auch anstrengte, ich erinnerte mich nicht.
Seufzend steckte ich die Karte ein und überquerte die Straße.
Mein Blick fiel auf die fein aufgereihten Motorräder verschiedener Hersteller mit eigenen Modifikationen und lächelte ein wenig als die vereinzelten Biker mich sahen, augenblicklich einen Schritt zurück traten und mich freundlich begrüßten als sei ich eine langjährige Freundin, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatten. Ich grüßte sie zurück und kam mir dabei immer seltsamerweise ein wenig ruhig und erleichtert vor, als ob ich nichts zu befürchten hätte, wenn ich von ihnen umgeben war.
Ich betrat den Hauseingang, als sich die Tür vor mir öffnete und ein weiterer dieser Bullen vor mir stand, der mit seinem Körper beinahe den gesamten Türrahmen einnahm. Als er mich sah, trat er einen Schritt zur Seite und ließ mich eintreten, ehe er selbst das Lokal verließ.
Als ich meinen Blick durch das Lokal streifen ließ, konnte ich mir vorstellen warum Claire hier nicht nur gearbeitet, sondern es auch gerne in ihrer Freizeit besucht hatte. Von außen wirkt es eher unscheinbar und aufgrund der etwas seltsam gewählten Architektur aus beigen und roten Backsteinen und dunklen Stahlträgern vermittelt es den Eindruck zu einer ehemaligen Fabrikanlage aus dem letzten Jahrhundert zu gehören. Von innen wirkt es jedoch wie eine andere, wenn auch vertraute, Welt, die einen dazu veranlasste lange zu bleiben und diesen Ort näher kennenzulernen. Auch hier besteht der Großteil des Gerüstet aus Stahlträgern und vernieteten Platten, der Boden besteht aus altem Holz, welches man ein wenig restauriert hatte, die Beleuchtung aus vielen verschiedenen altmodischen Glühbirnen und überall finden sich Rohre, die irgendwo und nirgendwo hinführen, an denen Druckventile und Absperrhähne wie auch verschiedene Anzeigen zu finden sind.
Es ist tatsächlich wie eine, wenn auch eher romantische, Zeitreise in ein vergangenes Jahrhundert der Industrialisierung, welches noch stärker zum Ausdruck kommt, wenn an den Abenden des Wochenendes und zwei Mal unter der Woche Themenabend ist, bei welchem die Gäste sich kleiden müssen wie die Menschen des späten 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts.
Wann immer ich es betrete muss ich mich daran erinnern, wie ich aufgrund einer Schlägerei auf dieses Lokal aufmerksam geworden bin, bevor auch die Bikergruppe es für sich entdeckt hatte und seitdem für die Sicherheit dieses besonderen Ortes sorgt.
So schön der Anblick auch war, war ich nicht wirklich in der Stimmung ein wenig abzuschalten und die angenehme Stimmung in dem sich langsam füllenden Hauptraum zu genießen. Ich bin lediglich nur hier her gekommen, weil es die einzige Möglichkeit war die Glaubwürdigkeit des Täters unter Beweis zu stellen und dahingehend dem nächsten Opfer auf seiner Liste etwas mehr Zeit zu geben und in keine der üblichen Polizistenkneipen zu gehen, in denen mich die Kollegen ebenso wenig wollten wie auf dem Revier.
Obwohl es mehr gezwungenermaßen war, dass ich heute hier her kam, war aber auch etwas in mir, dass sogar ein wenig erleichtert darüber war, dass ich mich dazu entschieden hatte. Vielleicht gab es mir ja wirklich die Möglichkeit und Zeit um in Ruhe nachdenken zu können oder einfach meinen Frust über mein Versagen in Alkohol zu ertränken. Was es auch war, das mich schlussendlich hier her getrieben hatte, ich war nun einmal hier und hoffte inständig, dass er sein Versprechen halten würde.
Ich trat zur Theke und setzte mich recht abseits vom allgemeinen Geschehen hin.
Der Barkeeper, den man liebevoll „Nimmertunken Joe“ nennt, kam nach kurzer Zeit zu mir und stellte meine übliche Bestellung vor mir ab, ohne mich jedoch dabei anzusprechen, denn genau wie Doktor Layhne besitzt er eine außerordentliche Menschenkenntnis und weiß, wann jemand für ein Gespräch offen ist und wann nicht.
Zumindest sollte man das als Barkeeper.
Und obwohl ich es nicht offen zeigte konnte er mir ansehen, dass ich lieber mit meinen Gedanken alleine sein wollte als mich auf irgendeine Art von Gespräch einzulassen und es lieber dann versuchte, wenn ich es war.
Es vergingen vielleicht zehn Minuten, in denen ich unaufhörlich in mein Glas starrte und die darin enthaltende rote Flüssigkeit betrachtete, welches an den langsam schmelzenden Eiskristallen herab lief und mich immerzu an Blut erinnerte. Mit einem Seufzen versuchte ich die leichte Anspannung in mir zu lösen, nahm das Glas und trank einen Schluck des wohltuenden, leicht alkoholischen Drinks, dessen Komponenten wie immer perfekt aufeinander abgestimmt waren, um den Geschmack und dessen Intensität bereits durch die Berührung mit den Lippen entfalten zu können.
Und Joe weiß ganz genau, wie er den Drink eines jeden seiner Gäste auf seine entsprechende Stimmung und den weiteren Verlauf des Abends abzustimmen hat. Während ich das Glas wieder auf den Tresen stellte, konnte ich, ohne dass ich von meinem Glas aufschaute, deutlich Schritte vernehmen, die sich auf mich zu bewegten und neben mir stehen blieben.
Aber war es mir offen gestanden vollkommen egal um wen es sich dabei handelte, ich hatte weder die Nerven, noch wirklich das Verlangen nach einem Gespräch mit einer fremden Person, geschweige denn nach einer billigen Anmache in der Hoffnung mich als Trophäe des Abends zu sich nehmen zu können, um dann vor seinen oder ihren Kollegen damit angeben zu können, nur um sich dann nicht mehr blicken zu lassen.
„Darf ich mich setzen?“, fragte mich die Person, zu der ich angesichts der vertrauten Stimme dann doch schaute. Zu meiner Überraschung war es Doktor Layhne, die wie eine Schülerin oder Studentin ein wenig schüchtern neben mir stand, als sei ich ihr heimlicher Schwarm, den sie sich endlich getraut hatte anzusprechen.
„Eve.“ Sie schenkte mir ein kleines, verlegendes Lächeln. „A-Aber natürlich.“ Mit einer eleganten Bewegung nahm sie auf dem Stuhl neben mir Platz und stellte das Glas mit dem Minz-Heidelbeerschnaps, angerichtet mit einer Limette auf gecrushtem Eis, auf den Tresen.
„Dein wievielter ist das?“, fragte ich mich, wobei sie ein wenig lächeln musste.
„Der dritte, aber ich denke einen vierten werde ich auch noch trinken.“
„Eve, du weißt, dass du …“
„Ich weiß.“, unterbrach sie mich ruhig, wobei ich ihr ansehen konnte, dass sie es noch immer schätzt, dass ich ein wenig auf sie achte und sogar weiß, welche Art von Alkohol sie in welchen Mengen verträgt und was jedes Glas des entsprechenden Alkohols mit ihr anstellt. „Wie geht es dir?“, fragte sie mich vorsichtig.
„Ich … habe das Gefühl, als ob es meine Schuld gewesen ist.“, meinte ich nach einem kurzen Moment des Zögerns.
„Woher hättest du es denn wissen sollen?“, versuchte sie mir gut zuzureden. Wie gerne ich es ihr erzählt, ihr erklärt hätte. Dass ich mit dem Täter in Kontakt stand und dass sich der Fall nicht nur in unserer, sondern auch in seiner Welt abspielte.
Aber … konnte ich es nicht, denn noch immer war meine Sorge sie würde mich für verrückt halten, zu groß, obwohl sie weiß, dass ich über so etwas niemals Späße mache. Trotzdem, so sehr ich es auch gewollt hätte, tat ich es nicht.
„Ja, vermutlich hast du recht.“, seufzte ich vorwurfsvoll und empfand ein Gefühl des Unbehagens sie so belügen zu müssen, obwohl ich weiß, dass ich ihr vertrauen kann. „Kann ich dich etwas fragen?“ Sie nahm einen Schluck ihres Drinks, bevor sie mich wieder anschaute.
„Du weißt doch, dass du mich das nicht fragen musst.“ Ein kurzes Lächeln zeigte sich auf meinen Lippen.
„Bitte versteh mich nicht falsch, aber … was treibt dich hier her?“
„Ich schätze aus demselben Grund wie dich.“, antwortete sie ein wenig betrübt.
„Ich hoffe du bist mir nicht böse, dass ich deine Einladung ausgeschlagen habe.“
„Um ehrlich zu sein wollte ich selbst nicht gehen, aber … irgendetwas hat mich dann doch her gebracht, in der Hoffnung ein wenig nachdenken zu können. Aber freue ich mich, dass du auch hier bist.“ Ich erwiderte das Lächeln. „Weißt du, als ich den Brief von Claire an ihre Freundin gelesen hatte, erinnerte mich das an unsere Beziehung und wie sehr du mir fehlst, selbst wenn wir uns auf der Arbeit sehen.“ Jetzt wandte auch ich meinen Blick wieder ab und schaute in mein Glas. Seit der Trennung damals hatten wir kein einziges Wort darüber verloren, aber schien sie genauso wie ich immer wieder daran denken zu müssen, wann immer wir uns begegneten.
„Du fehlst mir auch.“, erwiderte ich betrübt und meinte es auch so, wie ich es sagte. „Die Geheimnistuerei, das Zusammensein.“ Ich unterließ es den Sex zu erwähnen, aber so wie ich sie kenne wusste sie, dass er mir auch fehlte. Es mag vielleicht seltsam, sogar ein wenig pervers klingen, aber ich denke es gibt keinen besseren Sex als mit jemandem der genauste Kenntnisse der menschlichen Anatomie besitzt und weiß, wie man ihn in vollen Zügen so lange wie möglich genießen kann, von ihren kleinen Vorlieben ganz zu schweigen, die mir damals immer ein völlig anderes Bild von ihr zeigten, als dass man ihr ansieht. Auch das ist vermutlich einer der Gründe, weshalb ich mich so zu ihr hingezogen fühle – ihr facettenreicher Charakter, der einen dazu auffordert diesen kennenzulernen, sich von ihm berühren, begeistern und auch ein wenig einschüchtern und dominieren zu lassen.
„Ich weiß, woran du gerade denkst.“, meinte sie mit einem Schmunzeln und einem verführerischen Blick in meine Richtung, wodurch sie mich aus den Gedanken riss. Mit einem verlegenden Blick und einem schneller schlagenden Herz wandte ich mich ein wenig ab, um diesen zu verstecken. „Und ich bedaure wie es zu Ende gegangen ist.“
„Du hattest deine Gründe.“, erwiderte ich, um ihr das Gefühl zu vermitteln, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist und nahm einen weiteren Schluck meines Drinks.
„Trotzdem frage ich mich manchmal, ob es die richtigen gewesen sind.“ Es kommt nur selten vor, dass sie an sich selbst zweifelt, geschweige denn so sensibel, offen und verletzlich ist wie in diesem Moment – etwas, das man von ihr eigentlich kaum kennt.
„Ich hätte nichts anderes getan.“, erklärte ich, obwohl ich das Gefühl hatte, dass es eine Lüge gewesen ist. „Wenn dir etwas zustoßen würde, würde ich es vermutlich auch nicht fertig bringen wenn ich mich um deinen Fall kümmern müsste.“
„Du warst in solchen Dingen noch nie eine gute Lügnerin, Cass.“ Ich schwieg und musste mich wieder daran erinnern, dass mich diese Frau besser kennt als irgendjemand sonst. „Ich kenne dich. Wenn mir etwas zustoßen würde, würdest du ungeachtet der Richtlinien und Dienstvorschriften Himmel und Hölle in Bewegung setzen und dich selbst mit dem Teufel anlegen um den Schuldigen zu finden und ihn zur Rechenschaft ziehen. So bist du halt und du kannst auch nicht anders. Du hilfst jedem, dem Unrechtes angetan wurde oder Gefahr droht, ohne dabei an die Folgen zu denken.“
„Und was hat es mir gebracht?“, erwiderte ich ein wenig enttäuscht. „Ich bin zwei Mal fast getötet worden, wurde degradiert, habe den Großteil meiner Kollegen gegen mich aufgebracht und habe den einzigen Menschen verloren, der für mich mehr als nur eine Freundin gewesen ist.“ Ich dachte kurz nach, während sie mich mit einem leicht geschmeichelten Blick anschaute. „Ich wünschte ich könnte mich ändern, aber …“, Ich seufzte, „das kann ich nicht.“ Sie legte ihre Hand auf meinen Arm und sah mir mit einem ehrlichen Blick in die Augen, wobei ich meine ganze Kraft aufbringen musste, um ihnen nicht zu erliegen.
„Das will ich auch gar nicht.“, meinte sie, was mich ein wenig irritierte.
„Das musst du mir erklären.“ Sie lächelte, als sie den Blick auf ihr Glas richtete.
„Zugegeben ich habe unsere Beziehung gerade deshalb beendet, aber … ist es genau das, was ich an dir so schätze und dir jedes Mal ansehe, wann immer ich dich sehe.“ Wieder wanderte ihr Blick zu mir. „Und selbst jetzt sieht man es dir an. Nichts hält dich davon ab nach weiteren Antworten auf die offenen Fragen zu finden und herauszufinden wie alles miteinander zu tun hat, während du dir selbst Vorwürfe wegen der Studentin machst, die in deinen Armen gestorben ist.“ Hätte mir jemand anderes so etwas gesagt, wenn auch mit einem mehr vorwurfsvolleren Ton und dabei vielleicht mehr Hohn und Spott genutzt hätte, hätte ich ihm das Glas, welches ich mit einem immer stärker werdenden Griff festhielt, wobei ich ein wenig Angst hatte es jederzeit zu zerbrechen, gegen seinen Schädel geschmettert.
Aber nicht bei ihr.
Warum auch, wenn es doch die Wahrheit war, die sie aussprach und ich mich darin versuchte nicht meinen Gefühlen nachzugeben und in Tränen und Selbsthass zu versinken, in der Hoffnung, sie würde mich auffangen und mich stützen.
„E-Entschuldige mich bitte kurz.“, bat ich mit einer leicht zitternden Stimme. Sie nickte und beobachtete mich dabei, wie ich vom Barhocker rutschte und mich in Richtung der Waschräume aufmachte. Dort angekommen trat ich zu der aus schiefergrau gefertigten Granitplatte, in welche die Waschbecken direkt hineingehauen worden sind und damit einen recht modernen architektonischen Stil für das sonst eher auf alt getrimmte Mobiliar darstellte.
Ich spürte kleine Tränen in meinen Augen und war erleichtert darüber, dass ich sie noch zurückhalten konnte, bevor sie mich so gesehen hätte – schwach, verletzlich und verwirrt, nicht wissend, wie ich mit dem innerlichen Chaos der Gefühle umzugehen hatte, welches sich in mir ausbreitete und immer weiter verstärkte, je mehr wir uns auf freundschaftlicher Ebene begegneten und mich wieder daran erinnerte, wie sehr mir diese Frau fehlte.
Ich atmete einige Male tief durch, versuchte mich zu beruhigen und wieder klar denken zu können, als ich mir einen Schuss kalten Wassers ins Gesicht spritzte, erneut tief durchatmete und mich wieder nach draußen aufmachte.
Es mochten vielleicht nur vier oder fünf Minuten gewesen sein, in denen ich sie dort alleine sitzen ließ, aber hatte scheinbar jemand anderes bereits meinen Platz eingenommen. Ein junger Mann, nicht viel älter als ich oder sie, gekleidet in einen für dieses Lokal zu modern geschnittenen Anzug, der einem bereits von weiten zu verstehen gab, wie teuer dieser gewesen ist, ebenso die silberne Uhr an seinem Handgelenk oder die feinen Herrenschuhe aus poliertem Echtleder.
Es war das typische Bild eines erfolgreichen Geschäftsmannes, Anwalts oder wo auch immer man einen solchen Aufzug benötigt, der einem ein solches Selbstbewusstsein gibt um denken zu können, dass es nicht allzu vieler Worte bedarf um eine Frau zu beeindrucken oder einfach nur in die Kiste zu bekommen.
Wenn es etwas Schlimmeres gibt als Polizisten, die ihre Karriere und ihren Ruf an erster Stelle stellen sind es genau solche Typen, die denken, dass sie einfach alles bekommen könnten oder es sich einfach nur nehmen und noch nicht einmal dafür fragen müssten, als ob die Gesetze oder Regeln für sie nicht gelten würden. Auch hierbei macht es keinen Unterschied, ob es sich dabei um Männer oder Frauen handelt.
Doktor Layhne konnte ich jedoch neben ihrer offensichtlichen Angst eine leichte Blässe ansehen, während sie sich an dem Glas ihres vierten Drinks festhielt, nicht zuletzt, da ihr letzter Freund, ein Bankier mit einem vereinnahmenden Wesen, sie vier Monate wie eine Trophäe und sein persönliches Eigentum behandelt hatte, bis der Superintendent und ich ihn wegen Ausübung der häuslichen Gewalt verhaften konnten. Dies war auch der Grund, weshalb sie nie wirklich gerne alleine in eine Bar gegangen ist, abgesehen von dieser hier, da die hier anzutreffenden Typen, die unter anderem für die Sicherheit und den Frieden der weiblichen Belegschaft, aber auch der Gäste, verantwortlich sind, die letzten Personen sind, mit denen man sich anlegen wollen würde. Trotzdem war es dieser Moment, in dem sie trotz dieses Wissens so verletzlich und schwach erschien.
Die gerade noch herrschenden Zweifel und Unsicherheit in mir wichen zunehmend der Entschlossenheit und Wut.
„Überleg es dir.“, meinte er freundlich und geduldig. „Immerhin ist der Abend noch jung.“
„Hey, Sie!“, sprach ich ihn an legte meine Hand herausfordernd auf seine Schulter. Ein wenig überrascht und irritiert drehte er sich zu mir, lächelte aber nur und schien sich vermutlich Gedanken darüber zu machen auf einen Dreier zu hoffen. „Halllloooo. Ich hätte nicht gedacht, dass du deiner Schwester so ähnlich siehst.“
Ein mehr als schlechter Spruch angesichts dessen, dass wir uns nur in wenigen Dingen ähnlich sehen.
„Hey, du!“, vernahmen wir die dunkle, tiefe Stimme des Barkeepers, der sein Gesicht mit Falten bedeckt hatte und somit noch ernster und bedrohlicher wirkte als jeder der Biker in dem Lokal, sodass man denken könnte er wäre der Anführer dieser Truppe. Hätte man ihm jetzt noch eine irische Mütze und eine Zigarette, wobei eine Zigarre vermutlich besser passen würde, gegeben wäre er das perfekte Beispiel eines Schlägers, der wusste wie er jemandem Respekt zu lehren hat.
„Was gibt’s, Paps?“, machte sich der Mann über Joe lustig – keine gute Entscheidung. Aus einiger Entfernung nahm ich das Lachen seiner Kumpanen wahr, die scheinbar schon eine Zeit lang dort gesessen und darauf gewartet hatten eine Chance zu sehen um sich an die erste Frau ran zu machen, die für sich alleine saß, in der Hoffnung sie um den Finger wickeln zu können.
Bevor er reagieren konnte, packte ihn Joe mit seiner bärengleichen Pranke an der Krawatte und zog ihn zu sich über den halben Tresen. Die aufkommende Wut stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben und jeder der umliegenden Gäste wusste, was folgen würde.
„Hey, hast du eigentlich eine Ahnung, was der Anzug gekostet hat?“, blaffte er ihn an, ohne wirklich zu realisieren, wen er gerade vor sich hatte.
„Bevor dir der Paps eine verpassen wird, solltest du auf den Rat des Paps hören, wenn dir an deinem scheiß Anzug und deiner Visage etwas liegt, du eingebildetes Würstchen eines Erbsenzählers, der denkt sein Schwanz wäre größer als die Länge seines Bleistiftes.“, erklärte er und hielt die zur Faust geballte Hand in sein Gesichtsfeld, um darauf aufmerksam zu machen, dass er keineswegs Späße machte.
Der Übermut des Mannes wich der aufkommenden Angst und Panik.
„U-Und was?“, stammelte er ein wenig verunsichert.
„Dass du es dir beim nächsten Mal lieber zwei Mal überlegen solltest deine Klappe mit so billigen Sprüchen aufzumachen, bevor du die Tochter des Barmannes, deren Verlobte oder irgendeine andere Frau in diesem Lokal so blöd anquatscht, wenn du nicht willst, dass aus dem erhofften Vergnügen dein schlimmster Albtraum wird, wobei mir das Aufwischen in diesem Fall nichts ausmachen würde.“ Natürlich entspricht das nicht der Wahrheit, dass Doktor Layhne seine Tochter ist, obwohl es durchaus passen würde, aber ist es keine Seltenheit, dass sich Joe oder einer der Biker als Vater, Onkel, Cousin oder Bruder ausgeben.
„I-I-I-Ihre Tochter?“ Joe zog ihn noch etwas näher zu sich heran, seine Gesichtszüge wurden stärker, als ob er ihn gerade beleidigt hätte.
„Willst du mir damit vielleicht irgendetwas sagen, he, Bürschen? Dann nur raus damit, ich bin ganz Ohr. Oder traust du dich nicht?“
„N-Nein nein, Sir. I-Ich wollte …“, stammelte er.
„Lass es gut sein, Joe.“, mischte ich mich schließlich ein, auch wenn ich nichts dagegen gehabt hätte, dass er ihm wie so vielen solcher Typen eine Lektion erteilt hätte. Aber wollte ich es vermeiden, dass erneut eine Streife herkommen und wir alle eine Aussagen machen müssten. Joe grummelte ein wenig enttäuscht und stieß ihn zurück.
„Das nächste Mal bleibt es nicht bei einer Warnung.“ Er wandte sich ab um sich um ein Pärchen zu kümmern, das an den Tresen herangetreten war und ihn dabei als arrogantes Arschloch verfluchte. Dieser rückte seinen Anzug zurecht und hatte wieder diesen eingebildeten Blick aufgelegt, als ich mich an ihn wandte. „Sie sollten jetzt gehen. Sie und Ihre Kollegen dort drüben am Tisch.“
„Nur weil ich einen Fehler begangen habe? Konnte ja nicht ahnen die Tochter des Barmannes vor mir sitzen zu haben, geschweige denn ihre Verlobte.“ Er seufzte, während er mich mit einem gierigen Blick musterte. „Ein bisschen enttäuscht bin ich schon, aber kann ich warten.“ Meine Hand ballte sich zur Faust, aber beherrschte ich mich.
„Verpissen Sie sich endlich, ansonsten werde ich Sie wegen sexueller Belästigung und Ruhestörung verhaften.“, erklärte ich ihm und hob mein Hemd ein wenig an, sodass er die Marke an meinem Gürtel sehen konnte. Normalerweise bin ich nicht der Typ, der damit angibt oder darauf hinweist welchen Rang ich besitze, aber in solchen Situationen habe ich kein Problem damit über meinen Schatten zu springen.
Als er die Marke sah wurde er mit einem Mal kreidebleich.
„E-Entschuldigen Sie, Officer.“
„Es heißt Sergeant und jetzt verschwinden Sie endlich!“
„Und wenn ihr euch das nächste Mal herwagt, solltet ihr euch daran erinnern, dass ihr hier gefälligst jeden mit dem entsprechenden Respekt behandeln solltet, ihr armseligen Drecksäcke!“, rief ihnen Joe hinterher. Ich trat zu Doktor Layhne, während Joe sich ebenfalls zu uns aufmachte.
„Danke, Cass.“, bedankte sich Eve ein wenig aufatmend. „Und dir auch, Joe.“
„Wie mich solche Typen ankotzen.“, giftete er. „Ein Jammer, dass es unter Strafe steht diesen Müll von Abschaum auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen.“
„Alles in Ordnung?“, fragte ich und sah, wie sich ihre Anspannung ein wenig löste und schließlich nickte. „Komm, ich bring dich nach Hause.“
„Ja.“, hauchte sie noch immer ein wenig schwach. „Das wird wohl das Beste sein.“ Vorsichtig stand sie auf, wobei ich sie ein wenig stützen musste. „Wie viel- …“, begann sie, als Joe sie unterbrach.
„Lasst gut sein. Geht auf mich.“, meinte er beschwichtigend und wandte sich an mich. „Bring Sie nur wohlbehalten nach Hause.“, wies er mich mit einer Mischung aus Strenge und Fürsorglichkeit an, als wäre er tatsächlich eine Art Vater, der sicher gehen wollte, dass ich seiner Anweisung auch wirklich nachkomme, wenn ich nicht wollen würde die möglichen Konsequenzen näher kennenzulernen. Ich nickte und musste sogar ein wenig Schmunzeln, da er mir immer wie ein liebender, fürsorglicher Onkel vorkommt, der trotz seiner äußeren Erscheinung ein liebevolle Persönlichkeit ist. Dies ist auch der Grund, weshalb sich viele der weiblichen Mitarbeiter, welche zumeist Studenten sind, sich hier weitaus sicherer als irgendwo sonst fühlen, als wären sie kostbare Juwelen, die von einer Schar Höllenhunde beschützt werden und sofort reagieren, wenn auch nur jemand, sei es Mann oder Frau, versuchte sich an diesen Juwelen zu bereichern oder auch nur im entferntesten zu beleidigen, wie es schon so manches Mal vorgekommen ist.
Die Fahrt verlief ruhig, nicht zuletzt, da der Alkohol und auch das Erlebnis mit diesem Typen dafür sorgten, dass Doktor Layhne kurz davor stand auf dem Beifahrersitz einzuschlafen.
„Cass.“, sprach sie mich im Halbschlaf an. „Würde … würde es dir etwas ausmachen, wenn ich heute bei dir übernachte?“ Ich lächelte, als sie mir diese Frage stellte und kam mir ein wenig wie damals als Schülerin vor, wenn mich meine Mitschülerin dasselbe fragte, um einen Mädelsabend zu verbringen, auch wenn ich diese Erfahrung nie gemacht habe. „Ich … ich möchte nicht, dass du die ganze Fahrerei auf dich nehmen musst.“ Erneut lächelte ich, erlaubte mir sogar kurz zu ihr zu schauen. Sie saß da, völlig kraftlos und müde, lediglich aufrecht gehalten vom eng anliegenden Sicherheitsgurt, den Kopf gegen das kühle Glas der Scheibe gelehnt und mit halb geschlossenen Augen, in dem vergeblichen Versuch die müden Augenlieder weiterhin offen halten zu können.
„Aber klar.“, meinte ich ruhig und mit einem kleinen Herzklopfen, als ob ich nur darauf gewartet hätte, sie wieder einmal in meiner Wohnung begrüßen zu dürfen.
„Das ist lieb von dir.“, erwiderte sie verschlafen und schien sich noch mehr zu entspannen.
Als ich den Wagen schließlich anhielt und den Motor ausgeschaltet hatte schaute ich zu ihr herüber. Wie friedlich sie doch aussieht, wenn sie schläft, kam es mir in den Sinn und genoss dieses Bild der Freundin, als ich schließlich ausstieg, die Haustür öffnete und zurück zum Wagen ging. Vorsichtig öffnete ich die Beifahrertür, beugte mich zu ihr hinunter und legte meine Hand auf ihre Schulter, um sie zu wecken, obwohl ich sie am liebsten weiterhin schlafen lassen wollte.
„Eve?“ Ein wenig orientierungslos und verschlafen öffnete sie die müden Augen. „Wir sind da.“ Ich half ihr dabei aufzustehen und stützte sie, während wir uns zur Tür aufmachten.
„Ich muss wohl eingeschlafen sein.“, überlegte sie und rieb sich den Nacken. „Vielleicht hätte ich den vierten nicht trinken sollen.“ Wir lachten einen kurzen Moment darüber, als wir schließlich die Wohnung betraten. Ich half Doktor Layhne dabei sich kurz auf der Couch hinzusetzen, bevor ich die Tür schloss, aus den Schuhen schlüpfte und es bei ihr gleich tat, bevor ich sie wieder stützte und nach oben brachte, wo ich sie vorsichtig ins Bett legte. „Du bist so gut zu mir, Cass.“, meinte sie verträumt, als ich ihren Körper behutsam mit der Decke bedeckte. Bevor ich jedoch etwas auf ihre liebevollen Worte erwidern konnte war sie bereits eingeschlafen. Ich lächelte, gönnte mir noch einen kurzen Moment ihres Anblicks und ging zurück ins Wohnzimmer, als ich inne hielt.
„Wie Sie sehen bin ich Ihrer Bitte nachgekommen.“, meinte ich selbst ein wenig erschöpft und müde.
„Und wie ich es Ihnen versprochen habe werde ich Ihnen auch einen Beweis meines Vertrauens liefern.“
„Dann sind Sie nur hier um sich davon überzeugen zu wollen, dass ich Ihrer Bitte wirklich nachgekommen bin?“
„So ist es, aber vielmehr will ich Ihnen eine Frage stellen?“
„Und welche wäre das?“, fragte ich gegen die Müdigkeit ankämpfend und strich mir einige Strähnen aus dem Gesicht, bevor ich mich auf die Couch setzte und mir kurz meine Augen rieb.
„In Ihrem Bett liegt eine so hübsche junge Frau und dennoch haben Sie die Absicht hier unten auf dem Sofa zu übernachten?“ Ich fragte mich, ob er das wirklich ernst meinte, aber angesichts unserer letzten Gespräche musste es so sein.
„Was wollen Sie damit andeuten?“, entfuhr es mir wieder ein wenig wacher.
„Gar nichts, Vivien. Aber angesichts Doktor Layhnes Frage, heute hier bei Ihnen zu übernachten, scheint ihre Absicht doch mehr als offensichtlich zu sein. Ist es nicht so?“ Ich wusste, was er damit meinte, da ich selbst schon einen solchen Gedanken hatte, aber warum war es ihm so wichtig, dass ich wieder dieses Gefühl des Zusammenseins mit der Frau verspüren sollte, die ich wegen meiner selbstlosen Art damals verloren hatte?
Was wollte er mir damit sagen?
Was wollte er damit bezwecken?
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag.“
„Lassen Sie mich raten.“, erwiderte ich und erhob mich wieder. „Komme ich diesem nach, erhöhen Sie das Versprechen, nicht wahr?“ Er schien zu lächeln.
„Sie fangen an meinen Charakter zu verstehen. Genauso ist es.“ Er trat an mir vorbei. „Haben Sie eine schöne und angenehme Nacht, Sergeant.“
Dann war er weg.
Ich dachte kurz über seine Worte nach, als ich seufzte und mich selbst dafür ein wenig verdammte, dass ich nach seiner Pfeife tanzte. Auch wenn ich nicht verstand, was er damit bezwecken wollte und das alles nur um zu wissen, ob ich ihm vertrauen konnte.
Aber was blieb mir anderes übrig, wenn ich nur so Zeit gewinnen konnte, um heraus zu finden wer sein nächstes Opfer werden würde angesichts der derzeitig mehr als dürftigen Hinweise?
Ich trat zurück ins Schlafzimmer und dachte erneut über das Vorhaben nach, als ich angesichts des lieblichen Bildes vor mir den inneren Widerstand, mich gegen seine Forderung zu stellen, schließlich aufgab.
Aber vielmehr war es auch das innere Verlangen, das mich zum Aufgeben bewegte, denn waren wir uns nach all der Zeit wieder so nahe gekommen und nun lag diese Schönheit in meinem Bett und zwang mich geradezu mich zu ihr legen.
Vorsichtig und ohne sie zu wecken nahm ich den Platz neben ihr ein, wobei ich ihr nun so nahe war, dass ich den sanften, lieblichen Duft ihres Körpers wahrnehmen konnte und wagte es sogar meinen Arm um ihre Taille zu legen, bevor ich die Augen schloss und einfach nur an diesen ruhigen Moment festhielt.
Kapitel 6: Wolfsjagd – Die (unvollendete) Geschichte eines Mörders (6) – Creepypasta-Wiki